Читать книгу Der hölzerner Engel - Gisela Garnschröder - Страница 6

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II

Der Fahrtwind strich ihr das Haar aus dem Gesicht und trocknete die Tränen, die ihr ununterbrochen die Wangen hinunterliefen. Sie schniefte heftig und versuchte sich mit dem linken Arm durchs Gesicht zu wischen, es brachte nur mäßigen Erfolg und der ungebetene Tränenstrom ließ sich nicht eindämmen. Der Wagen machte einen Schlenker zur Seite, und sie schüttelte unwirsch mit dem Kopf. Das fehlte noch, wenn sie wegen dieses Idioten einen Unfall bauen würde! Energisch setzte sie sich auf und blickte auf das graue Band vor sich. Sie war schon eine gute halbe Stunde unterwegs und mindestens zwanzig Kilometer vom Ort ihrer Schmach entfernt.

Die Bundesstraße führte hier durch leicht hügeliges Gelände. Ohne groß zu überlegen, war sie in Richtung Sauerland gefahren, dort hatte ihr Onkel, ihr einziger Verwandter, eine kleine Hütte, na, mehr schon ein Häuschen. Es lag an einem Stausee in einer Ferienhaussiedlung. Sie hatte einen Schlüssel. Onkel Franz war wie jedes Jahr für mehrere Wochen nach Mallorca geflogen.

Thea war oft dort gewesen, meistens mit ihren Eltern oder in den letzten Jahren mit einer Freundin. Nur mit Maik war sie noch nie dort. Anfangs hatte es sie geärgert, dass er den Besitz eines Wochenendhauses als Naturtick belächelte, jetzt war sie froh darüber. So würde er sie zumindest nicht gleich finden.

Wieder liefen die Tränen. Dieser verdammte Mistkerl. Zwei Monate vor der Hochzeit vergnügte er sich mit diesem Flittchen. Sie hatte Beate schon in der Schule nicht gemocht. Eine impertinente Person, diese blöde Zicke! Immer wenn ihr in ihrer Schulzeit ein Junge gefallen hatte, war Beate aufgetaucht. Ihrem Puppengesicht und den blonden Silberlöckchen konnte keiner widerstehen. Später trug sie hautenge Oberteile und tief ausgeschnittene Blusen, die ihre üppige Oberweite betonten. Thea musste an Andreas denken, groß, dunkelhaarig und schlaksig. Damals war sie sechzehn und er stand kurz vor dem Abitur. Er hatte ihr Mathematik erklärt, und plötzlich machte ihr sogar dieses schwierige Fach Spaß. Ihm verdankte sie eine Drei.

Eines Tages, sie standen vor der Schule und unterhielten sich, da kam, lässig die Tasche über die rechte Schulter gehängt, Beate auf sie zu.

»Hallo, ihr zwei«, sagte sie, hängte sich bei Thea ein und lächelte Andreas an.

Von dem Moment an war Thea Nebensache. Beate belegte Andreas so mit Beschlag, dass er nur noch selten dazu kam, Thea bei den Aufgaben zu helfen. Dabei hatte Beate Nachhilfe gar nicht nötig gehabt. Sie war bei allen Lehrern beliebt und bekam immer gute Zensuren. Trotzdem war sie noch vor dem Abitur von der Schule gegangen.

›Blöde Tucke‹, dachte Thea und seufzte.

So glücklich war sie morgens aufgewacht. Eigentlich musste sie bis Freitag arbeiten, aber gestern war der Chef zu ihr gekommen und hatte gemeint:

»Sie haben doch sicher noch einiges vorzubereiten bis zu Ihrer Hochzeit. Nehmen Sie sich ein paar Tage frei, ich habe mich kurzfristig zu dem Kongress in Berlin angemeldet. Am nächsten Donnerstag bin ich zurück.«

Überglücklich wollte sie dann Maik anrufen, hatte es sich aber anders überlegt. Sie wollte ihn überraschen.

Die Überraschung war perfekt, nur leider auch für sie selbst! Sie seufzte tief, und wieder wollten die Tränen kommen, aber mit einem heftigen Schlucken unterband sie energisch den warmen Strom. Zorn breitete sich in ihrem Gemüt aus und verbannte jetzt alle anderen Gefühle.

Sie sah Maiks entgeistertes Gesicht vor sich. Sie hatte einen Schlüssel zu seiner Wohnung. Mit einem Korb voller Leckereien fürs Frühstück war sie schon in der Frühe zu ihm gefahren. Leise war sie hineingeschlüpft und hatte sich gewundert, dass am Garderobenhaken ein grellrotes Cape hing.

Gerade als sie überlegte, wer es wohl hier vergessen haben könnte, hörte sie leises Lachen aus dem Schlafzimmer. Sie schrak zusammen und blieb unwillkürlich stehen. Sie hörte eine weibliche Stimme.

»Und wie stellst du dir unser Zusammensein vor, wenn du verheiratet bist? Ich habe keine Lust, wegen dieser Bauerndirn Schwierigkeiten zu bekommen.«

»Lass mich nur machen, sie hat doch bisher nichts gemerkt, warum sollte sie dann?«

Maiks Stimme klang selbstbewusst. Also ging das schon länger! Thea wollte gerade voller Wut ins Schlafzimmer stürmen, als sie erneut Maik vernahm:

»Thea hat auch gute Eigenschaften, sonst würde ich sie ja nicht heiraten.«

Mit klopfendem Herzen und mittlerweile hochroten Kopf stand Thea bewegungslos vor der Zimmertür. Den Frühstückskorb schwer am Arm. Sie hörte die Frau laut lachen, und jetzt erkannte sie Beates Tonfall.

»Mein Gott, ich verstehe dich wirklich nicht! Sie ist so hässlich! Formlos und dürr wie eine Bohnenstange und ihr Haar erst, wie bei einem Straßenköter und wie sie sich anzieht …!«

Thea wollte etwas tun, aber sie stand nur steif da. Dann erklang wieder Maiks Flüstern: »Komm, lass uns von etwas anderem reden.«

Beates helles Organ platzte dazwischen: »Mein Gott, Maik, wie kannst du nur so dumm sein, sie ist sicher völlig mittellos, oder?«

Hier wurde sie ärgerlich unterbrochen: »Sei still. Das geht dich nichts an.«

Beate ließ sich nicht abspeisen und triumphierte: »Aha! Also doch!«

Jetzt konnte und wollte Thea nichts mehr hören, sie drückte die Klinke heftig herunter. Wie die beiden entsetzt hochgefahren waren! Zu jeder anderen Zeit hätte sie darüber schallend gelacht. Beates volle Brüste lugten über die Decke, die sie hastig hochzog und Maik machte ein total belämmertes Gesicht.

»Aber … aber … Thea?!«, stotterte er, und hüpfte auf die Füße, schnell mit dem Kopfkissen seine Blöße verdeckend.

Thea staunte noch immer, wie ruhig sie in diesem Moment gewesen war! Sie zog ihren Verlobungsring vom Finger und warf ihn auf das Bett.

»Ich wünsche weiterhin viel Vergnügen!«, sagte sie, drehte sich um und warf die Tür hinter sich zu.

Und nun saß sie allein in ihrem Auto und fuhr durch die Gegend. Was hatte Beate gesagt? Himmel, sollte es etwa wahr sein! Aber wieso? Verflixt, so konnte es gar nicht sein! Maik Lohberg war hinter ihrem Erbe her? Warum? Wegen dem bisschen Geld, das ihre Eltern ihr hinterlassen hatten? Sie wusste zwar nicht genau wie viel, aber Maik war doch nicht arm! Er war der Sohn eines bekannten Anwalts!

Sie kannte Maik schon länger, aber erst seit zwei Jahren, sie war damals neunzehn, waren sie zusammen. Sie konnte sich noch genau daran erinnern.

Es war an einem kalten, nassen Oktobertag gewesen. Sie hatte gerade mit ihrer Ausbildung begonnen und musste länger arbeiten, weil wichtige Briefe verschickt werden sollten. Als sie endlich das Büro verließ, war es schon sieben Uhr abends. Sie wollte rasch eine Kleinigkeit einkaufen, aber es regnete so stark, dass sie schon auf dem Weg zu ihrem Auto völlig durchnässt war. Wie ein begossener Pudel stand sie vor dem Discount, als die Tür gerade von innen verriegelt wurde.

»Verdammt«, fluchte sie laut, und hinter ihr antwortete jemand: »An der Tanke ist immer auf!«

Als sie sich erschrocken umdrehte, wäre sie fast mit Maik zusammengestoßen. Sie lachten beide herzlich darüber und fuhren dann gemeinsam zur Tankstelle, kauften Spaghetti, Gehacktes, Ketchup und Wein.

Maik lud sie zum gemeinsamen Kochen und Essen in seine Wohnung ein. Seit dem Tag waren sie ein Paar.

Nie wäre ihr der Gedanke gekommen, Maik könne es auf ihr Geld abgesehen haben. Aber sie wäre auch nie auf die Idee gekommen, dass er etwas mit Beate hatte!

Wenn Beate recht hätte, dann könnte es sich doch wohl nur um den Hof handeln. Maik war leidenschaftlicher Jäger. Sein Vater hatte mit einigen anderen Jägern eine größere Jagd gepachtet. Wenn er sie heiratete, würde er irgendwann in den Genuss einer eigenen Jagd kommen, wenn Onkel Franz tot war.

Da musste es noch etwas geben, etwas wovon sie nichts wusste. Maiks Vater war Notar und führte die Anwaltskanzlei, die ihre Erbangelegenheiten regelte. In einigen Wochen, gleich nach ihrer Hochzeit, ihrer geplanten Hochzeit, dachte sie grimmig, wenn sie einundzwanzig Jahre alt wurde, sollte sie über ihr Erbe verfügen können. Obwohl sie schon mit achtzehn volljährig war. Ihr Vater hatte es so bestimmt. Es konnte sich aber nur um Bargeld handeln. Davon besaß Maik garantiert genug, denn er hatte erst vor zwei Wochen einen tollen Wagen gekauft. Und überhaupt, das Testament war nicht einsehbar. Maiks Vater hatte ihr gesagt, der Erbvertrag wurde versiegelt. Erst am Tag ihres einundzwanzigsten Geburtstages dürfe der Notar das Siegel brechen. Also konnte Maik gar nichts wissen! Alles Angeberei! Sollte er doch selig werden mit dieser Tussi!

Der Gedanke an ihr Erbteil ließ sie nun nicht mehr los und lenkte sie von ihrem Ärger ab. Theas Vater stammte von einem Gutshof, der Onkel Franz, dem Bruder ihres Vaters, gehörte. Das heißt, er beaufsichtigte den Hof nur, denn er war Arzt, besser gesagt, Chefarzt am städtischen Krankenhaus. Da er keinen Wert auf den Hof legte, ließ er ihn von einem Verwalter bewirtschaften und hatte die Jagd, die dazugehörte, verpachtet. Sie würde den Hof frühestens nach Onkel Franz‘ Tod erben. Da ihr Onkel sich hervorragender Gesundheit erfreute und erst vierundvierzig Jahre zählte, dürfte das wohl vorläufig nicht in Betracht kommen. Wenn er noch heiraten würde und selbst Kinder hätte, wäre das auch vorbei.

Sie schüttelte den Kopf. Das war kein Grund jemanden zu heiraten, den man nicht liebte. Warum dann?

Das Erbteil ihrer Mutter hatte sie bereits mit achtzehn Jahren erhalten. Von der Seite war nichts mehr zu erwarten, obwohl auch ihre Mutter von einem großen Hof stammte. Aber die Großeltern waren früh gestorben und als einzige Tochter hatte die Mutter bei ihrer Heirat den Hof verkauft und das Geld größtenteils in die Unternehmungen des Vaters gesteckt. Bei dem Bargeld, welches sie mit achtzehn bekommen hatte, handelte es um festverzinsliche Rentenpapiere, deren Erlöse sie für Extraanschaffungen wie eine Wohnungseinrichtung und ihr Auto genutzt hatte.

Die Grübeleien hatten die Tränen versiegen lassen und langsam rollte das mintgrüne Käfercabrio durch die kurvenreiche Straße in Richtung Arnsberg. Der Wald war dicht. Bis zur Hütte würde sie noch mindestens eine Stunde brauchen, deshalb wollte sie kurz anhalten. Sie parkte den Wagen am Anfang eines Waldwegs vor einem Schlagbaum, der halb mit einem üppigen Holunderbusch zugewachsen war.

Jede andere Frau hätte sicher Angst gehabt allein mitten im Wald, nicht so Thea. Sie hatte immer auf dem Hof ihrer Eltern gelebt. Als sie siebzehn war, verunglückten ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall tödlich. Thea blieb auf dem Hof. Das große Haus verfügte über zwei riesige Wohnungen mit getrennten Eingängen. Eine wurde von ihrem Onkel bewohnt, die andere Wohnung gehörte ihrer Familie.

Als die Eltern starben, stand Onkel Franz ihr mit Geduld und Liebe zur Seite und drängte sie, die geräumige Wohnung zu behalten. Heute war sie froh darüber. Sie hatte ihr Abitur gemacht und dann in einem Zeitungsverlag ihre Ausbildung als Verlagskauffrau begonnen. Ihre Arbeit gefiel ihr und ihre Freizeit verbrachte sie auf dem Hof. Sie liebte Gartenarbeit, war eine hervorragende Reiterin und stromerte gern durch Feld und Wald. Sie liebte das Alleinsein. Obwohl sie mit Maik zusammen war, hatte sich daran nicht viel geändert. Sie gingen zusammen aus, verbrachten die Wochenenden miteinander, aber sonst führte jeder sein eigenes Leben. Nach der Hochzeit wollte sie in Maiks Wohnung ziehen. Maik verfügte über ein Haus mit sechs Zimmern. Es würde reichlich Platz für sie beide da sein.

Das hatte sich nun wohl erledigt, dachte Thea resigniert und schlüpfte durch die Bäume ins Unterholz.

Nach kurzer Zeit kam sie wieder hervor und zupfte sich kleine Äste und Tannennadeln von der Kleidung. Sie holte ihren Taschenspiegel und einen Kamm aus ihrer Handtasche. Prüfend betrachtete sie ihr Spiegelbild. Die Tränen hatten ihr Make-up verwischt. In ihrem Haar hatten sich kleine Blättchen verfangen. Sie fuhr mit dem Kamm kräftig durch den dichten Schopf und schüttelte ihn energisch. Dann schnitt sie ihrem Spiegelbild eine Grimasse und steckte ihr Handwerkszeug wieder ein.

›Wie ein Straßenköter‹, hatte Beate gesagt. ›Na ja‹, dachte Thea beleidigt, ›mein Haar ist wirklich nicht schön, dicht und fest wie Stroh und von einer Farbe, ein komisches, dreckiges Blond, eben straßenköterblond!‹ Ob eine Tönung helfen würde? Unsinn, wozu? Nun war das sowieso egal. Sie würde Maik nicht heiraten, niemals.

Langsam schlenderte sie zu ihrem Auto zurück. Sie musste an ihren Vater denken. Sie hatte ihn geliebt. Es schmerzte sie heute noch, wenn sie daran dachte, dass er nie mehr den Arm um ihre Schultern legen und aufmunternd ihr Haar streicheln würde. Er hatte spitzbübisch gegrinst und sie aufgemuntert, wenn sie mit sich nicht zufrieden war:

»Komm, Prinzessin, mach nicht so ein Gesicht! Bald wird ein junger Mann kommen und dich mir wegnehmen. Ich bin schon jetzt eifersüchtig. Hoffentlich vergisst du deinen alten Vater dann nicht ganz!«

Das war kurz vor seinem Unfall gewesen. Ihr Vater hatte ihr immer das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein.

»Ach, Papa«, wisperte Thea, »was soll ich nur tun?«

Erneut kamen ihr die Tränen. Es hatte keinen Zweck, an alte Zeiten zu denken. Sie musste sich der Realität stellen und Tränen machten alles nur noch schlimmer. Sie wischte sich übers Gesicht und ging zu ihrem Auto. Sie hatte den Wagen nah an den Holunderstrauch gefahren. Jetzt bemerkte sie unter dem Strauch ein Haufen dreckiger Kleider.

›Tja, da hat mal wieder jemand seinen Müll abgeladen‹, dachte sie und wollte einsteigen. Dann schrak sie zusammen. Unter dem Kleiderbündel schaute ein Schuh heraus, nein, nicht nur ein Schuh, ein Fuß steckte in dem Schuh! Ihr wurde ein wenig mulmig zumute. Behutsam trat sie näher.

»He«, sagte sie laut und stieß leicht an den Schuh. Sofort wurde der Schuh eingezogen und ein schmutziges Gesicht tauche aus dem Strauch auf.

»Lass mich in Ruhe!«, knurrte der Mann sie an und rollte sich mit angezogenen Beinen wieder unter die dichten Blätter.

»He, Sie können doch hier nicht so liegen bleiben. Sind Sie verletzt?«

Theas Herz klopfte vor Angst. Sie schüttelte den Mann leicht. Stöhnend kroch er unter dem Laub hervor. Er war nicht alt, vielleicht dreißig. Seine Kleidung bestand nur aus einem mit Flecken übersäten Pullover und einer speckigen Jeans. Sein Gesicht war ebenfalls nicht gerade sauber zu nennen und sein Haar blutverklebt. Vorsichtig tastete er sich hoch.

»Was? Wer sind Sie?«, fragte er unsicher.

Jetzt hatte Thea das Gefühl, der Mann sei betrunken, und der Anflug von Angst war urplötzlich verschwunden. In ihr wuchs eine Wut auf den Mann vor ihr, auf alle Männer, der ganze Ärger dieses Morgens entlud sich auf die arme Kreatur vor ihren Füßen:

»Sie unverschämter Kerl! Sie sollten sich schämen, hier im Dreck zu liegen. Fast hätte ich meinen Wagen auf ihre Füße gestellt. Sie … Sie Idiot. Alter Säufer! Sie … Sie … Straßendreck, Sie!«

Sie verlor den Faden und hielt abrupt inne. Der Mann hatte sich aufgesetzt und starrte sie an. Er hatte große braune Augen mit kleinen, gelben Tupfen darin.

Erschrocken über ihren Wutausbruch senkte Thea den Kopf und schwieg. Langsam und wankend erhob sich der Mann. Er war fast einen ganzen Kopf größer als Thea. Unter dem Schmutz war sein Gesicht kalkweiß geworden. Seine Hände zitterten. Er versuchte eine knappe Verbeugung, die aussah, als suche er irgendwo Halt und sagte:

»Ich, äh ich wollte Sie nicht erschrecken. Würden Sie … könnten Sie mich bis zum nächsten Gasthof mitnehmen?«

Thea betrachtete ihn stirnrunzelnd. ›Na, der muss ja gebechert haben‹, dachte sie. Wie er wohl hierhergekommen war? Was ging sie das an?! Aber mitnehmen? Stets hatte Onkel Franz sie beschworen, nur ja keine Anhalter mitzunehmen. Und nun? Der Mann brauchte Hilfe. Wie ein Verbrecher sah er eigentlich nicht aus. Obwohl man sich da natürlich sehr täuschen kann, dachte sie mit dem Anflug eines Lächelns. Der Mann hatte sich nun etwas gefangen und deutete ihr Lächeln als Zustimmung.

»Ich würde Sie selbstverständlich bezahlen«, beteuerte er.

Sie musterte ihn erstaunt und meinte sarkastisch: »Wenn Sie Geld hätten, ganz bestimmt!«

Dann ging sie ohne weitere Worte um den Wagen herum, setzte sich hinters Steuer und schaute ihn abwartend an. Als er zögerte, fauchte sie:

»Die Tür müssen Sie schon selbst aufmachen.«

Er klopfte sich den Schmutz so gut es ging von der Kleidung und schwang sich wortlos auf den Beifahrersitz. Thea setzte ihre Sonnenbrille auf, fuhr den Wagen zurück auf die Straße und mit einem kleinen Hüpfer brauste der Käfer davon. Der Mann saß tief in die Polster gedrückt und Thea betrachtete ihn aus den Augenwinkeln.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte sie dann so unvermittelt, dass er zusammenschrak. Er war scheinbar eingenickt.

»Roland, Roland Winters!«, antwortete er und versuchte ein Lächeln.

Thea konzentrierte sich auf die Straße, denn es kam ihr gerade ein Lastwagen entgegen, dann meinte sie:

»Freut mich, ich bin Thea Mehrwald.«

Jetzt erst schaute der Mann sie richtig an. Er sah ihr halblanges Haar im Wind flattern und bemerkte die Tränenspuren auf ihrem Gesicht.

»Haben Sie geweint?«, fragte er ohne Umschweife.

Sie sah ihn entsetzt an und murrte, den Blick zurück auf die Straße gerichtet:

»Das geht Sie nichts an!« Eine Zeit lang fuhr sie schweigend, dann lächelte sie und lenkte ein: »Wo soll ich Sie hinbringen?«

Ihr Begleiter hatte mithilfe des Seitenspiegels versucht sein Aussehen etwas zu verbessern, allerdings ohne sichtbaren Erfolg.

»Ich weiß es nicht«, gestand er und blickte Thea unsicher an.

Ohne den Blick von der Straße zu lassen, schnaubte sie: »Was heißt, Sie wissen es nicht? Haben Sie kein Zuhause?«

Herr Winters hob resignierend die Hände. »Ich kenne mich nicht aus, ich bin hier absolut fremd und weiß überhaupt nicht, wie ich in diese Gegend gekommen bin.«

Mit quietschenden Reifen und einem kräftigen Ruck brachte sie den Käfer abrupt zum Stehen.

»Was wissen Sie nicht?«

Sie hatte ihre Sonnenbrille abgenommen und funkelte ihn zornig an. Er war bei ihrem heftigen Bremsmanöver mit dem Kopf gegen die Frontscheibe gestoßen, fasste an seine schmerzende Stirn und stöhnte:

»Oh, Mann! Sind Sie verrückt!«

»Wer hier verrückt ist, das wird sich gleich rausstellen«, fauchte sie, griff über ihn hinweg und öffnete die Tür.

»Verschwinden Sie aus meinem Wagen, aber dalli! Für Landstreicher habe ich nichts übrig!«

Roland Winters sah sie entsetzt an und hob abwehrend die Hände:

»Bitte, lassen Sie mich weiter mitfahren. Ich erkläre es Ihnen. Ich war mit Freunden Kegeln, anschließend sind wir noch in einer Bar gelandet, da hat es mir absolut nicht gefallen, und so habe ich mich in eine andere Bar bringen lassen. Irgendwann bin ich komischerweise in einem Auto wach geworden. Als ich gefragt habe, was los ist, habe ich einen Schlag auf den Kopf gekriegt. Am Straßenrand bin ich schließlich zu mir gekommen. Mein Geld, meine Scheckkarte, meine ganzen Papiere waren weg. Mir war schrecklich schlecht, und so habe ich mich zunächst unter dem Strauch zusammengerollt. Dann sind Sie gekommen. Bitte nehmen Sie mich weiter mit. Ich muss dringend zu Hause anrufen!«

Skeptisch blickte Thea ihn an.

»Das Telefongeld wollen Sie sicher von mir haben?! Wo wohnen Sie denn?«

»In der Nähe von Hannover.«

»Na, ja. Dann ist es ja kein Auslandsgespräch«, meinte Thea lakonisch und startete ihren Wagen erneut.

Von nun an herrschte Schweigen. Thea verfluchte insgeheim ihre soziale Ader. Nun hatte sie diesen Kerl am Hals. Kurzerhand entschloss sie sich, ihn einfach mit zum Wochenendhaus zu nehmen. Dort würde man weiter sehen. Roland Winters drückte sich tief in den Sitz und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie gefiel ihm. Wenn ihm bloß nicht so schlecht wäre.

Mit einem Male stöhnte er: »Anhalten, bitte.«

Bremsen kreischten und der Käfer kam gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Winters sprang mit einem Satz heraus und übergab sich im Graben. Missbilligend schaute Thea ihm zu, wartete, bis er zitternd wieder einstieg und fuhr kommentarlos weiter. Sie erreichten eine malerische, an den Berg geduckte Siedlung aus kleinen, hübschen Häuschen. Thea fuhr langsam eine kurvenreiche Straße hoch, bog rechts in einen Hof ein und parkte den Wagen unter einem Abdach.

»Wir sind da!«, sagte sie überflüssigerweise.

Sie wuchtete einen großen Frühstückskorb vom Rücksitz und ging einen schmalen, mit Rosen gesäumten Weg zum Haus. Winters folgte ihr zögernd.

»Na, kommen Sie endlich«, spornte sie ihn ungeduldig an, und als sie im Hausflur standen, wies sie auf eine Treppe:

»Die Treppe rauf, gleich die erste Tür rechts ist das Bad, ich schau mal, ob ich etwas zum Anziehen für Sie finde.«

Er war so verdutzt, dass er ihr noch nachschaute, als sie schon mit dem Korb verschwunden war. Sie steckte den Kopf durch die Tür und fuhr ihn an:

»Nun machen Sie schon, oder meinen Sie, ich serviere Ihnen in dem Aufzug Ihr Frühstück?«

Er beeilte sich und kam aus dem Staunen nicht heraus, als er das Bad betrat. Es war raumhoch gekachelt, modern eingerichtet und verfügte über Dusche und Badewanne. Auf der Konsole fand er alles, was er brauchte, Rasierzeug eingeschlossen. Gerade als er in der gläsernen Kabine den Schmutz von seinem Körper schrubbte, öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, ein schlanker Arm legte ein Häufchen Stoff auf den Hocker und Theas Stimme erklang:

»Ein paar Sachen für Sie. Beeilen Sie sich, das Frühstück ist fertig.«

Wie spät war es eigentlich? Ein Blick zu seinem Arm zeigte nur zu deutlich, dass man ihm auch die Uhr gestohlen hatte. Nach dem Duschen rasierte er sich und hoffte, nicht plötzlich mit einem grimmigen Ehemann konfrontiert zu werden. Eigentlich war sie dafür zu jung. Sicher war sie nicht älter als zwanzig. Die Sachen, die sie hingelegt hatten, passten leidlich. Wer der Mann auch war, er war kleiner und dicker. Er kämmte sein dunkles Haar ordentlich und wurde sich schmerzhaft der Beule auf seinem Kopf bewusst, wenigstens blutete die Wunde nicht mehr. Es ging ihm zum Glück nicht mehr schlecht. Im Gegenteil, er freute sich auf das Frühstück. Selbst ohne Uhr wusste er jetzt, dass es bald Mittag sein musste. Langsam ging er die Treppe hinunter. Unten stand eine Tür offen und Theas Stimme erscholl aus einem Raum, wahrscheinlich war das die Küche:

»Mein Gott, Sie brauchen aber lange.«

Entschlossen ging er hinein. Es war wirklich die Küche, modern mit allem Schnick- Schnack ausgestattet. In einem hübschen Erker aus Glas, der aussah wie ein kleiner Wintergarten mit Blick auf einen grünen Hang, stand ein runder, reich gedeckter Holztisch mit bequemen Stühlen. Thea hatte gerade Kaffee eingeschenkt. Roland Winters blieb stehen.

»Wunderschön haben Sie es hier!«, meinte er anerkennend.

Thea wies auf einen Stuhl, auf dem er Platz nehmen sollte.

»Schön, dass es Ihnen gefällt. Möchten Sie Orangensaft?«

Winters setzte sich und nickte. »Ja, danke. Sie haben ein tolles Frühstück zusammengestellt. Machen Sie das immer so.«

Thea lachte. »Klar doch! Immer wenn ich jemanden auf der Straße auflese!«

Sie frühstückten schweigend. Winters stellte fest, dass seine Retterin sich umgezogen hatte, und ihr Haar war ordentlich gekämmt. Es war fast schulterlang, glatt und hatte die Farbe von frischreifen Nüssen. Ihr Gesicht war schmal, und Augen hatte sie, von einem ganz hellen Blau mit einem dunklen Rand um die Iris, aber irgendetwas machte ihren Blick dunkel und traurig. Das Lächeln erreichte ihre Augen nicht.

Thea hatte festgestellt, dass ihre Zufallsbekanntschaft jetzt nach der Dusche recht sympathisch aussah, und war erfreut, mit welch großem Appetit er zugriff.

Irgendwann erdrückte sie das Schweigen.

»Wenn Sie telefonieren möchten, das Telefon steht in der Diele neben der Eingangstür.«

Er nickte und stand auf.

»Ich helfe Ihnen aber noch beim Abräumen.«

Sie reagierte nicht darauf, und nachdem sie alles weggeräumt hatten, erledigte er sein Telefonat. Als er zurückkam, hatte Thea die Glastüren weit aufgemacht und sich im Garten in die Sonne gesetzt. Roland Winters kam näher und blieb unentschlossen neben ihrem Stuhl stehen. Thea nahm ihre Sonnenbrille ab und blinzelte ihn an.

»Wollen Sie sich nicht setzten?« Ihre Hand wies einladend auf den Stuhl neben sich und sogleich fuhr sie fort: »Na, was haben Ihre Leute gesagt?«

Roland Winters setzte sich.

»Mein Vater war zum Glück nicht zu Hause. Nur meine Schwester. Sie will meine EC--Karte sperren lassen, leider kann sie mich erst morgen abholen. Können Sie mir ein Hotel empfehlen?«

Thea hatte ihre Sonnenbrille wieder aufgesetzt und schaute gedankenverloren über den Hügel in den blauen Himmel.

»Ich weiß nicht.« Sie überlegte. »Vielleicht können Sie ja hier übernachten. Das Haus hat zwei Schlafzimmer.«

Roland Winters war überrascht, aber er ließ sich nichts anmerken.

»Wenn Sie die Möglichkeit haben«, erwiderte er gedehnt. »Was wird Ihr Mann dazu sagen?«

Abrupt drehte Thea sich zu ihm um: »Mein - was?«

Sie begann schallend zu lachen, lachte und lachte, bis ihr die Tränen kamen. Es dauerte einen Moment, bis Roland Winters begriff, dass sie wirklich weinte. Erschrocken strich er ihr vorsichtig und etwas linkisch übers Haar:

»Aber … aber …«, stotterte er, »ich wollte doch nicht … Hab ich etwas Falsches gesagt?«

Er konnte den plötzlichen Gefühlsausbruch nicht einordnen, verstand jedoch bald, dass nicht er die Ursache ihres Kummers war. Nach ein paar Minuten wischte sich Thea entschlossen durchs Gesicht und versuchte zu lächeln.

»Es ist … ist nicht Ihre Schuld«, schluchzte sie und unvermittelt stellte sie ihm die Frage:

»Sagen Sie, bitte ehrlich, finden Sie mich hässlich?«

Er war verdutzt und wollte abwinken, doch in diesem Moment hörten sie einen Wagen vorfahren, der ihm die Antwort ersparte.

»Oh Gott!«, flüsterte sie, »das ist Maik. Schnell verstecken Sie sich.«

In dieser Sekunde läutete es. Sie wischte sich hastig die Tränen ab und ging zur Haustür. Winters verschwand hinterm Haus in einem Gebüsch, von dem aus er die Terrasse übersehen konnte. Ein gut gekleideter, junger Mann, der Winters merkwürdig bekannt vorkam, trat auf die Terrasse und redete auf Thea ein:

»Sei doch nicht gleich eingeschnappt! Wir können doch wegen solch einer Lappalie die Hochzeit nicht abblasen! Die Einladungskarten sind schon verschickt! Thea, wie stellst du dir das vor?«

Thea warf sich in ihren Gartenstuhl und setzte ihre Sonnenbrille auf. Ihre Stimme klang hohl, als sie antwortete:

»Ich weiß nicht, was du von mir willst! Heirate meinetwegen Beate! Sie scheint ja sowieso bei dir ein und aus zu gehen.«

Maik Lohberg legte sich jetzt richtig ins Zeug.

»Thea, bitte! Lass dir doch erklären. Das mit Beate, das war doch nur Spaß. Ich liebe nur dich.«

Er beugte sich über sie, um sie zu küssen. Sie gab ihm eine Backpfeife, dass es nur so klatschte.

»Verschwinde!«, schrie sie, »oder ich hole die Polizei.«

Einen kurzen Moment blieb er stehen und schaute sich ratlos um, dann rannte er davon. Kurz darauf verriet das Geräusch seines Wagens, dass er wegfuhr. Thea nahm die Sonnenbrille ab und wischte sich durch das Gesicht.

»Puh, den wären wir los«, sagte sie.

Winters kam aus seinem Versteck hervor. »War das … äh.«

Er stotterte, weil er nicht so recht wusste, was er sagen sollte.

»Das war mein Verflossener, wir wollten heiraten«, vertraute ihm Thea an.

»Haben Sie sich gestritten?«, erkundigte sich Winters.

Thea schaute ihn an und entschloss sich, ihm die Wahrheit zu sagen, warum wusste sie selbst nicht.

»Ich habe ihn mit einer anderen erwischt«, eröffnete sie ihm.

Winters war überrascht ob ihrer Ehrlichkeit:

»So kurz vor der Hochzeit? Das war sicher alles nur ein Missverständnis, vielleicht war alles ganz harmlos!«, wollte er Thea trösten.

Thea schaute ihn zornig an. »Harmlos! Na, wenn das harmlos war, dann … dann …«

Und wieder rollten die Tränen. Roland Winters hätte sie am liebsten in den Arm genommen, traute sich aber nicht und versuchte sie zu beschwichtigen:

»Nicht weinen. Bitte nicht weinen.«

Thea schniefte und kramte ihr Taschentuch hervor. Als sie sich beruhigt hatte, sagte er leise:

»Sie haben so schöne Augen, viel zu schade für Tränen.«

Sie antwortete nicht. Sie saßen einige Zeit in Gedanken versunken nebeneinander. Nach einem prüfenden Blick, der Roland Winters ganzes Aussehen umfasste, fragte Thea plötzlich: »Können Sie schwimmen?«

Irritiert über ihren Stimmungswandel, konterte er scherzhaft: »Gibt es hier einen Gartenteich?«

Jetzt lachte Thea und ihre Stimme klang amüsiert: »Nein, aber in dreihundert Metern Entfernung liegt ein Stausee. Was ist, kommen Sie mit? Ich brauche dringend Abkühlung.«

Ohne seine Antwort abzuwarten, sprang sie auf, und kam nach einigen Minuten mit einer Tasche über dem Arm wieder.

»Kommen Sie, ich hab Handtücher und eine Badehose für Sie dabei.«

Der Weg zum See führte über einen kleinen Trampelpfad hinterm Gartentor an einer Wiese entlang und dauerte nur gut fünf Minuten. Kaum angekommen entledigte Thea sich bis auf einen knappen Bikini ihrer Kleider und sprang beherzt ins kühle Nass.

Roland Winters schaute ihr bewundernd nach. Sie war schlank wie eine Tanne, von fast jungenhaftem Aussehen und ihre Haut bronzefarben. Sie schwamm sicher und mit kräftigen Stößen weit hinaus. Schnell schlüpfte er in die Badehose, die sie ihm mitgebracht hatte, und folgte ihr. Das Wasser war eisig, aber schon nach wenigen Minuten hatte er sich daran gewöhnt. Nach zwei Stunden, von denen Thea eine nur mit Schwimmen zugebracht hatte, gingen sie gemächlich zurück. Sie verstanden sich gut und waren ohne Formalitäten zum Du übergegangen.

Das kleine Häuschen verfügte über jegliche Annehmlichkeit, die man auch in normalen Häusern findet. Nach dem Abendessen, das sie gemeinsam zubereitet hatten, erkundigte sich Roland: »Wem gehört das Haus, deinen Eltern?«

Thea beugte sich über die Spülmaschine, um das Geschirr einzuräumen und antwortete, ohne aufzusehen: »Meinem Onkel, er ist oft hier. Meine Eltern sind tot.«

›Verdammt, wieder ins Fettnäpfchen getreten‹, dachte Roland, laut sagte er: »Oh, das tut mir leid. Ich hab es nicht gewusst.«

Thea richtete sich auf und ließ die Tür der Spülmaschine zuschnappen.

»Schon gut. Ist heute nicht mehr so schlimm. Ich war siebzehn, da sind sie mit dem Auto verunglückt. Jetzt hab ich nur noch Onkel Franz. Von ihm sind die Sachen, die ich dir zum Anziehen gegeben habe.«

Roland schaute sie an. »Ist er nett? Ich meine deinen Onkel.«

Thea lächelte und ihr Gesicht wurde weich. »Er ist fantastisch. Ich wohne bei ihm auf dem Hof. Ich habe dort meine eigene Wohnung.«

Sie gingen hinaus auf die Terrasse und genossen die letzten Sonnenstrahlen. Roland Winters konnte sich Thea gut auf einem Pferderücken vorstellen und fragte sie: »Reitest du?«

»Leidenschaftlich gerne!«

Sie verstummte und schnell fiel er ein, um sie abzulenken:

»Toll, ich reite auch gern.«

Sie antwortete nicht und wieder war dieser traurige Ausdruck in ihrem Gesicht. Roland Winters verfluchte in Gedanken Maik Lohberg, trotzdem, irgendwo in seinem Innern freute er sich über den Ausgang. Bisher hatte er die Richtige noch nicht gefunden. Vielleicht war es doch nicht so schlimm, dass er in der Bar überfallen wurde, denn sonst hätte er Thea wohl niemals kennengelernt. Zwar war sie keine dieser oberflächlichen Schönheiten mit üppiger Oberweite und blonder Mähne, die die Titelblätter der Illustrierten zierten, aber auf ihre Art durchaus reizvoll. Ihr Gesicht hatte eine etwas breite Stirn und die Wangenknochen standen ein wenig vor, doch die blauen Augen wurden von dichten, langen Wimpern verdeckt und die Brauen bildeten schmale Bögen, die über der Nase fast zusammenstießen. Die gerade geformte Nase ließ das Gesicht etwas streng erscheinen, doch ihr kleiner Mund mit den vollen Lippen war sanft geschwungen, und wenn sie lächelte, erschienen zwei winzige Grübchen auf ihren Wangen, die ihr Gesicht angenehm verzauberten.

Im Moment war sie mit ihren Gedanken weit weg, und eine steile Falte zwischen ihren Brauen kündete davon, dass diese Gedanken keineswegs freundlicher Natur waren. Um sie abzulenken, erkundigte er sich nach ihrem Onkel.

»Ist dein Onkel Landwirt?«

Irritiert schrak Thea auf und lachte dann laut.

»Landwirt?! Um Gottes willen, nein. Er ist Arzt. Er hat einen Verwalter für den Hof.«

Winters war überrascht. »Wo liegt der Hof oder darf das niemand wissen?«

Thea lachte immer noch. »Natürlich nicht, in der Nähe von Gütersloh. Direkt an einem kleinen Dorf beim Industriegelände führt die Straße zu uns. Das Haus liegt etwa drei Kilometer vom Ort entfernt.«

Winters hakte gleich nach: »Dein … äh, dieser Maik, hat der auch einen Hof?«

»Maik? Nein! Er hat ein Haus in der Stadt. Maik ist Anwalt«, erklärte sie kurz und stand dann auf. »Mir ist kalt. Ich werde etwas fernsehen.«

Winters antwortete nicht. Er war sich jetzt sicher, Lohberg schon mit einer Frau gesehen zu haben. Sein Vater hatte den Namen Lohberg einmal erwähnt im Zusammenhang mit Grundstücksverhandlungen.

Roland Winters sen. war Besitzer der ROWI-Werke, er Roland Winters jun. sollte diese Werke einmal erben. Bisher hatte ihn das nicht sonderlich begeistert. Er hatte an der Ruhruniversität in Bochum studiert und war seit einem Jahr Diplombetriebswirt. Nach dem Abitur hatte er erst eine Ausbildung zum Wergzeugmechaniker absolviert, ungern, auf Wunsch seines Vaters, um sich besser im Herstellungsbereich auszukennen. Aber er hatte meistens den verwöhnten Sohn gespielt, sehr zum Ärger seines alten Herrn. In der letzten Zeit hatte er es außerordentlich schlimm getrieben. Er war nun dreißig Jahre alt, und seine Kneipenbummel nahmen immer groteskere Formen an. Dass er so betrunken war, und nicht einmal mehr wusste, mit wem er zusammen war, und wie er in diese Gegend gekommen war, war der absolute Höhepunkt. Wenn er Anzeige erstatten wollte, würde er der Polizei keinerlei Hinweise geben können, da er sich weder an den Namen der Bar erinnern konnte, in der er zuletzt gewesen war, noch an die Personen, die ihn ausgeraubt hatten.

Er hatte auf Wunsch seiner Schwester eine Druckerei auf einem Industriegelände in der Nähe von Schloss Neuhaus besichtigt. Danach war er mit dem Geschäftsführer in die Dorfkneipe gegangen. Sie hatten mit mehreren jungen Männern gekegelt. Der Druckingenieur hatte sich längst verabschiedet. Er hatte einen Taxidienst beauftragt, seinen Wagen nach Hannover zurückzubringen. Dann hatten sie weiter gefeiert. Später war er mit den anderen Männern durch etliche Kneipen gebummelt. Er konnte sich an keinen von ihnen richtig erinnern.

An diesem Abend auf der Terrasse des kleinen Häuschens im Sauerland schwor er Besserung. Vielleicht, wenn Thea wirklich diesem Anwalt den Laufpass gab, könnte er sich ja revanchieren und sie einmal zu einem Essen einladen.

Er saß so in Gedanken versunken auf der kleinen Terrasse, dass er gar nicht bemerkte, dass es allmählich dunkel wurde. Erst als der Mond als dünne Sichel hinter den hohen Bäumen auftauchte, raffte sich Winters auf und ging hinein.

Drinnen war alles still. Im Halbdunkel sah er sich nach einem Schalter um. Als er Licht gemacht hatte, entdeckte er einen Zettel auf dem Wohnzimmertisch.

›Ihr Zimmer ist rechts neben dem Bad. Thea‹

Er war erstaunt über die förmliche Anrede, war es nur ein Versehen oder sollte es einen besonderen Abstand verdeutlichen? Verärgert knüllte er den Zettel zusammen. Sie glaubte doch wohl nicht, dass er die Situation ausnutzen würde. Er schloss leise die Terrassentür und löschte das Licht. Langsam tastete er sich durch den fast dunklen Raum zur Treppe. Oben angekommen sah er eine Tür rechts neben dem Bad weit geöffnet. Ein weiterer Hinweis nur ja nicht im falschen Raum zu landen.

Bestimmt hatte sie auch noch ihre Tür verschlossen! Roland Winters zog geräuschlos die Zimmertür hinter sich zu, die gute Stimmung, die ihn den ganzen Nachmittag begleitet hatte, war dahin.

Am anderen Morgen wurde er schon früh durch das Gurren einer Taube geweckt. Zu seinem Erstaunen hatte er tief und traumlos geschlafen. Hastig stand er auf. Es war schon taghell. Zu dumm, dass er keine Uhr hatte! Aber sicher war es schon sieben.

Leise schlich er aus dem Zimmer ins Bad. Nach der Morgentoilette ging er gleich nach unten. In der Küche hörte er Thea rumoren.

»Na, gut geschlafen?«, erkundigte sie sich fröhlich, als er eintrat.

Sein Blick fiel auf die Küchenuhr. »Oh, so spät schon?«, fragte er schuldbewusst, denn es war fast acht.

Es duftete nach frischem Kaffee und in einem Korb standen knusprige Brötchen auf dem Tisch. Einladend wies Thea auf den Stuhl neben sich und lächelte.

»Im Urlaub muss man schließlich ausschlafen, oder?«

Sie hatte sich schon ein Brötchen mit Marmelade geschmiert und biss herzhaft hinein. Zögernd nahm er Platz, und Thea schenkte Kaffee ein.

»Milch und Zucker?«

Er nickte und verspürte augenblicklich einen entsetzlichen Hunger. Das Frühstück war genau nach seinem Geschmack. Es gab neben Marmelade auch verschiedene Sorten Wurst und Schinken, Tomaten und ein gekochtes Ei für jeden.

»Tolles Frühstück«, bemerkte Roland anerkennend.

»Ein gutes Frühstück verträgt jeden Tag, hat mein Onkel immer gesagt, und ich glaube, er hat recht«, schmunzelte Thea.

»Ein kluger Mann, Ihr Onkel!«, murmelte Roland, absichtlich förmlich, da er sich plötzlich an ihren Zettel vom Abend vorher erinnerte.

»Oh, so förmlich heute?«, belustigte sich Thea. »Ich dachte, wir waren per du.«

Roland hatte gerade den Mund voll, das gab ihm Zeit. Als er dann mit einem Schluck Kaffee nachgespült hatte, meinte er mit unschuldiger Miene:

»Oh, Pardon, Thea, ich glaube, ich bin heute noch etwas verschlafen.«

Er lächelte ihr zu und Thea fragte sich, warum zum Teufel dieser Typ überraschend rot wurde und, um ihre eigene Verlegenheit zu verbergen, stand sie auf und lenkte ab:

»Möchtest du noch etwas Kaffee?«

Roland beeilte sich, zuzustimmen.

Nach dem Frühstück ging er auf die Terrasse und genoss die warme Sommerluft. Es war ein strahlend schöner Tag und irgendwie bedauerte er, dass er schon bald abgeholt werden sollte. Just in diesem Augenblick fuhr ein Wagen vor und auch ohne hinzuschauen, erkannte er am Klang den knallroten Porsche seiner Schwester. Schnell ging er ins Haus, um sich von Thea zu verabschieden. Den missbilligenden Blick seiner Schwester wollte er ihr ersparen. Marianne konnte manchmal so gnadenlos direkt sein.

Zu spät! Thea war schon hinausgegangen und blickte interessiert auf den roten Flitzer. In ihrem etwas verblichenen Jogginganzug wirkte sie wie ein Aschenputtel gegen die elegante Dame, die gerade aus dem Auto stieg. Als Roland Thea bei ihr stehen sah, hatte er das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Zum Teufel mit diesen aufgedonnerten Frauen, die alle anderen wie Mauerblümchen aussehen ließen. Verärgert strebte er an Thea vorbei, auf seine Schwester zu: »Marianne, du bist schon da! Dann kann es ja gleich losgehen.«

Marianne Winters nahm lässig ihre Sonnenbrille ab und blickte neugierig um sich.

»Hallo, Brüderchen! Welch hübsches, kleines Haus.«

Sie wandte sich an Thea. »Kann ich es mir mal ansehen?«

Thea lächelte freundlich. »Ja, natürlich. Kommen Sie nur herein.«

Sie sah Rolands Gesichtsausdruck und wusste nicht so recht, wie sie ihn deuten sollte. Aber er ließ ihr keine Zeit zu überlegen und sagte:

»Bitte, Marianne, warum denn der Aufwand, lass uns gleich fahren.«

Sein bestimmtes Auftreten brachte ihm einen vernichtenden Blick von Thea ein, und seine Schwester zog einen Flunsch: »Also wirklich, Roland, soviel Zeit werden wir gewiss haben.«

Sie zog ihre grellrot geschminkten Lippen zusammen und fuhr sich mit ihren rotlackierten Nägeln durch ihre blondierte Mähne und schüttelte sie. Dann grinste sie belustigt und meinte spöttisch:

»Keine Sorge, ich werde Vater nichts von deinem Liebesnest verraten.«

Roland Winters wurde rot und Thea schnappte nach Luft.

Marianne ließ sich dadurch nicht stören, stelzte auf ihren hochhackigen Schuhen zielstrebig auf Thea zu, reichte ihr die Hand und drängte:

»Ach, bitte würden sie mir das Häuschen einmal zeigen? So etwas habe ich mir seit einer Ewigkeit gewünscht.«

Thea nickte und beide gingen ins Haus. Verärgert blieb Roland draußen stehen. Lange würde sich Marianne bestimmt nicht aufhalten. Und er hatte recht! Kaum zehn Minuten später kamen die beiden Frauen wieder heraus. Jetzt war der Kontrast besonders deutlich. Es gab Roland Winters einen Stich, seine elegante Schwester mit ihrem perfekten Make-up und dem eng anliegenden, hellgrauen Kostüm neben Thea zu sehen. Theas blaue Augen glitzerten dunkel und auf ihren Wangen hatte sich ein zartes Rot ausgebreitet. Nun lächelte sie Marianne zu und ihre feinen Grübchen ließen das Gesicht aufleuchten, und in diesem Moment sah sie so zauberhaft jung aus, dass Roland Winters sie verwirrt anstarrte.

Thea reichte Marianne die Hand und verabschiedete sich.

»Besuchen sie mich doch einmal. Gleich hier in der Nähe ist ein wundervoller Stausee. Man kann dort herrlich schwimmen und faulenzen.«

Marianne öffnete die Fahrertür und antwortete: »Vielleicht, ich überleg es mir, danke.«

Sie schwang sich hinters Steuer. Roland beeilte sich Thea ebenfalls die Hand zu geben und meinte etwas steif: »Danke. Äh, ich, ich werde mich bei dir melden.«

Dann stieg er schnell ein, und als Marianne den Wagen mit Schwung zurücksetzte, sah er nur Theas etwas erstauntes, lächelndes Gesicht mit den Grübchen und dachte:

›Verdammt, ich habe sie nicht einmal nach ihrer Telefonnummer gefragt‹.

Seine Schwester betrachtete ihn belustigt.

»Roland, du hast dich doch nicht etwa in dieses Kind verknallt!«

Verärgert knurrte er: »Du spinnst ja.«

Dann wandte er sich ab, um ihren forschenden Augen zu entgehen und ließ sich den Fahrtwind durchs Gesicht blasen.

Thea hatte dem roten Porsche nachgeschaut. Was hatte dieser Roland Winters nur? War es ihm peinlich, mit ihr gesehen zu werden? Verstimmt ging sie ins Haus.

Roland Winters war ihr anfangs so sympathisch gewesen, aber nun!? Seine Schwester war so nett zu ihr gewesen, hatte aber nach einem kurzen Blick in die unteren Räume gemeint, ihr Bruder habe es wohl eilig und sich schnell verabschiedet. Marianne Winters hatte ihr gefallen, solch eine Schwester hätte sie auch gern gehabt, zum Bummeln und Einkaufen, zum Ausgehen und überhaupt. Aber Roland hatte sich benommen, als müsse er etwas vor seiner Schwester verbergen. So etwas Blödes! Wenn sie eine Schwester hätte, würde sie ihr alles erzählen.

Als Thea jetzt so mit ihren Gedanken beschäftigt durch den Flur ging, fiel ihr Blick auf ihr Bild in dem großen Dielenspiegel. Sie erfasste mit einem Male ihr ganzes Aussehen, den alten Jogginganzug, ihr strähniges Haar und dachte an die elegante Erscheinung von Marianne Winters.

Das war es also! Er hatte sich für sie geschämt! Was bildete der Typ sich eigentlich ein? Schließlich war es früh am Morgen und sie hatte Urlaub. Zur Arbeit ging sie auch nicht so salopp.

›Männer!‹, dachte sie grimmig. Entschlossen ging sie nach oben ins Bad und stellte sich unter die Dusche.

Kaum hatte Thea sich das Haar getrocknet und sich angezogen fuhr wieder ein Wagen vor. Natürlich Maik! Mit einem riesigen Rosenstrauß, der sein schlechtes Gewissen noch deutlicher machte, stapfte er herein.

»Was willst du?«, empfing Thea ihn, ohne ihm die Blumen abzunehmen.

»Thea, es tut mir leid!«

Er machte ein zerknirschtes Gesicht. Thea betrachtete ihn spöttisch und meinte kühl:

»Wenn du meinst, dass ich es mir überlege, hast du dich geirrt. Am besten du heiratest Beate, dann brauchst du nicht einmal die Gäste auszuladen.«

Sichtlich nach Fassung ringend legte Maik den Rosenstrauß auf den Wohnzimmertisch und holte tief Luft.

»Thea! Was sollen denn die Leute denken? Mein Vater wird entsetzt sein!«

Thea sah ihn stirnrunzelnd an.

»Wenn das deine einzigen Sorgen sind, kann ich dir leider nicht helfen. Mir ist es nämlich egal, was die Leute sagen! Und dein Vater ist mir auch egal!«

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, wusste sie, dass es stimmte. Es ging doch hier nur um sie beide, oder?

Maik schien da anderer Ansicht, sein Gesicht nahm eine rote Färbung an, und als er nun sprach, spürte man deutlich den verhaltenen Zorn:

»Ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst! Wir sind doch nicht allein auf der Welt. Die Gäste, der Pfarrer, dein Onkel … « Jetzt wurde er eifrig, als sei ihm eine Idee gekommen. »Du kannst das doch deinem Onkel nicht antun, Thea. Als Chefarzt steht er doch im Mittelpunkt des Interesses. Bitte, Thea!«

Thea hatte ihm schweigend zugehört, und während sie ihn betrachtete, seine schlanke Gestalt nur wenig größer als sie, das blonde, kurz geschorene Haar und die grauen Augen, die sie zwar etwas zerknirscht, aber dennoch voller Eifer anblickten, dachte sie plötzlich an ein anderes Gesicht: dichtes, dunkles Haar, eine breite Stirn, die lange gerade Nase und schwarze Brauen über braunen Augen, mit kleinen, gelben Sprenkeln darin.

Maik hatte all seine Überzeugungskraft aufgewandt, als er plötzlich bemerkte, dass sie völlig abwesend zu sein schien, fuhr er sie unbeherrscht an:

»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«

Thea schrak zusammen, fasste sich aber schnell: »Natürlich! Du schreist ja laut genug!«

»Aber du scheinst mich trotzdem nicht verstanden zu haben!«, brüllte er sie an.

Thea schenkte ihm einen langen, eisigen Blick, zuckte die Schultern und ging davon. Er schnappte zornig nach Luft und folgte ihr.

»Hör mal, was fällt dir ein, mich hier einfach so stehen zu lassen?«

Sie war die Treppe hinaufgegangen, verschwand in ihrem Schlafzimmer und drehte den Schlüssel hörbar um. Maik Lohberg stand einige Zeit unentschlossen im Flur, abwartend, ob sie es sich nicht doch noch anders überlegte, dann, nach einer vertanen Viertelstunde, verließ er geräuschvoll das Haus und fuhr mit dröhnendem Motor davon.

Als Thea den Wagen wegfahren hörte, überlegte sie, wie sie die nächsten Tage ihres Urlaubs in Ruhe ohne derartig lästige Störungen verbringen sollte. Maik würde nicht locker lassen. Sie war sich nicht so sicher, wie sie sich vorhin gegeben hatte. Hätte er sie in den Arm genommen, wäre er so sanft und zärtlich gewesen, wie sonst, dann hätte sie wohl eingelenkt. Aber ihm ging es ja nur um sein Ansehen, um seinen Ruf. An sie hatte er dabei nicht gedacht, dass jedenfalls hatte sie genau gespürt. Überhaupt hatte sie Maik nie so kennengelernt. Er hatte sich nicht einmal richtig bei ihr entschuldigt. Sie musste unbedingt mit Onkel Franz sprechen. Nur zu dumm, dass der gerade auf Mallorca war. Doch dann kam ihr eine Idee.

Entschlossen ging sie ans Telefon.

»Peng, Peng! Du bist tot! « Der Junge hatte leuchtend rotes Haar und war fünf Jahre alt. Er tobte mit einer Plastikpistole durchs Haus.

»Zum Donnerwetter! Gib das Ding her!«, brüllte Alfons Weiß und lief hinter seinem Sohn her. Der Kleine rannte hinaus in den Garten. Bevor er unter einem Nussstrauch verschwinden konnte, hatte sein Vater ihn am Pullover erwischt. Er packte den sich heftig wehrenden Jungen mit festem Griff und entwand ihm die Pistole. Sven zappelte und trat seinem Vater vor das Schienbein. Weiß klemmte sich den Jungen unter den Arm und brachte ihn ins Haus.

Andrea Weiß hatte mit gerunzelter Stirn ihre rothaarigen Kampfhähne beobachtet. Als sie jetzt im Wohnzimmer aufkreuzten, baute sie sich, die Hände in die Hüften gestemmt, vor ihnen auf.

»Ihr benehmt euch, wie kleine Kinder.« Mit einem zornigen Blick auf ihren Mann, der seinen Sohn nun wieder auf die Füße gestellt hatte, schnappte sie sich die Pistole.

»Sven, woher hast du die Pistole?«

»Gefunden.«

Sven schaute auf seine Fußspitzen. Andrea ging vor ihrem Sohn in die Hocke.

»Eine Pistole ist etwas ganz Gefährliches. Ich möchte nicht, dass du damit spielst.«

Sie schloss ihrem Sohn in die Arme und drückte ihn fest an sich. Alfons stand unentschlossen neben den beiden. Sven schaute seine Mutter trotzig an.

»Papa hat auch eine Pistole!«

»Ich bin Polizist!«

Alfons Weiß hatte sich ebenfalls hingehockt. In diesem Moment erklang ein gedämpftes Hupen.

»Das ist Jupp«, schrie Sven, und die Pistole war vergessen. Er rannte hinaus. Seine Eltern sahen einander etwas ratlos an. Kurz darauf kam Josef Tann mit Sven auf der Schulter herein. Er setzte ihn lachend ab und meinte: »Du bist ganz schön schwer geworden!«

Er fasste in seine Tasche und holte ein kleines Polizeimotorrad hervor. »Schau mal, was ich dir mitgebracht habe.«

Sven nahm das Fahrzeug und betrachtete es ausgiebig. »Wow, man kann sogar den Lenker bewegen.« Er setzte sich auf die Erde und schob das Krad hin und her.

»Sven, was sagt man denn?«, erinnerte ihn seine Mutter vorwurfsvoll.

»Danke, danke!«, alberte Sven herum und fuhr energisch fort: »Ina kriegt das nicht! Das gehört mit!«

»Natürlich gehört es dir«, bestätigte Josef Tann. »Alfons wir müssen los.«

Weiß gab seiner Frau einen Kuss, und zu seinem Sohn sagte er schelmisch mit dem Finger drohend:

»Bleib artig und pass auf Mama und Ina auf.«

Als sie im Auto saßen, frotzelte Tann: »Knies gehabt?«

»Knies? Nee, das nicht! Aber der Kleine hat seine Trotzphase. Andrea kriegt ihn nicht in den Griff.«

»Andrea?! Ich hatte eher den Eindruck, du kriegst ihn nicht in den Griff!«, lachte Tann.

»Egal, der Bengel macht im Moment nur Theater. Hatte sich von seinem Freund eine Plastikpistole ausgeliehen, um seine Mutter zu ärgern.«

Weiß lenkte den Wagen vorsichtig um einen abgestellten LKW herum. Die stark gewundene Straße war hier sehr schmal und wurde beidseitig von hohen Linden gesäumt. An einigen Bäumen waren Spuren von Kollisionen zu sehen. Die Fahrbahn war schlecht, alle dreihundert Meter standen Warnschilder. Trotzdem wurde die Straße von Motorradfans gern als Rennstrecke benutzt.

»Was du immer hast. Ich finde Sven ist eben ein richtiger Junge«, meinte Tann.

»Kannst ihn dir ja mal ausleihen«, brummte Weiß. Als er Tanns Grinsen sah, setzte er hinzu: »Ina war jedenfalls in dem Alter nicht halb so schlimm.«

»Ina war genauso ein Racker. Wenn ich an die Geschichte mit der Maus denke.« Tann schmunzelte.

Ina Weiß war im Alter von vier Jahren mit einer Maus in der Tasche ins Wohnzimmer gekommen und hatte sie bei ihrer Mutter auf dem Schoß laufen lassen. Das Mäuschen wollte sich instinktiv verstecken und war Andrea Weiß in den Ausschnitt gehüpft. Riesenspektakel im Hause Weiß war die Folge.

Alfons Weiß sah seinen Kollegen verärgert an. Die Mausgeschichte hatte eine ganze Zeit lang zur Erheiterung der Bekannten und Verwandten gedient. Seine Frau hatte kurzerhand die Koffer gepackt und war drei Wochen bei ihrer Mutter geblieben. Weiß wurde ungern daran erinnert.

Tann lehnte sich zurück und genoss es, sich fahren zu lassen. Er hatte die Seitenscheibe geöffnet und der Fahrtwind blies herein. Sie fuhren in Richtung Autobahn.

Der Hof Osthager lag etwa drei Kilometer von der Autobahnbrücke entfernt, an der sich Susanne Gressmer umgebracht hatte. Es war warm. Kommissar Weiß hatte den Wagen vor der Scheune abgestellt. Tann stieg aus und ging zielstrebig auf die eine kleine Seitentür zu. Weiß blieb im Wagen.

In der Scheune war es heller als erwartet. Von der anderen Seite ließen nachträglich eingebaute große Fenster viel Licht herein. Es herrschte ein ziemliches Durcheinander. Der Boden war von Sägespänen und Holzstücken übersät. Vor einem schweren Holztisch in der Mitte stand ein schlanker, junger Mann. Sein dunkles, lockiges Haar war fast schulterlang. Er arbeitete ohne aufzusehen weiter, als Tann eintrat. Interessiert betrachtete Tann eine fast lebensgroße Madonna.

»Gut Arbeit!«, lobte er. »Ist die Figur für eine Kirche bestimmt?«

Der junge Mann hob seinen Kopf und nickte. Tann ging nun direkt zu ihm hin zeigte seinen Ausweis.

»Tann, Kommissar Tann. Sind Sie Georg Osthager?« Ein weiteres Nicken war die Antwort. Tann hielt ihm ein Foto hin.

»War dieses Mädchen schon einmal hier in der Werkstatt?«

Osthager betrachtete das Foto und gab es ihm zurück.

»Ja, sie war hier. Mit ihrer Freundin.«

»Wollte sie etwas kaufen, oder kamen die Mädchen nur um sich umzusehen?« Osthager hatte seinen Meißel auf den Tisch gelegt und zuckte mit den Schultern.

»Ob sie etwas gekauft haben, weiß ich nicht«, sagte er bedächtig jedes einzelne Wort betonend.

»Waren sie häufig da?«

Wieder nickte Osthager und Tann überlegte, wo er ihn schon einmal gesehen hatte.

»Frau Gressmer sagte, ihre Tochter habe von Ihnen einen hölzernen Engel geschenkt bekommen. Stimmt das?«

Gerade als sein Gegenüber antworten wollte, öffnete sich die Tür und eine erboste Stimme erscholl:

»Machen Sie, dass Sie wegkommen, und lassen Sie meinen Bruder in Ruhe.«

Bekleidet mit einem karierten Hemd, einer Latzhose und Gummistiefeln erschien ein weiterer Mann in der Scheune. Er trug eine Mistgabel in der Hand und baute sich vor Tann auf.

»Sie sind schon der Zweite in dieser Woche, der meinem Bruder etwas ans Zeug flicken will.«

Tann hob abwehrend die Hände und zog seinen Ausweis hervor.

»Ich habe nur ein paar Fragen an Ihren Bruder. Vielleicht können Sie mir auch weiter helfen.«

Tann zeigte das Bild von Susanne Gressmer.

»Ist Ihnen etwas aufgefallen, als dieses Mädchen hier war? Hatte sie vielleicht einen Freund dabei?«

Georg Osthager begann wieder mit seiner Schnitzarbeit. Sein Bruder schaute einmal kurz zu ihm hin und meinte dann:

»Das Mädchen war ein paar Mal bei uns. Sie fühlte sich hier wohl. Meistens war eine Freundin dabei. Oft kam sie auch allein. Schorsch mochte sie.«

Er hatte leise gesprochen. Sein Bruder arbeitete weiter.

»Im Zimmer des Mädchens wurde ein hölzerner Engel gefunden. War der von Ihrem Bruder?«

Tann betrachtete prüfend das Gesicht seines Gegenübers.

Schorschs Bruder war von kräftiger Statur, er trug sein Haar kurz. In seinem Gesicht rührte sich kein Muskel. Er überlegte lange, bis er antwortete.

»Das ist durchaus möglich. War ein nettes Mädchen die Susanne. Schorsch hat öfter was verschenkt.«

Tann wendete sich zur Tür.

»Danke für die Auskunft.« Er war schon fast draußen, da fiel ihm noch etwas ein. »Wie war noch einmal Ihr Name? Nur fürs Protokoll.«

»Kurt Osthager, und das da ist mein Bruder Georg«, antwortete Osthager knapp. Tann verließ die Werkstatt.

Weiß stand an sein Auto gelehnt.

»Ich hab schon gedacht, du kommst gar nicht mehr raus! Was wolltest du da eigentlich? Der Fall Gressmer ist abgeschlossen.«

»Ich weiß!« Ohne ein weiteres Wort stieg Tann ein.

Erst als sie einige Kilometer gefahren waren, sagte er: »Vor drei Tagen war ich beim Pfarrer, um ihn ein wenig auszuhorchen. Nachdem was ich gehört habe, wollte ich mir ein Bild machen, das ist alles.«

»Und was hast du gehört?«, erkundigte sich Weiß.

»Georg Osthager hatte vor fünf Jahren einen schweren Unfall. Er ist mit seinem Motorrad mit voller Geschwindigkeit auf einen Traktor aufgefahren. Er hat lange im Krankenhaus gelegen. Zum Glück nur leichte Kopfverletzungen, wohl dank des Helms. Schwerste Verletzungen im Unterbauch. Beckenbruch, Milzriss und so weiter. Sein Studium konnte er nicht mehr fortsetzen.«

Alfons Weiß überholte einen Mercedes und schimpfte:

»Verdammt, Opa, wenn du spazieren fahren willst, dann nimm dein Fahrrad!«, fluchte er und fuhr fort: »Und was hat er studiert?«

»Literatur und Kunstgeschichte. Der Pfarrer hat gesagt, früher hat er auch gemalt. Nach einer Rehabilitationsmaßnahme hat er mit dem Schnitzen angefangen.«

Tann holte eine Mineralwasserflasche aus seiner Tasche und nahm einen kräftigen Schluck.

»Trotz allem verstehe ich nicht, was du von ihm gewollt hast. Er kann doch nichts dafür, dass die kleine Gressmer von der Brücke gesprungen ist!«

Tann zuckte die Schultern. »War nur so ‹ne Idee.«

Alfons Weiß fuhr auf den Parkplatz.

»Durch deine Ideen kommen wir jetzt zu spät zur Besprechung. Das erklärst du Brunger«, knurrte er.

Tann trottete neben ihm her und dachte, dass Lehrerinnen einem ganz schön zu schaffen machen können.

Die Sportstunde war ausgefallen. Veronika Brauer war verärgert. Immer die interessantesten Stunden wurden gestrichen. In der sechsten Klasse war der Deutschlehrer erkrankt und Frau Brant musste ihn vertreten. Veronika nahm ihre Sporttasche und ging zum Fahrradständer. Sie war mit Hilke Reichert verabredet. Hilke war neu in der Klasse. Ihre Eltern waren geschieden, und sie wohnte seit einigen Wochen mit ihrer Mutter in einem Mehrfamilienhaus in der Wortstraße. Veronika wartete nicht lange. Im Laufschritt kam Hilke heran und keuchte verärgert:

»Der Klausen meint, ich müsste viel nachholen. Dabei waren wir in Oelde im Englischen wesentlich weiter. Das bisschen Mathe hol ich schon auf.«

»Mach dir nichts draus, der Klausen hat sich immer so wichtig. Die Einzige, die bei dem ankommt, ist Marita«, sagte Veronika beschwichtigend und fuhr fort:

»Marita, wie lautet noch gleich der Satz des Pythagoras?!« Hilke lachte schallend. Veronika hatte ihren Lehrer perfekt imitiert.

»Toll, ich wusste gar nicht, dass du das kannst!«

Sie nahmen ihre Räder und fuhren Richtung Stadtpark. An der großen Rasenfläche stellten sie ihre Räder an eine Bank und setzten sich gemütlich ins Gras. Hilke war in Gedanken noch bei Herrn Klausen und ihren Aufgaben. Sie nahm ihre Tasche und kramte einen Zettel heraus.

»Was der mir alles aufgeschrieben hat.« Sie schüttelte den Kopf.

»Komm, steck das weg!«, sagte Veronika und setzte leise hinzu, »Susanne hätte den Klausen ausgelacht.«

»Susanne? Ist das die, die sich umgebracht hat?« Hilke hatte jetzt auch leise gesprochen. Veronika nickte.

»War meine beste Freundin. Ich hab keinen Schimmer, warum sie das gemacht hat. Komisch nicht?«

»Hatte sie denn Angst vor ihren Eltern?«

Hilke dachte daran, wie ihr Vater immer ausgerastet war, wenn sie mit einer schlechten Note heimkam.

»Susanne hatte nie Angst. Sie war super in der Schule. Marita war schon richtig sauer. Immer wenn sie eine Zwei oder Eins bekam, hatte Susanne garantiert auch eine. Die beiden waren immer im Wettstreit. Mir hat sie oft geholfen.«

Veronika war ins Schwärmen gekommen. Hilke spürte, wie ihr die Freundin fehlte.

»Vielleicht hatte sie ein Geheimnis. Etwas was niemand wissen durfte«, sinnierte sie.

Veronika legte sich lang ins Gras und verschränkte die Arme unter ihrem Kopf. Sie betrachtete ein Flugzeug, welches winzig klein und lautlos über ihnen dahin zog. Hilkes Worte beachtete sie nicht. Ihre Gedanken waren bei Susanne.

»Ihre Mutter ist in der Klapse. Sie ist völlig durchgedreht. Ist auch egal. Es ist vorbei.«

Hilke legte sich ebenfalls hin und betrachtete den Himmel. So lagen die Mädchen eine ganze Zeit. Plötzlich sprangen beide fast gleichzeitig auf.

»Es ist gleich zwölf. In zehn Minuten beginnt die Deutschstunde.«

Hilke packte als Erste ihre Tasche. Veronika stand aufrecht und schaute über die Wiese zu einem Paar hinüber. Sie beschattete die Augen, um besser sehen zu können. Das Paar war aber schon hinter dem nächsten Gebüsch verschwunden. Langsam nahm Veronika die Hand herunter.

»Wenn mich nicht alles täuscht, waren die beiden dort drüben Herr Klausen mit Marita.«

»Quatsch! Warum sollte Herr Klausen mit Marita spazieren gehen? Der ist doch verheiratet, oder?«

Hilke hatte ihr Rad geholt und die Tasche darauf verstaut. Veronika nahm ebenfalls ihre Tasche und legte sie auf den Gepäckträger ihres Rades.

»Natürlich ist er verheiratet. Aber seine Frau ist fast einen ganzen Kopf kleiner als er«, sagte Veronika nachdenklich.

»Na und, vielleicht trägt sie Highheels. Komm wir müssen los.«

Die Mädchen fuhren eilig in Richtung Gymnasium davon.

Die Deutschstunde hatte bereits begonnen, als sie in die Klasse stürmten. Frau Zobel, eine magere Endfünfzigerin, blickte tadelnd von ihrem Heft auf.

»Meine Damen, wenn Sie schon unpünktlich sind, dann stören Sie nicht Ihre Mitschüler.«

Frau Zobel sprach alle Schüler der beiden letzten Klassen mit »Sie« an. Die Mädchen grinsten einander an und setzten sich schnell auf ihre Plätze.

Die Klasse hatte »Andorra« vom Max Frisch gelesen. Das Thema sollte in Bezug zur Gegenwart von den Schülern diskutiert werden. Um den richtigen Einstieg zu geben, hielt die Lehrerin einen Prolog zur Judenverfolgung im Dritten Reich. Hilke stieß Veronika an und zischelte: »Marita ist nicht da.«

Kaum hatte sie es ausgesprochen, öffnete sich die Tür und die blonde, lange Mähne von Marita Zimmer wehte herein. Die Lehrerin, zum zweiten Male in ihrer Arbeit unterbrochen, reagierte gereizt.

»Zum Donnerwetter! Was ist denn heute los? Wo kommen Sie denn noch her?«

Marita Zimmer bekam einen hochroten Kopf und setzte sich schnell auf ihren Platz. Eine Antwort gab sie nicht. Die Lehrerin erwartete es auch wohl nicht, denn ohne weitere Erklärung fuhr sie mit ihrer Stellungnahme fort.

Veronika und Hilke sahen sich an und grinsten. Zu gern hätten sie gewusst, was Marita aufgehalten hatte.

Donnerstag. Markttag. In der Einkaufszone blühten die Bäume. Es war sonnig und mild. Gemütlich bummelte Cäcilia Brand über die Königsstraße zum Berliner Platz.

Es gab dort immer einen Stand, an dem man eingelegte Oliven und Tomaten, besonders leckeren Fetakäse und andere würzige Köstlichkeiten kaufen konnte. Der junge Mann hinter der Theke begrüßte sie herzlich. Sie kaufte häufig bei ihm. Die Ware wurde in kleinen, runden Holzfässern angeboten. Diesmal empfahl der Verkäufer Champignons, gemischt mit grünen Pfefferschoten eingelegt in Olivenöl. Cäcilia Brant war begeistert. Ein Plastikschälchen wurde gefüllt und mit einem Deckel dicht verschlossen.

»Hm! Eingelegte Champignons«, erscholl eine Stimme.

Der Verkäufer erkannte Tann und lachte.

»Herr Kommissar, lecker, möchten Sie probieren?« Ohne die Antwort abzuwarten, wog er ein weiteres Schälchen ab.

»Hallo, Jos, im Dienst?«, fragte Cil und verstaute die Champignons in ihrem Einkaufskorb.

»Hey, Cil.« Er grinste breit, ohne auf ihre Frage einzugehen, schaute in ihren Korb und meinte: »Ich glaube, wir gehen das nächste Mal zum Griechen.«

»Hast du frei?« Cil ließ nicht locker.

Er schüttelte den Kopf. »Nachtdienst.«

Sie hängte ihre Tasche über die Schultern.

»Kann man nichts machen. Viel Spaß dabei.«

Er hatte seine Ware bezahlt und hechtete er hinter ihr her. »Warte.« Sie blieb stehen. »Wie wär’s mit übermorgen? Dann hab ich abends frei.«

»Geht in Ordnung.« Sie lächelte.

»Ich hol dich ab«, sagte er.

Plötzlich ein schriller Schrei. Wie von der Tarantel gestochen stob er durch die Marktstände davon. Sein Schälchen mit Pilzen hatte er fallen lassen. Cil hob die Tüte auf und legte sie in ihren Korb.

Langsam folgte sie ihm. Hinter den Marktständen hatte sich ein Menschenauflauf gebildet. Cil sah Jos inmitten des Trubels. Er kümmerte sich um eine ältere Frau.

»Er hat sie von hinten umgestoßen und ihr die Handtasche entrissen«, berichtete die Frau neben ihr gerade.

Eine andere fiel aufgeregt ein: »Mit dem Fahrrad ist er auf sie zu gefahren.«

Jetzt wich die Menge auseinander. Zwei Polizisten kamen mit dem Fahrrad. Cil war sich sicher, dass Jos die Fahrradstreife informiert hatte. Die Uniformierten nahmen die Personalien auf und erkundigten sich bei den Umstehenden nach dem Vorfall. Sofort hatten mehrere Passanten das Interesse verloren. Die Menge löste sich auf. Der herbeigerufene Krankenwagen hatte keine Schwierigkeiten durchzukommen.

Cil sah, dass die Überfallene am Kopf blutete und einen Arm merkwürdig baumeln ließ. Sie war bemerkenswert ruhig. ›Wahrscheinlich der Schock‹, dachte Cil. Die Frau wurde von Jos gestützt, bis der Krankenwagen sie zum Krankenhaus brachte. Jos kam kurz darauf zu Cil.

»Wartest du auf jemanden?«

Sie nickte. »Du hast deine Pilze verloren.«

Sie holte das Schächtelchen aus ihrem Korb und reichte es ihm.

»Danke, daran habe ich gar nicht mehr gedacht.«

Sie gingen gemeinsam durch die Marktstände zurück.

»Wie ist es passiert?«, erkundigte sich Cil.

»Das übliche Spielchen. Sie hatten es auf die Handtasche abgesehen. Die alte Dame hat Glück gehabt. Leichte Schürfwunden, Arm gebrochen. Das ist schon der sechste Vorfall in vier Wochen. Immer dieselbe Masche. Junger Mann überholt in schneller Fahrt eine Frau und entreißt ihr die Tasche. Durch den Ruck werden die Frauen in der Regel zu Boden geschleudert. Dabei entstehen zum Teil erhebliche Verletzungen. In einem Fall hat eine alte Dame einen Schädelbruch erlitten, weil sie unglücklich mit dem Kopf auf einen Blumenkübel aufgeschlagen ist.«

Cil hatte still zugehört. »Habt ihr eine Ahnung, wer dahinter steckt?«

»Vielleicht ist es einer, vielleicht sind es mehrere. Die Täter sind so schnell, dass die Geschädigten sie nur schlecht beschreiben können. Dunkle Haare, schlanke Figur, jungenhaftes Aussehen, Jeanshose, T-Shirt. Das trifft auf so viele zu.«

Cil hatte in einer Seitenstraße geparkt. Sie schloss den Kofferraum auf und stellte ihren Korb hinein. Josef Tann wendete sich zum Gehen.

»Bis dahin! Ich hol dich ab.«

»Lass dir‘s gut gehen«, antwortete sie und ließ den Kofferraumdeckel zu fallen.

Es war kurz nach zehn Uhr abends, als bei der Leitstelle der Gütersloher Polizei ein Notruf einging. Eine verschreckte Frauenstimme war zu hören. Hastig berichtete sie über einen Einbruch bei ihren Nachbarn. Der Beamte, der das Gespräch entgegennahm, hatte Mühe die Dame zu beruhigen, um Namen und Anschrift zu erfahren.

Kurz darauf fuhr ein Streifenwagen los.

Kommissar Tann erschien eine knappe halbe Stunde später in der Alsenstraße. Der Polizeiwagen parkte vor dem hell erleuchteten Haus der Familie Gressmer. Einige Nachbarn standen herum.

Tann erkundigte sich bei seinem uniformierten Kollegen, der an der Eingangstür Posten bezogen hatte.

Frau Siemer, die Nachbarin, hatte gegen zehn Uhr im Nachbarhaus die Rollläden herunterlassen wollen. Im Haus herrschte ein schreckliches Durcheinander und sie verständigte sofort die Polizei.

Frau Siemer saß im Wohnzimmer. Sie war sehr blass. Auf Tanns Frage, wann sie das letzte Mal im Haus gewesen war, antwortete sie aufgeregt:

»Heute Morgen, Herr Kommissar. Jeden Morgen habe ich die Rollläden hochgezogen. Und nun das! Was wird nur Herr Gressmer sagen?! Er ist zur Kur.«

»Nun beruhigen Sie sich erst einmal, Frau Siemer. Wie können wir Herrn oder Frau Gressmer erreichen?«

Tann hatte sich in einen Sessel gesetzt. Zwei Männer der Spurensicherung waren gerade angekommen. Frau Siemer schaute ihnen interessiert zu. Sie wandte sich wieder an den Kommissar.

»Frau Gressmer ist im Krankenhaus. Herr Gressmer hat mir seine Adresse und Telefonnummer aufgeschrieben. Ich habe den Zettel dort drüben auf die Anrichte gelegt.«

Sie stand hastig auf, ging zur Anrichte und schaute sich suchend um. Alle Schubladen waren aufgezogen und der Inhalt zum großen Teil einfach auf den Boden gekippt worden. Tann trat zu ihr.

»Fassen Sie bitte nichts an, Frau Siemer. Unsere Leute werden den Zettel schon finden. Wissen Sie den Kurort?«

»Natürlich, Bad Oeynhausen.«

»Das hilft uns bereits weiter. Sie können jetzt nach Hause gehen, Frau Siemer. Wenn noch Fragen sind, werde ich mich an Sie wenden.«

Er geleitete die Frau hinaus. Draußen war es still. Die Anwohner hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen.

Tann hatte sich Handschuhe angezogen und untersuchte die Sachen vor der Anrichte. Nach kurzer Zeit wurde er fündig.

Die Kollegen von der Spurensicherung waren schon fort. Tann hatte alle Räume angesehen, zuletzt das Zimmer der verstorbenen Tochter. Hier herrschte die größte Unordnung. Kopfschüttelnd verließ Tann den Raum. Das Durcheinander ließ darauf schließen, dass der Einbrecher etwas gesucht hatte. Aber was? Der Schmuck von Frau Gressmer lag verstreut auf dem Boden des Schlafzimmers.

Noch einmal überprüfte er das Schloss an der Haustür. Die Kollegen hatten keinerlei Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen gefunden. Der Einbrecher musste im Besitz eines Schlüssels gewesen sein. Tann erinnerte sich, dass der Schlüssel von Susanne Gressmer verschwunden war. Hatte ihn jemand gefunden? Unwahrscheinlich. Er konnte sich eher vorstellen, dass jemand den Schlüssel die ganze Zeit gehabt und die Abwesenheit der Hausbesitzer genutzt hatte.

Die Nacht war warm. ›Richtiges Biergartenwetter‹, dachte Tann. An der Haustür hatte sich sein Kollege Klaus Mersch postiert. Ein weiterer Kollege saß im Wagen.

»Klaus, ich fahr ins Büro den Bericht machen.«

Mersch hatte es sich auf den Treppenstufen gemütlich gemacht. »Alles klar!«, rief er und Tann fuhr davon.

Gernot Gressmer traf gegen fünf Uhr in der Frühe vor seinem Haus ein. Tann erwartete ihn bereits. Gressmer begrüßte ihn nur kurz und ging hinein, um den Schaden zu begutachten. Tann folgte ihm wortlos. Nachdem Gressmer einige Zeit damit verbracht hatte, die einzelnen Räume zu inspizieren, ließ er sich im Wohnzimmer entnervt in einen Sessel fallen.

»Schrecklich! Die haben alles durchwühlt!«, stöhnte er.

»Ist Ihnen schon bewusst, welche Dinge fehlen?«

Tann hatte sich an die Anrichte gelehnt und betrachtete den Hausbesitzer aufmerksam. Gressmer hob hilflos die Arme.

»Bei dem Chaos! Wie soll ich da wissen, was fehlt?«

»Ist der Schmuck Ihrer Frau denn noch vollständig?«

»Ich glaube, ja. Schon komisch! Dabei hat meine Frau die Stücke extra versichern lassen!«

Tann horchte auf. »Interessant! Haben sie Fotos?«

»Sie sagen es! Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin.« Er stand auf und ging zur Anrichte. »Die Fotos hatte meine Frau ganz unten in der Schublade.«

Er bückte sich und kramte eine Plastikhülle aus der Schublade.

Tann betrachtete die Fotos etwas abwesend. Er war erschöpft und müde von der langen Nacht. Das Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben, wirkte sich auch nicht gerade motivierend aus.

»Herr Gressmer, die Spurensicherung hat ihre Arbeit erledigt. Sie können alles wieder einräumen. Einer unserer Beamten wird hier bleiben und Sie unterstützen. Bitte prüfen Sie alles genau. Wenn Fragen sind, in unserer Leitstelle ist immer jemand erreichbar.«

Er hinterließ die Telefonnummer und machte sich auf den Heimweg.

Zwei Tage später waren die Ermittlungen abgeschlossen. Die Polizei stand vor einem Rätsel. Fingerabdrücke waren ausschließlich von der Nachbarin und den Eheleuten Gressmer festgestellt worden. Nachdem Gressmer mit Unterstützung seiner Schwester aufgeräumt hatte, fehlte augenscheinlich nichts, nur eine teure chinesische Vase war zerbrochen. Einbruchspuren konnten nicht festgestellt werden.

Hauptkommissar Brunger hatte seine Leute zur Lagebesprechung zusammen getrommelt. Brunger gehörte zur Kriminalpolizei Bielefeld und war vom Präsidium für die Aufklärung von Mordfällen nach Gütersloh abgeordnet worden. Er leitete die Einsatztruppe im Fall Gressmer. Die Hände tief in den Taschen seiner schwarzen Jeans vergraben, marschierte er auf und ab, bis alle Platz genommen hatten.

»Der Fall Gressmer ist mir ein Rätsel. Keine Einbruchspuren, keine geraubten Gegenstände. Hat einer der Anwesenden eine Idee, was da geschehen ist?« Brunger beobachtete seine Kollegen aufmerksam.

»Vielleicht war es Gressmer selbst oder seine Frau, um die Versicherungssumme kassieren«, fiel Klaus Mersch ein. Erheiterndes Gelächter.

»Was will er denn kassieren, wenn nichts fehlt?«, knurrte Alfons Weiß.

»Also, meine Herren. So dumm finde ich die Idee gar nicht«, fiel Brunger ein. »Gressmer hat ein Alibi, aber seine Frau ist noch nicht befragt worden. Sie könnte theoretisch tagsüber das Chaos veranstaltet haben. Tann, Sie fahren noch einmal zu Gressmer. Danach besuchen Sie die Frau. Irgendwas ist da faul. Am besten machen Sie sich gleich auf den Weg.«

Tann erhob sich. »Okay, dann will ich mal los.«

Tann traf Gressmer im Vorgarten. Er trug derbe Gartenhandschuhe und beschnitt den Rosenstrauch.

»Tag, Herr Kommissar. Gibt’s noch was?«, fragte er, ohne mit der Arbeit einzuhalten.

Tann sah, wie sich beim Nachbarhaus die Gardine bewegte und meinte: »Es ist besser, wenn wir hineingehen.«

»Bin sofort soweit«, brummte Gressmer, griff seinen Korb und ging zur Haustür. Seine groben Gartenschuhe zog er aus und ging auf Socken ins Haus. Tann folgte ihm.

Etwa eine Stunde später besuchte Tann Frau Gressmer im Landeskrankenhaus. Er fand sie im Park. Sie machte einen zufriedenen Eindruck. Als Tann auf ihre Tochter zu sprechen kam, lächelte sie sanft:

»Susanne ist so ein nettes Mädchen.«

Sie sah durch die Bäume des Parks hindurch zum Himmel, als könne sie ihrer Tochter zuwinken. Tann verabschiedete sich schnell.

Ein kurzes Gespräch mit dem Arzt bestätigte ihm, dass Heidelinde Gressmer völlig verwirrt in ihrer eigenen Welt lebte. Seine Frage, ob Frau Gressmer zwischenzeitlich das Krankenhaus verlassen hätte, wurde verneint, allerdings räumte der Arzt ein, dass sie durchaus die Möglichkeit gehabt hätte.

Nachdenklich fuhr Tann zur Einsatzzentrale zurück. An seinem Schreibtisch wartete eine Menge Arbeit auf ihn. Sein Abschlussbericht war gerade fertig, als ihm etwas Wichtiges einfiel.

Gressmer war überrascht, als Tann vor der Tür stand.

»Herr Gressmer kann ich das Tagebuch Ihrer Tochter einmal sehen?«

»Natürlich! Kommen Sie.«

Auf dem Nachttisch in Susannes Zimmer lag der Holzengel. Von dem Tagebuch keine Spur.

»Es hat hier gelegen, neben dem Engel.« Gressmer schaute sich suchend um.

»War es vor dem Aufräumen noch da?«, erkundigte sich Tann und half bei der Suche.

Gressmer schaute ihn erstaunt an. »Sie glauben doch nicht etwa, der Einbrecher hat es mitgenommen?«

Tann nickte. »Könnte durchaus sein!«

»Und wozu wurde dann alles durchwühlt?«

»Keine Ahnung! Vielleicht hat der Dieb noch etwas anderes gesucht.«

Tann ging ans Fenster und schaute in den Garten. Der Rasen war geschnitten. Alles sah äußerst gepflegt aus.

»Beschäftigen Sie einen Gärtner?«, fragte Tann beiläufig.

Gressmer schaute erstaunt auf. »Ein Rentner aus der Nachbarschaft. Hat Langeweile. Der macht das gern. Fast umsonst.«

Tann grinste. Er wusste, dass viele Dinge unter der Hand erledigt wurden. Die Schattenwirtschaft blühte gerade im Kleingewerbe.

»Kommt der Mann regelmäßig?«, erkundigte er sich.

»So ein-, zweimal im Monat. Im Winter gar nicht.«

Gressmer waren die Fragen sichtlich unangenehm. Tann ließ sich davon nicht beirren.

»Der Mann versteht sein Handwerk. Der Garten sieht gut aus. Ich würde ihn gern aufsuchen. Können Sie mir seine Adresse geben.« Als Gressmer zögerte, fuhr er fort: »Er könnte uns möglicherweise einen Hinweis geben.«

Tann notierte die Adresse des Gärtners und verabschiedete sich. An der Haustür drehte er sich noch einmal um und sagte zu Gressmer, der ihm gefolgt war:

»Ich an Ihrer Stelle würde schnellstens das Schloss auswechseln lassen.«

Der hölzerner Engel

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