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III

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Capaul ließ sich den Weg zur Baselgia San Güerg zeigen. Während er die Dorfstraße entlangging, hörte er es dreimal vom Piz Linard her knallen. Ein rotbackiger Vierzigjähriger, der übers Handy gebeugt auf dem Kinderspielplatz beim Volg gesessen hatte, sah auf.

»Wenn das nur kein neuer Felssturz ist«, sagte Capaul.

»Nein, das waren Schüsse«, behauptete der Mann. Er war blond mit Tendenz zur Mittelglatze, trug ein goldenes Handkettchen und moderne Funktionskleidung. »Von einem Felssturz würde man hier im Dorf allenfalls ein Rumpeln hören. Man hat mich schon gewarnt, es ist chatsch’extra, Nachjagd. Mittwoch, Samstag und Sonntag werden die Rehe und Hirsche abgeknallt, die die Jäger im September verpasst haben.« Er stand auf, schulterte den Rucksack und bog auf den Weg zum Piz Linard ein. Capaul ging in die andere Richtung, doch dann überlegte er es sich anders und folgte dem Blondschopf unter der Eisenbahnlinie und der Straße hindurch bis zum Parkplatz Chamonna dal Linard, wo er am Morgen Barbla und Roman kennengelernt hatte.

»He«, rief er. Der Mann blieb stehen und drehte sich um. »Wenn da oben geschossen wird, sollten Sie Ihre Wanderung besser auf einen anderen Tag verschieben.«

»Wo ich hingehe, ist Wildschutzzone.«

»Und wo wäre das?«

Der Blondschopf zeigte hoch zur Val Lavinuoz.

»Der Weg ist gesperrt, und nicht ohne Grund.«

»Der Felssturz, ich weiß Bescheid. Mein Name ist Freitag, ich bin Kantonsgeologe und verantwortlich für dieses Gebiet. Ich weiß sehr wohl, was ich tue.«

Sie schüttelten die Hände.

»Capaul, Kantonspolizei. Warum hat mir niemand gesagt, dass Sie kommen?«

»Ich hätte mit dem Hubschrauber fliegen sollen, der Flug wurde abgeblasen. Es hat mir aber keine Ruhe gelassen, einen Felssturz von diesem Ausmaß hatten wir nicht erwartet. Ich muss mir unbedingt die Abbruchstelle ansehen.«

»Nehmen Sie mich mit?«

»Haben Sie einen Helm?«

»Nein, aber ich kann ja Abstand halten.«

»Wenn Sie Abstand halten wollen, bleiben Sie hier. Die Anweisung, die ganze Val Lavinuoz abzusperren und nicht nur die Alp d’Immez, kam von mir, und nicht von ungefähr. Die Steinmassen können aufbranden, es kann Querschläger geben, alles Mögliche ist denkbar.«

»Wenigstens ein Stück, ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.«

»Na schön, dann kommen Sie.«

Freitag bückte sich unter der Abschrankung hindurch und stieg voran. Er hatte einen starken Körpergeruch, gegen das auch sein Deodorant nicht ankam. Die ersten Wegschlaufen waren steil, und Capaul wunderte sich, wie Tumasch mit seiner Gehbehinderung täglich hoch- und wieder heruntergekommen sein sollte. Erst als sie das Steilstück überwunden hatten, sah er, dass von der Kirche her eine Schotterstraße hochführte.

Sie kamen in den Wald, es duftete nach gefallenem Laub und dürrem Holz. Doch auch hier verklebte der Staub die Schleimhäute. Nachdem Capaul zu Freitag aufgeschlossen hatte, fragte er: »Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Bergsturz und einem Felssturz?«

»Die Masse und die Fließgeschwindigkeit. Der Bergsturz ist größer, entsprechend sind die Kräfte ganz andere. Rutschendes Gestein verhält sich ähnlich wie Wasser. Verbindet es sich dazu tatsächlich mit Wasser, indem das Gestein etwa in einen Bergsee stürzt und eine Flutwelle auslöst, erreicht die Geröllmasse eine Geschwindigkeit von bis zu hundert Stundenkilometern.«

»War das in Bondo der Fall?«

»So ähnlich. Noch schlimmer wird es, wenn Eis mit abbricht. Es wird durch den Druck beim Aufprall verflüssigt oder verdampft gar, und auf diesem Dampfkissen gleitet der Schutt wie ein Luftkissenfahrzeug.«

»All das war hier aber nicht der Fall.«

»Nein, der Felssturz von gestern war überraschend, aber weitgehend harmlos – wenn man bei einem Toten noch von ›harmlos‹ sprechen kann. Was mich erschreckt, ist der Zeitpunkt. Die Ostflanke des Linard Pitschen ist schon länger lose, allerdings spottet der Berg mit der Geschwindigkeit, in der er zerfällt, allen Prognosen.«

»Zerfällt?«

Freitag antwortete nicht. Er öffnete seinen Rucksack, zog eine altmodische Blechflasche heraus, spülte den Mund aus und trank sie leer. Capaul nutzte die Gelegenheit, sich kurz auf einen flechtenbewachsenen Stein zu setzen und den Blick schweifen zu lassen. Sie hatten den Wald verlassen, vor ihnen lag die Val Lavinuoz mit ihrem handtuchschmalen Talboden, durch den sich das Bächlein Lavinuoz schlängelte. Daneben stiegen die Hänge steil an, ein, zwei Kilometer hoch.

»Ja, zerfällt«, sagte Freitag. »In fünfzig Jahren werden die Alpen ein völlig anderes Gesicht haben. Sagt Ihnen das Wort ›Permafrost‹ etwas?«

»Ich habe eine ungefähre Ahnung.«

»Die Berge sind in ihrem Inneren und in den oberen Lagen permanent gefroren. Die Sommer waren bisher zu kurz, die Durchschnittstemperaturen zu tief, als dass die Berge auftauen konnten. Das ändert sich nun mit der Klimaerwärmung, sehr plötzlich und mit weitreichenden Folgen. Der Frost hält nämlich Massen von losem Gestein zusammen. Bleibt er aus, rutscht es ab. Der Frost dichtet außerdem den Berg nach außen ab, macht ihn quasi wasserdicht. Regen und Tauwasser prallen ab. Nun aber dringt das Wasser immer tiefer in den Berg ein, in den unteren Lagen entsteht auf diese Weise enormer Druck, der den Berg sprengt. Das alles wussten wir Wissenschaftler zwar, nur gingen wir davon aus, dass der Prozess Jahrhunderte dauern würde. Offenbar haben wir uns geirrt.«

Er setzte sich wieder in Bewegung. Capaul stemmte sich hoch und folgte ihm.

»Ein dritter Faktor«, erklärte Freitag, »ist die Gletscherschmelze. Seit der Klimaerwärmung schmelzen in den Alpen jedes Jahr zwei Millionen Kubikmeter Eis. Die Gletscherzungen schrumpfen rasant. Sie hatten ebenfalls viel Geröll gebunden, man könnte sagen, bei ihrer Entstehung sind sie auf dem Geröll gefahren und haben es nicht nur eingefroren, bei dieser Fahrt haben sich unterm Gletscher auch immense Wälle und Aufhäufungen gebildet. Schmilzt er nun weg, liegen diese Aufhäufungen frei, und falls ihre Lage instabil ist, haben wir Steinschlag, Erdrutsche, Lawinen. Dazu kommt, dass sich durch die Schmelze neue Seen bilden, die zwar hübsch anzusehen sind, aber es sind Todesfallen. Stürzt nämlich so ein Wall in den See, löst er eine Flutwelle aus, die ein Dorf wie Lavin durchaus auslöschen könnte.«

Freitag hatte angehalten und zeigte auf zwei Bergspitzen. »Da zum Beispiel, sehen Sie? Das sind der Piz Chapütschin und das Verstanclahorn, zwei Dreitausender mit sehr schönen Gletschern. Darunter liegt die Hütte Marangun, von wo heute früh die Wanderer ausgeflogen worden sind. Ich wette, in ein paar Jahren gibt es diese Hütte nicht mehr.« Er öffnete abermals den Rucksack und zog den Helm und ein Fernglas heraus. »Und jetzt ist es Zeit, Lebewohl zu sagen. Weiter nehme ich Sie nicht mit.«

Vor ihnen lag eine karge, doch hübsche Landschaft, bewachsen mit Lärchen, Vogelbeerbüschen und hohen, inzwischen verdorrten Disteln, zwischen denen Falter flatterten. Abgesehen von der Staubwolke, die noch immer über dem Tal lag, wirkte sie völlig friedlich. Capaul wies auf zwei Häuser. »Ein paar Fragen müssen Sie mir noch gönnen. Ist das die Alp d’Immez?«

Freitag nickte.

»Und wo genau war der Felssturz?«

Die Stelle, auf die Freitag zeigte, wirkte unbedeutend klein in der Weite der Landschaft.

»Und da gehen Sie jetzt hin?«

»Nein, ich steige auf den Gegenhang, von dort aus sehe ich die Abbruchstelle.«

»Können Sie mir noch sagen, wo genau Tumasch seine Steinmännchen gebaut hat?«

»Von Steinmännchen weiß ich nichts, aber ein Mann hat dort Haufen aufgeschichtet, genau da, an der Stelle, die jetzt verschüttet ist. Ich habe ihn einmal darauf aufmerksam gemacht, dass er sich die gefährlichste Stelle überhaupt ausgesucht hat.«

»Und was hat er geantwortet?«

»›Was wollen Sie? Ich räume Geröll weg. Das kann ich nur dort wegräumen, wo es rollt. Und fragen Sie die Leute im Dorf, wird Ihnen jeder sagen: Wenn es um einen von uns nicht schade ist, dann um Tumasch.‹«

»Tun Sie mir den Gefallen und halten nach ihm Ausschau?«

»Ausschau?« Freitag lachte. »Der Schuttkegel mag von hier nach nichts aussehen. Aber ich schätze, dort liegen zehn bis fünfzehn Meter Abbruchmaterial. Da wittern wohl nicht einmal mehr Suchhunde etwas.«

Er hob die Hand zum Gruß und wollte gehen. Eben da pfiff ein Murmeltier, ein zweites antwortete.

»Die sollten längst Winterschlaf halten«, stellte er fest. »Vermutlich hat sie der Felssturz geweckt. Alles gerät durcheinander.«

»Alles?«

»Ja, weil alles zusammenhängt.«

»Auch der Saharawind und dieser Felssturz?«

»Natürlich, doppelt und dreifach. Jede Wärmeperiode, und besonders eine so spät im Jahr, hat Einfluss auf den Permafrost und damit auf den Felsabbruch. Beide sind Kinder der Klimaerwärmung. Mit zunehmender Erwärmung der Polkappen wird auch der Jetstream abgeschwächt, jenes horizontale Windband, das auf der Höhe Mitteleuropas den Globus umzieht. Das hat zwei Folgen: Hoch- und Tiefdruckzentren bleiben stationär, statt zu wandern, das fördert Extremereignisse wie Dürren oder Flutkatastrophen. Und vertikale Winde – Eiswinde aus dem Norden, Glutwinde aus dem Süden – werden nicht mehr abgelenkt, sondern treffen uns mit ganzer Wucht. Momentan bestimmt ein Tief über Spanien unser Wetter. Und es sieht nicht aus, als ob es bald weiterwandern würde. Gut möglich, dass der Wüstenwind noch zwei, drei Wochen bei uns bläst. Aber jetzt muss ich wirklich los, die Tage sind schon sehr kurz.«

Wieder hob er die Hand zum Gruß, und diesmal ging er auch.

Capaul kehrte um. Er freute sich auf Bernhilds Gesicht, wenn er ihr die Katastrophe auseinandersetzte, und wiederholte immer wieder Freitags gelungenste Formulierungen, um sie sich einzuprägen. Währenddessen hörte er im Tal das Martinshorn der Ambulanz, doch erst als er Roman oder Barbla den Kastenwagen mit Blaulicht durch Lavin steuern sah, legte er einen Zacken zu und rannte schließlich auf dem steilen Wiesenpfad. Kurz vor der Absperrung beim Parkplatz glitt er noch aus und rutschte darunter hindurch.

Roman und Barbla, die beim Auto standen, mochten darüber nicht lachen.

»Du warst nicht erreichbar«, schimpfte Roman.

»Ich habe den Geologen befragt, einen gewissen Freitag. Wir waren wohl im Funkloch. Was ist los?«

»Ein Jagdunfall auf halber Höhe am Piz Linard«, sagte Barbla. »Ein Toter.«

»Und warum fahrt ihr nicht hoch?«

»Weil der Krankenwagen mit der Leiche schon hierher unterwegs ist.«

»Aber wie kommt das?«, rief Capaul aus. »Wer hat die Leiche freigegeben? Wir hätten doch zuerst den Unfallort inspizieren und die Spuren sichern müssen.«

»Wir sind nicht auf der Polizeischule«, bemerkte Roman spitz. »Zwei Jäger haben Duris Leiche gefunden und waren nicht sicher, ob er noch lebt. Sie haben als Erstes den Notarzt alarmiert und dann Duri zur Straße geschleppt, damit er gleich behandelt werden kann. Das war durchaus vernünftig.«

»Na schön, aber damit sind alle Spuren flöten.«

Roman ließ eine Art Ächzen hören. »Massimo, nochmals: Die Engadiner sind friedliche Leute. Nicht jeder Tote bedeutet einen Mordfall.«

Dann kam der Krankenwagen über die Brücke gefahren und parkte. Die Fahrerin und der Rettungssanitäter stiegen aus und öffneten die Hecktür, um den Polizisten die Leiche zu zeigen. Sie lag im Leichensack. Der Arzt, der bei der Bahre saß, war grün im Gesicht.

»Ich vertrage die Kurven schlecht«, sagte er und drängte sich an ihnen vorbei, um auszusteigen und ein paar Schritte zu gehen.

Capaul öffnete den Reißverschluss des Leichensacks. Der Tote war in Jagdkleidung, ein kleiner, stämmiger Mann mit dichtem, grau meliertem Haar und Vollbart. Der Bart war ebenso blutgetränkt wie seine Jacke. Die Haut war ähnlich fahl wie die des Arztes. Im Gesicht waren mehrere kleine Wunden.

»Woran ist er gestorben?«, fragte Capaul.

»Verblutet«, meinte der Arzt. »Die Arteria carotis externa ist zerfetzt, die äußere Halsschlagader. Unter anderem.«

Und Roman erklärte: »Die Leiche geht jetzt nach Chur zur Obduktion. Morgen oder übermorgen wissen wir Genaueres.«

»Vielleicht geht es auch schneller«, antwortete Capaul. »Macht mal Fotos, ich rufe Fritz Marx an.«

»Wer ist das?«, fragte Barbla.

»Na, der Gerichtsmediziner. – Hier Massimo Capaul, KP Engadin«, sprach er ins Telefon.

»Ich weiß schon, die Tunnelleiche«, sagte Marx am anderen Ende. Capauls letztes Telefonat mit Marx lag nur wenige Wochen zurück. Die Erinnerung an den jungen Tiroler Mineur der Rhätischen Bahn, der zwischen Zug und Tunnelwand aufgerieben worden war, war nicht schön.

»Genau«, bestätigte Capaul. »Leider ist auch diese Leiche in ähnlicher Verfassung. Können wir dir ein, zwei Fotos mailen?«

»Klar, nur zu.«

Der Rettungsdienst hatte inzwischen die Bahre aus dem Wagen gezogen und auf dem Parkplatz aufgestellt. Roman errichtete einen Sichtschutz, Barbla knipste mit dem Smartphone. Marx gab seine Mailadresse durch, und sie schickte ihm direkt die ersten Bilder.

Marx murmelte vor sich hin, während er sie betrachtete, dann stellte er fest: »Sieht nach Schrot aus. Riech mal an den Einschusslöchern der Jacke, Capaul. Riecht es verbrannt?«

Capaul beugte sich über die Leiche und roch. »Nein.«

»Dachte ich mir, ich kann auch keine Versengungen erkennen. Macht mal noch ein Foto vom Hals.«

Capaul ließ sich vom Sanitäter Latexhandschuhe geben und hob den Bart an. »Barbla, wir bräuchten noch ein Foto.«

Barbla knipste, dann wandte sie sich ab und übergab sich. Roman übernahm es, das Foto abzuschicken.

Nur Sekunden später erklärte Marx: »Da ist noch zu viel Blut. Könnt ihr es mal eben abspülen?«

»Hat jemand Wasser?«, fragte Capaul.

Der Sanitäter schnitt ihm einen Beutel Salzwasserlösung auf, und Capaul wusch das Blut ab, so gut es ging. Fast alles Gewebe war zerstört, die Luftröhre und die Wirbelsäule lagen frei. Der Kopf der Leiche lag nun in einem See von Blutwasser.

»Wer knipst?«, fragte Capaul. »Könnte bitte jemand knipsen?« Die Fahrerin nahm Roman das Handy ab, knipste und schickte das Foto. Capaul hörte durch den Hörer das Pling, als es drüben ankam.

»Ah ja, wunderbar«, murmelte Marx. »Ganz schön konzentrierte Ladung, kaum Streuung. Schussdistanz ein halber Meter, plusminus zehn Zentimeter. Zum Kaliber kann ich nichts sagen, aber heutzutage verschießen fast alle 12er-Munition.«

»Sieht es nach Unfall aus?«, fragte Capaul.

Marx zögerte. »Kann sein, dass ihm die Flinte aus der Hand gerutscht und auf einen Stein geknallt ist. Andererseits sitzt der Schuss so schön mittig, dass ich eher meine, da hat wohl jemand gezielt.«

»Mord?«

»Oder Selbstmord. Wobei ein halber Meter ganz schön viel ist. Lange Arme hat der Typ ja nicht gerade. Entweder hat er den Schuss mit einem Stock ausgelöst, oder er hat mit dem Zeh abgedrückt. Trägt die Leiche Schuhe?«

Capaul sah nach. »Nein.«

»Na, siehst du. Wenn wir Glück haben, finden wir auf Füßen oder Socken Pulverspuren, damit wäre die Sache schon ziemlich eindeutig. Aber muss nicht sein, moderne Flinten schießen leider ziemlich sauber. Jedenfalls ein interessanter Fall, der eine öde Woche aufpeppt. Ich freue mich auf die Leiche.«

»Gern geschehen und vielen Dank.« Capaul hängte auf.

Inzwischen waren auch die beiden Jäger auf dem Parkplatz eingetroffen, die den Toten gefunden hatten. Sie hießen Steivan und Hermann und standen nun bei den Polizisten.

»Wie geht es weiter?«, fragte Capaul mit einer gewissen Ungeduld. »Wer befragt die Jäger und das Rettungspersonal, wer inspiziert den Schauplatz, wer sagt der Familie des Opfers Bescheid, wer übernimmt die Kommunikation?«

»Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht gleich wieder übernehme«, sagte Roman. »Wenn ich ausfalle, nützt das niemandem.«

»Und mich erwarten meine Jungs«, erklärte Barbla. »Mit dem einen muss ich für eine Deutschprüfung pauken, den anderen zum Fußball fahren.«

»Verstehe ich alles«, sagte Capaul. »Dann sollten wir um Verstärkung bitten.«

»Du bist die Verstärkung«, erklärte Roman.

Sie einigten sich darauf, dass Roman die Zentrale informierte und auf dem Heimweg den Rettungsarzt befragte. Barbla informierte die Familie des Toten und versorgte anschließend ihre eigene, während Capaul mit den Jägern hoch zur Fundstelle fuhr, sie sichtete und absperrte. Am anderen Morgen würden er und Barbla gemeinsam die Trauerfamilie verhören und hoffentlich den Fall abschließen.

»Sehr schonend und taktvoll verhören natürlich«, mahnte Roman.

Capaul holte im Kastenwagen Spurensicherungs- und Absperrmaterial, dann stieg er bei den Jägern zu. Beide trugen Faserpelzjacken und rochen nach Tier. Steivan, dessen wettergegerbtes Gesicht trotz der Wärme eine Fellmütze mit Ohrenklappen umrahmte, fuhr einen verbeulten Toyota mit Hochlader, auf dem ein kapitaler Hirsch vertäut lag.

»Glückwunsch«, sagte Capaul.

»Weidmanns Dank«, antwortete Hermann von hinten, der, wie er bescheiden vermerkte, einen sauberen Kammertreffer abgegeben hatte. Er trug eine Schirmkappe wie früher die Soldaten, hatte im Gegensatz zu Steivan weiche, blasse Haut und bläulichen Bartschatten.

Steivan fuhr durch den Wald, den God Laret, hinauf zur Stelle, an der sie Duri den Sanitätern übergeben hatten. »Wir hatten uns getrennt, um uns dem Rudel von oben und unten zu nähern«, erzählte er während der Fahrt. »Hermann und ich sind weiter in die Val Sagliains hineingefahren, bis zum Plan da Bügl. Duri nahm den Fußweg hinauf zur Chamonna dal Linard. Wir wussten, dass das Rudel irgendwo in den Vals da l’Aua stecken muss. Irgendwann haben wir Duri aus den Augen verloren …«

»Was, so nah beieinander wart ihr?«, wunderte sich Capaul.

»Mit dem Feldstecher natürlich«, erklärte Hermann. »Wenn man sich während der Jagd aufteilt, versucht man, über den Feldstecher in Kontakt zu bleiben und sich Zeichen zu geben.«

»Oder wenn man Empfang hat, telefoniert man«, ergänzte Steivan. »Jedenfalls haben wir ihn schießen hören, und ich habe noch gedacht: ›Komisch, dass er schießt‹, weil wir nämlich das Rudel direkt vor uns hatten. Und dann stand der Hirsch auch schon ideal in Position, Hermann hat ihn erlegt, und wir haben ihn abgeschleppt.«

»Wie?«, fragte Capaul neugierig. »Der wiegt doch sicher hundert Kilo?«

»Bergauf mit der Seilwinde auf einer Plane, wir haben so kleine Seilwinden. Man zieht ihn von Baum zu Baum, oder auch von Fels zu Fels. Bergab machen wir das von Hand.«

Hermann sprach dazwischen: »Davor haben wir aber versucht, Duri zu erreichen, damit er uns hilft. Aber er hat sich nicht mehr gemeldet.«

»Wir dachten, er hat die Schüsse gehört und will sich vor dem Abschleppen drücken.«

»War er denn einer, der sich gern drückt?«

»Ach was, wir haben eben geredet, was man so redet«, behauptete Steivan und warf Hermann über die Rückenlehne einen Blick zu.

»Aber wie war er denn?«

Beide schwiegen, dann sagte Hermann ausweichend: »Er war eben Politiker, er hat schon zweimal für den Großrat kandidiert. Und er war Gemeindeschreiber. Mit solchen Leuten ist man nun mal nicht so eng wie mit den normalen Leuten.«

»Und ich dachte, Jagdgesellen sind wie Brüder.«

»Nein«, sagte Steivan. »Man schließt sich zusammen, wenn es anders nicht geht. Da teilt man auch die Hütte oder vielleicht sogar das Bett. Aber am liebsten sind wir allein unterwegs.«

Er parkte den Toyota, und sie stiegen aus.

Engadiner Hochjagd

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