Читать книгу Der Geruch von Heu - Giorgio Bassani - Страница 5
2
ОглавлениеErinnern Sie sich an das Hotel Tripolis, dieses kleine Ferrareser Hotel letzter Kategorie (und von fragwürdigem Ruf), das sich vor dem Krieg in nächster Nähe vom Kastell der Este befand, genau gesagt, auf dem großen Platz gleich dahinter? Es ist dasselbe Hotel, von dem ich schon bei anderer Gelegenheit gesprochen habe. Also gut, dann stellen Sie es sich in einer Dezembernacht vor, vor vierzig Jahren vielleicht, mit anderen Worten in der schlimmsten Epoche des Faschismus, zu später Stunde, ein paar Minuten, bevor geschlossen wurde.
Unten, in der Halle, hatte man das Licht schon ausgemacht, als plötzlich im Hintergrund die Tür mit den Milchglasscheiben aufging und ein Windstoß die feuchte Luft in den leeren Saal jagte, bis zur Rezeption, wo der Nachtportier saß. Ein Mann trat langsam aus der Dunkelheit hervor und kam auf den Portier zu.
Er bewegte sich schwerfällig, weil er einen großen Koffer trug. Er hatte den Mantelkragen hochgeklappt und die Hutkrempe tief ins Gesicht gezogen, so daß man die Augen nicht sah.
Wer mochte das sein, überlegte der Portier. Ein Handelsreisender?
»Ich möchte ein Zimmer haben«, sagte der Mann ruhig.
»Damit fürchte ich Ihnen nicht dienen zu können«, sagte der Portier.
Er schlug das vor ihm liegende Register auf, in das er nur flüchtig hineinsah, um alsbald eine Grimasse zu schneiden.
»Sie werden verstehen«, sagte er, den Kopf wieder erhebend, »um diese Stunde haben wir das ganze Haus besetzt. Noch dazu so kurz vor Weihnachten …«
Er suchte den Blick des andern, konnte aber die unter der Krempe des schmierigen Schlapphuts verborgenen Augen nicht sehen. Er sah nur den unteren Teil des Gesichts, das stoppelige Kinn und die unrasierten Wangen.
»Bitte, schicken Sie mich nicht wieder weg«, sagte der Mann mit leiser Stimme. Er sprach mit spürbar südlichem Akzent. Kalabrien, vielleicht Sizilien, wer kannte sich da aus.
»Allmächtiger Gott!« seufzte er und beugte sich dabei unmerklich vor. »Ich bin so müde … Ist es denn möglich, daß Sie nichts frei haben? Es genügt mir, wenn ich nur ein paar Stunden bleiben kann. Ich fahre morgen früh mit dem Neun-Uhr-Zug.«
Der Portier schwankte. Er neigte von neuem seinen wohlfrisierten Kopf über das Register. »Ich könnte Ihnen nur ein Doppelzimmer geben«, sagte er schließlich. »Es ist das einzige noch freie Zimmer. Ich mache Sie jedoch darauf aufmerksam, daß Sie desungeachtet den vollen Preis zahlen müssen.«
›Desungeachtet‹ hatte er gesagt, nicht ohne ein gewisses Vergnügen, das er immer empfand, wenn sich die Gelegenheit bot, sich von dem Besitzer des Hotels, Signor Müller, vorteilhaft abzuheben durch sein feineres, gebildeteres Wesen – diesem Müller mit seinem ewigen Zahnstocher zwischen den Goldzähnen und seinen vulgären Manieren. Er war überzeugt, daß der Handelsreisende nun nicht länger auf einem Zimmer bestehen würde, vielmehr kehrtmachte und ging.
Aber da hatte er sich getäuscht.
Er sah, daß der Mann die Hand hob und seinen Hut nach hinten schob, so daß die kahle Stirn sichtbar wurde. Er lächelte.
»Das ist nicht mehr als recht«, sagte er.
»Danke.« Er spitzte die Lippen wie zu einem stummen Pfiff. Und mit einem Augenzwinkern sagte er:
»Der Personalausweis.«
Er hatte schon die rechte Hand in die linke Innentasche seines Mantels gesteckt und behutsam nach dem Ausweis getastet. Er schien mit sich zufrieden zu sein.
Der Portier drückte auf einen Knopf.
Alsbald erschien schlurfend der Hausdiener, ein alter Mann. Er wartete, bis der Portier dem Gast den Personalausweis zurückgab und ihm den Schlüssel zu dem Doppelzimmer im dritten Stock reichte. Darauf bückte er sich, packte den Koffer am Griff und ging, ein wenig schwankend, auf die Treppe zu, ohne darauf zu achten, ob ihm der Gast auch folgte.
»Gute Nacht, Signor Buda«, sagte der Portier. Der Mann hatte sich schon ein paar Schritte entfernt.
»Gute Nacht«, erwiderte er.
Er wandte sich nicht um, sondern beschränkte sich darauf, zwei Finger an die Hutkrempe zu legen.
»Wünschen Sie, geweckt zu werden?«
»Danke, das ist nicht nötig.«
»Gute Nacht, Signore.«
»Gute Nacht.«
Es war ein niedriges, doch geräumiges Zimmer. Die Tür in einer Ecke, daneben die Zentralheizung; Feuchtigkeitsflecken an den Wänden; ein paar strohfarbene Möbel, ein Kleiderschrank, eine Kommode. Neben dem Fenster – ohne Gardinen, mit geschlossenen Läden – das Waschbecken; darüber ein kleiner Spiegel. Über dem Spiegel eine viereckige Deckenleuchte aus Mattglas, fast bis zur Hälfte voller Staub und Ablagerungen, die ein rötliches Licht wie in dem Saal eines Krankenhauses verbreitete. Die beiden Betten standen nebeneinander und wirkten so wie ein großes Ehebett. Sobald er allein war, stieß Signor Buda einen leisen Pfiff aus – diesmal durchaus hörbar. Er sah sich um. Die Spiegeltüren des Kleiderschranks warfen ein schräges Bild des Zimmers zurück, mit ihm in der Mitte, den großen Vulkanfiberkoffer neben sich.
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
»Das Leben ist ein Traum«, sagte er leise vor sich hin.
Er blieb noch einen Augenblick so stehen, regungslos, mitten im Zimmer. Dann schüttelte er die Erstarrung ab. Er legte Hut und Mantel ab und hängte sie an den Haken, der in die Tür geschlagen war. Darauf trat er ans Waschbecken, ließ das Wasser laufen und beugte sich darüber, um sich das Gesicht zu waschen.
Das Leben ist ein Traum, dachte er. Wann hatte er eigentlich einen solchen Satz einmal gehört oder gelesen? Und warum war er ihm gerade jetzt eingefallen?
Er richtete sich wieder auf und tastete nach dem Handtuch, trocknete sich das Gesicht ab und näherte sich dem Bett. Während das eiskalte Wasser mit monoton-klagendem Geräusch weiter aus der Leitung lief, zog er sich rasch aus. Dann warf er den Koffer aufs Bett, entnahm ihm sein Rasierzeug und kehrte an das Waschbecken zurück, um sich den Bart einzuseifen.
Signor Buda schlief und träumte. Er träumte zu schlafen …
Er träumte, daß er drei, höchstens vier Stunden traumlos geschlafen habe. Und daß er schließlich (bam bam bam bam bam bam: sechsmal hatte langsam hintereinander die große Uhr auf dem Platz geschlagen) aufgewacht sei.
Als er die Augen öffnete, lag er noch immer ausgestreckt auf dem Rücken, in derselben Stellung, in der er sich schlafen gelegt hatte. Ein scharfer Geruch, zugleich herb und süßlich (unverwechselbar!), erfüllte das Zimmer. So war es also Zeit, sagte er sich, während er an dem über seinem Kopf hängenden birnenförmigen Griff zog, um Licht zu machen – Zeit aufzubrechen, zu verduften. Auch deswegen. Doch vor allem, in jedem Fall …
Er setzte sich aufrecht, schob die Decken zurück, warf die Beine aus dem Bett und schritt, ohne zu zögern, barfuß auf den Schrank zu.
Er öffnete ihn. Und beim Anblick der Leiche, seiner Leiche, war er nicht etwa verwundert, sondern nickte nur zustimmend mit dem Kopf. Gut. Ausgezeichnet. Ganz nackt, das weiße Zahnfleisch entblößt, verwandelt in diese Marionette – und er wußte ja, daß alles so sein mußte: so kauerte er dort, die längliche, von Bartstoppeln schwarze Wange auf die angezogenen Knie gestützt.
Nachdem er den Schrank mit ungewöhnlich langsamen Bewegungen wieder geschlossen hatte (nur um nicht den Faden seiner Gedanken abreißen zu lassen, nur deshalb, selbstverständlich), fand er sich draußen wieder, im Freien, und wußte selbst nicht mehr, wie er aus dem Hotel herausgekommen war. Die Luft war beißend kalt. Auf der großen, in die Stadt führenden Allee, über der gerade ein kaltes Licht aufging, war keine lebende Seele zu sehen, vom Kastell an bis hin zur alten Zollschranke. Die gleiche Leere auch da unten, als er um die Ecke bog. Am Ende der langen Straße, die er noch zu gehen hatte, tauchte das Bahnhofsgebäude auf: grau, klein, niedrig und doch in vollkommener Klarheit sichtbar.
Er schritt rasch aus, wobei er den Blick starr auf das Bahnhofsgebäude gerichtet hielt, das allmählich größer erschien. Und gerade in dem Augenblick, als er den Bahnhofsplatz erreichte, fielen ihm zwei Dinge ein: erstens, daß er im Hotel Tripolis den großen Vulkanfiberkoffer hatte stehenlassen mit allem, was er enthielt, der Einlage mit den Mustern und, obenauf, seinen persönlichen Dingen, und darunter den verbotenen Druckschriften; zweitens, daß er die Rechnung nicht bezahlt hatte. Er blieb stehen, weniger verlegen als unentschlossen. Aber als er im selben Augenblick das Schnauben einer unsichtbaren Lokomotive hörte, die auf den Gleisen rangierte, so nahe, daß er glaubte, sie sei nur noch ein paar Meter von ihm entfernt, und als er begriff, daß es, von allem anderen abgesehen, bereits zu spät war, um noch einmal umzukehren, da zögerte er nicht länger und ging weiter.
Um so mehr, als es ja nur ein Traum war, sagte er bei sich und lächelte; ein bitterer Trost. Daß er träumte, wußte er im Traum: ein Traum im Traum.