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Nephele

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Nephele schließt die Tür zu ihrer Vierzimmer-Eigentumswohnung auf und schiebt die schweren Einkaufstaschen in den Flur. Normalerweise ist das Geräusch, das der Schlüssel in der Wohnungstür verursacht, das Signal für ihren sechzehnjährigen Sohn, aus seinem Zimmer herauszustürmen und ihr dabei zu helfen, die Einkäufe in der Küche zu verräumen. Doch heute rührt sich nichts in der Wohnung. Dabei weiß Nephele, dass Ilias da ist, denn sie hat vom Parkplatz hinter dem Mehrfamilienhaus aus gesehen, dass Licht in seinem Zimmer brennt. Sie wirft die Tür hinter sich ins Schloss, lässt ihren Schlüsselbund in die Schale auf der Kommode unter dem goldgerahmten Spiegel fallen, zieht ihre Schuhe aus und schlüpft aus ihrem Mantel, den sie an der Garderobe aufhängt.

„Ilias?“

Sie lauscht, doch aus der Wohnung ist immer noch kein Laut zu hören. Vermutlich hat er wieder die Stöpsel seiner Kopfhörer in den Ohren, denkt Nephele, und eigentlich ist sie froh darüber. Nichts wünscht sie sich nach dem Trubel, der fast immer in ihrem Lokal herrscht, mehr als Ruhe. Weil sie außerdem schon diverse Diskussionen mit ihrem pubertierenden Nachwuchs darüber führen musste, in welcher Lautstärke Musikhören auch für Mitbewohner und Nachbarn erträglich ist, findet sie, dass es eindeutig das kleinere Übel ist, die Einkäufe ohne seine Hilfe einzusortieren. Darüber hinaus läuft ihr regelmäßig ein kalter Schauer über den Rücken, wenn sie die oftmals menschenverachtenden Textzeilen der Songs mit anhören muss, die Ilias Idole des Gangsta-Rap verbreiten und sie würde ihrem Sohn am liebsten verbieten, so ein Zeug zu hören. Da sie jedoch selbst einmal jung war und weiß, dass ein Verbot die Sache für ihn nur interessanter machen würde, lässt sie es bleiben und ist froh, wenn sie nichts davon hören beziehungsweise wissen muss. Nephele hofft, dass sich der Musikgeschmack ihres Sohnes ganz von selbst ändert, wenn er aus dem Gröbsten raus ist. Denn eigentlich weiß sie, dass er das Herz auf dem rechten Fleck hat. Davon ist sie überzeugt und darauf ist sie sehr stolz, denn sie weiß, dass das nicht selbstverständlich ist. Es hätte auch anders kommen können, schießt es ihr durch den Kopf. Sie schaudert.

Nephele geht ans Ende des Flures und klopft an die Tür mit dem Schild „Ich Chef, du nix.“. Sie horcht, doch sie kann keine Reaktion dahinter vernehmen. Sie klopft noch einmal an das Holz – dieses Mal energischer – doch noch immer rührt sich nichts. Nephele drückt die Klinke hinunter und öffnet die Tür einen Spalt breit. Ob ihr Sohn schläft?

Zuerst entdeckt sie nur seine bestrumpften Füße auf dem Bett. Nephele schiebt ihren Kopf durch den Türspalt und sieht nun ihren ganzen Sohn. Er sitzt vollständig angekleidet auf seinem Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Wider Erwarten hat er keine Stöpsel im Ohr. Seine Augen sind geöffnet und starren ins Leere. Er scheint in seinen Gedanken so weit weg zu sein, dass er seine Mutter nicht bemerkt.

„Ilias?“, fragt Nephele irritiert. Besorgt reißt sie die Tür weit auf und tritt ins Zimmer. In diesem Moment wendet Ilias ruckartig den Kopf und schaut sie böse an. Wie angewurzelt bleibt Nephele stehen. So hat ihr Sohn sie noch nie angesehen. „Was ist los?“, fragt sie erschrocken. In ihrem Inneren fühlt sie eine kalte Hand nach ihrem Herzen greifen. Plötzlich hat sie Angst. Irgendetwas ist mit Ilias geschehen und das kann nichts Gutes sein.

Nepheles Verhältnis zu ihrem Sohn war immer gut, sie würde es sogar als eng bezeichnen. Sie weiß, dass das bei einer alleinerziehenden Mutter und ihrem Sohn nichts Ungewöhnliches ist. Natürlich haben sie auch mal Meinungsverschiedenheiten und streiten sich, allerdings geschieht das äußerst selten. Und selbst in jenen Momenten spürt sie zu jedem Zeitpunkt eine enge Verbundenheit zwischen Ilias und sich, das unbedingte Vertrauen zu- und die Fürsorge füreinander. Daran kann auch der Gangsta-Rap nichts ändern. Mit einem Mal jedoch ist Nephele sich dessen nicht mehr sicher. Ein Schauer jagt ihren Rücken hinunter. Unwillkürlich fragt sie sich, inwieweit nicht nur körperliche, sondern auch psychische Dispositionen vererbbar sind und ihr wird beinahe schlecht vor Angst. Reiß dich zusammen, ermahnt sie sich. Du bist seine Mutter, also benimm dich auch so! Sie strafft die Schultern und bemüht sich, ihrer Stimme eine entspannte Färbung zu geben. So, als könne es sich bei dem, was augenscheinlich zwischen ihnen steht, nicht um mehr handeln als ein Lieblings-Kleidungsstück, das versehentlich in die Kochwäsche geraten und deshalb im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr tragbar ist. „Ich höre?“

Etwas raschelt in Ilias‘ Hand. Erstaunt blickt Nephele auf das gefaltete karierte DIN A4-Blatt, das er ihr wortlos entgegenstreckt. Was soll das, fragt sie sich verwundert. Was soll auf einem ganz normalen Zettel von einem Abreißblock schon Großartiges stehen, das das Verhalten ihres Sohnes erklären könnte?

Jetzt schon etwas gefasster, macht Nephele einen Schritt auf ihren Sohn zu. Mit einer energischen Handbewegung greift sie nach dem Blatt Papier und faltet es auseinander. Sie sieht die eng beschriebenen Zeilen und einen Moment später erkennt sie auch die Handschrift. Ihr wird schwindelig. Rasch geht sie ein paar Schritte zur Seite und lässt sich auf Ilias‘ Schreibtischhocker plumpsen. Dort verharrt sie, das Blatt Papier in der Hand, doch sie schaut nicht darauf. Stattdessen starrt sie vor sich auf den Boden, wo sich ein tiefer Abgrund auftut. Nephele schließt die Augen und hofft, dass dieser Moment vorübergehen möge und danach alles wieder ist wie vorher. Gleichzeitig weiß sie, dass das nicht funktionieren wird. Es kostet sie alle Kraft, die sie aufzubringen in der Lage ist, ihren Blick auf das Papier, dieses vermaledeite Blatt Papier, diesen gewöhnlichen karierten Zettel zu richten und zu lesen, was darauf steht.

„Mein lieber Sohn“ – so beginnt der Brief. Nephele muss einen Würgereiz unterdrücken. Sie bringt es nicht über sich, weiterzulesen. Sie lässt den Zettel sinken und schließt die Augen. Fast siebzehn Jahre lang hat sie diesen Teil ihrer Geschichte aus ihrem Leben verbannt. Hat sich eingeredet, dass sie ihn hinter sich lassen kann. Sie müsse nur vergessen und so tun, als sei es niemals geschehen – dann würde es schon gehen, hat sie sich immer wieder gesagt.

Die Stimme ihres Sohnes reißt sie aus ihrer Schockstarre. „Es stimmt also. Er ist gar nicht tot“, stellt er tonlos fest.

Nephele nimmt all ihren Mut zusammen und blickt ihrem Sohn ins Gesicht. Einen Moment lang scheinen beide darüber erschrocken zu sein, wie betroffen der jeweils andere aussieht. Nephele sieht, dass aus Ilias‘ Gesicht alles Kindliche verschwunden ist. Seine Wangen wirken hohl und sein Blick abgeklärt, als hätte er mit einem Mal den naiven Kinderglauben verloren, dass die Erwachsenen letztendlich doch wissen, was richtig ist, und man ihnen im Zweifelsfall vertrauen kann. Ilias dagegen hat seine Mutter, die er nur voller Tatendrang und Selbstbewusstsein kennt, noch nie so schwach und verletzlich erlebt. Aschfahl ist ihr Gesicht geworden und in ihren Augen meint er einen Moment lang Furcht zu erkennen. Kurz darauf ist der Ausdruck wieder verschwunden.

Mühsam reißt sich Nephele zusammen. Mit krächzender Stimme antwortet sie: „Nein, er ist nicht tot“, gibt sie zu. Ich wollte, er wäre es, ergänzt sie im Stillen.

„Warum hast du das immer behauptet?“, fragt Ilias gepresst. „Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?“

Nephele sieht, wie ihrem Sohn Tränen in die Augen steigen. Ilias dagegen scheint es nicht einmal zu bemerken. Obwohl er schon seit Jahren nicht mehr geweint hat – jedenfalls nicht vor ihr – und immer den coolen Jungen hat heraushängen lassen, schert er sich jetzt nicht darum, seine Gefühle zu zeigen. Er scheint zutiefst verstört zu sein. Sie kann ihn verstehen und das Bewusstsein ihrer Schuld verursacht ihr einen riesigen Druck im Magen. Sie hat ihrem Sohn den Vater vorenthalten. Auch, wenn sie gute Gründe dafür hatte, das zu tun, weiß sie doch, dass es unverzeihlich ist. Jedenfalls in Ilias‘ Augen. Trotzdem versucht sie, sich zu erklären. „Ich wollte dich beschützen.“

Ilias‘ Reaktion überrascht sie nicht. Wut blitzt in seinen Augen auf. Hilflose Wut über so ziemlich den schlimmsten Verrat, den man an seinem Kind begehen kann. „Davor, dass mein Vater im Knast sitzt? Na und?“, faucht er seine Mutter an. „Ist er deshalb kein Mensch? Kein Vater?“, fragt er wütend und verletzt.

Nein, das ist er nicht, antwortet Nephele ihm im Stillen. Im nächsten Moment fragt sie sich, woher sie das Recht nimmt, sich da so sicher zu sein. Vielleicht hat Karl sich geändert? Vielleicht hat er irgendwo tief in seinem Inneren eine Seite entdeckt, die es ihm ermöglicht, ein fürsorglicher Vater zu sein? Doch ihre Zweifel währen nur kurz. Schon im nächsten Moment realisiert Nephele, wie sich alles in ihr dagegen sträubt, diesen Gedanken auch nur für möglich zu halten. Niemals, denkt sie bei sich, niemals kann ein Mensch wie Karl wahre Gefühle für einen anderen Menschen empfinden. Das ist völlig undenkbar. Aber wie soll ich das meinem Sohn vermitteln? Wenn ich ihm erklären müsste, was für ein Mensch sein leiblicher Vater tatsächlich ist – wäre das nicht unvorstellbar grausam? Würde Ilias mir überhaupt glauben? „Er ist nicht umsonst im Gefängnis“, antwortet Nephele ruhig.

Ilias zieht die Augenbrauen in die Höhe und schaut seine Mutter mit wissender Miene an. „Das weiß ich. Er hat es mir geschrieben“, entgegnet er mit fester Stimme. Er zögert einen winzigen Moment, dann fügt er mit fast ebenso fester Stimme hinzu: „Er hat jemanden umgebracht.“

Unwillkürlich lacht Nephele auf. Im nächsten Moment realisiert sie, dass Ilias ihre Reaktion nicht würde einordnen können. Schnell täuscht sie einen Hustenanfall vor. „So kann man das auch sagen“, entgegnet sie anschließend mit belegter Stimme.

Ilias schaut sie abwartend an, doch mehr ist sie nicht bereit zu sagen. Deshalb ergreift ihr Sohn nun wieder das Wort. „Jeder kann mal einen Fehler machen“, erklärt er ihr von oben herab. Dabei bemüht er sich den Anschein zu wecken, als sei er in der Lage, erwachsen und abgeklärt mit dieser Information umzugehen. Nephele weiß, nein, sie hofft, dass das nur vorgetäuscht ist und diese Reaktion seiner berechtigten Wut auf sie entspringt. Auf einmal muss sie tatsächlich husten. „Hat er das etwa geschrieben?“, fragt sie in ungewollt sarkastischem Ton.

„Nein“, gibt Ilias zu. „Aber er hat geschrieben, dass er seine Tat bereut. Und dass er bereut, mir kein besserer Vater gewesen zu sein.“

Nephele möchte sich jetzt wirklich gerne übergeben. Ihr Sohn jedoch durchbohrt sie derart mit seinem prüfenden Blick, dass sie nicht wagt, zu zeigen, was sie wirklich denkt und fühlt. Sie ahnt, dass das in dieser Situation fatal wäre. Zurzeit hat sie nicht den Hauch einer Chance, Ilias klarzumachen, was sein Vater für ein Mensch ist. Der Zeitpunkt für eine derartige Offenbarung wäre denkbar schlecht gewählt. Darüber hinaus kann sich Nephele immer noch nicht davon überzeugen, dass Ilias wirklich wissen sollte, von was für einem Monster er abstammt. Wenn ich diese Büchse öffne, denkt sie bei sich, werde ich die Übel, die ihr entweichen, niemals mehr eingefangen können. Was ist, wenn Ilias mit der Wahrheit nicht umgehen kann? Die Folgen wären unabsehbar!

Nephele weiß, dass sie jetzt nur eine Sache tun kann, nämlich Ruhe bewahren und auf Zeit spielen. Vielleicht kann ich das Unheil später noch irgendwie abwenden und die Frage danach, wer der Erzeuger meines Sohnes ist, dorthin verbannen, wo sie hingehört, nämlich in das Nirwana jener Informationen, für die sich niemand interessiert, überlegt sie. Faktisch gesehen spielt es doch ohnehin keine Rolle. Wir sind immer alleine klargekommen, denkt sie. Dass Karl in den Knast wanderte, und zwar für lange Zeit, war das Beste, was uns passieren konnte.

Nephele versucht, ihren inneren Aufruhr unter Kontrolle zu bringen, sodass sie nach außen hin ihre gewohnte Selbstsicherheit zeigen kann. „Ich hielt es damals für das Beste, ihn aus unserem Leben herauszuhalten, Ilias. Als du geboren wurdest, saß Karl bereits im Knast. Ich hatte keinerlei Kontakt zu ihm und den wollte ich auch nicht haben. Darüber hinaus hätte es für mich überhaupt keinen Sinn gemacht, dich damit zu belasten, dass dein Vater ein Schwerstkrimineller ist.“

Völlig unerwartet spürt Nephele, wie in ihr auf einmal lang unterdrückte Gefühle aufsteigen, als sie zum ersten Mal über das spricht, was sie siebzehn Jahre lang allein mit sich herumtragen musste. Wie nah ihr die Vergangenheit plötzlich ist! Sie hatte geglaubt, dass sie mit der Zeit Abstand zu diesem dunkelsten Kapitel ihrer Vergangenheit gefunden hat. Dabei war sie immer gegenwärtig, wird ihr bewusst. Karls Schatten hat uns all die Jahre begleitet. Plötzlich steigt Panik in ihr hoch. Raus! Bloß raus aus diesem Zimmer, sagt ihr der Verstand. Bevor alles aus mir herausbricht und ich mich um Kopf und Kragen rede. Ich muss nachdenken. Ich muss einen Plan schmieden, wie ich meinen Sohn beschützen kann. Ich darf nicht zulassen, dass uns die Vergangenheit einholt und ins Verderben zieht!

Nephele spürt ihre Beine kaum, als sie langsam aufsteht. Sie hofft, dass sie es schaffen wird, ohne zu schwanken das Zimmer zu verlassen. Sie lächelt Ilias zu und geht zur Tür.

Ihr Sohn ruft hinter ihr her: „Ich bin alt genug, das selbst zu entscheiden!“

Nephele weiß, dass das nicht stimmt. Aber auch das sollte sie jetzt tunlichst nicht sagen. Mühsam beherrscht dreht sie sich zu ihrem Sohn um. „Natürlich bist du das, mein Schatz.“ Erneut wendet sie sich zur Tür und will das Zimmer endgültig verlassen. Doch sie kommt nicht weit. Die Worte ihres Sohnes treffen sie wie ein Dolch in den Rücken.

„Er kommt demnächst aus dem Gefängnis und will mich kennenlernen“, verkündet Ilias mit fester Stimme.

Nephele erstarrt. Einen Augenblick später stürzt sie wortlos hinaus.












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