Читать книгу Anno 2100 - Moderne Kurzgeschichten und Gedichte über das 21. Jahrhundert - Gino Aliji - Страница 4
Das Eden-Projekt
ОглавлениеZuerst erklang nur ein harmloser Piepton. Und dann folgte der Anfang von Beethovens fünfter Symphonie.
„Ba ba ba baaa, ba ba ba baaaa.“
Erschrocken sprang ich in meinem Bett auf. Es dauerte einen Moment, bis ich meine Orientierung wiederfand und mir klar wurde, dass mir mein Vater wieder einmal einen Streich gespielt hatte.
„KAI, stopp!“
Die Musik verstummte und ich quälte mich langsam aus meinem warmen Bett.
„Irgendwann zahle ich es ihm heim“, murmelte ich zähneknirschend und machte mich auf den Weg ins Bad, um mir die Zähne zu putzen. Auf dem Weg dorthin warf ich einen kurzen Blick aus dem Fenster. Das Wetter war sonnig und der Wellengang ruhig.
„Heute wird wieder viel Arbeit anstehen“, murmelte ich vor mich hin.
Nachdem ich mir die Zähne geputzt und mich angezogen hatte, stellte ich unserem armen KAI die alltägliche Frage.
„Wie steht es um die Donau, KAI?“ Und kaum eine Sekunde später begann der übliche Schwall an Informationen.
„Der Leistungsgrad der Arche Donau beträgt 98%. Ihre Geschwindigkeit beträgt 23,4 Kilometer pro Stunde. Die Eigenrotation liegt bei 30 Zentimeter pro Sekunde. Die Kapazität ihrer Energiespeicher beträgt 87%. Die momentane Energiegewinnungsrate beträgt 93%. Die heute bereits eingesammelte Menge an Müll beträgt 904,8 Kilogramm. Die Menge an wiederverwertetem Plastik beträgt aktuell 230 Kilogramm. Alle Fangarme arbeiten mit maximaler Kapazität. Es wurden keine schwerwiegenden Fehler erkannt. Zustand der Arche: OK.“
In der Zwischenzeit hatte ich mir bereits ein Brötchen in den Mund gesteckt, meinen Schulranzen genommen und war auf dem Weg zur Tür.
„Danke, KAI. Du kannst nun in den Standby-Modus gehen.“
„Bereite Standby-Modus vor … Vorgang abgeschlossen,“ hörte ich noch, als ich die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fallen ließ und mich auf dem Weg zur Schule machte.
Der Anblick der Arche beeindruckte mich immer wieder aufs Neue. Obwohl ich schon seit meiner Geburt auf der Donau lebte und sie mein Zuhause nannte, übte sie doch immer wieder eine besondere Faszination auf mich aus. Immerhin konnte nicht jeder von sich behaupten, auf einer künstlichen Insel aufgewachsen zu sein, die mit ihren riesigen schwimmenden Fangarmen den Nordatlantik von der Müllplage vergangener Zeiten befreite.
Auch heute war wieder einmal viel los auf der Donau. Besonders viele von den Ingenieuren und Wissenschaftlern trieben sich heute auf der Oberfläche der Arche herum, sodass ich sogar das Glück hatte, meinen Vater auf dem Weg zur Schule anzutreffen.
„We need to improve the collection rate of the arms by at least 25%. We are not collecting enough waste at the moment“, hörte ich ihn mit einem seiner Kollegen besprechen. Als er mich sah, wandte er sich von ihm ab und ging auf mich zu.
„Na, meine Kleine, wie hat dir Beethovens Fünfte gefallen?“
Ich hasste es, wenn er mir solche gemeinen Fragen stellte und dabei auf unschuldig tat. Aber so leicht wollte ich mich nicht geschlagen geben.
„Nun, sie erregt in der Tat recht viel Aufmerksamkeit, aber wie du ja weißt, stehe ich eher auf etwas modernere Musik.“
Er lachte, als wir uns beide in den Arm nahmen und uns unsere traditionellen Gutenmorgenküsschen gaben.
„Ich werde es mir fürs nächste Mal merken“, sagte er mit einem Augenzwinkern und wünschte mir viel Spaß in der Schule. Ich musste mich etwas beeilen, denn ich war wie immer spät dran.
„Hey, Lilu! Wait for me!“, hörte ich es plötzlich hinter mir rufen. Kaum hatte ich mich umgedreht, stand auch schon Trisha vor mir und schnaufte schwer. Egal, wie spät du bist, es gibt immer jemanden, der noch später dran ist.
„Hey Trish, did we oversleep again?“, fragte ich sie mit einem piesackenden Ton, der mich sehr an meinen Vater erinnerte. Wie gewöhnlich fällt der Apfel nie weit vom Stamm.
„No, no, I just wanted to close my eyes a bit longer before getting out of bed and then suddenly it was almost eight o’clock! I don’t know what happened“, sagte sie und schaute mich dabei mit einem teils entschuldigenden, teils humorvollen Blick an. Als Antwort bekam sie von mir ein Lächeln und dann eilten wir zusammen den üblichen Weg zur Schule entlang. Manchmal braucht es eben keine Worte, um sich zu verstehen.
In unserem Klassenraum angekommen, begaben wir uns zügig an unsere Sitzplätze und packten unsere Schreibdisplays aus. Mrs. Kabahli hatte bereits mit dem Unterricht angefangen, aber sie tat so, als hätte sie uns nicht bemerkt und rollte nur leicht genervt die Augen.
„Okay kids, listen up! As you all very well know, part of this term’s final exam will be to write an essay about this ark. Just write about what exactly we do here, and how you feel living on the Dou-nau.“
Im Klassenraum war aus einigen Ecken ein leichtes Kichern zu hören. Mrs. Kabahli schaffte es nie, den Namen unserer Arche richtig auszusprechen. Aber sie war diese Reaktion von uns schon gewöhnt und ignorierte sie einfach. Als das Kichern aufgehört hatte, fuhr sie fort.
„Your texts will not only be graded but we will also send them to other students on the Mississippi, the Yangtze, the Nile, the Amazon and even to students living on the continents as part of the ongoing exchange project. Of course, we will also receive their essays so we get to learn a bit more about what their lives are like.“
Mrs. Kabahli machte eine kleine Kunstpause, um sicher zu gehen, dass auch alle Schüler die Aufgabe verstanden hatten. Das letzte Stückchen Information kam von ihr wie gewöhnlich zum Schluss.
„One more thing. Because you are also supposed to write about your personal experiences on this ark, I would like you to write your essays in your native language. This will give your texts a nice personal touch.“
Die Reaktion der Klasse darauf war gemischt. Aus einigen Ecken des Raums kam leises Jubeln, während andere Mitschüler nur ein genervtes Stöhnen übrig hatten. Obwohl wir alle genau wie unsere Eltern gewandte Sprecher der englischen Sprachen waren, wuchsen viele von uns mit anderen Muttersprachen auf. Da die Donau ein internationales Projekt war und Englisch somit die offizielle Verkehrssprache darstellte, gab uns dieses Schreibprojekt die Möglichkeit, unsere Muttersprachenkenntnisse etwas aufzupolieren.
Ein Teil von mir freute sich über dieses Projekt, aber bei dem Wort „exam“ fühlte ich, wie sich eine gewisse Unlust in mir breit machte. Trisha neben mir schien plötzlich wenig begeistert von der Idee und beschwerte sich.
„I don’t want some other people I have never met to read my texts! You can’t do that!“
Mrs. Kabahli war anscheinend auf so eine Situation vorbereitet und entgegnete nur kalt: „If you don’t want to, you don’t have to. But I can promise that you’ll be missing out on something.“
Dagegen hatte Trisha nichts mehr zu sagen und ich sah, wie ein Feuer in ihren Augen entfachte. Ich kannte sie nur zu gut und wusste, dass sie sich auf diese indirekte Herausforderung stürzen würde wie ein hungriger Hai.
Nun hieß es also, wir sollten einen Aufsatz schreiben. Dieses Projekt war auf jeden Fall viel spannender, als die Schulbank zu drücken, und vor allem konnte ich hier meiner Kreativität freien Lauf lassen. Aber vor allem konnte ich es kaum erwarten zu lesen, wie es den Schülern auf den anderen Archen oder gar auf den Kontinenten erging. Bevor es allerdings so weit kommen konnte, musste ich zuerst mit meinem eigenen Text beginnen. Der Anfang eines Textes ist immer der schwerste Teil, aber ich hatte bereits eine gute Idee, wie ich dieses Problem umgehen konnte.
Wieder zuhause angekommen, weckte ich zuerst KAI aus seinem Standby-Schlaf auf und bereitete mir ein leckeres Sandwich zu.
„KAI, was kannst du mir über die Arche Donau erzählen?“
KAI piepte einen Moment lang und gab mir dann eine Antwort, die ich überhaupt nicht hören wollte.
„Der Leistungsgrad der Arche Donau beträgt 97%. Ihre Geschwindigkeit beträgt 24,2 Kilometer pro Stunde. Die Eigenrotation liegt bei 25,6 Zentimeter pro Sekunde. Die Kapazität ihrer Energiespeicher beträgt 93%. Die momentane Energiegewinnungsrate beträgt 79%. Die heute bereits eingesammelte Menge an Müll beträgt 1300,86 Kilogramm. Die Menge an—„
„KAI, stopp. Das meine ich nicht.“ Ich schüttelte den Kopf und ärgerte mich innerlich darüber wie schwer von Begriff die modernen künstlichen Intelligenzen immer noch waren.
„Ich meine, was kannst du mir über die Geschichte dieser Arche erzählen?“
KAI piepte wieder einen Moment lang.
„Passe Spracherkennungsalgorithmus an … Analysiere Anfrage erneut. Neue Antwort: Die Arche Donau ist eine von insgesamt fünf marinen Reinigungs- und Forschungsstationen, die zwischen 2043 und 2046 im Zuge des Eden-Projekts von der globalen Staatengemeinschaft konstruiert wurden, um als Antwort auf die globale Umweltkrise die Weltmeere von sämtlichem Kunststoffmüll und Verunreinigungen durch Erdöl zu befreien. Ihr Einsatz begann 2046 und ihre Funktionsdauer ist für einen Zeitraum von 50 Jahren ausgelegt. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden sie aufgrund ihrer enormen Größe zwischen 800 und 1000 Quadratkilometern auch Archen genannt. Sie fungieren ähnlich wie Generationsschiffe und sind nahezu autark, denn sie produzieren ihre eigene Energie aus erneuerbaren Ressourcen und werden von der fortschrittlichen Künstlichen Archenintelligenz – kurz KAI – gesteuert. Nach der Ausführung ihrer Reinigungsfunktion sollen die Archen weiter als marine Forschungsstationen genutzt und dadurch gleichzeitig zu den allerersten auf dem Meer befindlichen Forschungsmetropolen der Welt werden.“
KAI gab einen kurzen Piepton von sich.
„Sind noch mehr Informationen erforderlich?“
„Nein, danke. Das genügt fürs Erste“, sagte ich und war schon tief in Gedanken versunken. Ich begab mich an mein Schreibdisplay und begann, die ersten Zeilen meines Aufsatzes zu tippen …
***
Die Donau, mein Zuhause
Im Jahr 2039 hatte die Menschheit einen ihrer schlimmsten Tiefpunkte der Geschichte erreicht. Erst ein Jahr zuvor war das Klima so warm geworden, dass die Temperatur an den Polen eine neue Rekordhöhe erreichte. Die Eiskappen an den Polen begannen nach und nach zu schmelzen und der Meeresspiegel weltweit stieg immer weiter an. Viele Menschen mussten ihr Zuhause an den Küsten verlassen, weil es in den Wellen der Ozeane versank.
Zugleich hatte die globale Umweltverschmutzung in den Weltmeeren ihren absoluten Höchstpunkt erreicht. Über die vorangegangenen Jahrzehnte hatte sich so viel Erdöl und Plastikmüll in den Ozeanen angesammelt, dass man fast von einem Meer aus Plastik als von einem Meer aus blauen Wellen sprechen konnte.
All das hatte natürlich auch Konsequenzen. Durch die zunehmende Erwärmung und Verschmutzung der Weltmeere kam es zu einem Artensterben, wie es die Menschheit bis dahin noch nie gesehen hatte. Zahlreiche Fisch- sowie Wal- und Delphinarten, aber auch ganze Korallenriffe und Seevogelarten waren innerhalb weniger Jahre vollkommen ausgestorben.
Das gewaltige Massensterben in den Ozeanen betraf natürlich auch uns Menschen. Die Fischereien fingen kaum noch ausreichende Massen an Meerestieren ein und die kleinen Mengen, die sie noch einfangen konnten, waren schwer mit giftigen Fremdstoffen belastet.
Kurz vor Weihnachten im Jahr 2040 setzten sich dann die Regierungschefs aller Länder in einer von der UNO organisierten Sondersitzung zusammen und beschlossen, dass sich dringend etwas ändern müsse. Kaum eine Woche später wurde ein globales Fischereiverbot verhängt und alle Ölgiganten, die mittlerweile hauptsächlich mit erneuerbaren Energien ihr Geschäft machten, wurden verpflichtet, sämtliche ihrer ehemaligen Ölquellen in den Meeren sicher zu versiegeln. Kurz darauf folgte ein globales Produktionsverbot für Plastikgüter aus fossilen Rohstoffen und ein strenges Recyclinggebot für Plastik aus organischen Rohstoffen. Man wollte verhindern, dass noch mehr unzersetzbares Plastik und Öl in die Weltmeere floss.
Natürlich versuchten sich die Firmen gegen solch eine teure Verpflichtung zu wehren, aber bevor ihre Lobbyisten auf die Politiker einreden konnten, war es bereits zu den größten zivilen Massenprotesten der modernen Geschichte gekommen, die als die We-Are-The-World-Bewegung in die Geschichte eingingen.
Von solch großem Erfolg beflügelt, gingen die Regierungschefs der Welt das nächste Problem an, nämlich die Säuberung der Ozeane. Allerdings herrschte zu Beginn viel Fraglosigkeit. Niemand schien zu wissen, wie man so ein großes Projekt angehen sollte. Aber zum Glück meldete sich ein junger Mann aus dem holländischen Bundesstaat der Vereinigten Staaten von Europa und hatte eine Lösung parat. Er träumte von riesigen schwimmenden Inseln, die durch die Ozeane glitten und sie von dem dort herumschwimmenden Müll befreiten. Das Eden-Projekt war geboren. Dieses globale Projekt sah nicht nur den Bau von marinen Reinigungsstationen auf den Weltmeeren vor, sondern auch die Wiederaufforstung der Regen- und Urwälder, die Verwertung und Entsorgung des Atommülls von früher und den Aufbau einer globalen Recyclingwirtschaft. Die Menschen hatten bis zu dem Zeitpunkt so viele Rohstoffe aus der Erde geholt und verarbeitet, dass der Bedarf an neuen Rohstoffen allein durch Recycling gedeckt werden konnte.
Bereits 2043 begannen die ersten Konstruktionsarbeiten der Archen. Insgesamt sollte es fünf von ihnen geben und sie sollten sich in jeweils einem von fünf globalen Strömungswirbeln aufhalten, in denen sich der Großteil des Plastikmülls über die Jahre angesammelt hatte. Geleitet wurde das Projekt von der UNO, aber jeder einzelne Staat beteiligte sich am Bau der Archen. Immerhin ging es hier um das Allgemeinwohl nicht nur von uns, sondern auch von der Erde.
2046 war es schließlich soweit. Alle fünf Archen – die Jangtse, die Nil, die Mississippi, die Amazonas und die Donau – nahmen in dem Jahr ihre Arbeit auf und begannen, die Weltmeere nach und nach von der Plage der vergangenen Jahrzehnte zu befreien. 2046 war auch das Jahr, in dem ich als eines der ersten Archenkinder auf der Donau geboren wurde.
***
Ich war die ganze Zeit so sehr mit dem Schreiben meines Aufsatzes beschäftigt, dass ich gar nicht merkte, wie spät es mittlerweile geworden war. Von meinem Vater war allerdings noch immer keine Sicht.
„Hoffentlich kommt er bald“, murmelte ich leicht enttäuscht vor mich hin.
Und schwupps kam mein Vater auch schon durch die Wohnungstür gelaufen. Wenn man vom Teufel spricht …
Beim Reinkommen warf er mir einen entschuldigenden Blick zu. „Mensch, heute war aber echt ein anstrengender Tag. Mehrere der Einfangarme haben rumgemuckt und es hat sich immer wieder Müll in ihnen verfangen“, erzählte er mir, als wir uns zur Begrüßung umarmten und gemeinsam in die Küche gingen, um das Abendessen vorzubereiten. „Tut mir leid, dass du so lange auf mich warten musstest.“
„Schon gut“, beruhigte ich ihn, „ich hatte sowieso zu tun.“
„Ach ja?“, fragte mein Vater sichtlich interessiert. „Hast du wieder versucht, KAI ein paar Witze beizubringen?“
Ich musste lachen. „Nein, heute mal ausnahmsweise nicht. Wir müssen für die Schule einen Aufsatz über unsere Arche und unser Leben hier schreiben. Die Texte sind nicht nur Teil unserer Abschlussbewertung, sondern werden sogar zu Schülern auf den anderen Archen und den Kontinenten geschickt, damit sie sehen können, wie wir hier so leben.“
In der Stimme meines Vaters war zu hören, dass er beeindruckt war. „Oh, das klingt aber interessant. Ich würde gerne wissen, wie es den Kindern auf den anderen Archen so geht. Deine Mutter und ich … wir haben lange überlegt, ob wir dich wirklich hier großziehen sollen …“
Plötzlich wurde die Stimmung etwas getrübt. Ich konnte meinem Vater die Trauer jedes Mal ansehen, wenn er von meiner Mutter sprach. Ich kannte sie zwar nicht, weil sie ein Jahr nach meiner Geburt verstarb, aber ich teilte das Leid meines Vaters.
Beim Abendessen konnte die drückende Frage, die mir auf dem Herzen lag, nicht länger zurückhalten.
„Papa, für meinen Aufsatz musste ich viel über die Geschichte der Archen nachschlagen und dabei ist mir immer wieder aufgefallen, wie zerstörerisch und respektlos die Menschen früher mit der Erde und der Natur umgegangen sind. Was hatten sie sich damals dabei gedacht, ihren Müll einfach im Meer zu entsorgen? Wussten sie denn nicht, dass es irgendwann Konsequenzen haben würde?“
Mein Vater überlegte einen Moment. Wahrscheinlich wollte er seine Worte richtig wählen.
„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht genau. Ich glaube eher, dass die meisten Leute damals einfach nicht weit genug vorausdachten und vielleicht sogar hofften, dass sich die Probleme irgendwann von selbst lösen würden. Ich denke, die Leute von damals waren einfach ein wenig zu naiv …“
Ich runzelte meine Stirn. „Unsere Vorfahren waren nicht gerade die Hellsten, oder?“
Der ernste Gesichtsausdruck meines Vaters lockerte sich etwas. „Nun, natürlich gab es schon damals Wissenschaftler und Organisationen, die explizit davor warnten, dass die anhaltende Verschmutzung des Planeten zur einer großen Krise für die Natur und den Menschen führen würde. Aber vor 2030 waren die Konsequenzen nicht so extrem sichtbar und kamen eher schleichend.“
„Achso ist das…“, sagte ich und stocherte mit der Gabel in meinem Gemüse herum.
„Als Kind der neuen Generation kannst du das wahrscheinlich nicht mehr richtig nachvollziehen“, fuhr mein Vater fort, „aber ich wurde 2014 geboren und von der Welt um mich herum ganz anders erzogen. Damals achtete man nicht so auf die Umwelt. Die Mode war es, möglichst viel unnötigen Krimskram zu kaufen – der damals hauptsächlich aus Plastik bestand – und hübsche aber schmutzige Autos zu fahren.“
„Hmm, wenn ich so darüber nachdenke“, sagte ich, „bin ich froh, im Hier und Jetzt zu leben und dabei helfen zu können, die Erde von all dem Müll zu befreien. Außerdem kann nicht jeder auf so einer wundervollen Arche leben, also ist das schon etwas Besonderes.“
Da musste mein Vater lachen. „Da hast du wohl recht, meine Kleine.“
***
Nach dem kleinen Ausflug in die Geschichte, möchte ich jetzt gerne von mir und meinem Leben auf der Arche Donau berichten. Ich weiß eigentlich gar nicht recht, was ich da berichten soll … Für mich ist das Leben auf der Donau eigentlich ganz normal. Man steht früh auf, geht in die Schule, macht seine Hausaufgaben und hilft zwei Mal in der Woche den Erwachsenen bei ihrer Arbeit. Meistens gehe ich dann meinen Vater besuchen und helfe ihm unten in der Recyclinganlage, für die er zuständig ist. Dort wird der von der Arche eingesammelte Plastikmüll entweder verbrannt oder zu kleinen Plastikpellets zerkleinert, mit denen wiederum neue Plastikprodukte für die Bereiche des Lebens hergestellt werden, wo sie unersetzlich sind. Mein Vater sagt, dass wir die Pellets an Firmen schicken, die daraus zum Beispiel Einweg-Gummihandschuhe für Ärzte herstellen.
Bei dem restlichen Plastikmüll, der bei uns verbrannt wird, braucht ihr euch allerdings keine Sorgen machen. Mein Vater hat mir erzählt, dass wir auf der Donau einen sogenannten organischen Hochleistungsfilter haben, der sämtliche giftigen Stoffe aus den Abgasen herausfiltert! Ist das nicht wunderbar? Mit der warmen Luft wärmen wir unsere Wohnungen und mit dem entstehenden CO 2 werden die Pflanzen in den großen Gewächshäusern gedüngt, aus denen später unser Gemüse und unser Obst wird. Außerdem kann man das CO 2 super zu Kohlensäure weiterverarbeiten, das sich wunderbar für die Zubereitung von erfrischenden Getränken macht! Ich liebe einfach das prickelnde Gefühl von solchen Getränken in meinem Mund!
Auf der Donau leben unzählige Familien und die Arche ist in mehrere Bezirke aufgeteilt, die mit einem elektrischen Schnellbahnsystem miteinander verbunden sind. Wir haben hier mehrere Schulen und Krankenhäuser, aber eben auch mehrstöckige Farmen, von denen wir unser Obst und Gemüse beziehen. Ich habe gehört, dass es auf dem Festland oft Fleisch von Tieren zu essen gibt. Das haben wir hier nicht, weil der nötige Platz für die Aufzucht, Haltung und Verarbeitung der Tiere nicht vorhanden ist. Ganz selten – ich glaube einmal im Monat – wird es uns allerdings erlaubt, Fische zu fangen und zu essen. Das sind immer meine Lieblingstage! Mein Vater sagt, dass wir das nicht öfter machen können, weil die Fischbestände weltweit fast nicht mehr vorhanden sind und wir den Fischen genug Zeit geben müssen, um sich wieder zu erholen. Natürlich ist das wieder mal die Schuld von unseren Vorfahren!! Manchmal würde ich gerne mal ein Wörtchen mit einem von denen wechseln … Das Fleisch der Fische muss übrigens vor dem Kochen in einer speziellen Flüssigkeit behandelt werden, damit sich dort das feine Mikroplastik herauslösen kann. Die Fische und andere Meerestiere sind besonders in den großen Strömungsstrudeln mit Plastik verseucht, weil sich der ganze Müll dort sammelt und von den Tieren mit Futter verwechselt wird. Zugegeben, das Fleisch schmeckt nach der Behandlung ein wenig bitter, aber man gewöhnt sich schnell an den Geschmack.
Zurück zum Thema. Die Donau verwendet verschiedene Strategien, um den im Wasser herumschwimmenden Plastikmüll einzusammeln. Zum einen sind da die fünfzig Fangarme, von denen jeder rund fünf Kilometer lang und in eine Richtung gekrümmt ist. Sie liegen zum Teil auf der Wasseroberfläche auf und fangen so den aufschwimmenden Müll ein. Dadurch, dass sich die Donau um die eigene Achse dreht, wird der Müll durch die gekrümmten Fangarme langsam aber sich in Richtung Arche transportiert, wo er durch besondere Einlässe ins Innere der Arche gesaugt wird. Am Anfang muss man sich vielleicht an die Eigenrotation der Arche gewöhnen, aber ich kann euch garantieren, dass ihr euch schnell hier wie zuhause fühlen würdet. Falls einmal Meerestiere in die Einlässe gesaugt werden, können sie durch spezielle Fluchtöffnungen wieder nach draußen gelangen, also keine Angst. Hier im nordatlantischen Wirbel – dem Eisatzort der Donau – scheint dieses Prinzip gut zu funktionieren. Natürlich verfängt sich immer mal wieder größerer Müll wie alte Fischernetze in den Einlässen und dann müssen sie per Hand wieder freigemacht werden. So werden wir mit dem aufschwimmenden Plastikmüll fertig.
Leider haben sich über die vielen Jahrzehnte auch große Mengen an kleinen Plastikteilchen im Wasser gebildet, die entweder unterhalb der Wasseroberfläche schweben oder gar bis auf den Meeresgrund abgesunken sind. Gegen die abgesunkenen Teilchen können wir leider noch nicht viel tun, aber zum Glück verfügt die Donau an ihrer Unterseite über große Rohrfiltersysteme, die bis zu dreihundert Meter in die Tiefe reichen und so die kleinen Plastikteilchen aus dem Wasser filtern. Wie das ganz genau funktioniert, davon habe ich keine Ahnung, aber mein Vater sagt mir, dass dort auch organische Hochleistungsfilter zum Einsatz kommen.
Und zum Schluss möchte ich noch von meinem Lieblingsort auf der Donau erzählen – dem Poseidonpark. In der Mitte der Arche befindet sich ein riesiger Park, der so groß ist, dass er sogar kleinere Wälder beheimatet! Er ist mit einer gigantischen Glaskuppel überzogen, denn wir benutzen den Park auch für die natürliche Filterung unseres Abwassers und können damit sogar wieder neues Trinkwasser gewinnen. Da die Pflanzen im Winter ihre Funktion weitgehend einstellen, wird der Park immer auf einer gleichbleibenden Temperatur gehalten, damit das nicht passiert. Am meisten liebe ich dort die kleine Ecke mit dem Teich und den vielen bunten Blumen! Es riecht dort nicht nur herrlich, sondern sieht auch immer super aus!
Ich fühle mich auf der Donau wohl. Sie ist mein Zuhause und ich habe hier alles, was ich brauche. Freunde, meinen Vater und natürlich unseren lieben KAI, die künstlichen Archenintelligenz, der über uns alle wacht und die verschiedenen Vorgänge auf der Arche steuert. Obwohl ich KAI mittlerweile in mein Herz geschlossen habe, finde ich, dass er für eine künstliche Intelligenz manchmal etwas schwer von Begriff ist. Außerdem hätte man sich schon einen besseren Namen für ihn überlegen können … Aber das ist ein anderes Thema.
Liluana Meye
***
Als mein Vater den Aufsatz las, konnte ich eine Mischung aus Skepsis und Überraschung in seinem Gesicht sehen.
„Sag mal, hast du deinen Aufsatz hier wirklich alleine geschrieben?“
Ich versuchte, der Frage auszuweichen. „Na ja, du hast mir ja streng genommen dabei geholfen.“
„Ich habe dir nur deine Fragen beantwortet, aber du verwendest hier teilweise Satzstellungen und Wörter, die ich … sagen wir mal, nicht von dir erwartet hätte …“
„Nun, es könnte natürlich sein, dass mir KAI ein kleines Bisschen beim Schreiben geholfen hat“, sagte ich und schaute ihn mit unschuldigen Augen an.
Ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. „Ein kleines Bisschen, eh?“, sagte er und fing dann an, laut zu lachen.
Zuerst war ich über diese Reaktion überrascht, denn ich hatte eigentlich erwartet, dass ich von ihm Ärger bekommen würde. Aber sein Lachen war so offen und ehrlich, dass es mich wenige Momente später ansteckte und wir uns am Ende beide über die witzige Situation amüsierten.