Читать книгу Der Mord am Pulverbach - Gisela Garnschröder - Страница 5

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I

Über dem Wald zeigten sich die ersten Sonnenstrahlen als Hubert Dirk zu seinem Wagen ging. Er gähnte herzhaft und schob die Schiebetüren seines Kaufladens, wie er seinen rollenden Lebensmittelladen nannte, zur Seite. Mit einem Satz war er drinnen und überprüfte den Bestand. Nachdem er die Regale sorgfältig aufgefüllt hatte, machte er sich auf den Weg zu einem befreundeten Bauern, von dem er Eier, Gemüse und Obst bezog. Danach fuhr er, wie jeden Morgen, zu einer Harsewinkler Bäckerei, um Brot und Backwaren abzuholen. Seine Kunden wohnten weit außerhalb, in den ländlichen Gebieten des Kreises Gütersloh, wo es den Bäcker um die Ecke nicht gab. Sein rollender Lebensmittelladen war gern gesehen. Er brachte den neuesten Dorfklatsch mit, die Morgenzeitung und natürlich die frischen Brötchen. Hubert Dirk fuhr auf der Vennorter Straße Richtung Brockhagen, als ihm ein verbeultes Fahrrad auffiel. Es lag halb auf der Straße. Er hielt an, um es zur Seite zu legen. Das Rad sah schlimm aus. Hubert Dirk nahm es auf und bemerkte das Blut. Auf der Straße, am Rad, überall klebte Blut. Dann sah er ihn. Von der Straße aus nicht zu erkennen, lag das Unfallopfer bäuchlings im hohen Gras. Dirk fühlte die Halsschlagader – kalt. Geschockt drehte er den Toten sanft auf den Rücken. Es war ein junger Mann, fast noch ein Kind. Die Totenstarre hatte schon eingesetzt. Hubert Dirk ging mit schleppenden Schritten zu seinem Wagen, holte eine Decke und sein Handy.

Der Notarzt hatte den jungen Mann untersucht und seinen Tod bestätigt.

»Er wurde direkt von einem Wagen überrollt, der Fahrer hätte es, meiner Ansicht nach, auf jeden Fall merken müssen.« Sein Gegenüber, ein Polizeibeamter, blass und sichtlich mitgenommen, nickte.

»Eine Sauerei ist das, den Jungen so liegen zu lassen.« Während der Notarzt seine Tasche packte, ging der Beamte zum Einsatzwagen und informierte die Kollegen der Kriminalpolizei. Der Krankenwagen war schon wieder abgefahren und Hubert Dirk stand noch immer am Straßenrand und beobachtete die Polizisten. Eine junge Beamtin kam nun zu ihm.

»Herr Dirk, wann genau haben sie den Toten entdeckt?«

»So gegen halb sieben. Das Fahrrad lag verbeult am Fahrbahnrand. Ich wollte das Hindernis wegräumen, da sah ich das Blut daran und habe gleich danach den jungen Mann im Gras gefunden«, berichtete er. »Wissen Sie schon, wer es ist?« Die Beamtin schüttelte den Kopf.

»Leider noch nicht, ich habe die Beschreibung weitergegeben. Wenn Sie möchten, können Sie jetzt weiterfahren. Ihre Personalien haben wir.« Dirk nickte und ging schweigend zu seinem Wagen. Die Sonne stand nun hoch am Himmel und oben über dem Berg ragte der Fernsehturm ins Blau. Ein schönes Bild, aber Hubert Dirk konnte sich daran diesmal nicht erfreuen. Er war noch immer entsetzt über den Anblick des jungen Mannes. Er hatte selbst einen Sohn, zwar älter und bereits verheiratet, aber der Gedanke, es hätte auch jemanden aus seiner Familie treffen können, ließ ihn den ganzen Morgen nicht los.

Dirk hatte seine Kunden immer pünktlich beliefert. Jetzt warteten in einer kleinen Siedlung kurz vor Brockhagen schon die ersten Hausfrauen am Straßenrand. Natürlich konnte er den schrecklichen Unfall nicht für sich behalten, und so wurde schon bald heftig über die Raserei auf den abgelegenen Straßen diskutiert.

Hauptkommissar Josef Tann hatte an diesem Freitagmorgen seinen Sohn in den Kindergarten gebracht und erschien verspätet in seinem Büro. Der Anruf seiner Kollegin, Dörte Masch, vom Streifendienst erreichte ihn, als er gerade seinen Computer gestartet hatte. Kurz vor Brockhagen hatte es einen Unfall mit Fahrerflucht gegeben. Er überprüfte noch schnell seine Emails und stürzte los. Der Verkehr war dicht, und es dauerte einige Zeit, bis er an der Unfallstelle eintraf. Er begrüßte die anwesenden Kollegen und schaute sich den Verletzten an.

»Der Notarzt war überzeugt, dass der Autofahrer direkt über ihn hinweg gefahren ist, und dass er es gemerkt haben muss«, erklärte Dörte.

Tann sah den zerschundenen Körper und drehte den jungen Mann zur Seite.

»Die Gelenke an den Armen sehen aus, als sei der Junge gefesselt gewesen, und das linke Fußgelenk ist dick geschwollen.« Dörte nickte.

»Wie ein normaler Unfall sieht es jedenfalls nicht aus.«

»Ich sehe auch nirgends Bremsspuren«, bemerkte Tann mit einem Blick über die Straße. Seine Kollegin pflichtete ihm bei.

»Der Autofahrer muss ohne zu bremsen über das Fahrrad hinweg gerollt sein. Zu dumm, dass es in der Nacht geregnet hat, dadurch sind viele Spuren verwischt worden.«

Ein schwarzer Wagen kam langsam heran, zwei Männer stiegen aus, holten einen Metallsarg, legten den Toten hinein und fuhren wieder davon. Tann ging langsam hin und her, immer den Blick zur Erde, suchte er die Unfallstelle gründlich ab, obwohl das von der Spurensicherung schon erledigt worden war. Dörte Masch entfernte mit einem Kollegen die Absperrung der Unfallstelle, und mit einem kurzen Nicken zu Tann fuhren sie davon.

Der Hauptkommissar hatte nichts gefunden, was ihm weiter geholfen hätte, und nach einer halben Stunde fuhr auch er zurück ins Kommissariat an der Herzebrocker Straße in Gütersloh. In seinem Büro angekommen, fertigte er den Bericht und erkundigte sich telefonisch bei den Kollegen der Spurensicherung, ob schon jemand den Namen des Unfallopfers herausgefunden hatte. Man hatte ein Foto des Verunglückten ins Netz gestellt und einen Rundruf im Radio gesendet, aber bisher keine Reaktion.

Tann schnappte sich seinen Bericht, gab ihn beim Polizeirat ins Fach und machte sich auf zum Kindergarten, um seinen Sohn wieder abzuholen. Seine Frau war mit ihrer Schulklasse zu einem Tagesausflug an den Dümmer See gefahren und würde erst gegen neunzehn Uhr zurück sein. Am Kindergarten wartete Christian schon auf seinen Vater. Josef Tann brachte ihn zu Rosa Diem, der Tagesmutter, die bei Abwesenheit seiner Frau am Nachmittag den Jungen betreute. Der Junge plapperte im Fond ununterbrochen, aber Tann hörte nur mit halbem Ohr hin, murmelte manchmal ein »Ja, ja« und schoss nach wenigen Minuten mit einem Satz auf den Hof der Tagesmutter. Christian hatte schon den Gurt seines Kindersitzes geöffnet, stellte sich hinter den Sitz seines Vaters und beide stiegen aus. In diesem Moment erschien Rosa Diem in der Tür und rief: »Christian, wir backen heute Waffeln.«

»Au fein!«, antwortete der Junge, stob davon und verschwand im Haus. Tann begrüßte Rosa Diem, wechselte ein paar Worte und rief, als er schon wieder eingestiegen war:

»Um sechs hole ich ihn ab.« Rosa winkte und eilte dem Jungen hinterher.

Tann fuhr noch einmal zur Vennorter Straße. Langsam und aufmerksam ging er nochmals an der Fahrbahn entlang, sah unter einem Strauch einen blauen Stofffetzen, weit entfernt vom Fundort der Leiche, hob ihn auf, bemerkte Blut daran, holte eine Plastiktüte aus der Tasche und gab das Stück hinein.

Vielleicht war der Unfallverursacher doch noch am Tatort gewesen und erst danach davon gefahren.

Es erfüllte den Beamten mit Zorn, dass jemand den jungen Mann an der Straße hatte liegen lassen, ohne auch nur den Versuch zu machen, sein Leben zu retten. Er dachte an seinen Sohn, der im November fünf Jahre alt wurde. Wenn so ein gewissenloser Mensch sein Kind überfahren hätte, nein, das würde nie passieren. Schnell wischte Josef Tann den Gedanken weg. Vor einigen Jahren hatte seine Frau Cäcilia, die er liebevoll Cil nannte, einen Unfall. Ein anderer Fahrer hatte ihr die Vorfahrt genommen, und es war zu einem Zusammenstoß gekommen. Wie von Sinnen war er damals zur Unfallstelle gefahren. Nur eine Schramme im Gesicht und einige blaue Flecken hatte sie davon getragen, seinem Sohn, der im Fond schlief, war gar nichts passiert, dennoch hatte er sich geschworen, das dürfe nie wieder passieren, die beiden waren das Beste, was er hatte.

Noch einmal ging der Beamte auf und ab, er fand nichts mehr und fuhr zurück in sein Büro.

»Der unbekannte Tote ist zwischen sechzehn und zwanzig Jahren alt, hat dunkelbraunes, halblanges Haar und am rechten Ohrläppchen ein kleines, rundes Muttermal.«

Cora zog den Stecker aus dem Ohr und das Radio war still. Sie stand am Fahrradständer und hatte gerade ihr Rad abgeschlossen, als die Nachricht gesendet wurde.

»Volker«, flüsterte sie, »das kann nur Volker sein.« Erschrocken sah sie sich um, niemand hatte ihr Selbstgespräch gehört. Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie das Gefühl hatte, jemand könne es hören. Sie nahm ihre Schultasche vom Gepäckträger und ging langsam über den Schulhof. Es war schon fast elf Uhr. Am Morgen hatte sie sich nicht wohl gefühlt und ihre Freundin Martina gebeten, sie bei der Lehrerin zu entschuldigen. Am Eingang auf der obersten Treppenstufe stand Martina nun und winkte ihr zu. Coras Hände zitterten, als sie auf die Freundin zuging, ihre Beine fühlten sich an, als seien sie aus Gummi, in ihrem Kopf hämmerte es wie wild und in ihren Ohren rauschte es, als wäre Sturm. Martina sah Cora kommen, aber sie ging so langsam, als wolle sie nie ankommen. Beunruhigt lief sie ihr entgegen.

»Cora, was ist mit dir? Geht es dir immer noch so schlecht?« Cora gab keine Antwort, sie war blass wie ein Leinentuch, wankte plötzlich, und hätte Martina sie nicht gestützt, wäre sie wohl gefallen. Ihre Tasche rutschte zur Erde und Martina hatte alle Mühe die Schwankende bis zur Treppe zu schleppen.

»Mir ist so schlecht«, stöhnte sie, im selben Moment kippte sie zur Seite und war ohne Bewusstsein.

Als Cora endlich erwachte, erschien es Martina wie eine Ewigkeit. Der Hausmeister hatte ihr geholfen, die Freundin auf eine Liege zu betten und sofort den Notarzt gerufen.

»Da sind Sie ja wieder!«, das lächelnde Gesicht von Dr. Bracht schaute auf Cora hinunter. Sofort wollte sie hoch.

»Bleiben Sie noch ein wenig liegen, Ihr Kreislauf war zusammen gebrochen. Haben Sie so etwas schon einmal gehabt?« Cora schüttelte den Kopf.

»Wenn es Ihnen besser geht, sollten Sie auf jeden Fall noch einmal ihren Hausarzt aufsuchen, mit solch einer Sache ist nicht zu spaßen.«

Cora nickte folgsam. Der Arzt verschwand eilig. Nach einer halben Stunde stand Cora auf und fuhr mit dem Rad nach Hause.

Christa Wiener war erst gegen acht Uhr vom Nachtdienst im Krankenhaus zurückgekommen, sie hatte gefrühstückt und die Zeitung gelesen. Kurz vor neun Uhr schaltete sie das Radio ein und zog sich ihren Schlafanzug an, als sie im Radio eine Nachricht hörte. Erschrocken lief sie in das Zimmer ihres Sohnes. Das Bett war unberührt.

Volker war siebzehn und machte sich normalerweise sein Frühstück selbst. Wenn er von der Schule kam, war es in der Regel vierzehn Uhr und sie aßen zusammen Mittag. Aber heute war er gar nicht im Haus gewesen. Sie hätte es bereits merken müssen, denn seine Lieblingswurst hatte er nicht angerührt und auch der Erdbeerquark, den er gern mit zur Schule nahm, stand noch im Kühlschrank. Als sie gestern gegen neun Uhr abends das Haus verließ, saß Volker vor seinem Computer. Mit keinem Wort hatte er erwähnt, dass er noch fort gehen wollte. Unruhig rannte Christa hin und her und überlegte ob sie den Sender anrufen sollte. Die Telefonverbindung von Radio Gütersloh stand in der Tageszeitung. Mit fliegenden Fingern blätterte sie nun darin herum. Dann legte sie das Blatt beiseite. Sie musste zur Polizei. Gerade als sie den Hörer in der Hand hatte, klingelte es an der Tür. Eine Frau und ein Mann in Polizeiuniform standen davor.

»Frau Wiener?« Die junge Beamtin sah sie prüfend an. Christa nickte.

»Was ist mit meinem Sohn?« Ihr Herz klopfte heftig in ihrer Brust, und das kurze Zögern der Beamtin ließ sie aufschluchzen.

»Nein, das kann nicht sein. Das muss ein Irrtum sein.« Ohne auf die Beamten zu achten, war sie hinein gelaufen, und ging nun unruhig im Wohnzimmer auf und ab. Die beiden Uniformierten waren ihr gefolgt und die junge Frau legte den Arm um Christas Schultern.

»Der junge Mann, den wir gefunden haben, hatte einen Verkehrsunfall. Ein Lehrer des Gymnasiums in Steinhagen hat uns ihre Anschrift mitgeteilt.« Christa blieb stehen.

»Ich habe es im Radio gehört«, flüsterte sie geschockt, »Ich wollte Sie gerade anrufen. Ist…«, sie stockte. »Ist er tot?« Die Beamtin nickte und Christa ließ den Tränen freien Lauf. Die Beamtin hielt sie umschlungen. Christa bemerkte es nicht. Nach einigen Minuten erklärte die Polizistin:

»Es ist nicht sicher, dass es Ihr Sohn ist. Er wurde noch nicht identifiziert.« Ein Ruck ging durch die Gestalt von Frau Wiener, sie straffte die Schulten und blickte auf.

»Er ist nicht nach Hause gekommen. Und die Beschreibung passt zu ihm. Er hat einen Leberfleck am rechten Ohrläppchen.« Sie war jetzt etwas ruhiger.

»Kann ich ihn sehen?« Die Beamtin nickte wiederum.

»Jemand muss ihn identifizieren. Trauen Sie es sich zu, oder sollen wir jemand anderen bitten?« Frau Wiener wischte sich mit einem Taschentuch durch das Gesicht und holte tief Luft.

»Ich komme mit.« Sie ging nach nebenan, kleidete sich hastig um und holte ihren Mantel. Bisher hatte der Polizeibeamte seiner Kollegin das Feld überlassen und verlegen der Unterhaltung gelauscht, nun setzte er seine Dienstmütze zurecht, öffnete die Haustür und ging zum Einsatzwagen. Seine Kollegin folgte ihm, Frau Wiener im Arm.

Nach einem gemütlichen Wochenende zu Hause wurde Josef Tann gleich am Montagmorgen wieder mit den unangenehmen Seiten seines Berufes konfrontiert. Auf seinem Schreibtisch fanden sich die Bilder des Autounfalls von Freitagnacht und der Bericht der Rechtsmedizin, wodurch er seine Einschätzung, dass der Tote vor den Unfall an beiden Händen Fesseln getragen hatte, bestätigt sah. Gerade als er seinen Kollegen Alfons Weiß, der einige Tage Urlaub hatte, anrufen wollte, kam dieser ihm zuvor. Er hatte sich das Bein gebrochen und würde mehrere Monate ausfallen. Tann wünschte ihm eine gute Genesung und widmete sich wieder dem Bericht der Rechtsmedizin, als Polizeirat Brunger in Begleitung einer Frau mit leuchtend rotem Kurzhaarschnitt sein Büro betrat.

»Wie steht es mit dem Unfalltoten? Schon erste Ergebnisse?«

Tann runzelte die Stirn. Er hasste es, nach so kurzer Zeit in Anwesenheit vor Fremden eine Erklärung abgeben zu müssen. Murmelnd reichte er Brunger ein Blatt:

»Der Bericht der Rechtsmedizin. Wie ich schon vermutete, war der Junge vor dem Unfall an beiden Händen gefesselt, außerdem soll er einen Knebel getragen haben, am Mund wurden Spuren von Leukoplast gefunden. Am rechten Fuß war eine Schwellung, der junge Mann hatte sich den Fuß umgeknickt. Wir müssen davon ausgehen, dass der Schüler absichtlich überfahren wurde.«

Brunger warf einen flüchtigen Blick auf den Bericht und erklärte:

»Da ist nichts zu machen. Übrigens, Kollege Weiß hat sich krank gemeldet, Beinbruch. Sie benötigen dringend Unterstützung.« Tann blickte auf die junge Frau an Brungers Seite, grinste plötzlich und reichte ihr die Hand.

»Himmel, Vera, du hast dich aber verändert.« Die Angesprochene grinste zurück und fuhr mit der Hand durch ihr rotes Haar.

»So sieht man mich wenigstens schon von weitem.«

Brunger stand etwas ratlos dabei, sah von einem zum anderen und räusperte sich vernehmlich.

»Wie ich sehe, Sie kennen sich noch.« Mit einem Blick auf die junge Frau wandte er sich zur Tür: »Wenn Sie Schwierigkeiten haben, Frau Senft, ich bin immer für Sie da.« Eilig verschwand er aus dem Raum und überließ die beiden sich selbst. Vera Senft sah ihm nach und lachte:

»Der gute Brunger hat sich wirklich nicht verändert.«

Tann, der sich an Veras Haarpracht nicht sattsehen konnte, lachte ebenfalls.

»Du aber umso mehr«, sagte er. »Ich habe dich nicht erkannt, als du hereinkamst.«

Vera Senft setzte sich ihm gegenüber, errötete leicht und warf einen schnellen Blick auf den Bericht der Rechtsmedizin. Tann nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz und betrachtete sie abwartend. Vera hatte als pummeliges Mädchen mit langen, blonden Haaren bei ihm die Ausbildung absolviert, nun sah er sich einer schlanken, sportlichen Frau mit raspelkurzem Haarschnitt gegenüber. Vera ließ sich von Tanns Begutachtung nicht stören, studierte gründlich den Bericht, legte ihn dann zur Seite und meinte:

»Der Junge war erst siebzehn. Habt ihr schon den Namen?« Tann nickte.

»Einziger Sohn einer Krankenschwester. Er heißt Volker Wiener. Die Mutter lebt im Außenbereich von Brockhagen in einer kleinen Dachwohnung. Sie hat den Jungen identifiziert.«

»Wie schrecklich. Die arme Frau.«

Tann stand auf und holte seine Jacke.

»Er hat das Steinhagener Gymnasium besucht. Ich möchte mich da ein wenig umhören. Du kannst mitfahren.«

»Natürlich«, gab Vera zur Antwort und gemeinsam gingen sie zu Tanns Wagen.

Tann startete, sah Vera Senft von der Seite an und erkundigte sich:

»Wie war es denn so im Präsidium in Bielefeld?«

Vera Senft hatte nach der Ausbildung ein Jahr lang Tanns Team verstärkt und sich dann für einige Zeit nach Bielefeld versetzen lassen.

»Interessant. Ich habe dort bei der Prävention gearbeitet. Besonders die Vorbeugung von Jugendkriminalität, speziell in Verbindung mit Alkohol und Drogen.«

»Dann bist du jetzt bei mir gerade richtig.«

»Du glaubst wirklich, zwischen dem Unfall und der Tatsache, dass der Junge gefesselt war, besteht ein Zusammenhang?« Tann nickte und konzentrierte sich auf den Verkehr.

Wenig später bog er auf den Parkplatz des Steinhagener Gymnasiums ein. Das Gebäude fiel durch sein riesiges, gläsernes Rondell sofort ins Auge. Tann machte sich gleich auf den Weg ins Schulbüro, wobei er einen schnellen Schritt vorlegte, aber Vera Senft folgte ihm mühelos.

»Noch sportlicher als früher!«, stellte er anerkennend fest und fuhr fort: »Nur deine Haare sind wirklich grausam.«

Sie grinste frech, gab aber darauf keine Antwort.

Zielstrebig gelangten sie zum Sekretariat und Tann stürmte nach kurzem Klopfen hinein. Jutta Weigel, die Schulsekretärin, zog empört die Brauen hoch und beendete etwas abrupt ihr Telefongespräch.

»Was fällt Ihnen ein, hier so herein zu platzen?« Tann strich sein dunkelbraunes Haar aus der Stirn, was dringend einen Schnitt benötigte, und hielt ihr seinen Ausweis unter die Nase.

»Kripo. Ist der Rektor zu sprechen?«

Die Sekretärin atmete heftig aus, als habe sie in ihrem Ärger über die Störung sekundenlang die Luft angehalten, sah Tann genervt an und antwortete hastig:

»Keine Ahnung. Er ist außer Haus, mehr weiß ich auch nicht.«

Vera Senft lächelte die Schreibtischdame an und erkundigte sich:

»Ist Ihnen der Schüler Volker Wiener bekannt?«

»Nein«, kam die prompte Antwort, »nur sein Name.«

Sie wühlte in einem Körbchen auf ihrem Schreibtisch, fischte einige Unterlagen heraus und gab sie Vera mit den Worten: »Diese Unterlagen habe ich heute Morgen für den Rektor erstellt, nachdem er von dem Unfall erfahren hatte. Ich soll sie Ihnen übergeben.«

Der Mord am Pulverbach

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