Читать книгу Der hölzerner Engel - Gisela Garnschröder - Страница 5
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Die Autobahn war fast leer an diesem Freitagabend Ende Februar. Ein blauer Golf rollte mit mäßigem Tempo dahin. Der Blinker leuchtete auf. An der Abfahrt Rheda-Wiedenbrück steuerte der Fahrer seinen Wagen auf den Zubringer Richtung Münster.
Familie Frai war auf dem Heimweg. Sie hatten die Großeltern in Dortmund besucht. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Die Kinder im Fond schliefen fest. Die Frau auf der Beifahrerseite gähnte herzhaft. Der Mann strich ihr sanft mit der Rechten übers Knie.
»Schau lieber nach vorn!«, flüsterte sie lächelnd und kuschelte sich tiefer in den Sitz.
Sie sah die Umrisse einer Brücke in der Ferne und dachte: ›Endlich, die letzte Abfahrt‹.
Sie freute sich auf ihr Zuhause. Irgendetwas Dunkles auf der Brücke irritierte sie. Im gleichen Moment riss der Fahrer das Lenkrad herum. Es schepperte, als der Golf gegen die Leitplanken knallte. Die Insassen wurden kräftig durcheinander geschleudert. Der Wagen drehte sich und blieb quer zur Fahrbahn kurz vor der Brücke liegen.
Ein nachfolgender Kleinlaster konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen, donnerte an dem Golf vorbei und fuhr auf den Gegenstand auf, der von der Brücke gefallen war. Er schob ihn unter der Brücke hindurch, bis er nach etwa sechzig Metern zum Stehen kam.
Der Autobahnzubringer war nach etwa zwei Stunden Sperrung durch die Polizei wieder frei. Familie Frai hatte Glück gehabt. Da alle vier Personen angeschnallt waren, hielten sich die Verletzungen in Grenzen. Schlüsselbeinbruch beim Fahrer und eine leichte Kopfverletzung bei der Beifahrerin, die Kinder waren unverletzt. Nach gründlicher Untersuchung und Erstversorgung im Krankenhaus konnten alle Familienmitglieder nach Hause. Das Auto war schrottreif.
Der Fahrer des Kleinlasters hatte einen Schock erlitten. Unter seinem Wagen fand man die Leiche einer jungen Frau. Ihr Fahrrad wurde auf der Brücke sichergestellt.
Das Polizeigebäude der Kreisstadt war neu. Ein Bau aus Beton mit viel Glas, grauen Steinen und blauen Platten unter den Fenstern, die von der Straße aus wie Keramikfliesen wirkten, in Wirklichkeit aber die Sonnenkollektoren der Fotovoltaikanlage waren. Die Fenster ließen so viel Licht hinein, dass im Sommer ständig die Jalousien heruntergelassen waren. Jetzt Ende Februar war die Sonne wohltuend.
Josef Tann war gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt. Er genoss die Sonne, die sein Büro durchflutete, wenn auch sein Bildschirm dadurch blind wurde. Auf seinem Tisch lagen Fotos eines Unfalls der vergangenen Nacht. Zwei schrottreife Autos, zwei Leichtverletzte und eine Tote. Alle in den Unfall verwickelten lebenden Personen standen unter Schock, besonders der Fahrer eines Kleinlasters. Die Tote, wahrscheinlich Selbstmord, hatte man unter dem Laster hervorgeholt. Kommissar Tann schob die Fotos auf seinem Schreibtisch unschlüssig hin und her. Er besah sich die Aufnahmen der Toten genauer. Durch den Aufprall auf die Straße und den Umstand, dass der Laster sie fast sechzig Meter unter der Haube mitgeschleift hatte, bot sie einen entsetzlichen Anblick. Tann bedauerte die Feuerwehrleute, die die Leiche unter dem Wagen geborgen hatten. Es war keine schöne Arbeit. Der Polizeifotograf hatte mehrere Aufnahmen aus verschiedenen Perspektiven gemacht, dennoch war kaum ein Erkennen möglich. Unter den Fotos fand Tann den Kurzbericht des Notarztes. Todesursache mit hoher Wahrscheinlichkeit der Aufprall auf die Straße. Alter: etwa fünfzehn bis achtzehn Jahre, blond, blaue Augen, circa ein Meter siebzig groß. Der Kommissar seufzte. Sicher würde die Obduktion auch nicht mehr bringen. Was veranlasste ein so junges Ding dazu, von einer Brücke zu springen? Energisch schob Josef Tann die Bilder beiseite und verließ das Büro.
Das Haus lag in einer Seitenstraße. Ein Bungalow, in den siebziger Jahren erbaut, mit einem großen Garten drum herum. Als Josef Tann und sein Kollege Alfons Weiß an der Haustür klingelten, blieb alles still.
»Scheint niemand zu Hause zu sein«, sagte Weiß.
Sie versuchten es erneut, nichts rührte sich. Eine ältere Dame blieb am Bürgersteig stehen und schaute den beiden interessiert zu. Sie trug einen Kittel mit aufgedrucktem Blumenmuster. Ihre blonden Haare hatten eine etwas verwaschene Dauerwelle und standen struppig vom Kopf.
»Was machen Sie denn da?«, erkundigt sie sich.
Josef Tann ging zu ihr, zeigte seinen Ausweis und entgegnete: »Kriminalpolizei. Wohnen Sie hier in der Nähe?«
»Ja, ich wohne gleich hier nebenan. Ich heiße Siemer, Gerda Siemer«, antwortete sie. »Ist was passiert? «
Man sah ihr die Neugierde förmlich an. Kommissar Tann ging nicht darauf ein, sondern stellte eine Gegenfrage:
»Ist die Familie Gressmer verreist?«
»Ja!« Frau Sieman nickte eifrig. »Seit einer Woche. In der Schweiz zum Skilaufen. Aber Susanne, die Tochter ist daheim. Wegen der Schule. Ein so intelligentes Mädchen und immer freundlich! Müsste eigentlich bald zurück sein. Ist etwas nicht in Ordnung?«
Tann lächelte. »Danke, für die Auskunft. Es ist nichts weiter. Wir kommen dann ein anderes Mal wieder.«
Die beiden Beamten gingen eilig davon. Frau Siemer schaute ihnen nach und beobachtete, wie sie in einen dunklen Wagen stiegen. Zu gern hätte sie gewusst, was die Polizei bei den Gressmers zu suchen hat.
»Schrecklich, diese sensationslüsternen Tratschtanten!«, sagte Josef Tann zu seinem Kollegen, als sie im Wagen saßen.
Alfons Weiß grinste breit: »Hat manchmal was für sich. Jetzt weißt du wenigstens, dass die Leute in der Schweiz in Urlaub sind.«
Weiß fuhr langsam in Richtung Kreisstadt.
»Mein Gott, du findest auch immer etwas Positives! Trotzdem müssen wir erst einmal herausfinden, wo in der Schweiz sich die Gressmers aufhalten. Wird ein ganz schöner Schock sein, wenn sie erfahren, dass ihre Tochter sich umgebracht hat. Sag mal, wo fährst du überhaupt hin?«
Tann stellte überrascht fest, dass sie sich auf dem Nordring befanden und in Richtung Herzebrocker Straße den kleinen Vorort verließen.
»Wohin schon? Zum Kreishaus natürlich. Hast du vergessen, dass der Landrat zur großen Dienstbesprechung geladen hat?«
Gernot und Heidelinde Gressmer waren bester Stimmung. Sie hatten sich in der Hotelbar mit Freunden zum Après-Ski getroffen. Als eine Durchsage kam, achteten sie nicht darauf.
»Seid mal still! War das nicht euer Name?« Simone Bauer, eine zierliche Brünette mit Grübchen in den Wangen, horchte gespannt auf.
»Ach, hier kennt uns doch niemand!«, lachte Gernot Gressmer und nahm einen ordentlichen Schluck aus seinem Bierglas.
Da ertönte wieder die Stimme aus dem Lautsprecher.
»Herr oder Frau Gressmer bitte dringend zur Rezeption!«
»Aber … das ist doch …? Was soll denn das?«, empörte sich Gressmer.
Seine Frau wurde unruhig: »Es wird hoffentlich nichts passiert sein?!«
»Quatsch! Dann hätte Susi längst angerufen.«
Verärgert ging Gernot Gressmer davon. Als er nach fünf Minuten nicht zurück war, folgte Heidelinde ihm. Sie fand ihn in einem Sessel an der Rezeption. Leichenblass saß er da, sein Gesicht war eingefallen.
»Um Himmels willen, Gernot! Was ist?«
»Susanne, sie ist … sie hat … Die Polizei hat angerufen«, er suchte nach Worten und eine schreckliche Angst kroch in Heidelinde Gressmer hoch. Sie kauerte sich neben ihren Mann und erfuhr nach und nach, was sich ereignet hatte. Sie nahm ihn mit aufs Zimmer, packte die Koffer und regelte alles, damit sie den ersten Zug erreichten. Ihr Mann war völlig apathisch.
Am darauf folgenden Nachmittag erreichten sie ihren Wohnort. Heidelinde Gressmer setzte sich sofort mit der Polizei in Verbindung. Irgendwie hatte sie geglaubt, alles wäre ein Irrtum. Als sie den Hörer auflegte, brach sie zusammen.
Als Kommissar Tann erneut das Haus der Gressmers aufsuchte, waren die Eheleute gerade zurückgekommen. Gernot Gressmer hatte sich inzwischen gefasst und öffnete. Er bat den Polizisten, im Wohnzimmer Platz zu nehmen.
»Meiner Frau geht es nicht gut. Der Arzt war da«, erklärte er knapp und nahm ebenfalls Platz, stand aber dann gleich wieder auf und rannte unruhig im Zimmer hin und her.
Tann beobachtete ihn nachdenklich und sagte bedächtig:
»Es muss jemand Ihre Tochter identifizieren. Ihre Sachen könnten Sie dann auch abholen. Ich würde Sie mitnehmen.«
Gressmer blieb vor dem Kommissar stehen.
»Wann?«
»Wenn Sie Zeit haben sofort.«
Ohne ein weiteres Wort ging Gressmer davon, kam nach einer Minute mit seiner Jacke zurück.
»Ich bin so weit.« Mehr brachte er nicht heraus.
Als sie die Rechtsmedizin verließen, war Gernot Gressmer kalkweiß im Gesicht. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Kommissar Tann fuhr mit ihm zurück zur Kreispolizeibehörde.
»Der Obduktionsbericht liegt noch nicht vor. Aber die Sachen Ihrer Tochter kann ich Ihnen schon aushändigen«, sagte Tann, als sie im Büro angekommen waren und Gressmer ihm gegenüber Platz genommen hatte.
Der Kommissar nahm eine Plastiktüte, die auf einem Hocker neben dem Schreibtisch gelegen hatte, und verteilte den Inhalt vor sich auf dem Schreibtisch. Ein paar silberne Ohrstecker, einen silbernen Ring mit einer Perle, eine Halskette mit einem schlichten Kreuz, ebenfalls Silber, ein braunes Lederportemonnaie mit einem Bargeldbetrag von 56,90 Euro, einen Personalausweis und eine Bankkarte der Volksbank Gütersloh ausgestellt auf den Namen Susanne Gressmer. Er hielt seinem Gegenüber ein Schriftstück hin, auf dem alle Gegenstände der Toten aufgeführt waren.
»Bitte unterschreiben Sie, dass Sie die Sachen erhalten haben. Das Fahrrad Ihrer Tochter können Sie in den nächsten Tagen unten im Hof abholen. Der Beamte dort wird es Ihnen gegen diese Durchschrift aushändigen«, erläuterte Tann.
Gressmer unterschrieb, ohne zu zögern. Er war noch immer blass.
Josef Tann bemerkte es und versuchte, seine Frage möglichst vorsichtig zu formulieren.
»Herr Gressmer, haben Sie eine Vorstellung oder besser gesagt eine Ahnung warum Ihre Tochter …?«
»Nein! Ich habe keine Ahnung!«, unterbrach ihn Gressmer. »Seit gestern Abend grüble ich darüber nach. Ich kann es mir nicht erklären.«
Er stützte den Kopf in die Hände. Der Anblick der Leiche ging ihm nicht aus dem Sinn. Gut, dass seine Frau nicht dabei war!
»Wann haben Sie Ihre Tochter zuletzt gesprochen? Sie werden doch sicher mit Ihr telefoniert haben.«
Der Kommissar beobachtete sein Gegenüber aufmerksam. Er war sehr blass, machte aber sonst einen relativ stabilen Eindruck. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort.
»Meine Frau hat zuletzt mit ihr gesprochen. Gestern Morgen, nein, vorgestern Morgen. Susi war gut drauf, sie hatte eine Zwei in Latein. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin. Die Schule war sicher nicht der Grund.«
»Hatte Ihre Tochter einen Freund?«
Gressmer schüttelte den Kopf. »Nein, nicht dass ich wüsste. Zumindest nichts Festes. Hin und wieder war sie mal mit einem Jungen aus. Meistens war sie mit Ihrer Clique zusammen.«
»Eine Clique? Wer gehörte dazu? Wissen Sie die Namen?«, fragte Tann.
»Nicht alle, da müssen Sie meine Frau fragen. Die Veronika Brauer war dabei. Ein nettes Mädchen, es war häufig bei uns.«
Gressmer wischte sich den Schweiß von der Stirn. Josef Tann merkte, wie schwer es ihm fiel, seine Fragen zu beantworten.
»Herr Gressmer, ich glaube es ist besser, ich bringe Sie jetzt nach Hause. Sobald die Leiche Ihrer Tochter freigegeben ist - ich denke morgen werden die Untersuchungen abgeschlossen sein - melde ich mich bei Ihnen. Ach, da fällt mir noch etwas ein. Könnte ich mir das Zimmer Ihrer Tochter einmal ansehen?« Gressmer nickte abwesend. Der Kommissar packte die Habseligkeiten der Toten wieder in die Tüte und überreichte sie ihm. Gressmer nahm den Beutel und fasste hinein.
»Der Haustürschlüssel? Susannes Schlüsselbund, ein kleines rotes Täschchen mit Reißverschluss ist nicht dabei.«
Überrascht schaute der Kommissar ihn an.
»Einen Schlüssel haben wir nicht gefunden. Unsere Beamten haben alles abgesucht.« Josef Tann war leicht verärgert, dass ihm das entgangen war. »Sind Sie sicher, dass Ihre Tochter ihren Schlüsselbund dabei hatte?«
»Vollkommen sicher! Wie sonst hätte sie wohl die Haustür abschließen können? Als wir gestern wieder kamen, war alles korrekt verschlossen.«
»Ich werde einige Beamte zum Unfallort schicken, um alles nochmals gründlich abzusuchen. Aber ich kann Ihnen natürlich nicht garantieren, dass er gefunden wird, Ihre Tochter könnte ihn überall verloren haben.«
»Das kann natürlich sein«, antwortete Gressmer und setzte hinzu: »Wir sollten fahren.«
Dann gingen sie zusammen hinaus.
Das Gelb der Sonnenblumen leuchtete in der Sonne, die geradewegs durch das Fenster auf Susannes Lieblingsbild fiel, Sonnenblumen von van Gogh als Poster in schlicht schwarzem Rahmen. Susanne hatte es vor einiger Zeit billig in einem Kaufhaus erstanden. Heidelinde Gressmer stand davor und hatte noch immer keine Antwort auf ihre Frage. Seit einer halben Stunde war sie schon in Susannes Zimmer. Es war ordentlich aufgeräumt. Neben dem Schreibtisch stand die Schultasche fertig gepackt, wie jeden Abend. Die Gitarre stand ordentlich auf dem Ständer neben dem Schrank. Das Bett war gemacht und auf dem Nachttisch lag ein Taschenbuch mit einem roten Lineal als Lesezeichen.
Nichts wies darauf hin, dass Susanne das Leben leid war. Kein Abschiedsbrief, keine Nachricht, nichts. In der Schublade des Nachttisches lag das kleine rote Tagebuch, welches Susanne zum zehnten Geburtstag bekommen hatte. Heidelinde blätterte ein wenig darin herum. Die letzte Eintragung war von Weihnachten. Dann waren einige Seiten herausgetrennt. So hatte Susanne es oft gemacht. Wenn ihr der Text nicht gefiel, riss sie die Seite heraus.
Heidelinde seufzte. Die Tränen kamen erneut. Sie setzte sich auf das Bett, ihr war schwindelig. Der Arzt hatte ihr eine Beruhigungsspritze gegeben und sie hatte etwas geschlafen. Trotzdem fühlte sie sich nicht ausgeruht. Wo Gernot nur blieb? Es war noch so viel zu regeln. Wenn sie nur eine Idee hätte, was wirklich geschehen war.
›Warum Susanne? ‹, dachte sie. Was hatte sie da nur nicht mitbekommen? Sie hatte versagt. Susanne hatte kein Vertrauen gehabt, nicht einmal zu ihrer Mutter, sonst hätte sie ihr doch von ihren Sorgen erzählt. Sie muss Kummer gehabt haben! Warum sonst? Heidelindes Gedanken drehten sich im Kreis. Plötzlich hörte sie Schritte auf der Treppe. Gernot war zurück.
Kommissar Tann kam erst gegen fünfzehn Uhr wieder in sein Büro. Er war nicht zufrieden. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass Susanne Gressmer nicht ganz freiwillig aus dem Leben geschieden war. Der verschwundene Schlüssel ging ihm nicht aus dem Kopf. Heidelinde Gressmer hatte ihm das Zimmer ihrer Tochter gezeigt. Es war penibel aufgeräumt. Die Schulaufgaben waren gemacht. Ein Buch auf dem Nachttisch und ein Einkaufszettel für das Mittagessen in ihrer Schultasche gaben weiß Gott keinen Hinweis auf einen Suizid. Sie mussten etwas übersehen haben. Einer plötzlichen Idee folgend griff er zum Telefon.
An der Theke herrschte Hochbetrieb. Der örtliche Fußballverein hatte zwei zu null gewonnen und lautstark drängelten sich die durstigen Fans um die Theke, um die vom Anfeuern trockenen Kehlen zu ölen. In einer Ecke auf einer gepolsterten Bank saßen Alfons Weiß und sein Kollege Josef Tann und tranken ihr Bier. Sie hatten sich ebenfalls das Spiel angesehen und waren guter Stimmung. Ein leicht angetrunkener Fan stieß Tann seinen Ellbogen in die Rippen. »Hey, pass auf!«, protestierte er.
»Ach, der Herr Kommissar. Was sagen Sie denn zu unserer Susi! Schade um die Kleine, war so eine Süße. Komisch sind die Frauen! Wenn das heulende Elend kommt, drehen sie ab.«
Tann gab keine Antwort. Der Mann war noch sehr jung. Er kannte ihn nicht und wollte keinesfalls eine Diskussion über den Selbstmord Gressmer mit einem Angetrunkenen heraufbeschwören. Schnell wandte er sich seinem Kollegen Weiß zu.
»Dieser blöde Fall geht mir wirklich auf die Nerven. Und hört man mal etwas anderes, kommt so ein Trottel und erinnert einen wieder daran. Irgendetwas ist an dieser ganzen Sache faul«, knurrte er.
»Das hab ich auch längst gedacht, Jupp«, stimmte Weiß ihm zu. »Selbst der Obduktionsbericht ist mir unverständlich.«
Josef schaute ihn überrascht an: »Wieso der Obduktionsbericht?«
»Bist du schon mal irgendwo runtergesprungen?«
»Klar, zigmal, wieso?«
»Also, ich springe immer mit den Beinen zuerst nach unten.«
»Außer ins Wasser«, unterbrach ihn Jupp grinsend und bestellte eine neue Runde.
»Blödmann! Lass mich mal ausreden. Also, man springt gewöhnlich mit den Beinen zuerst. Die kleine Gressmer ist mit dem Kopf zuerst gesprungen. Die Obduktion hat ergeben, dass aufgrund der starken Kopfverletzungen davon auszugehen ist, dass sie mit dem Kopf zuerst aufgeschlagen ist.«
Die Kellnerin brachte das Bier und notierte den Betrag auf Tanns Bierdeckel. Beide nahmen einen tiefen Zug aus dem Glas und wischten sich dem Schaum vom Mund.
»Vielleicht hat sie sich über das Geländer gehängt und sich dann fallen lassen«, sinnierte Tann.
Alfons Weiß wiegte gedankenverloren den Kopf hin und her. »Das habe ich den Arzt, der die Untersuchung durchgeführt hat, schon gefragt. Dann wäre sie mit dem Rückgrat auf der Straße aufgeprallt.«
Tann schüttelte unwirsch den Kopf. »Wirklich blöd. Sie ist fast fünf Kilometer mit dem Rad gefahren, um sich umzubringen.«
Weiß nahm einen Schluck aus seinem Bierglas und meinte nachdenklich: »Vielleicht wollte sie vorher jemanden besuchen und hat ihn nicht angetroffen.«
Josef Tann zuckte die Schulter. »Egal, komm lass uns von etwas anderem reden.«
»Recht hast du. Ich bestell noch ’n Bier«, sagte Alfons und hob sein Glas der Kellnerin entgegen.
Im Polizeigebäude war Montagsstimmung. Die Beamten der Nachtschicht gingen gähnend heim, und die anderen begannen den Tag müde und fröstelnd. Ein kalter Wind war aufgekommen. Es regnete. Einzelne Schneeflocken mischten sich unter die Regentropfen. Die ersten Krokusse hatten ihre Blüten schnell wieder geschlossen. Der Wintermantel tat nach wie vor gute Dienste und die Frühlingsgestecke in den Blumenläden wirkten deplatziert.
Hauptkommissar Brunger hatte mit mattem Eifer die aktuellen Vorfälle studiert und seine Beamten zur Frühbesprechung begrüßt.
»Der Fall Gressmer scheint ein ganz gewöhnlicher Selbstmord zu sein. Ein Fremdverschulden kann bisher nicht festgestellt werden. Das Fahrrad weist außer denen der jungen Frau keine Fingerabdrücke auf. Fremde Faserspuren oder irgendwelche anderen Hinweise gibt es nicht. Nach dem verschollenen Haustürschlüssel wurde nochmals alles abgesucht. Leider Fehlanzeige. Den Schlüssel kann das Mädchen aber schon vorher verloren haben. Die Kollegen Tann und Weiß sollten heute noch einmal in der Schule vorbeisehen und die Lehrer und Mitschüler befragen. Ich denke, wenn auch dort keine weiteren Anhaltspunkte auftauchen, können wir den Fall abschließen.«
Alfons Weiß und Josef Tann nickten zustimmend.
»Warum kann der uns nicht direkt ansprechen?«, raunte Alfons seinem Kollegen zu. Der zuckte grinsend die Schulter und Brunger, aufmerksam geworden, schaute zu ihnen hinüber.
»Irgendwas unklar?«
»Alles in Ordnung, Herr Brunger, wir fahren dann gleich los. Zur großen Pause sind wir vor Ort«, antwortete Tann und die beiden verließen den Besprechungsraum.
Der Schulhof des Städtischen Gymnasiums war bevölkert von Schülern. Große Pause. Gruppen von Schülern standen Butterbrot kauend oder etwas trinkend herum. Die meistens tranken Cola, stellte Alfons Weiß fest. Überhaupt fiel ihm auf, dass sich seit seiner Schulzeit eine Menge geändert hatte. Waren vor Jahren noch Lehrer auf dem Schulhof zur Aufsicht konnte er jetzt niemanden entdecken.
Eine Traube aus Jungen und Mädchen hing an einem jungen Ding mit Stupsnase und rotem Pferdeschwanz. Sie trug Jeans und sah kaum älter aus als siebzehn.
Josef Tann stieß seinen Kollegen in die Rippen. »Schau mal die Rotblonde da. Was meinst du? Oberprima?«
Alfons Weiß grinste: »Nee, bei dem Auflauf bestimmt Lehrerin im Anerkennungsjahr.«
Beide lachten und steuerten zielstrebig auf die Gruppe zu.
Cäcilia Brant hatte die Männer kommen sehen. Sie hob die Augenbrauen, was ihr einen etwas hochmütigen Ausdruck verlieh.
»Was haben Sie denn hier zu suchen?«, fuhr sie die beiden an.
»Das würden wir ganz gern mit dem Aufsicht habenden Lehrer besprechen. Oder können Sie uns den Weg ins Rektorat zeigen?«, knurrte Josef Tann sie an.
Ein vernichtender Blick aus stahlblauen Augen traf ihn.
»Ich habe hier die Aufsicht! Was kann ich für Sie tun?«
Das Grinsen in Alfons Weiß´ Gesicht wurde breiter. Tann zeigte seinen Ausweis und stellte fest, dass ihr Gesichtsausdruck von ablehnend auf überrascht wechselte.
»Wir hätten da ein paar Fragen bezüglich Susanne Gressmer. Ich bin Kommissar Tann und das ist mein Kollege Kommissar Weiß«, erklärte er und lächelte freundlich.
»Im Moment ist es schlecht, aber in zehn Minuten ist die Pause zu Ende, dann können Sie mich im Lehrerzimmer erreichen. Ach, übrigens ich heiße Brant, Cäcilia Brant«, antwortete sie knapp und schickte die Schüler fort. Dann wandte sie sich erneut an die Beamten: »Ich bin Sportlehrerin und kannte Susanne nur flüchtig. Ein nettes Mädchen und sehr sportlich. Eine traurige Geschichte. Der Klassenlehrer, Oberstudienrat Klausen, dürfte Ihnen sicher mehr erzählen können.«
Es klingelte und die Schüler strömten zum Eingang. Die Beamten folgten Cäcilia Brant, die mit schnellen Schritten zum Lehrerzimmer vorauseilte. Tann stellte fest, dass sie fast einen Kopf kleiner war als er. Sie war zierlich und schlank.
»Strammer Po, oder?«, meinte Alfons Weiß grinsend.
»Quatsch, nicht!«, murmelte Tann und dachte, dass die Jeans von Cäcilia Brant verdammt eng saß.
Er war von Lehrerinnen nicht gerade begeistert. Seine Schulzeit war ihm noch in leidvoller Erinnerung. Er war damals elf gewesen und seine Klassenlehrerin eine magere Person mit Nickelbrille und Dutt. Sie zog ihn immer an den Ohren, wenn er nicht aufgepasst hatte. Bei ihr hatte er die Erste und einzige Sechs seines Lebens bekommen. Sein Vater hatte ihm dafür eine Ohrfeige verpasst und einen Monat lang das Taschengeld gestrichen. Dabei hatte er die Aufgabe einer Personenbeschreibung nur deshalb so genau genommen, damit seine Lehrerin sich sofort wieder erkannte. Sie war zutiefst empört über seine wenig schmeichelhaften Ausdrücke und beschwerte sich beim Rektor. Er bekam ein Ungenügend und musste drei Stunden Nachsitzen.
Der Rektor war an diesem Tag nicht im Dienst und wurde durch Oberstudienrat Udo Klausen vertreten. Klausen war ein schlanker, hochgewachsener Mann. Er war fast ebenso groß wie Josef Tann, der über ein Meter neunzig maß. Sein dunkles, dichtes, an den Schläfen leicht ergrautes Haar war lockig und eine Spur zu lang. Sie saßen in der Besucherecke neben dem Lehrerzimmer.
»Ein schreckliches Unglück. Für uns alle unfassbar«, sagte Klausen. Man sah ihm die Betroffenheit an. Da die Beamten ihn nicht unterbrachen, fuhr er fort: »Susanne Gressmer war eine hervorragende Schülerin. Als Klassenlehrer, ich unterrichte Englisch und Mathematik, kannte ich sie ein wenig. Es ist mir völlig unverständlich, dass dieses Mädchen einen Suizid begangen hat. Haben Sie schon herausbekommen, was die Ursache war?«
»Deshalb sind wir hier. Wir dachten, Ihnen sei vielleicht etwas aufgefallen«, antwortete Tann.
»Mir? Was soll mir aufgefallen sein? Am Morgen vor dem Unfall war sie in der Schule. Sie wirkte wie immer. Vielleicht können Ihnen die Mitschüler etwas berichten. Susanne hatte viele Freunde. Sie war sehr beliebt.« Klausen erhob sich und zeigte zum Fenster: »Sehen Sie dort die Sitzgruppe unter dem Vordach?«
Tann war neben ihn getreten: »Drüben am Zaun?«, erkundigte er sich.
»Ja! Dort ist der Treffpunkt der zwölften Klasse. Am besten, Sie warten bis zur nächsten Pause. Ich werde Sie hinführen.«
»Danke, Herr Klausen, das wird nicht nötig sein. Wir kommen schon zurecht«, versicherte Alfons Weiß.
Sie verabschiedeten sich und gingen zu ihrem Wagen.
»Irgendwas an diesem Klausen gefällt mir nicht«, sagte Josef Tann, als sie im Wagen saßen.
Alfons Weiß hatte gerade sein Frühstücksbrot hervorgeholt und biss ein Stück von seiner Stulle ab. Auf seinen Knien stand eine Brotdose mit verschiedenen belegten Brotsorten, einem gekochten Ei und Gurkenscheiben.
»Ist halt ein Pauker. Wie die ebenso sind«, antwortete Weiß mit vollen Backen kauend und schüttete sich Kaffee aus seiner Thermoskanne in einen Becher.
»Man, was deine Frau dir zum Frühstück einpackt, unverschämt viel! Du wirst noch kugelrund«, lästerte Tann und holte eine Flasche Mineralwasser aus seiner Tasche.
Weiß lachte und verschluckte sich prompt. Nachdem ihm sein Kollege hilfreich auf den Rücken geklopft hatte, meinte er prustend:
»Du bist doch bloß neidisch. Solltest auch heiraten, täte dir wirklich gut. Die kleine Sportlehrerin, wäre das nicht was für dich?«
»Lehrerin? Niemals! Außerdem ist die höchstens zweiundzwanzig«, entrüstete sich Josef Tann.
»Sieht aber gut aus«, grinste Weiß.
Die Befragung der Schüler brachte wie erwartet keine neuen Erkenntnisse. Selbst Veronika Brauer, die beste Freundin von Susanne, konnte keinerlei Hinweise geben.
Die Beerdigung von Susanne Gressmer war vier Tage später. Ihre gesamte Klasse und das Lehrerkollegium nahmen daran teil. Die Beisetzung fand unter großer Anteilnahme der Bevölkerung statt. Die Kirche konnte die Trauergäste kaum fassen. Oberstudienrat Klausen hielt eine bewegende Trauerrede. Er endete mit den Worten: »Verzeih Susanne, dass wir dich allein ließen, als du uns brauchtest.«
Seine Frau Sybille war stolz auf ihren Mann, der wie immer die richtigen Worte gefunden hatte.
Es war ein milder Frühlingstag Anfang April. Josef Tann hatte seinen freien Tag. Er hatte sein Fahrrad gereinigt und überholt und machte seine erste Tour. Er wählte eine gut ausgeschilderte Route und benutzte nur geteerte Wirtschafts- oder gut ausgebaute Radwege. Auf den Feldern herrschte emsige Betriebsamkeit. Die Bauern nutzten das gute Wetter zur Feldbestellung. Die ersten Kiebitze waren bereits zurück und ließen ihr munteres »Kiwitt, Kiwitt« erschallen. Josef Tann war auf einem Bauernhof aufgewachsen. Er liebte die erwachende Natur im Frühjahr. Er fuhr gemütlich. Das Gebrumm der Traktoren störte ihn nicht. In Rheda nutzte er den Weg durch die Feuchtwiesen um das Schloss und fuhr dann weiter in Richtung Stromberg. Kurze Zeit später befand er sich auf einer Autobahnbrücke. Er dachte an Susanne Gressmer, die sich vor einigen Wochen von einer anderen Brücke hinunter gestürzt hatte. Er war etwas außer Atem, stellte sein Rad ab und schaute hinunter. Es war nicht viel Verkehr. Richtig voll würde es wohl erst wieder gegen zwölf Uhr sein, jetzt war es gerade zehn Uhr dreißig.
Am anderen Ende der Brücke sah Tann einen Rennradfahrer heraufkommen, der sich beim Näherkommen als Radfahrerin entpuppte. Sie fuhr genau auf ihn zu.
»Na, so was! Ein Polizist mit dem Fahrrad und ohne Helm! Das ist aber kein gutes Beispiel für die Jugend!«, ertönte eine helle Stimme.
Dann erkannte er Cäcilia Brant.
»Außer Ihnen sehe ich hier keine kleinen Kinder«, knurrte Josef Tann.
Sie hielt direkt vor ihm an und streckte ihm lachend die Hand zur Begrüßung entgegen. Er ergriff sie und fragte überrascht:
»Was treibt Sie denn schon so früh in die Natur? Keinen Unterricht heute?«
Sie riss ihren Fahrradhelm vom Kopf und eine dunkelrote Flut von Haaren ergoss sich über ihre Schultern. Sie beugte sich nach vorn, sodass die dunkle Masse fast bis zu ihren Knien reichte, schüttelte sich, warf den Kopf zurück und strich mit der linken Hand das Haar aus der Stirn. Josef Tann hatte ihr fasziniert zugeschaut. Als sie es bemerkte, meinte sie schulterzuckend, ohne auf seine Frage einzugehen:
»Unter dem Helm werden die Haare so erdrückt, ich hasse es!«
Er grinste: »Lassen Sie ihn doch weg!«
»Also wirklich! Ich mache keine Spazierfahrten, ich trainiere! Da ist der Helm lebenswichtig.« Als er noch immer grinste, fuhr sie zornig fort: »Für einen Polizisten haben Sie ziemlich wenig Ahnung.«
»Stimmt genau, Frau Lehrerin!«, sagte er mit Bedauern in der Stimme, konnte aber dennoch sein Grinsen nicht ganz unterdrücken.
»Machen Sie sich nur lustig! Was sagt denn Ihre Frau, wenn Ihre Kinder ohne Helm fahren? Findet die das auch lustig?«, schnaufte sie verärgert.
»Da ich keine habe, muss ich mir die Frage nicht stellen!« antwortete er und ließ dabei offen, ob er die Frau oder die Kinder meinte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber er setzte schnell hinzu: »Kinder sollten trotzdem unbedingt einen Helm tragen.«
Sie war verärgert, drehte ihr Haar zu einem glatten Zopf zusammen und stülpte sich den Helm wieder über.
»Wollen Sie schon weg? Sind Sie beleidigt? Ich würde Sie gern noch etwas fragen, wenn es Ihre Zeit zulässt.«
Er wollte sich noch mit ihr unterhalten.
»Beleidigt? Wieso? Wo Sie doch so höflich waren! Worum geht es denn?«, wollte sie pikiert wissen.
»Irgendwie geht mir dieses Mädchen nicht aus dem Kopf. Warum hat es sich nur umgebracht? Was sagen denn die anderen Schüler so? Haben Sie nicht etwas mitbekommen? Oder ist Ihnen das so egal?«, hakte er schnell nach.
»Ach deswegen stehen Sie hier. Vielleicht hat jemand nachgeholfen!«
Cäcilia Brant hatte hastig gesprochen. Doch kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wusste sie, dass es ein Gedanke war, den sie von Anfang an gehabt hatte.
Josef Tann sah sie an, bemerkte plötzlich, dass sie wunderschöne, lange Wimpern hatte, und ganz schmale Augenbrauen, dunkel und kupferfarben. Er beugte sich über das Geländer und meinte:
»Schauen Sie, sie muss kopfüber hinuntergesprungen sein.«
»So springt doch niemand! Schon gar kein Selbstmörder!«, entgegnete sie empört und schaute ebenfalls hinunter auf die Autobahn.
»Das habe ich auch gedacht«, sagte er und ohne Übergang fuhr er fort: »Was halten Sie davon, wenn wir unsere Vermutungen zu diesem Fall bei einem Glas Bier austauschen?«
»Vielleicht!« Sie lachte und ließ ihre ebenmäßigen Zähne sehen.
Er wollte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.
»Am Samstag habe ich frei.«
Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Die Ferien fangen an, da bin ich zwei Wochen lang nicht da.«
Er gab nicht auf: »Dann der erste Samstag nach Ferienende. Ich melde mich bei Ihnen.«
»Okay, ich wohne …«
Er winkte ab. »Nicht verraten! Schließlich bin ich Polizist!«, meinte er großspurig.
Cäcilia Brant zog eine Grimasse und schwang sich aufs Fahrrad. Gedankenverloren schaute er ihr nach.
Es war still auf dem Friedhof. Nur die Vögel in den Bäumen zwitscherten, was das Zeug hielt. Auf den Gräbern blühten Narzissen, Hyazinthen und Tulpen um die Wette. Alles war gepflegt und ordentlich.
Heidelinde Gressmer stand vor dem Grab ihrer Tochter und goss die frisch gesetzten Pflanzen. Der Grabstein war erst vor zwei Tagen aufgestellt worden. Pünktlich zum sechswöchigen Seelenamt war alles fertig geworden. Frau Gressmer war in den letzten Wochen merklich gealtert. Es war nicht allein die Trauer, es war die ständig wiederkehrende, bohrende Frage, warum Susanne fortgegangen war. Sie hatte in dem Zimmer ihrer Tochter alles umgedreht, das Tagebuch gelesen, in allen Papierkörben nach den herausgerissenen letzten Seiten gefahndet und immer und immer wieder von Neuem eine Antwort gesucht. Vergebens. Ihr Mann hatte sich in die Arbeit gestürzt und kam jeden Tag später heim. Nach dem ersten Schock hatten sie heftig gestritten. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen waren einer kühlen Distanz gewichen. Sie sprachen nur noch das Nötigste miteinander.
»Guten Tag, Frau Gressmer«, sagte eine freundliche Stimme hinter ihr.
Sie schrak auf und schaute in das Gesicht von Veronika Brauer. Sie hatte das Mädchen nicht kommen hören.
»Guten Tag, Veronika, wie schön, dass du da bist«, beteuerte Heidelinde und lächelte zaghaft.
»Ich komme öfter her«, erklärte Veronika scheu. Sie hatte ein Glas und einen Strauß roter Tulpen mitgebracht.
»Ich habe noch Wasser genug in der Kanne«, murmelte Heidelinde, füllte das Glas und drückte es neben dem Grabstein in die Erde. Veronika ordnete die Tulpen hinein. Die beiden Frauen standen eine Weile still da. Heidelinde Gressmer brach das Schweigen.
»Veronika, ich gäbe was darum, wenn ich nur wüsste, was da geschehen ist. Du warst doch täglich mit ihr zusammen, ist dir denn gar nichts aufgefallen?«
Veronika schüttelte stumm den Kopf.
Heidelinde Gressmer fasste in ihre Manteltasche und zog einen hölzernen Gegenstand heraus. Es war ein schlichter, handgeschnitzter Engel aus hellem Holz.
»In Susannes Nachttisch habe ich diesen Engel gefunden. Weißt du, wo sie ihn herhat?«
Veronika nahm den Engel und nickte.
»Solche Engel schnitzt der Georg. Alle nennen ihn Schorsch. Er hat seine Werkstatt auf dem Bauernhof Osthager in der Scheune. Wir sind oft mit dem Fahrrad hingefahren.«
»Was ist denn das für ein Mensch? Susanne hat gar nichts von ihm erzählt«, erkundigte sich Heidelinde erstaunt.
»Er ist bereits etwas älter. Dreißig oder so. Hat einen Vollbart. Den haben Sie bestimmt schon gesehen. Er war sogar auf der Beerdigung«, erklärte Veronika.
»Auf der Beerdigung? Ich erinnere mich nicht«, sagte Heidelinde und bemühte sich, ihre Aufregung zu verbergen. »Ist auch nicht so wichtig, Kind. Ich muss noch etwas erledigen. Grüß deine Eltern.«
Heidelinde Gressmer nahm entschlossen ihre Gießkanne und verschwand, ohne sich noch einmal umzusehen. Veronika Brauer schaute ihr überrascht nach.
»Ich weiß es! Er hat es getan, jawohl! Dieser verrückte Holzschnitzer!«
Heidelinde Gressmer schrie. Sie hatte rote Flecken im Gesicht und Tränen in den Augen. Ihre Bluse war knitterig und ihr Haar ungekämmt. Gernot Gressmer stand am Fenster und sah hinaus. Die Hände hatte er auf dem Rücken verschränkt. Er wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Die Ausbrüche seiner Frau kannte er zur Genüge. Seit einigen Tagen ging das so und es wurde immer schlimmer. Jetzt rannte Heidelinde auf ihn zu, fasste ihn am Arm und riss ihn zu sich herum. Ihr Gesicht war verzerrt.
»Hörst du mir überhaupt zu? Ich rede mit dir!«, keifte sie.
Er schüttelte sie ab wie ein lästiges Insekt.
»Natürlich, du schreist ja laut genug«, tadelte er müde und sank in einen Sessel.
Sie waren im Wohnzimmer. Zeitungen lagen überall herum. Der Staub auf dem dunklen Mahagoni des Schrankes war lange nicht aufgewischt worden. Heidelinde ließ den Haushalt seit Wochen verkommen. Gernot hasste Unordnung.
»Warum gehst du nicht zu einer Selbsthilfegruppe oder zu einem Arzt? Diese Schuldzuweisungen bringen doch niemand etwas. Du machst dich kaputt mit deiner ewigen Suche nach einem Schuldigen.« ›Und mich auch‹, dachte er, sprach es aber nicht aus.
Heidelinde hatte sich ebenfalls gesetzt. Sie schluchzte jetzt wie ein Kind. Niemand verstand sie. Ihr Mann schon gar nicht. Sie war zu dem Bauernhof gefahren, von dem Veronika Brauer gesprochen hatte. In der Werkstatt traf sie einen jungen Mann mit Vollbart und langen Haaren. Er machte einen verwirrten Eindruck und gab auf ihre Fragen nur unvollständige Antworten. Sie war sicher, dass der Mann etwas mit dem Tod ihrer Tochter zu tun hatte. Als sie ihn ausfragen wollte, kam eine alte Frau dazu und erklärte ihr barsch, dass ihr Sohn krank sei und sie solle ihn in Ruhe lassen. Ergebnislos war sie nach Hause gefahren. Sie hatte auf die Unterstützung ihres Mannes gehofft. Da er ihre Besorgnis als Hirngespinst abtat, würde sie allein zu Polizei gehen müssen.
Gernot Gressmer nahm seine Jacke ging leise aus dem Zimmer. Seine Frau hatte sich beruhigt und war in stumme Melancholie verfallen.
Den ganzen Tag hatte es in Strömen geregnet. Cäcilia Brant stand vor dem Spiegel. Sie hatte eine Verabredung mit Josef Tann.
In den Osterferien war sie für zwei Wochen bei ihren Eltern im Sauerland gewesen. Ihr Vater war Revierförster. Das Forsthaus lag an einer einsamen Straße im Wald. Sie liebte es, mit ihrem Vater auf die Pirsch zu gehen. Besonders im Frühling, wenn des Morgens die Vögel erwachten und das Wild für Nachwuchs sorgte.
An Josef Tann hatte sie gar nicht mehr gedacht. Kaum war sie zurück, rief er an. Sie war nicht begeistert, hatte aber zugesagt. Es würde ein öder Abend werden mit diesem aufgeblasenen Polizisten. Sie war unschlüssig, was sie tragen sollte. Jeans oder etwa einen eleganten Hosenanzug? Ärgerlich schaute sie auf die Uhr und holte ihre dunkelblaue Jeans mit der passenden Weste und einen mintfarbenen Rolli. Kaum hatte sie sich angezogen, klingelte es. Verärgert schaute sie auf ihre Armbanduhr. Es war schon zehn Minuten über die verabredete Zeit. Zu spät um die Haare hochzustecken, dachte sie. Schnell fuhr sie mit der Bürste durch den dichten Schopf und ging zur Tür.
»Guten Abend!«, begrüßte Josef Tann sie etwas steif und überreichte ihr einen Strauß gelber Tulpen.
Es war laut in der kleinen Kneipe. Sie saßen in einer Ecke und die Kellnerin hatte gerade das Bier gebracht.
»Prost, Frau Lehrerin!«, sagte er grinsend.
Cäcilia Brand lächelte und trank ihm zu.
»Aber Herr Kommissar, warum so förmlich, ich heiße Cäcilia, meine Freunde nennen mich Cil.«
»Cil klingt nett. Zu mir sagen fast alle Jupp«, antwortete er.
»Mögen Sie es nicht, wenn man Sie Jupp nennt?«, erkundigte sich Cil interessiert.
Er zuckte die Schultern. »Na, ja. Meine Mutter sagt manchmal Jos, früher habe ich das gemocht.«
»Jos hört sich gut an.« Sie lächelte wieder.
Er stellte fest, dass ihr Gesicht nicht mehr ganz so blass war wie zuvor. Der Alkohol tat ihr gut.
Cil fühlte sich wohl. Die Kneipe gefiel ihr und ihr Gegenüber war sympathischer, als sie gedacht hatte. Tann hatte nochmals bestellt. Cil spielte mit dem Bierdeckel, bis die Kellnerin erneut servierte. Als er ihr zu prostete, nippte sie nur und erinnerte ihn:
»Wollten wir uns nicht über Susanne Gressmer unterhalten?«
Josef Tann war ganz woanders mit seinen Gedanken und schaute überrascht auf, fing sich jedoch sofort.
»Ist Ihnen im Sportunterricht irgendetwas aufgefallen? Haben die Schüler sich über den Fall unterhalten?«
»Natürlich haben sie darüber gesprochen! Aber selbst die beste Freundin von Susanne, Veronika Brauer, konnte sich den Selbstmord nicht erklären«, gab Cil sinnierend zurück.
»Hatte Susanne denn keinen Freund?«
Er sah sie aufmerksam an und strich dabei mit dem rechten Zeigefinger über den Rand seines Glases.
»Ich glaube nicht, zumindest keinen der Schüler. Ich hatte eher den Eindruck, dass Susanne an älteren Männern interessiert war. Sie führte oft ein Gespräch mit Herrn Klausen.«
Cil hatte einmal gesehen, wie Susanne Gressmer sich mit dem Oberstudienrat Klausen unterhielt. Das Mädchen himmelte ihn an. Tann war jetzt wieder ganz Kommissar. Sein Gesicht war ernst, und Cil konnte fast sehen, wie es in seinem Gehirn arbeitete.
»Klausen hat behauptet, er kenne das Mädchen nur flüchtig.«
»Wer kennt schon einen Schüler wirklich? Er kennt sie aus der Schule. Schließlich war er ihr Klassenlehrer. Oberstudienrat Klausen unterrichtet Englisch und Mathematik.«
Tann hatte Cil nachdenklich zugehört. Dann fiel ihm etwas ein. »Haben Sie schon einmal vom Schorsch, dem Holzschnitzer gehört? Frau Gressmer war vorgestern bei der Polizei. Sie war der Meinung, Georg Osthager habe ihrer Tochter nachgestellt.«
»Das ist doch Blödsinn! Der Schorsch tut keiner Fliege etwas zuleide!«, ereiferte sich Cil.
»Wir reden hier aber nicht über Fliegen«, schmunzelte Tann, was ihm einen strafenden Blick aus tiefblauen Augen einbrachte.
»Machen Sie sich nur lustig. Ich finde es einfach empörend, dass jemand schon in Verdacht gerät, nur weil er ein wenig sonderbar ist. Alle Schüler waren schon einmal in der Holzschnitzerei. Schorsch ist ein Künstler.«
»Nun regen Sie sich mal nicht so auf! Man könnte meinen, Sie hätten ein persönliches Interesse an dem jungen Mann.«
Tann lachte und bestellte ein neues Pils.
»Ich rege mich nicht auf. Ich finde es nur ungerecht, dass ein Mensch, der schon genug durchgemacht hat, bei jeder Gelegenheit als Sündenbock herhalten soll«, rügte Cil ein wenig versöhnlicher gestimmt.
Tann ergriff ihre Hand, spürte, dass sie zurückzuckte, und ließ sie gleich wieder los.
»Keine Sorge, Frau Lehrerin, ich vergreife mich nicht an Ihnen«, frotzelte er und sie wurde puterrot.
»Ein unverschämter Kerl sind Sie. Ich frage mich wirklich, warum ich hier sitze«, fauchte sie.
Jetzt breitete sich ein Lächeln in seinem Gesicht aus und der Schalk blitzte in seinen Augen.
»Weil ich so ein toller Typ bin, oder?«
Sie wusste nicht so recht, sollte sie zornig werden oder einfach lachen, entschied sich dann aber für Letzteres.
»So gefallen Sie mir! Ich mag Frauen, die gern lachen.«
Die Kellnerin brachte das Bier und er hob sein Glas, um mit ihr anzustoßen.
»Prost, Cil! Sollten wir nicht einfach Du zueinander sagen, wo wir doch so herrlich miteinander streiten können?«
Cil hob ebenfalls ihr Glas. »Nur wenn du mir versprichst, in den nächsten Tagen einmal in Schorschs Werkstatt vorbeizuschauen.«
»Abgemacht! Wenn dir so viel daran liegt.«
Sie saßen fast bis Mitternacht in dem kleinen Lokal. Als Cil endlich wieder zu Hause war, galt ihr letzter Blick vorm Schlafengehen dem Strauß gelber Tulpen.
Gernot Gressmer kam aus dem Krankenhaus. Seine Frau hatte einen Nervenzusammenbruch gehabt. Er hatte mit dem Arzt gesprochen. Die Behandlung würde einige Zeit dauern.
Die letzten Wochen waren hart gewesen. Der häusliche Stress um den Selbstmord seiner Tochter hatte seine berufliche Leistung stark beeinträchtigt. In seiner Firma hatte man ihm nahegelegt, eine Kur zu machen. Anfangs verärgert darüber, hatte er nach einem Gespräch mit dem Betriebsarzt eingesehen, dass er wirklich eine Auszeit brauchte. Die Krankenkasse hatte schnell und problemlos reagiert. In zwei Wochen war es soweit. Heidelinde war gut versorgt und würde die nächsten Wochen ohnehin in der Klinik bleiben müssen.
Er hatte bis zum Beginn der Kur Urlaub. Unschlüssig lief er durch das leere Haus. Irgendwann betrat er Susannes Zimmer. Er setzte sich auf das Bett und schaute sich um. Auf dem Nachttisch lag ein Tagebuch. Er nahm es in die Hand und las einige Zeilen. Nichts von Bedeutung. Er blätterte weiter und sah, dass mehrere Seiten am Schluss der Eintragungen herausgerissen waren. Seufzend legte er das Buch zur Seite. Es war müßig, sich zu überlegen, warum Susanne die Seiten herausgetrennt hatte. Diese Grübeleien hatten bei Heidelinde zu einem Zusammenbruch geführt.
Woher sollte man wissen, was in dem Kopf eines jungen Mädchens vorging? Er war so stolz auf seine Tochter gewesen. Besonders im letzten Jahr waren ihre schulischen Leistungen hervorragend gewesen. Ob sie einen Freund gehabt hatte? Was war mit diesem Osthager von dem seine Frau erzählt hatte? Vielleicht wusste er etwas. Den kleinen hölzernen Engel hatte seine Frau neben das Tagebuch gelegt. Er nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn. Es war eine gute Arbeit. Seufzend legte er ihn zurück und verließ das Zimmer.