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Der israelitische Friedhof von Ferrara, ganz von einer alten, etwa drei Meter hohen Mauer umgeben, ist eine weite grasbewachsene Fläche, ja, so weit, daß die Grabsteine, die in einzelnen, weit voneinander entfernten Gruppen stehen, im ganzen als sehr viel geringer an Zahl erscheinen, als sie es tatsächlich sind. Im Osten verläuft die Friedhofsmauer dicht neben den alten Bastionen der Stadt, die heute noch dicht bestanden sind von großen Bäumen: Linden, Ulmen, Kastanien, sogar Eichen, die in doppelter Reihe auf dem Erdwall stehen. Zumindest auf dieser Seite hat der Krieg die schönen alten Bäume verschont. Den roten Turm aus dem sechzehnten Jahrhundert, der noch vor ungefähr dreißig Jahren als Pulverturm diente, kann man, halb versteckt hinter den großen grünen Kuppeln, mehr ahnen als sehen.

In den Sommermonaten wuchs das Gras auf unserem Friedhof immer mit wilder Üppigkeit. Wie es heute geregelt ist, weiß ich nicht, aber wenigstens bis 1938 – bis zur Einführung der Rassengesetze, meine ich – pflegte die jüdische Gemeinde das Mähen des Grases einem landwirtschaftlichen Betrieb aus der Provinz zu übertragen, einer Firma aus Quartesana, Gambulaga, Ambrogio oder sonst einem Ort da unten. Im Halbkreis gingen die Schnitter langsam vorwärts, während sie im gleichen Rhythmus die Sicheln bewegten. Ab und zu brachen sie in gutturale Rufe aus; und wenn die Wachen am nahen Pulverturm die fernen Stimmen hörten, die sich im Dunst der Hundstage verloren (das Schilderhaus, vor dem sie, das Gewehr über der Schulter, standen, das Gesicht zum Friedhof gekehrt, leuchtete dort oben weiß vor einem jahrhundertealten schwarzen Stamm), mußten sie ihre Unfreiheit noch stärker empfinden, noch heftiger ihr Heimweh nach einem Leben ohne Zwang. Am Nachmittag um fünf hörten die Männer auf zu mähen. Bis obenhin mit Heu beladen verließen die Wagen mit ihrer schwankenden Last, von einem Ochsenpaar gezogen, nacheinander den Friedhof. Sie fuhren durch die Via delle Vigne, wo zu dieser Stunde die Menschen, die dort wohnten, fast alle vor ihren ärmlichen Häusern saßen, niedrigen, nur aus einem Stockwerk bestehenden Behausungen. Es waren Pensionisten in Hemdsärmeln darunter, mit der Pfeife oder der Toscana-Zigarre im Mund, doch in der Mehrzahl Frauen, alte, bebrillte Frauen, die ihre Wäsche flickten oder Gemüse putzten. Die Straße war eng, auch damals schon nicht breiter als ein Feldweg. Und wenn es der Zufall wollte, daß gerade hier aus der Gegenrichtung, von der Stadtmitte her, ein Leichenzug sich näherte – nun, dann war Geduld geboten. Der Leichenzug mußte zurückstehen und unten, an der verkehrsreichen Kreuzung des Corso di Porta Mare warten: fünf Minuten, zehn Minuten, ja manchmal eine Viertelstunde …

Sobald der Leichenwagen die Schwelle des großen Friedhofstors überquert hatte – wobei es einen sanften Ruck gab –, wirkte sich ein kräftiger Geruch von frischem Heu belebend auf den von der Hitze erschöpften Trauerzug aus. Was für eine Wohltat! Und dieser Frieden! Sofort trat eine allgemeine, fast fröhliche Bewegung ein. Einige der Teilnehmer zerstreuten sich bereits zwischen den Gräbern in der Nähe des Eingangs. Die meisten aber ließen den Leichenwagen, der inzwischen gehalten hatte und von dem die Totengräber jetzt die Kränze herunternahmen, hinter sich – den Wagen sowie die geschlossene Gruppe der nächsten Angehörigen und Anverwandten, die dort auf die Bahre warteten – und gingen einzeln, rüstig ausschreitend, auf die noch weit entfernte Begräbnisstätte zu.

Nur das beharrliche Drängen seines Vaters (›Der Krebs kennt kein Erbarmen!‹ hatte er unter anderem, mit dem üblichen warnenden und erpresserischen Ausdruck gesagt) hatte Bruno Lattes dazu vermocht, an dem Begräbnis seines Onkels Celio teilzunehmen. Er hatte sich gefügt – natürlich nur, um nicht mit seinem Vater zu streiten. Er war sogar – und er selbst war am meisten davon überrascht – eine ganze Weile sehr brav gewesen. Nicht nur während des ganzen Weges von der Via Voltapaletto bis zum Friedhof, sondern auch danach, inmitten der kleinen Menge von Verwandten und nächsten Vertrauten, die hoch über ihren Köpfen den Sarg von West nach Ost quer über den ganzen Friedhof getragen hatten, auch danach hatte er sich mehr als gut betragen, immer lieb und artig und ganz friedlich.

Aber in einem bestimmten Augenblick hatte er alle Bravheit abgeschüttelt. Als die Totengräber sich anschickten, den Sarg in das Grab hinabzulassen, und sein Blick zufällig dem verwirrten Blick seines Vaters begegnete, da fühlte er wieder den gewohnten dumpfen Zorn in sich aufsteigen.

Was hatte er denn mit ihnen gemein – so fragte er sich wieder einmal –, mit seinem Vater und dessen Verwandten und Anverwandten? Er, Bruno, war groß, hager, von dunklem Teint und dunkelhaarig, während sein Vater und hinter ihm die endlose Reihe der Camaioli, Bonfiglioli, Hanau, Josz, Ottolenghi, Minerbi, Bassani und so weiter, die alle zusammen die ›Sippe der Lattes‹ ausmachten, vorwiegend klein und untersetzt waren und blaue Augen hatten, von einem hellen, verwaschenen Blau (oder auch schwarz, aber dann von einem stumpfen, glanzlosen Schwarz). Außerdem war ihnen eine unverwechselbare Form des Kinns eigentümlich: weich und rund. Und in geistiger Hinsicht? Nun, auch charakterlich bestand, Gott sei Dank, auch nicht die mindeste Ähnlichkeit zwischen ihnen und ihm. Er neigte nicht zu besonderer Erregbarkeit, hatte nichts Labiles und Krankhaftes an sich – nichts von diesen so typisch jüdischen Eigenschaften. Was seinen Charakter betraf, so glich er – wenigstens sah er es so – viel mehr dem seiner vielen katholischen Freunde: aufrecht und offen. Nicht umsonst hieß die Familie seiner Mutter, die katholisch, erzkatholisch war, Marchi! Was endlich den Krebs anging, den sein Vater, seitdem im Jahre 1924 der Großvater Benedetto nach fast zwei Jahren unsäglicher Leiden an einem Magentumor gestorben war, durchaus zur Familienkrankheit erklären wollte (aber nicht bei Onkel Celio jedenfalls, man solle ihm keinen Unsinn erzählen; Onkel Celio war an einer Nephritis gestorben, an der er seit langem litt; folglich konnte hier nun einmal vom Krebs überhaupt nicht die Rede sein …), was also den Krebs anging, so sollte er ruhig kommen, wann es ihm paßte, wenn er denn durchaus kommen wollte! Nur zu! Bitte es sich bequem zu machen! Er für seinen Teil hatte sich schon lange vorgenommen, auch unter diesen Umständen sich so zu verhalten, wie es seine Mutter getan hätte, die immer fröhlich war, die Arme, und stets so einfach und natürlich. Durfte denn der Krebs zu einem täglichen Problem werden, zum beherrschenden Gedanken, den man Jahre hindurch in seinem Herzen zwischen Angst und Freude hegte und hätschelte? Einfach widerlich! Diese Macht würde er dem Krebs niemals einräumen. Nie und nimmer.

Der Sarg ruhte jetzt auf dem ausgeschachteten Grund. Die Träger hatten die Seile herausgezogen, und der Rabbiner Dr. Castelfranco sprach bereits mit nasal psalmodierender Stimme die Totengebete.

Und da erklang plötzlich ganz nahe das Spiel einer Ziehharmonika.

Bruno sah nach oben.

Aber wegen der Mauer, die den Friedhof von der Bastion trennte, vermochte er den Spieler der Ziehharmonika nicht zu entdecken. Er sah da oben nur einen Soldaten vor einem Schilderhaus – ein Posten, natürlich, der das Munitionsdepot bewachte –, der den Kopf vorstreckte – man sah sein schweißbedecktes Gesicht – und zum Takt der Musik bewegte.

Amore amor

portami tante rose …

Es war eine Frauenstimme, die diese Worte sang: ›Liebling, schenk mir Rosen …‹ »Ruhe!« gebot jemand. Es folgten weitere Protestrufe. Beschimpfungen und Verwünschungen wurden laut, mit geballter Faust hervorgebracht. Hinter den großen Bäumen des Stadtwalls, hinter den glänzenden dichten Laubmassen, ahnte man eine freiere Luft, eine Brise wie vom Meer.

In immer rascherem Rhythmus wurde nun die Erde auf den Sarg geschaufelt.

Bruno wandte den Blick ab.

Würde er wohl nach dem Abendessen, wenn er mit dem Rad dort oben über den Stadtwall fuhr, hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, die im Gras liegenden Liebespärchen mit dem Scheinwerfer aufzuspüren, und seiner Furcht vor dem Blick auf die darunterliegende schwarze Fläche des Friedhofs (schon als kleines Kind hatte er sich vor Irrlichtern gefürchtet), würde er also dann noch den jungen Soldaten vor seinem Schilderhaus finden? Wer weiß. Jedenfalls was er jetzt empfand, war nur Bitterkeit und Ekel.

Dabei wußte er es ganz genau. Seine Ungeduld und die fast irrsinnige Erregung, die ihn jetzt, als er an den Posten am Pulverturm dachte, quälten (vielleicht würden sie beide, nachdem sie Freundschaft geschlossen hatten, zusammen ins Kino gehen und, wer weiß, später noch ins Bordell, obwohl er noch nicht achtzehn Jahre alt war …), das alles war keine unmittelbare Reaktion auf die lästige Pflicht, der er sich heute hier zu unterziehen hatte. Die Ursache lag weiter zurück, sehr weit, an einem Punkt der Vergangenheit, der sich in einer gleichsam grenzenlosen Ferne verlor.

Bei dem Begräbnis seines Großvaters Benedetto im August 1924 hatten die Totengräber, bevor sie den Sarg hinabließen, den Deckel abgeschraubt. Darauf wurde, nach ältestem jüdischem Brauch, über den in ein besticktes Laken gehüllten Leichnam ungelöschter Kalk gestreut. Das war auf ausdrücklichen Wunsch seines Großvaters geschehen. Er hatte kaum seinen letzten Atemzug getan, als schon jemand sich beeilte, sein Testament zu öffnen. Und dieses Testament sprach eine klare Sprache. Der ungelöschte Kalk war erst auf dem Friedhof, vor dem offenen Grab, in den Sarg zu schütten. Vorher, das heißt zu Hause, nicht! O weh!

Er war damals neun Jahre alt gewesen. Es war das erstemal, daß man ihn auf den Friedhof mitgenommen hatte, und er erinnerte sich genau, wie mit den ersten abendlichen Schatten dichte Mückenschwärme gekommen waren und über dem Rasen spielten. Und diese Mücken hatten für ihn, zumal wenn er ein Auge mit der Hand zuhielt, eine merkwürdige Ähnlichkeit mit den Jagdflugzeugen gehabt, die er an einem Augustabend vor mehreren Jahren gesehen hatte. Geräuschlos waren sie den Himmel entlanggezogen und hatten zur Landung angesetzt, und es war ein unendlich weiter Himmel gewesen, der sich vor dem Fenster des Wohn- und Speisezimmers öffnete, in dem sein Großvater Benedetto, zum zweitenmal verwitwet, allein bei seinem Abendessen saß. Es war noch Krieg. Sein Vater stand an der Front. Und seine Mutter? Wo war seine Mutter gewesen? Irgendwer, vielleicht Tante Edvige, die nach dem Tode seiner Großmutter Esterina den Haushalt führte, hatte ihm gesagt, daß seine Mutter nach Feltre gefahren war, wo sie mit seinem Vater einen kurzen Urlaub verlebte. Aber Feltre? Wo war das, Feltre? Und vor allem: was war es? Und was war die Etappe, von der Tante Edvige gesprochen hatte? Langsam waren die Flugzeuge, nacheinander und ohne ein Geräusch zu verursachen, vor dem milchfarbenen Abendhimmel gelandet. Sie schienen zum Greifen nahe zu sein. Man brauchte nur die Hand aus einem der beiden Fenster zu strecken, um sie zu berühren. Nur daß leider der Großvater hinter ihm saß, bei seiner einsamen Mahlzeit, bei der er übrigens, die Brille in die Stirn geschoben, seine Zeitung las, die er an die Wasserkaraffe gelehnt hatte. Wenn der Großvater, der stets alles merkte und auch die geheimsten Gedanken erriet, jetzt Brunos Wunsch erkannt hätte, dann würde er ihn nicht etwa gescholten haben, bewahre! Er hätte sich nur darauf beschränkt (was freilich viel schlimmer gewesen wäre!), ihn fest anzusehen mit seinen strengen, stechenden Augen von blauem Schmelz …

An dem Augustnachmittag des Jahres 1924, an dem Großvater Benedetto begraben wurde, war der Rasen frisch geschnitten – genau wie heute. Man bekam Lust, darüber zu laufen. Und tatsächlich hatte er sich auf einmal von der Hand seiner Mutter losgerissen, die mit den anderen am Grab des Großvaters stand – es war noch lange nicht zugeschüttet –, und hatte begonnen, für sich zu spielen und den Mückenschwärmen nachzulaufen. So hatte er sich immer weiter entfernt.

Aber plötzlich war er der Länge nach hingefallen, mit dem Gesicht nach vorn. Noch im Fallen wußte er, daß er sich die Haut am Knie abgeschürft hatte. Und doch hatte er in dem Augenblick auf sein Knie gar nicht geachtet. Er hatte um sich geschaut. Wie einsam es auf einmal um ihn geworden war! Obwohl ihm das Bein weh tat, sehr weh, kümmerte sich niemand um ihn, nicht einmal seine Mutter. Langsam trockneten die Tränen auf seinem Gesicht.

»Was hast du angestellt, Bruno?« fragte seine Mutter außer Atem, als sie ihn eingeholt hatte. »Kannst du nicht einen Augenblick still stehen? Weißt du nicht, daß dein Großvater Benedetto gestorben ist?«

Es dauerte ein Weilchen, bis er eine Antwort bereit hatte. Aber schließlich war ihm ein Satz eingefallen, den er am selben Tag bei Tisch von seinem Vater gehört hatte, und nun wiederholte er, so, als wüßte er es nicht, Wort für Wort diesen Satz.

»Nur den Toten geht es gut«, hatte er gesagt und dabei genau wie sein Vater geseufzt; und zugleich hob er die Lider, um seine Mutter zu beobachten; verstohlen blickte er zu ihr auf.

Lange und ernsthaft hatte sie ihn mit ihren schönen braunen Augen betrachtet – Augen mit tiefen Rändern nach den vielen durchwachten Nächten am Bett ihres Schwiegervaters in den letzten Monaten seiner Krankheit und dennoch lebendiger und leuchtender denn je – und ihm schließlich ihre Hand auf den Mund gelegt. Dann bückte sie sich und verband ihm das Knie mit einem Taschentuch.

Der Geruch von Heu

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