Читать книгу Der Mord am Pulverbach - Gisela Garnschröder - Страница 6

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II

Fassungslos standen die Bauarbeiter vor dem Bauwagen, die Tür war weit geöffnet und drinnen auf dem Boden lag Ludwig Schreiner, ein Kollege, der am Wochenende die Bewachung der Geräte übernommen hatte. Der Polier hatte Notarzt und Polizei verständigt und wenige Minuten später traf der Krankenwagen ein. Stumm wiesen die Männer in den Wagen, der Notarzt sprang hinein und, obwohl die Tür weit geöffnet war, hielt er sich angesichts des starken Leichengeruchs augenblicklich die Nase zu.

Der Arzt warf einen Blick auf den Mann und schickte die Sanitäter mit der Bahre wieder weg.

»Der Mann ist tot, sicher zwei bis drei Tage, da ist nichts mehr zu machen.«

In diesem Moment fuhr ein Streifenwagen vor und der Arzt winkte die Polizisten zu sich heran.

»Verständigen Sie die Kripo«, wies er sie an, verscheuchte einen Schwarm Fliegen, bückte sich zu dem Toten und betrachtete ihn genauer.

»Wie es aussieht, wurde er erschlagen.«

Er zeigte auf das verkrustete Blut im Haar des Getöteten und verließ den Bauwagen »Das muss die Obduktion klären.«

Kurze Zeit später wimmelte es auf der Baustelle von Beamten. Die Leute der Spurensicherung in ihren weißen Anzügen drehten jeden Stein um. Der Bauunternehmer Lorenz Montag stand Hände ringend dabei und errechnete im Kopf den materiellen Schaden. Die Baustelle war praktisch leer geräumt worden, von der Bohrmaschine bis zum Minibagger wurde alles gestohlen, was zum Bauen gebraucht wurde.

Ein Wagen fuhr heran, bremste ziemlich hart und Hauptkommissar Tanns schlaksige Gestalt wand sich heraus. Er war allein gekommen, seine Kollegin war noch am Gymnasium geblieben, um sich unter den Schülern umzuhören. Tann hielt sich beim Anblick des Toten ein Taschentuch vor Mund und Nase, betrachtete ihn und erkundigte sich bei Herrn Montag:

»Kam es häufiger vor, dass einer Ihrer Mitarbeiter im Bauwagen übernachtete?«

Montag nickte.

»Das ging abwechselnd. Ich habe den Leuten für die Nachtwache ein Extrageld zukommen lassen.«

»Das nutzt ihm jetzt auch nichts mehr«, brummte Tann und fuhr fort, »Wusste jemand davon?« Er sah sein Gegenüber fragend an.

»Klar, jeder im Umkreis wusste, dass bei mir immer eine Wache ist. Wo heute soviel geklaut wird, bleibt einem gar nichts anderes übrig.«

»Das hat die Täter aber nicht abschrecken können. Wäre ein professioneller Wachdienst nicht besser gewesen?«, erkundigte sich Tann.

Der Unternehmer seufzte. »Hinterher ist man immer schlauer.«

»Nach diesem Vorfall wird sich von Ihren Leuten ohnehin keiner mehr darauf einlassen«, kommentierte Tann trocken und ging zu den Arbeitern hinüber, die noch immer geschockt und planlos herum standen.

»Ist jemand von Ihnen in den letzten Tagen etwas aufgefallen? Eine unbekannte Person oder ein Fahrzeug, was nicht hierher gehört?«

Betretenes Schweigen, nachdenkliches Schulterzucken.

»Hier kommen viele Leute vorbei, das ist nichts Besonderes«, meinte Franz, der Auszubildende, der die Aufregung dieses Morgens zu genießen schien.

»Können Sie sich an jemanden erinnern, der absolut nicht hier her gehört?«

Die Männer sahen Tann ratlos an und der Polier, der die Polizei gerufen hatte, meinte:

»In der letzten Woche war jemand da, der sich unseren Minibagger angesehen hat. Er hat sich später mit dem Chef unterhalten, andere Leute bleiben halt stehen und schauen uns bei der Arbeit zu, mich stört es nicht - und ich sehe mir die Leute nicht an.«

Tann machte sich Notizen und ging weiter zu dem Toten, der noch immer auf dem Boden des Wagens lag, dessen Tür weit geöffnet war. Der Polizeifotograf und die Leute von der Spurensicherung hatten ihre Arbeit beendet, und Tann schaute sich in dem Wagen um. Der Geruch der Leiche war so intensiv, dass er sich wieder ein Taschentuch vor die Nase hielt, trotzdem ließ er sich nicht davon abbringen, alles noch einmal genau unter die Lupe zu nehmen. In der hinteren Ecke stand eine Pritsche, die Decke war zurückgeschlagen und man sah, dass dort jemand geschlafen hatte. Eine Wasserflasche lag am Boden in einer kleinen Pfütze, ein Glas zersplittert daneben, an der Wand hing ein Anorak mit warmem Futter und eine Schirmmütze, eine Arbeitshose lag auf einem Hocker neben der Pritsche und darunter griffbereit ein Baseballschläger, der wohl als Verteidigungswaffe dienen sollte. Sicher gehörte die Kleidung dem Toten, denn er trug nur einen Jogginganzug und grobe Wollsocken. In der Ecke neben dem Fenster standen kräftige Arbeitsschuhe und vor dem Bett lagen Turnschuhe, deren verschmutzte Sohlen vermuten ließen, dass der Ermordete in der Nacht einen Rundgang über die Baustelle gemacht hatte. Tann seufzte vernehmlich, machte sich Notizen und ging noch einmal zu den Bauarbeitern hinüber. Die Männer hatten Bestandsaufnahme gemacht und der Polier überreichte Tann einen Zettel, auf dem die gestohlenen Werkzeuge aufgelistet waren.

»Das ist nur eine grobe Zusammenstellung, die komplette Übersicht bekommen Sie vom Chef.«, erklärte der Mann knapp und ging zu seinen Leuten zurück.

In der Nacht hatte es geregnet, und rund um die Baustelle hatten sich mehr oder weniger große Pfützen gebildet. Mit einem verärgerten Blick auf den Matsch begab sich Tann seufzend auf einen Inspektionsgang über die Baustelle, hielt Ausschau nach Fahrzeugspuren und betrachtete prüfend die Schaulustigen am Straßenrand. Es handelte sich hier um ein Neubaugebiet, bei dem erst wenige Häuser bewohnt waren. Der Beamte sah oben ein großes Schild mit der Aufschrift: »Ihr Zuhause am Pulverbach« und grinste verächtlich. Er überlegte einen Moment und ging dann zielstrebig zu einem kleinen Haus, dessen Garage sich noch im Rohbau befand und klingelte. Eine junge Frau öffnete, sie trug ein Kind auf dem Arm.

»Mein Mann ist nicht zu Hause«, sagte sie kurz und wollte die Tür zumachen, aber Tann schob geistesgegenwärtig den Fuß dazwischen und hielt ihr seinen Ausweis hin.

»Kripo Gütersloh, ich hätte Ihnen gern ein paar Fragen gestellt.« Im Gesicht der Frau machte sich Entsetzen breit.

»Kripo? Ist etwas passiert?«

»Dort drüben in dem Bauwagen wurde ein Mann erschlagen. Haben Sie in der Nacht etwas gehört? Geräusche von Autos oder Ähnliches?«

Jetzt öffnete sie die Tür.

»Kommen Sie doch herein.« Mit einem Blick auf seine, von der Baustelle verdreckten Schuhe, sagte er lächelnd:

»Ich möchte Ihnen nicht alles schmutzig machen, ich bleibe lieber an der Tür. Also was haben Sie gehört?«

»Am Wochenende nicht, aber in der Nacht davor war ein Wagen da, können auch zwei gewesen sein.« Sie setzte das Kind ab und es krabbelte über den Boden zur geöffneten Wohnzimmertür, sie lief hinterher und nahm es wieder auf den Arm. Tann grinste. »Ein Junge, nicht wahr?« Sie nickte.

»Er ist im Moment ganz schön nervig.« Tann lachte fröhlich.

»Ich habe auch so einen Draufgänger zu Hause. Meine Frau ist manchmal ganz verzweifelt. Wie alt ist er denn?« Der Kleine spürte die Aufmerksamkeit und strahlte ihn an. »Papa!«, brachte er heraus und seine Mutter lachte: »Das ist nicht der Papa, der Mann ist von der Polizei«, und zu Tann gewandt, »eineinhalb«, und dann, als habe sie erst jetzt begriffen, fuhr sie fort: »Der Mann ist tot, sagten Sie? Das ist ja schrecklich.«

»Es wurden Baugeräte gestohlen, der Mann wird die Täter dabei überrascht haben.«

Sie war blass geworden.

»Der Kleine hat geschrien, so gegen ein Uhr am Freitagmorgen, da war es ziemlich laut draußen. Ein Automotor lief und Männerstimmen waren zu hören, ich habe dann das Fenster zu gemacht und dem Jungen Tee gegeben, danach war alles still.«

Tann notierte sich die Aussage und verabschiedete sich mit einem Lächeln.

»Einen schönen Tag noch und viel Spaß mit dem Kleinen.«

»Danke, den werde ich haben«, grinste sie und schloss die Tür.

Tann stapfte auf das nächste Haus zu, nach mehrmaligem Klingeln versuchte er es woanders. Nach einer Stunde gab er frustriert auf. Seine Schuhe waren völlig verdreckt und nass bis zu den Socken. In nur zwei Häusern hatte er Leute angetroffen, und keiner von ihnen hatte etwas gehört, außer der jungen Frau mit dem Kind. Er ging zu seinem Wagen und versuchte gerade mit Papiertaschentüchern den Schmutz von den Sohlen abzureiben, als Vera Senft mit ihrem Kleinwagen heran geschossen kam.

»Feine Arbeitsteilung«, fuhr er sie schroff an. »Ich darf mir die Schuhe ruinieren und Madame mit dem Rektor Kaffee trinken!« Vera grinste frech und antwortete mit Blick auf Tanns ramponierte Schuhe:

»Ein guter Beamter hat für alle Fälle immer seine Gummistiefel im Kofferraum!«

Er sah sie wütend an, musste dann aber lachen, weil sie einen seiner Lieblingssprüche benutzt hatte: »Den Satz kennst du noch?«

Sie nickte. »Der Rektor konnte mir leider nicht weiter helfen. Er kannte den verunglückten Jungen kaum. Ich habe mehrere Schüler seiner Klasse befragt, auch Fehlanzeige, aber seine Klassenlehrerin gab mir die Adresse von seiner Freundin Cora Meier.«

»Und? Was hat sie gesagt?«

»Sie war nicht in der Schule. Krank. Wir können heute Nachmittag hinfahren. Bist du mit der Befragung der Anwohner schon durch?«

»Nicht ganz, aber drüben war niemand zu Hause.« Er wies auf die beiden Häuser, an denen er ergebnislos geklingelt hatte.

»Fein, dann bleibe ich hier und übernehme das.« Sie holte mit einem triumphierenden Blick Gummistiefel aus dem Kofferraum ihres Wagens und schlüpfte hinein. Tann grinste, stieg in seinen Wagen und fuhr davon, während seine Kollegin direkt auf einen Mann zuging, der gerade mit seinem Wagen vorgefahren war.

Tann machte einen Abstecher zu Hause vorbei, um sich trockene Socken und Schuhe anzuziehen, zur Begeisterung seines Sohnes, der ihm mit Freudengeschrei entgegenkam.

»Bleibst du heute da, Papa?«, erkundigte er sich jubelnd. Josef nahm seinen Sohn auf den Arm und wirbelte ihn durch die Luft.

»Ich muss gleich wieder weg, aber heute Abend gehe ich mit dir zum Baden.« Mit einem Juhu tanzte Christian durch die Wohnung und Cäcilia, die gerade herein kam, sagte lächeln:

»Du machst jetzt deinen Mittagsschlaf und wenn du aufwachst, lesen wir das neue Buch, welches die Oma mitgebracht hat!«

»Immer schlafen, ich will in den Garten, Mama!«, zeterte Christian aber seine Mutter kannte kein Pardon.

»Wenn du heute Abend mit Papa zum Baden willst, schläfst du im Wasser ein.«

Sie lächelte und packte ihren Sprössling energisch unter die Decke, wo er schon nach wenigen Minuten fest eingeschlafen war.

Kurze Zeit später war Tann in seinem Büro, wo Vera Senft schon ungeduldig auf ihn wartete.

»Das Fahrrad des jungen Wieners ist genau wie der Junge zweimal überrollt worden, dass hat die technische Untersuchung ergeben. Die Beschädigungen am Fahrrad sind höchstwahrscheinlich von einem Fahrzeug mit Frontschutzbügel verursacht worden. Die Untersuchung nach Lackspuren ist allerdings noch nicht abgeschlossen.« Tann sah mit gefurchter Stirn aus dem Fenster und nickte abwesend.

»Ich bin sofort davon ausgegangen, dass er mit Absicht überfahren wurde, allein schon wegen der Fesseln an seinen Händen. Wenn es wirklich ein Fahrzeug mit Kuhfänger war, bestätigt das nur meine These. Die Dinger sind nicht mehr erlaubt. Ich könnte mir denken, dass es mit dem Mord am Pulverbach zusammenhängt.«

»Du meinst, der Junge hat die Männer beobachtet, als sie die Geräte geklaut haben, und sie haben extra ein Fahrzeug mit Frontbügel genommen, um ihn zu töten?«

»Genau. Es hatte in der Nacht geregnet, die Schuhe des toten Jungen waren ziemlich schmutzig. Ich denke der Junge war auf dem Baugebiet und hat dort etwas beobachtet. Die Täter haben ihn bemerkt, dann gefesselt und geknebelt. Irgendwie hat er es geschafft sich loszureißen, und dann haben sie ihn überfahren.«

»Die Idee hat nur einen Haken. Woher wussten die Täter in welche Richtung er fährt?« Tann hatte sich in seinen Bürostuhl geworfen und spielte mit seinem silbernen Drehbleistift. Plötzlich griff er sich ein Blatt und machte eine Skizze.

»Hier ist Steinhagen«, erklärte er, während Vera ihm über die Schulter sah. »Das Baugebiet liegt am Ortsausgang, dort wo der Fahrradweg anfängt. Ich nehme an, der Junge hat bis nach Brockhagen den Radweg benutzt und ist quer durch den Ort bis zur Unglücksstelle an der Vennorter Straße gefahren, schließlich wohnt er dort in der Nähe.« Vera hatte die Zeichnung interessiert betrachtet und meinte nun:

»Bis dort sind es fast drei Kilometer. Entweder haben die Täter den Jungen verfolgt, oder sie haben ihn gekannt.«

»Verfolgt, glaube ich nicht«, erklärte Tann bestimmt. »Sicher hat er damit gerechnet und wäre dann irgendwo zwischen den Häusern verschwunden. Die Täter müssen ihn gekannt haben. Nach den wenigen Spuren, die wir an der Straße gefunden haben, muss das Auto ihn direkt am Randstreifen erwischt haben. Wer da fährt, ist entweder betrunken oder macht es mit Absicht. Der Tote lag etwas abseits im hohen Gras, ein Zeichen dafür, dass der Unfallverursacher den Toten dorthin geschleift hat. Es gab zudem keinerlei Bremsspuren.«

Vera war ans Fenster getreten, schaute kurz hinaus und wendete sich dann wieder ihrem Kollegen zu. »Wir dürfen trotzdem die Möglichkeit nicht ausschließen, dass jemand ihn durch Unachtsamkeit überfahren hat.«

Tann unterbrach sie heftig und fauchte:

»Ohne auf die Bremse zu treten? Das glaubst du doch selbst nicht!«

»Vielleicht hat der Fahrer die Bremse mit dem Gaspedal verwechselt.«

»Ach, und dann dreht er um und fährt noch mal drüber! Das gibt es doch gar nicht. Für mich ist das Mord!«

Vera war jetzt fast genauso rot im Gesicht wie ihr Haar und antwortete empört:

»Ich habe gemeint, dass jemand ihn versehentlich, ich meine…«. Sie geriet ins Stottern, und Tann half ihr:

»Du meinst, es war ein normaler Unfall und im Schock hat er gewendet, um keine Zeugen zu haben.«

Sie stieß die Luft durch die Zähne und antwortete verbissen:

»So ungefähr. Es ist eine Sauerei, aber ich versuche mir vorzustellen, wie es zustande kam. Da dürfen wir keine Möglichkeit auslassen.«

»Du hast recht. Aber ich mache mir auch Gedanken, warum ein Siebzehnjähriger zu der späten Stunde allein durch die Gegend fährt.«

»Hat seine Mutter nichts gesagt?«

»Sie ist Nachtschwester im Städtischen Krankenhaus in Gütersloh. Als sie gegen neun Uhr am Donnerstagabend das Haus verlassen hat, war ihr Sohn noch da. Sie hatte keine Ahnung, dass er noch weg wollte.«

Vera hatte sich in den Stuhl vor Josef Tanns Schreibtisch geworfen, wobei sie ihre langen Beine ungeniert von sich streckte. Sie las noch einmal den Bericht der Rechtsmedizin durch, und Tann beobachtete sie schweigend. Zur schmalen, dunkelbraunen Hose trug sie einen braunen Pulli und eine dazu passende, beigefarbene Weste. Tann stellte insgeheim fest, dass ihr Outfit gut zu ihren grell rot gefärbten Haaren passte und er überlegte, ob seine Frau, die von Natur aus über üppiges, rotes Haar verfügte, was ihr bis auf die Schultern fiel, auch bereit wäre, das Tomatenrot von Vera auszuprobieren. Bei diesem Gedanken musste er unbewusst grinsen und Vera, die es auf sich bezog, fauchte ihn an: »Was gibt‘s denn da zu lachen?«

Er setzte sich aufrecht und war gleich wieder ernst:

»Ich war mit den Gedanken etwas abgeschweift. Hatte nichts mit unserm Fall zu tun.« Vera zog die Brauen hoch, legte den Bericht zur Seite und meinte nachdenklich:

»Ist dir aufgefallen, dass der Tote am Pulverbach etwa um die gleiche Zeit starb, wie der Schüler?«

»Natürlich. Deshalb bin ich fast sicher, dass der Schüler etwas gesehen hat und dabei erwischt wurde.«

»Wenn der Schüler von den Baustellenräubern gefesselt wurde, hätte die Spurensicherung doch etwas finden müssen. Im Bericht steht, dass der Junge an den Handgelenken Spuren eines Sisalstrickes an der Haut hatte. Die Spurensicherung am Pulverbach hat nichts dergleichen ergeben.«

»Es hatte am Wochenende stark geregnet, und rund um den Bauwagen war da nichts.« In einer plötzlichen Eingebung stand Tann auf und sagte:

»Du hast recht. Wir fahren noch mal hin.«

Vera erhob sich langsam und schüttelte den Kopf: »Jupp, das bringt doch nichts. Wenn die Spurensicherung nichts gefunden hat, finden wir auch nichts.«

»Man kann nie wissen!«, grinste Tann und war schon an der Tür.

Vera hechelte hinterher, machte einen Abstecher in ihr Büro und holte ihn erst auf dem Parkplatz ein.

»Hey, kannst du nicht warten?«, fauchte sie und warf sich schmollend auf den Beifahrersitz. Tann startete ungerührt und stellte mit einem Seitenblick auf seine Kollegin fest:

»Deine Kondition scheint doch nicht so gut zu sein, wie ich gedacht habe.«

»Mistkerl! Du weißt genau, dass ich noch in meinem Büro war«, lachte Vera auf und vertiefte sich in ihren Taschenspiegel, um die Lippen nach zu ziehen. Tann fuhr wortlos links auf die Herzebrocker Straße und nahm am Nordring die Spur Richtung Bielefeld, bog dann an der Brockhagener Straße ab. Als sie Blankenhagen passiert hatten, packte Vera energisch ihre Tasche unter den Sitz und meinte:

»Wir könnten doch vorher bei Cora Meier vorbeifahren. Sie wohnt in Niehorst und kann uns vielleicht sagen, was Volker Wieners zu so später Stunde in Steinhagen gemacht hat.«

»Keine schlechte Idee. In der Schule konnte man uns da ja nicht weiterhelfen.«

Wenige Minuten später standen sie vor einem gepflegten Häuschen am Lühnstroths Weg.

Eine Frau mittleren Alters öffnete und rief sichtlich überrascht aus:

»Polizei? Ist etwas passiert?«

»Frau Meier?« Die Angesprochene nickte. Vera hielt ihren Ausweis hoch und erklärte: »Es geht um den Unfalltod von Volker Wiener. Ihre Tochter soll ihn näher gekannt haben. Könnten wir sie einmal sprechen?«

»Was hat denn der Unfall mit unserer Cora zu tun?«

»Gar nichts«, beruhigte Vera während Josef Tann sich schweigend umschaute. »In der Schule hat man uns berichtet, ihre Tochter sei näher mit dem jungen Mann bekannt gewesen.« Die Frau seufzte.

»War ein ordentlicher Junge, der Volker. Die beiden haben zusammen Mathematikaufgaben gemacht. Dem Fahrer sollte man den Schein wegnehmen.« Sie trat ins Haus und rief: »Cora!«

Oben knallte eine Tür und eine Stimme erklang: »Was ist, Mama?«

»Komm herunter!«

Cora Meier war schlank, etwa eins siebzig groß und hatte blondes, lockiges Haar. Gelangweilt kam sie die Treppe herunter und zuckte leicht zusammen, als sie die Beamten sah.

»Was ist denn?«, erkundigte sie sich etwas unwillig.

Tann und Senft zeigten fast gleichzeitig ihre Ausweise und der Hauptkommissar erklärte:

»Wir kommen wegen des Unfalls an der Vennorter Straße. Kannten Sie Volker Wieners?«

Cora wurde ein wenig blass antwortete aber sofort:

»Wir haben zusammen Mathe gemacht. «

»Können Sie sich vorstellen, was Volker in der Nacht zum Freitag in Steinhagen gemacht hat?« Cora zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«

»Was hatte er denn für Hobbys?«

»Ich weiß nicht. Karten hat er gespielt. Manchmal ist er gejoggt.«

Tann horchte auf.

»Karten gespielt? Wo? Mit wem? Hat er davon erzählt?«

Cora überlegte.

»Doppelkopf. Mit seinen Freunden. Die sind aber nicht mehr auf der Schule.«

»Wissen Sie die Namen?«

»Er hat selten davon gesprochen. Nur wenn er gewonnen hat. Meistens hat er verloren.« Sie lächelte schwach. »Die Mitspieler wohnen alle in Steinhagen. Sie haben sich nur hin und wieder getroffen.«

Vera zog die Lippe zwischen die Zähne und überlegte einen Moment, dann erkundigte sie sich: »Wusste seine Mutter nichts davon?«

»Keine Ahnung, die arbeitet immer.«

»Waren Sie schon dort in seiner Wohnung?«

Cora warf einen kurzen Blick zu ihrer Mutter hinüber und antwortete leise: »Nein.«

Die Beamten verabschiedeten sich und als sie gerade ins den Wagen einsteigen wollten, kam Cora hinaus und sagte: »Tim, einer der Kartenspieler heißt Tim.« Vera bedankte sich und reichte ihr eine Visitenkarte:

»Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, melden Sie sich bitte bei mir.«

Cora steckte die Karte ein, nickte der Beamtin zu und schaute dem Wagen nach, bis er um die nächste Kurve verschwunden war.

Tann fuhr wieder auf die Brockhagener Straße, überholte einen Kleinlaster und murmelte:

»Hat wohl so ihre Geheimnisse, die Kleine.«

»Genau meine Meinung. War wohl eine ziemlich enge Freundschaft. Bloß vor ihrer Mutter wollte sie es nicht zugeben.«

Tann grinste, dann wurde er wieder ernst.

»Verdammt schade um den Jungen. Jetzt wissen wir wenigstens, was er in der Nacht in Steinhagen gemacht hat. Dazu müssen wir unbedingt die Mutter befragen.«

»Die arme Frau. Am Freitag ist die Beerdigung. Wir sollten beide hingehen.«

Tann stieß einen heftigen Fluch aus, der bei Vera ein empörtes Stirnrunzeln auslöste und sie fuhr ihn an:

»Meinst‘e für mich ist das ein Vergnügen?!«

Er sah sie von der Seite an und strich ihr mit dem kleinen Finger verlegen über den Arm.

»War nicht so gemeint, Vera. Habe gerade an meinen Sohn gedacht. Himmel, ich könnte den Kerl erwürgen, der das gemacht hat. Die Frau ist Witwe, sie hatte nur noch ihren Sohn, verdammt.«

Vera sah ihn erstaunt an.

»Ich wusste gar nicht, dass es dich so mitnimmt.«

»Glaubst du, ich bin aus Holz?« Er umklammerte mit beiden Händen das Steuer und sein ansonsten schmales, sympathisches Gesicht glich einer bösen Maske. Vera wollte etwas erwidern, ließ es dann aber, weil ihr einfach die richtigen Worte fehlten. Wenig später hielten sie am Baugebiet in Steinhagen an, schlüpften in ihre Stiefel und gingen über die Baustelle. An einem Haus wurde kräftig gewerkelt, aber der Bauwagen, in dem der Tote gefunden wurde, war noch versiegelt. Langsam gingen sie hin und her, dann ging Josef Tann zu den Bauarbeitern hinüber, während Vera Senft sich die anderen Bauwagen ansah. Vera hatte nichts Besonderes entdeckt und ging zu dem versiegelten Bauwagen zurück. Als sie einer Pfütze auswich, streifte sie mit der Hand einen Baum, der direkt hinter dem Wagen stand. Merkwürdige Kratzer fielen ihr ins Auge. Bei genauerem Hinsehen entdeckte sie auch Fußspuren rund um den Baum. Schnell holte sie ihre Kamera aus der Tasche und machte Fotos.

»Du musst die Krone fotografieren, das gibt ein besseres Bild!« Josef Tann tauchte lachend hinter ihr auf, und sie lachte ebenfalls.

»Schau mal, Jupp. Sind die Spuren nicht merkwürdig.« Sie steckte die Kamera ein, schlüpfte in dünne Handschuhe und holte ein Tütchen aus der Tasche.

»Hier am Stamm sind Sisalfäden. Könnte sein, dass der Junge hier gefesselt war.«

Tann hockte sich nieder und nickte anerkennend.

»Durchaus möglich. Nimm noch etwas von dem Boden in eine Tüte. An den Schuhen des Jungen war Schmutz.« Er stand wieder auf und sah sich um.

»Der Radweg beginnt da vorn. Er ist entweder aus dem Hilterweg gekommen oder von der Woerdener Straße. Dann hat er etwas gehört oder gesehen und wollte wissen was es war, dabei ist er entdeckt worden.«

»Und wo hatte er sein Fahrrad? Wenn die Täter es gesehen hätten, hätten sie es sicher kaputt gemacht.«

»Du hast recht. Komm, wir warten erst die Untersuchung ab. Wenn die Erde unter den Schuhen des Jungen mit deiner Probe übereinstimmt, wissen wir genau, dass er hier war.« Mit einem letzten Blick über die Baustelle machten sie sich auf den Weg zu Frau Wiener.

Christa Wiener war nicht allein in ihrer Wohnung. Als die Beamten dort vorsprachen, öffnete ein Mann von etwa fünfzig Jahren die Tür und geleitete sie ins Wohnzimmer.

»Kastner«, stellte er sich vor. »Horst Kastner, ich bin ein Bekannter von Frau Wiener. Bitte warten Sie einen Moment, ich hole sie gleich.«

Vera setzte sich in einen Sessel und Josef Tann ging zum Fenster.

»Einen schönen Blick hat man hier. Nur Wälder und Felder«, bemerkte er und Horst Kastner, der wieder eingetreten war, pflichtete ihm bei.

»Außerhalb wohnt man halt mitten in der Natur.«

Sie warteten nicht lange, dann erschien Christa Wiener, schlank und zierlich, mit ihren halblangen, blonden Haaren war sie eine attraktive Frau um die fünfzig. Ganz in Schwarz gekleidet und mit einem leicht geröteten Gesicht, dem man ansah, dass sie gerade geweint hatte, begrüßte sie die Beamten mit der Frage:

»Wissen Sie schon, wer meinen Jungen überfahren hat?«

Vera warf einen kaum merklichen Blick zu ihrem Kollegen und erklärte dann:

»Es tut uns leid, Frau Wiener, bisher konnte der Unfallflüchtige noch nicht ausgemacht werden.« Frau Wiener setzte sich Vera gegenüber und knetete nervös an ihrem Taschentuch. Horst Kastner verließ wortlos den Raum. Die Kommissarin wartete einen Moment und stellte dann die erste Frage:

»Ihr Sohn soll mit einigen Freunden Doppelkopf gespielt haben, bevor er in der Nacht überfahren wurde. Wissen Sie die Namen der Beteiligten?«

»Doppelkopf?« Christa Wiener sah die Beamtin überrascht an. »Deshalb ist er noch einmal weggefahren. Davon hat er mir gar nichts gesagt. Er war immer sehr korrekt, müssen Sie wissen.« Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Und ein sehr guter Schüler. Ich war so stolz auf ihn.« Sie presste nach diesen Worten das Taschentuch vor den Mund, um nicht laut aufzuschluchzen. Tann wandte sich unmerklich ab, sah erneut aus dem Fenster und ballte die Hände, die er tief in seinen Hosentaschen vergraben hatte, zu Fäusten. Veras Stimme war sanft, als sie mit der Befragung fortfuhr:

»Können Sie mir die Namen der Doppelkopfpartner ihres Sohnes sagen?«

Christa Wiener schrak auf. »Ja, natürlich. Tim Pletter und Sven Freitag, der dritte heißt Kai, aber ich weiß den Nachnamen nicht.« Vera erhob sich, warf Tann einen Blick zu und beide verabschiedeten sich.

»Die Frau war völlig fertig«, stellte Vera fest, als sie wieder im Auto saßen.

»Ist wohl normal«, antwortete Tann knapp.

»Himmel, Jupp«, ereiferte sich Vera. »Sei nicht so garstig. Ich habe den Jungen nicht überfahren.« Tann startete den Wagen und brauste auf die Straße.

»Du warst auch nicht gemeint. Wenn ich an diesem Autofahrer denke, habe ich eine solche Wut, da fällt es mir schwer mich zu beherrschen.«

»Verflixt. Du bist Beamter. Reiß dich zusammen. Wir müssen auch noch die Familie der Maurers vernehmen.«

Sie fuhren wieder Richtung Gütersloh. Tann funkelte Vera wütend von der Seite an und strich sich erneut das etwas zu lange Haar aus der Stirn, was kaum Auswirkungen hatte, denn sofort fielen die dichten Strähnen in die alte Lage zurück. Vera betrachtete ihn besorgt, sagte aber nichts mehr. Am Kommissariat angekommen, ging Tann ohne jegliche Äußerung in sein Büro. Vera machte noch eine Abstecher zur Kantine, gab die Fundstücke im Labor ab und machte sich dann seufzend an den Bericht.

Am Nachmittag fand die Konferenz der Mordkommission statt. Tann gab die wenigen Hinweise bekannt, die sie bisher hatten. Dörte Masch hatte ebenfalls ihren ersten Beobachtungen vom Mord im Bauwagen berichtet, als sich ihr Kollege, Volker Franzen zu Wort meldete:

»Der Bauunternehmer hat mir mitgeteilt, dass er in Rheda-Wiedenbrück auch noch eine Baustelle hat, auf der vor drei Wochen ein Schaufelbagger und eine Schlagbohrmaschine gestohlen wurden.«

Tann schaltete sich ein:

»Wunderbar, Volker, bei mir hat er nur von Diebstählen gesprochen.« Er wandte sich an Vera: »Ruf ihn bitte an, wir brauchen eine Liste auch von den vorherigen Diebstählen, genau aufgeführt die Baustellen und was alles gestohlen wurde.«

Vera schaute auf ihren Bericht und erkundigte sich:

»Haben wir das nicht in den Unterlagen? Die Diebstähle wurden doch sicher gemeldet.«

Tann nickte. »Möglich, klär das bitte.«

Noch während sie die weiteren Schritte bezüglich Zeugenvernehmung und Recherche berieten, erschien der Kollege Norbert Pasur mit dem Ergebnis der Bodenprobe.

»Es ist definitiv derselbe Boden, wie der, den wir auch unter den Schuhen des Unfallopfers gefunden haben. Der Sisalfaden ist übrigens ebenfalls identisch mit dem vorher sichergestellten.«

Tann donnerte mit der Faust auf den Tisch, dass die Wasserflaschen seiner Kollegen bedrohlich schwankten und rief:

»Hab es mir gleich gedacht. Der Junge hat spioniert, und die Täter haben ihn dabei entdeckt.«

»Das ist aber kein Beweis, dass sie ihn überfahren haben!«, erklärte Dörte Masch bestimmt.

»Aber sie haben ihn gefesselt, und er konnte sich befreien«, beharrte Josef Tann. Vera Senft hatte sich noch einmal ihren Bericht angesehen und meinte:

»Dörte hat recht. Der Junge war schon fast zu Hause, woher sollten die Diebe wissen, welchen Weg er nimmt?«

»Es sei denn, sie haben ihn gekannt«, schloss Norbert Pasur die Debatte.

»Vielleicht bringt die Vernehmung der Angehörigen des Maurers was«, schaltete sich Josef wieder ein. »Bisher haben wir nur wenige, nichtssagende Äußerungen des Bauunternehmers und der Arbeitskollegen vor Ort. Auch die Anwohner haben bis auf eine junge Frau nichts gehört. Und die technische Untersuchung des Fahrrades ist auch noch nicht da.«

Etwas später fuhren Tann und Senft nach Werther. Diesmal fuhr Vera Senft, denn sie kannte sich in Werther bestens aus, weil sie während ihrer Ausbildung dort gewohnt hatte. So fuhr sie zielstrebig zur Alten Bielefelder Straße, bog rechts in die Ravensberger Straße ein und war schon wenig später in die Schlossstraße abgebogen.

»Weißt du eigentlich, dass der berühmte Peter August Böckstiegel in dieser Straße geboren wurde? Im Geburtshaus sind heute viele Gemälde, Grafiken und Aquarelle ausgestellt. Die Ausstellung kann ich nur empfehlen.«

Josef Tann zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Das musst du meiner Frau erzählen, die interessiert sich sehr für Kunst. Ich bin da nicht so bewandert.«

Vera antwortete nicht, weil gerade ein Laster wegen eines Wendemanövers ihr den Weg versperrte. »Zum Donnerwetter, was hat der denn hier zu suchen!«, fauchte sie ärgerlich, wartete ungeduldig bis das Ungetüm vor ihr endlich in Fahrtrichtung davon fuhr, und lenkte den Wagen vor ein hübsches Einfamilienhaus. Beim Klingeln öffnete ein junges Mädchen mit verweintem Gesicht. Josef Tann schätzte sie auf vierzehn Jahre und überließ seiner Kollegin die Vorstellung.

»Mama ist drinnen«, erklärte sie, ohne ihren Namen genannt zu haben und lief davon. Sie folgten ihr langsam ins Haus. Alles war neu und gemütlich eingerichtet. Im Hausflur kam ihnen Frau Schreiner entgegen, sie machte einen sehr gefassten Eindruck und bat die Beamten ins Esszimmer. Nach den üblichen Beileidsbekundungen bat die Hausfrau sie, Platz zu nehmen und erkundigte sich: »Darf ich Ihnen etwas anbieten?« Vera antwortete für ihren Kollegen mit.

»Nein danke, Frau Schreiner. Wir möchten nur ein paar Dinge klären.«

Erst jetzt setzte sich Frau Schreiner ihnen gegenüber, und nur ein geübter Beobachter erkannte, dass es sie einige Anstrengung kostete, die Fassung zu wahren. Vera Senft übernahm auch diesmal die Befragung und begann mit scheinbar belanglosen Details.

»Wie oft übernahm ihr Mann die Wache auf der Baustelle?«

»Einmal im Monat. Donnerstagnacht war es das zweite Mal, diesmal sollte er das ganze Wochenende da bleiben.«

»Wurde denn am Freitag nicht gearbeitet?«

Frau Schreiner schüttelte den Kopf. »Der Chef musste zu einer Ausstellung, da sind einige der Kollegen mitgefahren, und die anderen hatten frei.«

»Haben Sie sich nicht gewundert, dass Ihr Mann sich das ganze Wochenende nicht gemeldet hat?«

Nur ein Zucken mit den Augenliedern verriet, dass diese Frage die Witwe mehr traf, als sie vorgab.

»Ich wusste, dass mein Mann nicht da war, da bin ich mit Svenja zu meiner Schwester nach Münster gefahren. Wir sind erst am Sonntagabend zurückgekommen.«

»Er hätte Sie doch auch ebenso gut in Münster erreichen können.«

»Gibt doch zu, dass ihr euch verkracht hattet, die Polizei kommt sowieso dahinter!« Die Tochter war leise hereingekommen, ohne dass jemand sie bemerkt hatte. Sie stand am Türpfosten und funkelte empört in die Runde und mit der Fassung von Frau Schreiner war es augenblicklich vorbei. Ihr Kopf wurde hochrot und sie drückte sich ein Taschentuch vor das Gesicht, um ihr Weinen zu unterdrücken. Josef Tann wand sich unbehaglich auf seinem Stuhl und da Vera schwieg, ergriff er das Wort.

»Frau Schreiner«, erklärte er so sanft, dass Vera ihn erstaunt ansah. »Streit kommt in den besten Ehen vor. Es ist ganz natürlich, Sie sollten sich keine Vorwürfe machen. Ihr Mann hätte Ihnen bestimmt verziehen.«

Sie sah den Beamten dankbar an und schluchzte: »Glauben Sie wirklich?«

Tann nickte und bestätigte überzeugend: »Ganz sicher.«

Daraufhin erklärte Marita Schreiner stockend: »Ich wollte nicht, dass er diese Wache schiebt. Schon beim ersten Mal habe ich schreckliche Angst gehabt und die ganze Nacht kein Auge zugetan. Und diesmal war es ein ganzes Wochenende. Aber mein Mann bestand darauf, wegen des Geldes.«

Vera hob eine Augenbraue und erkundigte sich: »Wie viel zahlte denn der Unternehmer für das Wochenende?«

»Achthundert Euro bar auf die Hand. Ludwig wollte das Geld für einen neuen Gartenzaun haben.«

»Eine schöne Stange Geld für ein Wochenende.«

»Das hat mein Mann auch gesagt, und dann hat er noch gemeint, dass er dafür sonst fast zwei Wochen schuften muss.« Sie weinte nun hemmungslos. Ihre Tochter hatte sich ein wenig beruhigt, setzte sich jetzt neben sie und legte ihr fürsorglich den Arm um. Die Beamten verabschiedeten sich, an der Tür drehte sich Tann noch einmal um und erkundigte sich:

»Hatte Ihr Mann ein Handy dabei?«

Frau Schreiner verneinte. »Mein Mann hatte keines. Ganz in der Nähe ist ein öffentliches Telefon, er wollte von dort anrufen.«

Vera Senft öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, schwieg dann aber und zog nur das Gesicht in nachdenkliche Falten. Sie waren schon in der Tür und hatten sich verabschiedet, als dem Hauptkommissar noch etwas einfiel.

»Frau Schreiner, sagt Ihnen der Name Volker Wieners etwas?«

Etwas irritiert sah sie den Beamten an und erkundigte sich:

»Wieners? Nie gehört. Ist das ein Arbeitskollege meines Mannes?«

Josef verneinte

Schweigend fuhren sie kurze Zeit später davon. Sie hatten Werther schon ein Stück weit hinter sich gelassen, als Vera mit grimmigem Blick fauchte: »Ich fasse es nicht! Der sollte die Wache übernehmen, ohne jegliche Möglichkeit bei Gefahr Hilfe zu holen!«

»Vielleicht hat der Unternehmer gedacht, bei achthundert Euro wird er sich schon ein Handy besorgen«, erklärte Tann lakonisch.

Vera beachtete seinen Einwand nicht, sondern ließ ihrem Ärger freien Lauf: »Ungeheuerlich. So das Leben der Leute aufs Spiel zu setzten.«

»Trotzdem, mit achthundert Euro geschickt geködert. Wahrscheinlich ging das Geld auch schwarz an der Steuer vorbei.«

»Kann ich mir gut vorstellen. Hoffentlich hat unser Unternehmer nicht auch noch die Diebe angeheuert.« Vera hatte sich beruhigt und konnte schon wieder scherzen, aber ihr Kollege nahm den Ball auf und antwortete:

»Möglich ist alles.«

Vera überholte einen Mercedes mit Campinganhänger und kam noch einmal auf Frau Schreiner zurück.

»Schon komisch, dass die Frau einfach wegfährt, wenn sie solche Angst hat.«

»Vielleicht hat sie einen Liebhaber und die Fahrt zu ihrer Schwester war nur vorgeschoben.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen, da hätte die Tochter ihr sicher eine Szene gemacht.«

Josef ließ sich von seiner Theorie nicht abbringen. »Die Frau sieht gut aus und hatte Streit mit ihrem Mann. Da kann Abwechslung nur gut sein.«

»Männer«, schnaubte Vera verächtlich. »Keine Ahnung von Frauen. Ich an Stelle der Schreiner wäre nach Brockhagen gefahren, um nachzusehen, ob er nicht eine andere hat.«

Sie waren schon wieder auf der Brockhäger Straße in Richtung Gütersloh. Vera lenkte den Wagen gerade über die Bahnschienen in Blankenhagen, als ihr noch etwas einfiel. »Aber wahrscheinlicher ist, dass sie sich mit ihrer Schwester ein schönes Wochenende gemacht hat.« Vera war schon am Nordring, als sie mit einem Seitenblick auf Josef Tann, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, erklärte: »Wenn wir im Büro sind, kümmere ich mich als erstes um die Anschriften der Doppelkopfspieler. Dörte wollte sie mir besorgen.«

»Aber vorher gehen wir etwas essen«, bestimmte Tann und wie, um seinen Satz zu unterstreichen, knurrte sein Magen laut und deutlich, was beide zum Lachen brachte.

Der Mord am Pulverbach

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