Читать книгу Mami Bestseller 6 – Familienroman - Gisela Heimburg - Страница 6

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Waltraud Böhm saß bei ihrer Mutter in der gemütlichen Küche und ließ sich ein verspätetes Mittagessen schmecken.

In diesem Augenblick ahnte die junge Hebamme nicht, was ihr der Tag noch Schreckliches bringen sollte.

»Nun erzähl doch mal, Kind«, drängte Frau Böhm und betrachtete ihre hübsche Tochter voller Stolz. Tüchtig war sie in ihrem Beruf, äußerst beliebt bei den werdenden Müttern, obwohl sie erst seit zwei Jahren als Hebamme in St. Blasien tätig war. Und nun hatte sogar der größte Bauer anstatt der alten Frau Speidel, eine erfahrene Frau, ihre Waltraud zur Geburt seines ersten Kindes auf den Hof geholt.

»Was ist es denn? Ein Junge? Hat die Veronika dem Bauern den ersehnten Erben geschenkt? So rede doch schon, Mädel«, bat sie ungeduldig.

Lächelnd nickte Waltraud. »Ja, Mama, es ist ein prachtvoller Junge, und die Veronika hat sich tapfer gehalten, obwohl es nicht leicht war für sie.«

»Wie schön! Da war wohl eitel Freude beim Grasegger.« Frau Böhm erhob sich vom Küchenstuhl, trat an den Herd, um für ihre abgekämpfte Tochter einen Kaffee aufzubrühen. Ihr Blick ging dabei aus dem Fenster, und seufzend mußte sie feststellen, daß der Sturm eher noch zugenommen hatte. Dabei wirbelten dicke Schneeflocken vom Himmel.

»Die Frau Speidel kann heilfroh sein, daß du ihr in diesem Winter einen Teil der Geburten abnimmst, Waltraud«, meinte sie und kehrte zurück an den Tisch, wo ihre Tochter schlaftrunken aufschreckte. Herrje! Die Ärmste schlief ja mit offenen Augen.

Doch nun reckte Waltraud ihre geschmeidigen Glieder, seufzte und gab zurück: »Ist wohl auch viel zu anstrengend für die alte Frau. Doch sie versorgt den Säugling der Veronika.«

Das fand Frau Böhm sehr gut. »Fein, Waltraud! So fühlt sich die Speidel nicht völlig übergangen. Doch du hast recht. Mit dem Fahrrad käme Frau Speidel jetzt kaum rechtzeitig zu den einzelnen Gehöften und Pensionen. Da hast du es doch mit dem Wagen um einiges besser.«

»Mein Wagen!« Besorgt runzelte Waltraud ihre Stirn. »Du, Mama, mit dem stimmt was nicht. Da war vorhin so ein komisches Geräusch am Motor. Den bringe ich morgen früh gleich in die Werkstatt.«

Frau Böhm goß ihrer Tochter Kaffee ein und meinte dabei: »Hoffentlich streikt er nicht, wenn du nun zu den Lorrimers hinausfährst, mein Kind.«

Erstaunt blickte Waltraud die Mutter an. »Zu Lorrimers? Mama! Willst du damit sagen, daß von dort schon wieder angerufen wurde wegen…?«

»Genau«, entgegnete Frau Böhm seelenruhig und schob Waltraud die Tasse zu. »Trinke erst mal in Ruhe, sonst schläfst du unterwegs ein. Ist sicher wieder falscher Alarm.«

Unruhig und leicht verärgert, leerte Waltraud rasch ihre Tasse, verbrannte sich ein wenig die Zunge, was ihre Stimmung nicht gerade hob. »Mutter«, sagte sie eindringlich, »wie oft habe ich dir schon gesagt, daß du mir von diesen Anrufen sofort berichten mußt, wenn ich ins Haus komme. Nicht erst nach dem Essen oder einer halben Stunde Schlaf. Bitte, merke dir das doch endlich!«

Unwillig wehrte Frau Böhm ab. »Das ist wie bei einem Arzt. Dessen Frau muß auch darauf achten, daß da nicht Essen und Schlaf vergessen werden. Außerdem wurde nur wenige Minuten, bevor du todmüde und hungrig durch die Hausfür gewirbelt kamst, angerufen. Ja, der Sturm trieb dich so richtig vor sich her. Matt und erschöpft, wie du warst. Sollte ich dich da gleich wieder fortlassen?«

Frau Böhm folgte ihrer Tochter aus der Küche hinaus. Während ihrer Worte hatte Waltraud sich schon die Stiefel angezogen und in der Diele die Strickmütze aufgesetzt. Nun schlüpfte sie in die Lodenjacke und griff nach ihrer schweren Tasche.

»Hoffentlich streikt der Wagen nicht«, sagte sie noch einmal, dann riß ihr der Wind vor der Haustür das Wort von den Lippen.

»Falscher Alarm«, das hatte Frau Böhm gerade noch verstehen können, und in der Tat war es schon das dritte Mal, daß ihre Tochter sich zu den Lorrimers aufmachte.

Waltraud bahnte sich ihren Weg durch Sturm und Schneegestöber zu ihrem Wagen hin, der noch vor der Garage stand.

Ihre Gedanken eilten der Fahrt voraus zu dem schmucken, renovierten Schwarzwaldhaus der Familie Lorrimer. Frau Lorrimer erwartete ihr zweites Kind, ein zartes blondes Mädchen von acht Jahren hatten sie schon.

Lange wohnten die Lorrimers noch nicht in dem etwas abseits gelegenen kleinen Tal, in dem der Mann eine Forellenzucht betrieb. Die Familie kam aus Baden, das hatte Frau Lorrimer ihr einmal während einer Untersuchung erzählt. Verwandte besaßen sie hier in der Gegend nicht, und Frau Lorrimer litt unter Kontaktschwierigkeiten. Herrn Lorrimer schien die Abgeschiedenheit nichts auszumachen. Er war ein Mann, der hart arbeitete, seinen Betrieb ständig vergrößerte und nun schon viele Hotels in St. Blasien mit frischen Forellen belieferte.

Waltraud hatte ihn einige Male gesehen und fand ihn recht interessant, wenngleich etwas einsilbig. Er schien seine Frau sehr zu lieben und – nun ja, er wünschte sich gleich dem Bauern Grasegger auch einen Sohn.

Versonnen lächelte Waltraud, während sie langsam und unter großen Mühen – wegen der schlechten Sicht – über die verschneite Landstraße dem Mühltal entgegenfuhr.

Plötzlich begann der Motor des Wagens zu stottern und setzte dann ganz aus.

»Oh, nein! Ich hab’s doch geahnt!« rief Waltraud und versuchte den Motor erneut durchzustarten. Vergebens!

Langsam überkam die junge Hebamme ein Gefühl der Panik. Sie war allein hier mitten auf der Landstraße. Außer dem wirbelnden Schnee, dem Heulen des Windes und den kahlen Pappeln zu beiden Seiten der Straße war nichts zu sehen und zu hören. Sie war allein!

Mit unendlicher Mühe und Anstrengung gelang es ihr, das Auto von der Straße fort zwischen die Pappeln zu schieben. Zwischendurch hielt sie verzweifelt nach einem Wagen Ausschau, doch die Welt schien wie ausgestorben zu sein. Niemand kam und nahm sie ein Stück mit.

Hoffentlich war es nur falscher Alarm, dachte Waltraud und kämpfte sich mit ihrer schweren Tasche mühsam aufwärts, denn nun lag die schnurgerade Landstraße hinter ihr, und der Weg führte bergauf, dann wieder bergab ins Mühltal.

Hoffentlich kommt der Doktor auch diesmal wieder her, dachte Waltraud und blieb zunächst einen Moment vor der Haustür stehen, um ihren jagenden Atem ein wenig zur Ruhe kommen zu lassen. Ein Blick über den von Schnee verwehten Hof ließ sie resigniert feststellen, daß vom Wagen des Doktors nichts zu sehen war.

Doch vielleicht würde er noch kommen. Bei diesem Wetter ging auch bei Dr. Maier sicher einiges nicht so wie geplant.

Gerade wollte die Hebamme klingeln, als die Tür aufgerissen wurde, und Herr Lorrimer einen Schritt auf sie zutrat.

»Da sind Sie ja endlich! Kommen Sie rasch, meiner Frau geht es nicht gut.«

Damit packte er die schwere Tasche, und Waltraud trat in die Diele ein. »In welchen Abständen kommen denn die Wehen?«

Ein erstaunter, fast zorniger Blick aus den hellen Männeraugen traf sie. »Wie soll ich das wissen? Ich war drüben in der Mühle, bis das Kind mich rief. Meine Frau liegt im Bett. Sie bringt vor Schmerzen kein Wort hervor. Warum hat das denn mit Ihnen so lange gedauert? Fast eine Stunde warten wir schon auf Sie.«

Lorrimers Gesicht war bleich, sah angstverzerrt aus. Waltraud kannte ihn so gar nicht, hielt ihn immer für einen nervenstarken Mann, den so leicht nichts erschüttern konnte.

»Meine Tasche! Schnell!« Fast riß sie ihm die Tasche aus der Hand und verschwand im Schlafzimmer der Eheleute, wo man die Betten schon vor Tagen auseinandergeschoben hatte. Vor dem Fenster stand die schöne buntbemalte Kinderwiege, etwas davon entfernt eine Wickelkommode. Alles liebevoll vorbereitet für den neuen Erdenbürger.

Doch von alledem sah Waltraud Böhm in dieser Sekunde nichts. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt der jungen Frau, die mit bleicher, schmerzverzerrter Miene in den Kissen ruhte.

Ein Seufzer der Erleichterung drang über ihre Lippen. »Da sind Sie ja endlich! Gottlob! Das Baby muß bald kommen. Sie müssen mir gleich sagen, wie – wie es ihm geht. Hören Sie, Fräulein Böhm! Ich muß wissen, wie es dem Kind geht. Ob alles in Ordnung mit – mit…«

»Still, Frau Lorrimer! Sparen Sie Ihre Kräfte. O Gott!« Das letzte kam tonlos und in tiefer Besorgnis von Waltrauds Lippen. Sie erhob sich vom Bettrand, eilte zur Tür und rief nach Herrn Lorrimer, der sofort zur Stelle war.

»Verständigen Sie Dr. Maier! Rasch! Er soll sofort kommen«, flüsterte Waltraud ihm zu, ehe sie wieder ins Schlafzimmer zurücktrat und die Tür schloß.

»Frau Lorrimer! Was ist passiert?« Während sie diese Frage stellte, drängte das Kind schon ins Leben, ließ Waltraud kaum Zeit zum Nachdenken.

Es ging nun alles sehr schnell. Das Kind kam, wurde von ihr notdürftig versorgt, und während sein erster, kräftiger Schrei das Haus durchzog, lag seine Mutter sehr still und bleich in den Kissen.

»Ist – es gesund?« fragte sie leise, und Waltraud erklärte ihr, es sei ein gesunder, kräftiger Junge.

»Ein Prachtkerlchen, Frau Lorrimer«, sagte sie ruhig, obwohl sie innerlich vor Nervosität zitterte, denn der jungen Mutter ging es immer elender. Sie hatte einen starken Blutverlust erlitten, und der Kreislauf war äußerst labil.

So gut Waltraud vermochte, setzte sie ihre Kenntnisse ein, behalf sich mit den Medikamenten, die ihr zur Verfügung standen. Doch bei alledem wußte sie, daß schon ein Wettlauf mit dem Tod eingesetzt hatte.

Würde Dr. Maier früh genug kommen? Und konnte er überhaupt noch helfen?

Wieder eilte die junge Hebamme zur Tür, rief nach dem Mann und wies ihn an, einen Krankenwagen aus dem Marienhospital herbeizurufen.

Martin Lorrimer erstarrte. »So schlimm?« fragte er mit zusammengezogenen Brauen, und als Waltraud stumm nickte, fügte er gepreßt hinzu: »Das ist Ihre Schuld. Warum sind Sie nicht sofort gekommen?«

Damit wandte er sich brüsk um und eilte die Treppe hinunter. Waltrauds Herz pochte dumpf, und sie fühlte Schweißperlen auf ihre Stirn treten. Schuld? War es wirklich ihre Schuld, daß es der jungen Mutter so schlecht ging?

Wieder verabreichte Waltraud ihr ein kreislaufstärkendes Mittel, be­mühte sich, die Blutung zu stillen. Vergebens!

Dann war plötzlich Dr. Maier an ihrer Seite, ordnete leise und präzise einiges an, doch in seiner Miene las Waltraud Sorge.

»Wie konnte das nur passieren?« murmelte er einmal, wobei er sie scharf von der Seite her musterte.

Auch er gibt mir die Schuld, dachte Waltraud in aufkommender Panik. Habe ich etwas versäumt? Einen Fehler gemacht?

Doch nein! Sie war sich keines Fehlers bewußt, und das Kind in der Wiege zeugte davon, daß es eigentlich überhaupt keine Komplikationen hätte geben dürfen.

Was war überhaupt der Grund, daß Frau Lorrimer so überstürzt nach ihr gerufen hatte?

Bange Minuten vergingen noch. Dr. Maier hatte alles zum Transport vorbereitet, und als der Krankenwagen endlich kam, atmete Waltraud wie von einer drückenden Last befreit auf.

Herr Lorrimer wollte natürlich mit ins Hospital fahren, und Waltraud bot sich an, bei den Kindern zu bleiben.

»Aber der Säugling, Herr Lorrimer?« fragte sie erstickt. »Soll er nicht besser mit in die Klinik kommen? Dort würde er gut betreut werden.«

Martin Lorrimer blickte sie scharf an und fragte: »Ist das Kind gesund? Was – ist es überhaupt?«

Nun war die junge Hebamme fast den Tränen nahe. Meine Güte! Nach der glücklichen Geburt und der freudigen Stimmung drüben beim Grasegger-Bauer schien dies hier wirklich ein schlimmer Alptraum zu sein. Die junge Mutter wurde ins Krankenhaus getragen, war längst in eine Ohnmacht gefallen und war dem Tode näher als dem Leben. Der junge Vater wußte nicht einmal, ob er einen Sohn oder eine Tochter geschenkt bekommen hatte, weil er sich aus Sorge um das Leben seiner Frau noch gar nicht dafür interessiert hatte.

Unbewußt suchte Waltrauds umflorter Blick das blasse verschüchterte Kind, das da auf der untersten Treppenstufe hockte und zum Vater hin­übersah mit einem angstvollen Ausdruck im Gesichtchen.

Arme Liesel, dachte Waltraud, während sie nun zu Martin Lorrimer sagte: »Es ist ein Junge. Ein schönes, gesundes Kind.«

Da belebte sich die starre bleiche Miene des Mannes ein wenig.

»Nun gut! Das Kind bleibt im Haus, und Sie, Fräulein Hebamme, werden gut auf meinen Sohn achtgeben.«

Jäh zuckte sein Zeigefinger dabei vor, tippte kurz gegen Waltrauds Schulter, dann wandte Herr Lorrimer sich brüsk um und trat hinter Dr. Maier hinaus in das Schneegestöber.

Zögernd folgte Waltraud, sie wollte etwas antworten, doch jedes Wort schien ihr plötzlich sinnlos angesichts der Tragik dieser Stunde.

Dr. Maier hob eigenhändig die Trage mit ins Auto, lief dann zurück zu der jungen Hebamme und meinte: »Kopf hoch, Kindchen. Man wird die Frau schon durchbringen. Doch es ist schlimm für Sie, das kenne ich. Bei meinem ersten To…«

Er brach ab, schüttelte den Kopf und murmelte etwas vor sich hin, was Waltraud nicht verstand. Sie starrte mit tränenblinden Augen dem Krankenwagen hinterher.

Dann schritt auch Dr. Maier zu seinem Wagen. Seine letzten Worte brannten in Waltrauds Herzen.

»Den Mann wird es furchtbar treffen. Zwei Kinder und völlig allein. Dazu ein Säugling. Waltraud, kümmern Sie sich um den Säugling. Zum Glück sind ja im Moment keine weiteren Geburten in Aussicht. Wenigstens was unsere Gegend betrifft.«

Ja, das sagte Dr. Maier zu ihr, und eigentlich hätte er es gar nicht zu tun brauchen, denn Waltraud versorgte den kleinen neuen Erdenbürger selbstverständlich mit der gleichen Fürsorge, wie sie all ihre ins Leben geholten Kinderchen während der ersten Tage ihres jungen Lebens betreute.

Sie versorgte an diesem schrecklichen Tag auch die Liesel, bereitete ihr einen Pudding zu und wunderte sich dabei etwas über das kleine Mädchen, das völlig verängstigt schien. Dabei kannte Waltraud die Liesel als ein zwar stilles, so doch fröhliches Kind, das stets ohne Scheu mit ihr redete, wenn sie der jungen Frau Lorrimer mit ihrem Töchterchen begegnete. Oder hier im Haus aufsuchte. Aber an diesem Tag war das Mädchen völlig verändert.

»Du mußt nicht traurig sein, Liesel«, sagte sie dann mitleidig und zog das Kind sanft zu sich heran. »Deine Mama kommt bald zurück. Sie – mußte leider ins Hospital, weil doch nicht alles so gut verlaufen ist. Aber nun komm, ich zeige dir dein Brüderchen. Es ist ein süßes, hübsches Kerlchen, und du wirst es bestimmt sehr lieb gewinnen.«

Über das blasse Kindergesicht huschte ein Aufleuchten. »Mama und Papa wollten so gern einen Buben haben. Da bin ich aber froh!«

Hand in Hand gingen sie die Treppe hinauf, betraten den Raum, in dem Waltraud vorhin schon etwas Ordnung gemachte hatte.

Sie traten an die Wiege, blickten hinein und betrachteten lange Zeit schweigend das Neugeborene.

»So winzig habe ich mir die Babys aber nicht vorgestellt«, wisperte Liesel endlich voller Andacht. »Es hat ja ganz viele krause Haare wie Papa. Ganz dunkelbraune Haare und – so kleine Fäustchen. Da wird Papa sich aber freuen. Er wollte so gern einen Jungen haben, schon wegen der Hilfe. Bestimmt wird mein kleines Brüderchen dem Papa später draußen bei den Fischteichen helfen, so wie ich immer der Mama in der Küche helfe.«

Plötzlich schaute Liesel die Hebamme an, wobei sich ihre blauen Augen angstvoll weiteten: »Meine Mama kommt doch wieder? Ich meine, so schlimm war das doch nicht. Oder? Bitte, Fräulein Waltraud, sagen Sie doch was!«

Aber Waltraud konnte plötzlich nichts mehr sagen, sie schloß das Kind stumm in ihre Arme, drückte es fest an ihr Herz. Ihre Kehle schien wie zugeschnürt, und die Furcht drohte sie zu überwältigen. Die heiße Furcht, dem Mann später in die Augen blicken zu müssen, seine zornig-rauhe Stimme zu hören, die ihr vorhin eine schreckliche Anklage entgegengeschleudert hatte. Sie sei schuld daran, daß es seiner Frau so schlecht gehe. Sie, die Hebamme! Weil sie nicht sofort gekommen sei.

»Liesel«, sagte Waltraud erstickt zu dem Kind. »Ich bringe dich jetzt in dein Bettchen. Du bist müde, Kleines, nicht wahr? Du schläfst nun ganz rasch ein, und morgen – morgen sieht die Welt wieder heiter aus.«

Verstohlen fuhr Liesels kleine Hand über die Wange, wischte eine Träne fort, wobei sie wisperte: »Glaubst du, das Brüderchen kann hier so ganz allein bleiben? Paßt du auf das Baby auf, bis mein Papa wieder da ist?«

Liesel hätte sich niemals eingestanden, daß auch sie leise Furcht empfand, weil ihre Eltern nun doch beide fort waren. Noch niemals war sie über Nacht allein gewesen.

In den hellen Kinderaugen las Waltraud Böhm wie in einem offenen Buch. Zärtlich streichelte sie Liesel über das blonde Haar und gab fest zurück: »Ich passe sehr gut auf dein Brüderchen auf, da hab’ gar keine Sorge, und auch auf dich gebe ich acht. Ja, Lieselchen, auch auf dich. Du kannst ganz ruhig schlafen, ich bleibe hier im Haus. Solange ihr beide, du und das Baby, mich braucht. Das verspreche ich dir, Kleines.«

Da ging ein Aufatmen durch die zarte Gestalt der achtjährigen Liesel Lorrimer. »Das finde ich gut, Waltraud. Dann ist auch bestimmt meine Mama beruhigt und – und ist nicht mehr so – so schrecklich nervös. Wenn sie doch bloß nicht auf…«

Da schwieg sie erschrocken und legte ihre kleine Hand über die Lippen.

»Was denn, Liesel? Was hätte deine Mama besser nicht getan?« fragte Waltraud in plötzlicher Erregung.

Doch das Kind schüttelte nur wild das Köpfchen, machte sich fast heftig von Waltrauds Armen frei und eilte hinaus.

Seufzend folgte diese ihr schließlich und fand Liesel schon im Badezimmer, wo sie sich für die Nacht emsig ihre Zähne bürstete.

Wenig später lag die Kleine in ihrem Bett.

Waltraud hielt sich noch eine Weile in dem Zimmer auf, das mit hübschen, buntbemalten Bauernmöbeln ausgestattet war. An den Fenstern hingen blau-rot karierte Vorhänge, und im Gebälk der Decke hockten einige Schelmfiguren.

»Du hast es sehr hübsch hier, Lieselchen«, sagte Waltraud, den Blick nachdenklich auf das Kind gerichtet. Warum schwieg es vorhin so hartnäckig? Und was verschwieg die kleine Liesel? Es mußte mit Frau Lorrimers überstürzter Geburt zu tun haben.

Der Sturm tobte unvermindert heftig ums Haus, als Waltraud das Kinderzimmer verließ, um sich wieder dem Neugeborenen zu widmen. Doch es ging ihm gut, und nun kam die Müdigkeit wie ein schwerer grauer Nebel über die junge Hebamme, die seit der ersten Morgenstunde auf den Beinen war und harte Arbeit geleistet hatte.

Quälende Gedanken, Überlegungen, Mutmaßungen. Doch dann verschwamm alles, verlor sich in einem kurzen, unruhigen Schlaf, zu dem Waltrauds Kopf einfach auf ihre verschränkten Arme sank, die sie auf die harte Tischplatte gelegt hatte. Sie war todmüde gewesen.

*

Irgend etwas schreckte die Schlummernde auf. Ein leises Geräusch von oberhalb der Treppe.

Es glich mehr einer vagen Ahnung, daß sich oben jemand im Schlafzimmer des Ehepaares befinden mußte.

Doch oben war ja auch der Säugling.

Hastig erhob Waltraud sich von der Ofenbank, strich ihr Haar aus dem Gesicht, taumelte noch schlaftrunken aus der offenstehenden Zimmertür hinaus in die erhellte Diele.

Nun herrschte oben Stille, so angestrengt Waltraud auch lauschte. Hatte sie sich getäuscht?

Leise schritt sie die Stufen hinauf. Es war besser, kurz nach dem Baby zu sehen, obwohl noch keine Stunde vergangen war, seit sie das Kind zum letztenmal frisch gebettet hatte.

Auch hier stand die Tür weit offen, so daß ihr Blick sofort auf den Mann fiel, der regungslos vor der Wiege stand. Im matten Lichtkegel des kleinen Bettlämpchens, das Waltraud vorhin angelassen, wirkte Herr Lorrimers Miene so erschöpft und leer, daß ihr Herz auszusetzen drohte.

»Herr Lorrimer«, flüsterte sie tonlos und innerlich geschüttelt von Grauen, »wie – geht es Ihrer Frau?«

Schon während sie dies sagte, schienen tausend Teufel ihr höhnisch zuzuflüstern: Du Närrin! Sieh dir doch den Mann an, dann weißt du, wie es der Frau geht. Warum willst du dich der Wahrheit verschließen? Ahnst du sie doch schon längst.

Herr Lorrimer wandte sich von der Wiege ab, kam auf sie zu und schien doch durch sie hindurchzusehen mit seinen hellen, kalt wirkenden Augen.

Er ging an ihr vorbei, trat auf den Gang und sagte brüchig: »Meine Frau ist tot. Bitte, kommen Sie mit in mein Büro, ich habe mit Ihnen zu reden.«

Einer Ohnmacht nahe, stolperte Waltraud hinter ihm die Treppe hinunter. Ihre Knie zitterten, und nur mit äußerster Mühe konnte sie einen Weinkrampf ersticken.

Das Büro lag am Ende der Diele und war ein nüchterner Raum, in dem Herr Lorrimer sich hinter seinem alten, mit Fachzeitschriften und Prospekten vollbepackten Schreibtisch auf einen Drehstuhl fallen ließ. Er stützte beide Ellbogen auf die Platte und barg flüchtig sein Gesicht in den Händen, fuhr sich schließlich mit allen zehn Fingern durch sein volles dunkelbraunes Haar, ehe er sich brüsk der jungen Hebamme zuwandte.

»Nun setzen Sie sich doch um Himmels willen irgendwo hin«, murmelte er tonlos, sie dabei zum ersten Mal voll anblickend.

Es gab nur zwei weitere Sitzmöglichkeiten in dem winzigen Raum. Ein alter Schemel vor dem Regal und ein Schalensessel in Fensternähe, der von dem harten Lichtkegel der Schreibtischlampe nicht so grell erfaßt wurde.

Dorthin rettete sich Waltraud nun. Fort von dem grausam-kalten Blick, der wie eine einzige Anklage auf ihr lastete.

»Ich bin mir keiner Schuld bewußt«, stieß sie zitternd hervor und verschlang ihre unruhigen Finger krampfhaft ineinander.

»Mein Wagen streikte, und – ich hatte am Morgen schon eine…« Erschrocken verstummte sie, denn Martin Lorrimer warf höhnisch ein: »Hoffentlich hatte diese Frau mehr Glück, Fräulein Hebamme. Hoffentlich brauchte sie nicht so lange zu warten in – ihrer Not. Hören Sie gut zu, Fräulein Böhm, ich weiß nicht, wie groß Ihre Schuld am Tode meiner Frau ist, denn im Hospital sagte mir ja niemand etwas. Das kennt man doch! In – Ihrer Branche hält man fest zusammen. Nun, wie auch immer, meiner Frau ist doch nicht mehr zu helfen. Aber ich habe ihr ein Gelöbnis ablegen müssen in der Stunde ihres Todes, und daran werde ich mich halten. Genauer gesagt, daran werden Sie sich halten, Fräulein Böhm.«

Verwirrt und unruhig hatte Waltraud zugehört. Nun hielt sie es nicht mehr auf ihrem Platz. Sie erhob sich und trat an den Schreibtisch, blickte den Mann aus ihren tiefblauen Augen bestürzt an. Das Licht fiel voll auf ihr blasses müdes Gesicht und ließ ihr helles Haar matt glänzen.

Waltraud wußte nicht, daß sie in diesem Augenblick der Ratlosigkeit sehr hübsch und fraulich wirkte, doch Martin Lorrimer sah es nur zu gut, und seine Miene versteinerte sich noch.

Was hatte Inge sich eigentlich dabei gedacht, als sie ihm in ihrer letzten Stunde ein solches Versprechen abverlangte?

Doch Martin Lorrimer hütete sich, seine Gedankengänge fortzusetzen, sonst würde er vielleicht sein Inge gegebenes Wort brechen wollen, brechen müssen. Dabei hatte er den festen Vorsatz, es zu halten. Schon im Interesse seiner Kinder.

»Woran soll ich mich halten, Herr Lorrimer?« fragte Waltraud nun, immer noch den Blick auf sein Gesicht geheftet.

Nun verengten sich Lorrimers Augen etwas, wobei er ungerührt sagte: »Sie werden so lange hier in meinem Haus bleiben, bis ich jemanden gefunden habe, der meine Kinder gut versorgt. Das habe ich meiner Frau versprechen müssen.«

Da wich die schreckliche Anspannung von Waltraud, und erleichtert stieß sie hervor:

»Aber das ist doch selbstverständlich, Herr Lorrimer. Ich lasse doch den kleinen süßen Jungen nicht im Stich, und auch Liesel – ich meine, es wird dem Kind bestimmt schwerfallen, auf seine Mama…«

Da war es um ihre Beherrschung geschehen. Sie warf sich jäh herum und lief hinaus.

Sie taumelte in die Diele, blind von Tränen, mit wehem Herzen und einer tiefen quälenden Schuld, die sich nicht mehr zurückdrängen ließ.

Da war die Haustür! Waltraud riß sie auf, prallte etwas zurück von der Wucht des Schneesturms und der eisigen Kälte der frühen Nacht. Aber dann war der erste Schock überwunden, und sie stürzte hinaus in die Dunkelheit.

Wie lange sie lief, konnte sie später nicht mehr sagen. Sie rannte mit jagendem Atem, der wie spitzer Eiszapfen in die Lungen stieß. Sie trug nur einen leichten Wollpulli und den passenden Jerseyrock dazu, aber sie spürte die Kälte nicht. Ihren weißen Hebammenkittel hatte sie vorhin abgelegt. Doch sie trug noch ihre warmen Stiefel, die in dem frisch gefallenen Schnee einsackten.

Um sie herum herrschte Finsternis, und das Haus lag schon weit hinter ihr.

Eine dicke, winterkahle Eiche stand hier, an deren Stamm sich Waltraud mit dem Rücken anlehnte und ihr Gesicht zu den schwarzen Silhouetten der Äste aufhob. Von hier aus waren sie nackt und tot, doch wenn man sie nicht so nahe sah, trugen sie weiße Schneekuppen und sahen hell und freundlich aus.

Licht und Schatten, wie nahe alles beieinanderlag. Tod und Leben gleichfalls.

Flüchtig fuhr sie sich einmal über das Gesicht, als der Schnee zu sehr in ihre Augen trieb. Sonst stand sie da und rührte sich nicht, denn das grauenvolle Erlebnis raubte ihr alle Lebenskraft. Es war ihr, als sei sie selber durch den Tod der jungen Mutter gestorben.

Plötzlich stampfte durch den Schnee eine dunkle große Gestalt auf sie zu, und Herr Lorrimer sagte rauh und zornig: »Was soll dieser Unsinn? Kommen Sie sofort ins Haus, Sie können sich ja hier den Tod holen.«

Im gleichen Moment erkannte er den makabren Hohn, der in seinen Worten lag, und packte die stille Gestalt der jungen Hebamme hart beim Arm. »Leider kann ich Sie nicht gegen meine Frau eintauschen, und eine Tote genügt mir für heute. Meine Kinder haben nichts von Ihnen, wenn Sie hier zum Eiszapfen werden.«

Willenlos ließ sich Waltraud von ihm fortziehen, heraus aus dem hohen Schnee, ließ sich wie eine Marionette ins Haus führen und wünschte wirklich, daß sie tot sei und dafür Inge Lorrimer noch lebe.

*

Das Haus war groß und besaß ein gemütliches Gästezimmer, in das hinein Herr Lorrimer die junge Hebamme führte.

»Nebenan befindet sich eine Dusche mit Toilette«, sagte er kurz. »Sie haben hier Ihr Reich und können tun und lassen, was Sie wollen, wenn Sie die Kinder versorgt haben. Nennen Sie mir Ihr Gehalt als Hebamme, damit ich Ihnen den gleichen Betrag monatlich auf Ihr Konto überweisen kann. Das wäre es wohl fürs erste.«

Damit wandte Martin Lorrimer sich brüsk ab und schloß hinter sich die Tür. Waltraud stand wie betäubt mitten im Raum und fühlte sich wie vernichtet.

Wie ging dieser Mensch nur mit ihr um? Als sei sie eine üble Verbrecherin.

Als sie sich endlich dazu aufraffen konnte zu protestieren, war es zu spät und Martin Lorrimer schon aus dem Korridor verschwunden.

Waltraud blieb in der Tür stehen, die sie empört aufgerissen hatte, um den Mann zurückzurufen. »So geht es nicht, Herr Lorrimer«, wollte sie ihm entgegenschleudern. »Was denken Sie sich denn eigentlich? Mir den gleichen Betrag auf mein Konto überweisen?! Das klingt ja gerade so, als sei ich hier für längere Zeit zu Ihrer Haushälterin degradiert. Ich bin jedoch Hebamme. Verstehen Sie?!«

Doch dann brach ihre zornige Auflehnung in sich zusammen. Zitternd vor Kälte und seelisch völlig ausgebrannt, wankte sie zurück in den Raum, blickte auf das Bett und spürte nur noch den einen Wunsch, sich hinzulegen und zu schlafen.

Fast automatisch schnürte sie ihre Stiefel auf, streifte sie ab, den Rock und den Pulli auch, um sich dann mit klappernden Zähnen unter das warme Federbett zu kuscheln.

Kaum lag sie eingehüllt in Wärme und Dunkelheit, als ihr auch schon die Lider schwer über die Augen fielen.

Waltraud schlief sofort ein, bis ein energisches Klopfen an der Tür sie aufschreckte.

Verwirrt blickte sie sich zunächst in dem fremden Raum um, bis ihr jäh der gestrige Tag in Erinnerung kam.

Hastig schlug sie das Federbett zurück, sprang auf und griff schon zu ihren Kleidungsstücken.

»Ich komme sofort!« rief sie dabei.

»Der Junge schreit! Was – soll ich tun?« drang Martin Lorrimers Stimme eine Spur freundlicher an ihr Ohr.

»Gar nichts! Bin ja schon da!« Waltraud schnürte den Stiefel zu, blickte rasch auf ihre Armbanduhr. Die erste Mahlzeit für den Säugling war in einer halben Stunde fällig. Gut, daß der kleine Kerl sich schon meldete. Ein gutes Zeichen. Während sich die Schritte von Lorrimer im Korridor entfernten, betrat Waltraud das angrenzende kleine Duschbad, entdeckte dort eine Zahnbürste, außerdem Kamm und Seife.

Rasch machte sie oberflächlich Toilette und ging dann über den Korridor zum Elternschlafzimmer hinüber.

Dort stand die Tür offen, Martin Lorrimer war bei seinem Sohn. Er blickte nur auf, ehe er mit überaus zärtlichen, behutsamen Bewegungen die Wiege weiter schaukelte.

Als Waltraud an seine Seite trat und leise guten Morgen wünschte, erntete sie einen kühlen Blick und – Schweigen.

Seufzend hob sie die Schultern, nahm das Kind auf und trug es hinüber zur Wickelkommode, um es rasch und geschickt in frische Windeln zu hüllen. Später würde sie dem Jungen ein Bad herrichten. In der warmen Küche unten.

»Ich gehe in die Küche«, sagte Waltraud, »und mache dem Jungen sein Fläschchen fertig. Wo ist denn Liesel? Hatte sie schon ein Frühstück?«

Das Kind im Arm, schritt sie zur Tür, gefolgt von dem Mann, der heute etwas gefaßter wirkte.

»Wir haben schon gefrühstückt«, entgegnete er und blickte dabei angestrengt auf den Säugling, der immer noch schrie, was ihm anscheinend Sorgen bereitete. »Warum weint der Junge so? Fehlt ihm etwas?«

Da ging ein Lächeln über Waltrauds Gesicht, und unwillkürlich drückte sie das Kind ein wenig fester an ihre Brust. »Der kleine Bengel ist hungrig, und er sagt es uns mit seinem ganzen ungestümen Vokabular, das ihm mitgegeben wurde auf diese Welt. Ja, mein Süßer, du bekommst gleich eine erste Kostprobe dessen, was dir weiterhelfen wird, ein prächtiger Bub zu werden.«

All die Liebe und Fürsorge, die in Waltrauds Herzen für das mutterlose Baby war, konnte man ihrem Gesicht ablesen, und Martin Lorrimer, der die junge Hebamme scharf beobachtete, begriff in dieser Sekunde seine sterbende Frau, als sie ihn bat, dafür zu sorgen, daß Waltraud Böhm bei dem Kind bliebe, das sie das Leben gekostet hatte.

Seine düstere Miene hellte sich etwas auf, und als Waltraud später dem Kind das Fläschchen gab – und sein Sohn es genüßlich schmatzend leerte –, da glitt auch um seinen Mund ein flüchtiges Lächeln.

Er blickte auf das Kind in Waltrauds Arm und lächelte es an, wie wohl jeder stolze Vater seinen Sohn freudig anlächelte.

Die kleine Liesel stand dabei und betrachtete ihr Brüderchen angestrengt, wobei sein seltsamer Ernst das Kindergesicht beherrschte. »Es ist bestimmt ganz in Ordnung, Waltraud? Es fehlt ihm gar nichts? Das wird Mama aber freuen.«

Dabei hob ein befreiter Atemzug die schmale Kinderbrust. Martin Lorrimer starrte sein Töchterchen betroffen an. »Was redest du nur für dummes Zeug? Warum sollte der Kleine nicht – in Ordnung sein?«

Auch Waltraud fühlte sich wieder einmal von den Worten des Kindes tief betroffen, mehr noch davon, daß Liesel immer noch nichts vom Tod der Mutter ahnte.

Sie warf dem Mann einen fragenden Blick zu, und Lorrimer wußte genau, was er zu bedeuten hatte. Sein Mund preßte sich schmerzlich-hart zusammen, er trat brüsk von seinen Kindern fort zur Tür. Von dort fragte er: »Werden Sie nach St. Blasien hineinfahren und sich Ihre Sachen holen? Schließlich haben Sie bestimmt einiges zu regeln. Liesel geht heute nicht in die Schule, ich – habe sie schon telefonisch entschuldigt. Wir – haben noch einiges zu bereden, Spätzchen. Kommst du dann zu mir ins Büro? Ja, wenn das Brüderchen wieder in der Wiege schläft. Solange darfst du schon bei ihm sein.«

Waltraud hob das Kind etwas in die Höhe, sandte dem Mann einen Blick zu und meinte leise: »Ich rufe mir später eine Taxe, mein Wagen steht ja noch irgendwo zwischen den Pappeln auf der Landstraße.«

»Der ist längst in der Werkstatt«, gab Martin Lorrimer zurück. »Habe ihn ja gestern dort gesehen und heute in der Frühe die Werkstatt angerufen, damit man ihn abschleppt.«

Überrascht bedankte Waltraud sich, doch Martin Lorrimer wehrte unwirsch ab. »Fahren Sie also mit einer Taxe in die Stadt, ich passe indessen auf meinen Sohn auf. Und – ich rede mit meiner Tochter. Das – dürfte wohl noch schwieriger für mich sein.«

Er zögerte, blickte von dem kleinen zarten Mädchen auf die junge Frau, die nun das Baby wieder in seine Decke hüllte. Jede ihrer Gesten zeugte von behutsamer, ruhiger Mütterlichkeit.

»Kommen Sie zurück?« fragte er darum nun und konnte den Groll in seiner Stimme dennoch nicht gänzlich auslöschen. Nach wie vor gab er ihr die Schuld am Tod seiner Frau.

»Ich komme zurück«, hörte Waltraud sich dennoch ruhig antworten.

Er starrte sie mit unbewegter Miene an. »Gut! Ich erwarte, daß Sie Ihr Wort halten.«

Damit ging er hinaus.

Still saß Waltraud da und blickte auf das Kind in ihrem Schoß. Am liebsten hätte sie wieder geweint, doch da war ja noch die kleine Liesel mit ihren großen, immer noch angstvollen Augen. Sie stand dicht an ihrer Seite und legte nun eine Hand vorsichtig auf die Decke des Brüderchens. »Wie gut, daß du bei uns bleibst, Waltraud«, sagte sie dabei mit ernsthafter Stimme.

O Gott! Bestürzt legte Waltraud einen Arm um die schmalen Schultern des Kindes. Ob Liesel ahnte, daß ihre Mutter nicht wiederkommen würde?

»Komm, Kleines, bringen wir das Brüderchen hinauf in die Wiege. Wie soll es denn heißen, Liesel? Habt ihr schon einen Namen ausgesucht?«

»O ja!« Die Achtjährige nickte eifrig. »Er soll Felix heißen. Mama sagt immer, das bedeutet der Glückliche. Klingt das nicht schön? Der Glückliche! Ich will, daß mein Brüderchen immer glücklich ist.«

Nachdenklich betrachtete Waltraud den kleinen Jungen und überlegte, ob sein Vater auch jetzt noch mit diesem Namen einverstanden sein konnte. Felix, der Glückliche, der seine Mutter das Leben kostete.

*

»Das gefällt mir nicht, Waltraud«, erregte sich Frau Böhm zwei Monate später und sandte der Tochter einen scharfen Blick zu.

Auch heute wieder saß Waltraud bei ihr in der gemütlichen Küche, doch welch ein Unterschied bestand zwischen jenem stürmischen, schneereichen Tag und heute.

Heute schien eine strahlende Wintersonne durch die Scheiben des kleinen Fachwerkhauses, ohne jedoch die trüben Schatten vom Gesicht der jungen Hebamme fortzaubern zu können.

Waltraud blickte stumm vor sich auf den Teller, stocherte lustlos im Kuchen, den Frau Böhm ihr mit einer guten Tasse Kaffee vorgesetzt hatte.

»Es gefällt mir durchaus nicht«, wiederholte Frau Böhm energisch, »und Peter gefällt es noch viel weniger. Denke doch mal an Peter Maier, den netten Apotheker, von dem ich fest glaube, daß er dich mag. Mehr noch, daß er dich liebt, und du liebst ihn auch. Nun lebst du dort drüben im Mühltal bei diesem Witwer und seinen beiden Kindern. Schön! Die ersten Tage ging es an, war es Christenpflicht, dem Mann beizustehen, doch nun ist es genug. Inzwischen hätte er längst jemanden für den Buben ins Haus holen können. Eine tüchtige Haushälterin, keine Hebamme. Die braucht er längst nicht mehr, der kleine Ulrich. Aber du, Waltraud, du brauchst wieder Arbeit in deinem Beruf, und es ist genug da. Die alte Frau Speidel jammert und klagt, daß sie es allein nicht mehr schafft.«

Da schob Waltraud endgültig ihren Teller zurück, auf dem der Kuchen nahezu unberührt lag. »Mutter«, brach es gequält aus ihr heraus, »ich kann es doch gar nicht mehr. Verstehst du denn nicht? Ich kann keiner Wöchnerin mehr beistehen in ihrer schweren Stunde. Immer sehe ich Frau Lorrimer vor mir, erlebe die furchtbaren Minuten erneut. Es – ist wohl noch zu früh.«

Ihre Stimme war leise, doch Frau Böhm hatte gut zugehört. Obwohl sie sich um Verständnis bemühte, mußte sie ihren Ärger loswerden. Den Ärger, der zugleich tiefe Sorge um Waltraud beinhaltete. Sie zürnte ja auch mehr diesem Witwer als ihrem Kind.

»Ich finde, daß Martin Lorrimer dich ausnutzt, daß er deine Sympathie, die du seinen Kindern entgegenbringst, sehr klug für sich auszuwerten versteht. Eine bessere und billigere Kraft als dich findet er wohl auch nie. Das ist es, was mich so wurmt. Dazu kommt noch das Getuschel der Leute hier in der Stadt. Lorrimer ist ja ein Mann in den besten Jahren, dazu stattlich gewachsen und von angenehmem Äußeren. Da kommt ein junges Mädchen schnell in Verruf, auch wenn sie noch so zurückhaltend ist. Peter Maier wird genauso denken, wenn er es auch niemals zugeben würde.«

Waltraud erhob sich und ging in die Diele, gefolgt von ihrer aufgeregten Mutter. »Wenn Peter mir nicht vertraut, ist es vielleicht besser, unsere Freundschaft etwas zu – lockern«, meinte sie. »Ich kann im Augenblick noch nicht fort von oben, doch Herr Lorrimer hat mir versprochen, sich nun ernsthaft um jemand anderen zu bemühen. Er hat viel zu tun, und – der Junge braucht ja auch noch eine fachkundige Hand. Er ist ja erst acht Wochen alt, meine Güte! Ach, Mutter…«

Nun packte Waltraud echte Verzweiflung, und sie barg ihr Gesicht flüchtig an der Schulter der älteren Frau, die nun beide Arme um sie legte. »Mutter, als ob es so einfach für mich sei, dort im Mühltal bei dem schweigsamen, sonderbaren Menschen, der niemanden an sein Herz heranläßt. Nicht einmal seinen kleinen Sohn. Er meidet selbst den süßen kleinen Jungen, er kennt nur seine Arbeit, sonst nichts. Keine Freude, keine Stunde der Besinnung. Martin Lorrimer betäubt sich mit harter Arbeit, und oftmals frage ich mich, ob er nur den Schmerz um seine verstorbene Frau betäuben will oder noch anderes. Etwas, von dem ich nichts weiß, nichts wissen kann, denn er spricht ja kaum mit mir.«

Nun war Frau Böhm doch tief erschüttert über den Gefühlsausbruch ihrer Tochter, die sich sonst stets verschlossen zeigte während der wenigen Besuche, die sie aus dem Mühltal hierhergeführt hatten.

Waltraud schien sich demnach selber fortzusehnen von Martin Lorrimer, der allgemein als schwierig und wenig mitteilsam bekannt war. Gewiß hatte sich das eher vertieft seit dem Tode seiner Frau.

»Schon gut, Kindchen«, sagte Frau Böhm darum beschwichtigend und streichelte sanft über das hübsch frisierte Haar der Tochter. Weich und duftig fühlte es sich an.

Waltraud blickte die Mutter an, lächelte ihr eine Spur hilflos zu und entschuldigte sich nun: »Es tut mir leid, Mama, daß ich dir Sorgen mache, aber eigentlich sind die völlig überflüssig. Es geht mir – nicht schlecht bei Herrn Lorrimer. Bestimmt nicht! Ich kann tun und lassen, was mir Spaß macht, und gehe viel mit den Kindern spazieren. Ist ja sehr schön im Mühltal. Zumal es jetzt schon sonnig ist und wärmer.«

Ja, das mochte alles stimmen, und eigentlich sah Waltraud auch recht gut aus, hatte eine frische Hautfarbe und einen freien, klaren Blick.

Dennoch! Spazierengehen immer mit zwei Kindern im Schlepptau. Das war es, was Frau Böhm störte. Denn wußte man, was dem Witwer so – vorschwebte? Ob er diesen Zustand nicht immer so belassen wollte?

Daraus wird nichts, dachte Frau Böhm voller Entrüstung. Meine Waltraud und der nette Apotheker kennen sich schon von Kindesbeinen an und mögen sich von Herzen gern. Da kann jetzt wegen zwei armer mutterloser Kinder nicht alles umgekrempelt werden. Aber genau da sieht Herr Lorrimer eine schwache Stelle bei Waltraud und nutzt sie aus. Er ist ja nicht blind und sieht sehr gut, wie prächtig der Junge gedeiht. Wie meine Waltraud seine Kinder liebt und umhegt, das nutzt er aus, der kluge Mann, und Waltraud merkt es nicht einmal.

Seufzend betrachtete Frau Böhm ihre Tochter, die schon wieder einen nervösen Blick zur Wanduhr hinsandte und erklärte:

»Ich muß fort, Mama. Bitte, sei nicht böse, aber der Kleine gebärdet sich recht ungestüm, wenn er seine Mahlzeit nicht pünktlich bekommt.«

»Ja, ja! Das kenne ich mittlerweile«, entgegnete Frau Böhm leicht amüsiert. »Hoffen wir also, daß sich bald jemand findet für – den Forellenzüchter und seine lieben Kleinen. Vielleicht seine Schwägerin aus Baden. Ja, Waltraud, sieh mich nicht so bestürzt an. Habe beim Friseur ganz zufällig mit angehört, wie Resi es erzählte. Die verstorbene Frau Lorrimer habe in Baden eine Schwester, die in der ehemaligen Gaststätte des Herrn Lorrimer immer noch tätig sei. Als Serviererin. Die Verstorbene habe es ihr einmal erzählt. Es sei ihr wohl so herausgerutscht, und hinterher sei sie recht schweigsam geworden, als sei es ihr unangenehm, davon etwas erwähnt zu haben.«

Verwundert hatte Waltraud zugehört. Nun sagte sie nachdenklich: »Sonderbar, Mama! Da war aber keine Schwester auf der Beerdigung. Stimmt das auch? Herr Lorrimer sagte mir doch, es gebe niemanden, der sich um seine Kinder kümmern könne. Er müsse sich eine Fremde suchen. Darum sei es ja so schwierig.«

Frau Böhm hob eine Braue, betrachtete die Tochter skeptisch und meinte: »Ich glaube der Resi, daß es diese Schwester gibt. Doch mir kommen leise Zweifel, ob Lorrimer überhaupt eine Todesanzeige verschickt hat, damit du es nur weißt. Der Lorrimer ist ein ganz sonderbarer Mensch, und ich wünschte, du wärst nicht so allein mit ihm drüben im Mühltal.«

*

Vieles ging Waltraud durch den Kopf, während sie zum Mühltal zurückfuhr. Das Verhalten von Martin Lorrimer erschien ihr oftmals sehr seltsam. Obwohl sie doch beispielsweise schon über zwei Monate in seinem Haus lebte, war die Fremdheit zwischen ihnen um nichts gesunken. Im Gegenteil, der Mann kapselte sich immer mehr von ihr und somit auch von seinen Kindern ab.

Schon sehr früh am Morgen verließ er das Haus, bereitete sich sein Frühstück auch stets selber zu und war längst drüben in der alten Mühle und bei den angrenzenden Fischteichen, wenn Waltraud mit dem Jungen hinunter in die Küche kam, ihn badete, später Liesel aufweckte, um sie für die Schule fertig zu machen. Wenn dann der Schulbus auf den Hof fuhr, stand Martin Lorrimer allerdings meistens bereit und half seiner kleinen Tochter in den Bus.

Dann kam er kurz zu Waltraud in die Küche, betrachtete eine Weile schweigsam seinen Sohn, der nicht Felix getauft worden war, sondern den Namen Ulrich erhalten hatte.

Nach einer halben Stunde ungefähr, indem er sich den vergnügten und prächtig gedeihenden Jungen betrachtet hatte, besann Martin Lorrimer sich kurz auf die junge Frau, die so still und umsichtig in seinem Haus waltete und seinen Kindern wahrhaft voll die Mutter ersetzte. Er fragte Waltraud nach diesem und jenem, wollte wissen, ob sie alles im Hause habe oder etwas aus der Stadt benötige. Kurzum, er widmete ihr, wenn es hoch kam, eine Viertelstunde, mehr nicht. Dann verließ er wieder das Haus, und Waltraud bekam ihn für den Rest des Tages höchstens aus einiger Entfernung zu Gesicht. Wo er zu Mittag aß, wußte sie nicht. Als sie ihn am Anfang erstaunt gefragt hatte, warum er denn nicht zum Essen erscheine, hatte er ihr knapp geantwortet, dazu sei sie nicht da. Nicht für ihn. Für sein Wohl könne er selber sorgen. Sie sei ausschließlich für die Kinder da. Damit habe sie genug zu tun. So standen die Dinge zwischen ihnen, als ihre Mutter heute so ungehalten reagierte, und Waltraud mußte ihr insgeheim zustimmen. So konnte es nicht weitergehen. Kein Mensch ertrug auf die Dauer eine solche Nichtachtung, die ihr von Martin Lorrimer entgegengebracht wurde. Dabei…

Versonnen schüttelte Waltraud den Kopf, bog nun mit ihrem längst reparierten Wagen ins Mühltal ein. Dabei war Martin Lorrimer trotz alledem ein zärtlicher, fürsorglicher Vater und zeigte auch ihr gegenüber während der kurzen Zeit, da sie einander begegneten und redeten, eine, wenn auch kühle, Höflichkeit, die sie anfangs nicht von ihm erwartet hatte. Er sorgte auch dafür, daß ihr die Arbeit nicht zu viel wurde, fuhr regelmäßig zum Einkaufen, brachte die große Wäsche aus dem Haus und holte sie wieder ab. Dies alles tat er schweigend und mit großer Selbstverständlichkeit, und am Ersten jeden Monats entdeckte Waltraud auf ihrem Konto einen Betrag, der von Martin Lorrimer eingezahlt worden war und in etwa ihrem Gehalt als Hebamme entsprach. Woher er die Summe wußte, ahnte sie nicht, denn von ihr hatte er nichts darüber erfahren. Sie wollte kein Geld für das, was sie für die Kinder tat. Sie fühlte sich am Tod von Frau Lorrimer immer noch schuldig, obwohl ihr Gewissen sie freisprach von jedem Versagen.

Zum Glück hat Liesel sich wieder gefangen, dachte Waltraud nun und parkte ihren Wagen hinter dem Haus. Es dämmerte schon, doch sie wußte den Hausherrn bei den Kindern. Das hatte sie ihm klipp und klar gesagt. Hatte gesagt, einmal in der Woche müsse sie am Nachmittag ein paar Stunden frei haben, um ihre Mutter zu besuchen. Dann habe er bitte im Haus zu sein bei den Kindern. Das – sei selbst Hausangestellten vergönnt.

Waltraud lächelte in sich hinein, als ihr sein verdutztes Gesicht wieder einfiel, das er damals machte, als sie, eigentlich nur dieses eine Mal, so energisch zu ihm sprach. Doch er fügte sich widerstandslos, und so konnte sie beruhigt in die Stadt fahren, denn im Grunde war niemand zuverlässiger als Martin Lorrimer. Auch das wußte sie mittlerweile.

Ja, die kleine Liesel vermißte ihre Mutter am Anfang sehr, und oft mußte Waltraud das sensible Kind trösten. Doch nun war die schlimmste Zeit gottlob vorbei, und nun lachte die Kleine manchmal sogar wieder herzlich auf.

Ein paar Päckchen lagen auf dem Rücksitz des Wagens. Waltraud holte sie hervor, verschloß ihr Auto und begab sich ins Haus, das ihr eigentlich schon sehr vertraut geworden war. Aber es war ja auch ein sehr gemütliches Haus, und es war das Zuhause zweier Kinder.

Ein Haus, in dem Kinder leben, ist ein wirkliches Zuhause, dachte die junge Frau und horchte in der Diele amüsiert auf die Stimme des Mannes, der versuchte, den quengelnden Jungen zu beruhigen.

Ullis Eßzeit war gekommen, und er machte es seinem Vater unmißverständlich klar.

»Ja, Bub, ja! Sie kommt sicher gleich. Sie vergißt doch unseren Ulli nicht. Das Fräulein Hebamme mag sein, wie es will, doch dich vergißt es nicht. Still, mein Sohn!«

Dazwischen meldete sich nun Liesel: »Du hättest es längst schon lernen sollen, sein Fläschchen warm zu machen, Papi. Ist doch gar nicht schwer. Wenn nun die Waltraud mal krank wird?«

»Davor behüte uns der Himmel«, rief Martin Lorrimer aus, und vor Verwunderung vergaß Waltraud draußen in der Diele ihren Mantel auszuziehen. Wie verändert die Stimme des Mannes klang! Keine Spur mürrisch, sondern belustigt und herzlich.

Dazwischen jedoch wurde nun das Quengeln des Babys lauter. Rasch streifte Waltraud ihren Mantel ab und öffnete die Tür zur Küche.

Der Mann und das kleine Mädchen standen vor dem Stubenwagen, in dem das Baby kräftig strampelnd lag und mit beiden Fäustchen in der Luft umherwirbelte.

»Da sind Sie ja endlich«, sagte Martin Lorrimer und warf ihr einen kurzen Blick zu, ehe er sich abwandte und die Küche verlassen wollte.

Doch diesmal kam er nicht weit.

»Herr Lorrimer!« Waltraud nahm den Jungen auf, und ohne den Blick von ihm zu nehmen, sagte sie ruhig: »Ich muß später mit Ihnen reden. Bitte, bleiben Sie im Haus, sonst müßte ich Sie draußen in der alten Mühle suchen, und das gefällt mir nicht.«

Damit wandte sie ihm den Rücken zu, ging zum Tisch und legte das Baby auf die mitgenommene Unterlage. »Komm, Liesel, gib ein wenig mit acht aufs Brüderchen. Ich wasche mir nur schnell die Hände.«

»Reden? Was gibt es denn?« Martin Lorrimer kam zurück, stellte sich an den Tisch und nahm eines der kleinen Bubenhändchen in seine große kräftige Hand.

Er vermied es gleichfalls, Waltraud anzusehen, doch in seiner Stimme lag eine gewisse Spannung.

»Später«, sagte sie kurz und nahm die sterile Säuglingsflasche aus dem Glasbehälter, um sie mit der Babynahrung zu füllen.

Nun schaute Martin Lorrimer doch zu ihr hin, und ihre Blicke begegneten einander. Seine hellen Augen verengten sich flüchtig, ein Zeichen seiner konzentrierten Aufmerksamkeit, das kannte Waltraud schon an ihm. Sie kannte sein markantes Gesicht, den Mund, der oftmals zu einem seiner Kinder überraschend zärtliche Worte aussprechen konnte. Nicht zu ihr! O Gott! Da könnte sie wohl lange warten. War wohl auch zu viel verlangt. Aber eine Spur freundlicher könnte er schon sein. Da vergab er sich doch nichts. Oder wenigstens mal am Abend da sein, anstatt draußen in der alten Mühle bis in die Nacht hinein über irgendwelchen Verbesserungsplänen zu brüten. Er hatte sich sein Büro drüben eingerichtet, einen alten Ofen hineingestellt und neuerdings sogar ein Sofa. Wahrscheinlich würde er demnächst dort übernachten und überhaupt nicht mehr sein gemütliches Haus betreten. Nein, so ging es nicht weiter. Ihre Mutter hatte vollkommen recht, eine andere mußte her, und zwar schnell.

Martin Lorrimer hüllte sich in Schweigen, doch er verließ das Haus nicht, sondern begab sich mit einigen Zeitungen ins Wohnzimmer. Das geschah, während Waltraud später das Baby hinauf in ihr Zimmer brachte. Darauf hatte sie damals bestanden. Daß der Junge samt seiner Wiege zu ihr ins Zimmer kam. Denn sie mußte ja auch nachts nach ihm sehen, und in das Eheschlafzimmer hineinzugehen, mutete Martin Lorrimer ihr nicht zu. Doch gern hatte er die Wiege nicht von dort fortgetragen. Heute noch glaubte Waltraud sein starres bleiches Gesicht zu sehen, als er die hübsche buntbemalte Bauernwiege vom Fenster wegholte, um sie im Gästezimmer, das viel kleiner war, dicht neben Waltrauds Bett hinzustellen.

Sie stand noch immer dort, und Waltraud legte das Kind hinein, blickte auf die Wiege hinab und spürte einen wilden Schmerz im Herzen. Er kam so stark und überraschend, daß ihr die Knie plötzlich zu zittern begannen und sie sich auf der Kante ihres Bettes niederlassen mußte.

Dort saß sie und blickte das Kind in der Wiege an, bis alles vor ihren Augen verschwamm. Sie schloß und öffnete ein paarmal die Augen, und die Tränen rannen über ihre Wangen. Es war ein sonderbares, unwirkliches Spiel, das sie mit ihrem wehen Herzen und den tränenerfüllten Augen trieb. Die Tränen sollten verschwinden, ihr Blick mußte wieder klar werden und ihr Herz frei von Schmerzen, und dies alles sollte ohne ihr Dazutun geschehen. Nur so! Kraft ihres Verstandes. Aber es wollte ihr nicht gelingen.

Immer mehr Tränen strömten statt dessen aus ihren Augen, und der Schmerz in ihrem Herzen verstärkte sich noch.

Sie liebte den kleinen Jungen hier schon heiß und innig, und sie – liebte überhaupt. Oh, was alles in diesem Haus hatte sie liebengelernt in den Wochen ihres Hierseins! Nicht zu fassen!

Sie vergab ihr ganzes Herz und – erhielt doch nichts zurück. Sie ging wahrlich mit leeren Händen, doch sie mußte schnell gehen, denn jeder Tag würde sie ein bißchen mehr Herzblut kosten.

»Sagen Sie mal, was – ist denn mit Ihnen passiert?« Im Türrahmen stand Herr Lorrimer, Pantoffel an den Füßen, was Waltraud völlig neu war. Er starrte sie verwundert an und fügte besorgt hinzu: »Fehlt dem Jungen was?«

»Nein, nein!« Hastig wischte sich Waltraud mit dem Handrücken über die Wangen, erhob sich und löschte schnell das Licht auf dem Nachttisch. So drang jetzt nur noch die Korridorbeleuchtung zu ihr herein, und der Mann konnte ihre Tränen nicht sehen. »Wo ist Liesel?«

»Schon im Bett«, entgegnete Martin Lorrimer. »Mit geputzten Zähnen und gekämmtem Haar. Wußte gar nicht, daß es so schwierig ist, kleine Mädchen ins Bett zu komplimentieren. Werde wohl noch viel dazulernen müssen.«

»Allerdings«, gab Waltraud trocken zurück, die seine Worte passend als Einleitung für das kommende Gespräch fand. »Ich mache mich nur schnell etwas zurecht, dann komme ich zu Ihnen hinunter ins Wohnzimmer.«

Schweigend trat er tiefer in den dämmrigen Raum, trat an die Wiege und schaute hinein. »Ich kann mir denken, worüber Sie mit mir reden möchten, Waltraud«, sagte er unvermittelt.

Sie wunderte sich ein wenig über die Anrede, die er wählte. Zum ersten Mal hatte er sie mit ihrem Vornamen angesprochen. Und nun schien er es selber erst zu merken, hob den Blick zu ihr auf und fügte stirnrunzelnd hinzu: »Der Kinder wegen sollten wir uns auf eine weniger steife Anrede einigen. Finden Sie nicht auch? Sagen Sie doch Martin zu mir. Ist ja auch kürzer.«

Na ja! Fast hätte Waltraud bitter aufgelacht. »Also gut, Martin, kommt zwar etwas spät, doch ich bin einverstanden.«

Nun hatte sie ihn anscheinend verärgert, denn er drehte sich abrupt um und schritt hinaus.

Waltraud begab sich in ihr kleines Bad und versuchte, die Tränenspuren zu tilgen, so gut sie es vermochte.

Sie kämmte sich flüchtig das Haar und fand es etwas zu lang geworden. Sie mußte unbedingt zum Friseur, doch eigentlich wirkte es sehr hübsch, wie es sich an den Spitzen etwas kringelte und bis auf die Schultern fiel. Ihre Augenlider waren noch leicht gerötet, aber Martin Lorrimer würde sie bestimmt nicht so genau anschauen. Im Grunde sah er ja immer noch durch sie hindurch.

Doch Waltraud irrte sich, denn Martin Lorrimer fragte als erstes ziemlich erstaunt: »Warum haben Sie vorhin geweint, Waltraud? Gibt es einen Grund?«

Er saß unmittelbar neben der Stehlampe, die über ihn hinweg ihr Licht in den gemütlichen Raum verströmte. Die Schiebetür zum Eßzimmer stand weit offen, dort strahlte der grüne Kachelofen seine Wärme bis zu ihnen herein ab.

Waltraud ließ sich in einem zweiten Sessel nieder, schlug die Beine über­einander und wappnete sich mit Nüchternheit. »Natürlich habe ich vorhin geweint, und das hat seinen Grund. Schließlich habe ich ein Herz im Leib und keinen Stein. Es – tut mir einfach leid, Ulli und Liesel verlassen zu müssen. Doch es muß ja einmal sein. Und darüber möchte ich mit Ihnen reden, Martin.«

Ruhig hatte er zugehört, und sein Gesicht wirkte unergründlich gelassen. Es regte Waltraud auf, machte sie fast zornig, vor allem, weil er so hartnäckig schwieg. Saß da und blickte sie an, als ginge ihn das alles gar nichts an.

So fauchte sie ihn fast zornig an: »Haben Sie sich endlich um – um eine Haushälterin bemüht? Nein, nicht wahr? Sie tun es nicht! Obwohl ich Ihnen schon so oft gesagt habe…«

»Das weiß ich«, warf er plötzlich leise ein. So leise, fast sanft, daß Waltrauds Zorn jählings verrauchte.

Erschöpft wie nach einer schwierigen Arbeit, lehnte sie sich im Sessel zurück, blickte in das kühle Männergesicht und wußte auf einmal nichts mehr zu sagen.

Die Minuten verrannen, ohne daß ein Wort gesprochen wurde. Martin Lorrimer saß lässig da und blickte fast interessiert zu ihr herüber, als erwarte er, daß sie weiterreden würde.

Als sie jedoch schwieg, von ihm fort an den angrenzenden dunklen Eß­raum blickte, fragte er plötzlich: »Stimmt es, was man sich in St. Bla­sien erzählt? Daß Sie – den Apotheker zu heiraten beabsichtigen, Waltraud? Ich traf den Doktor, und er machte eine Anspielung dieser Art. Ist ja sein Neffe, der Peter Maier. Nun wird Ihnen angst und bange, Ihr – guter Ruf könnte durch mich in Mitleidenschaft gezogen werden. So ist es doch, nicht wahr? Obschon ich Sie eigentlich anders eingeschätzt habe.«

Zum Schluß klang seine Stimme außerordentlich belustigt, als habe er einen guten Witz erzählt.

Waltraud erblaßte, spürte im nächsten Moment ihr Blut heiß in die Wangen zurückströmen. »So! Nun werde ich Ihnen mal sagen, was man sich noch in St. Blasien erzählt, Martin Lorrimer.«

Sie stieß zornig die Luft aus, holte erneut Atem und berichtete von jener Schwester seiner verstorbenen Frau.

»Und alle Leute finden es seltsam, daß sich diese Frau nicht einmal auf der Beerdigung blicken ließ«, fügte sie hinzu. »Haben Sie ihr etwa überhaupt keine Todesanzeige geschickt? Das würde mich nicht wundern.«

Fast war Waltraud über sich selber bestürzt. Meine Güte, sie stellte da eine ungeheuerliche Behauptung auf.

Ehe sie jedoch mit ihrem Gedanken zu Ende gekommen war, trafen sie die gelassenen Worte des Mannes wie ein kalter Wasserstrahl.

»Richtig, Waltraud! Ich habe Rita keine Nachricht zukommen lassen. Sie weiß es überhaupt noch nicht. Weiß nicht, daß ihre Schwester nicht mehr lebt.«

Fassungslos schüttelte Waltraud den Kopf. »Aber das verstehe ich nicht. Lebten die Schwestern denn in – Feindschaft? Haßten sie einander?«

Martin seufzte, erhob sich und trat ans Fenster. Er schob die Gardine beiseite und blickte hinaus in die Dunkelheit. »Nein, das würde ich nicht sagen. Nein, sie haßten sich nicht. Dennoch – schien es mir besser, daß Rita nicht zum Begräbnis käme. Na, ist ja jetzt auch unwichtig.«

Seine Stimme drückte unendliche Resignation aus, die Waltraud auf den Tod seiner Frau bezog. Martin Lorrimer würde wohl nie überwinden, daß seine Frau nicht mehr lebte.

Nun kam er zurück, trat vor ihren Sessel hin und stützte beide Hände rechts und links auf dessen Lehne, so daß er ihr ganz nahe war. »Aber das ist nicht der Grund, warum Sie heute mit mir reden wollten, Waltraud. Außerdem haben Sie mir meine Frage noch nicht beantwortet. Heiraten Sie Peter Maier? Wollen Sie mir sagen, daß Sie bald fortgehen aus meinem Haus, von – meinen Kindern?« Seine Augen kamen den ihren etwas näher, und Waltrauds Verwirrung steigerte sich noch. Nach den Wochen der kalten Höflichkeit wirkte er heute zum ersten Mal freundlich und – sanft. Ja, ein besserer Ausdruck fiel ihr nicht ein. Martin wirkte sanft und freundlich, wie er sie so aus der Nähe betrachtete und ihren Blick nicht freigab.

»Ich muß doch endlich fortgehen«, flüsterte sie tonlos. »Verstehen Sie das denn nicht? Ich gewinne den Kleinen doch immer lieber, und – Liesel auch.«

Ihre Hände hoben sich unbewußt zu einer bittenden Geste. »Quälen Sie mich nicht, Martin Lorrimer, indem Sie mir nun sagen, es sei Egoismus von mir, daß ich auf das Gerede der Leute höre oder heiraten möchte. Nichts von alledem ist wahr. Doch fortgehen muß ich! Es geschieht nur zum Besten Ihrer Kinder, wenn Sie jemanden finden, der länger bleiben kann als ich. Am besten für immer hierbleiben würde.«

Schweigend stand er vor dem Sessel, mit vorgeneigtem Oberkörper, und blickte in ihre Augen. Kein Muskel in seinem Gesicht regte sich, es war undurchdringlich wie stets. Aber in seinen Augen stand ein sonderbarer Ausdruck, den Waltraud nicht enträtseln konnte.

So versuchte sie es mit trockenem Mund noch einmal: »Sehen Sie es doch bitte richtig. Da ist Ihr Sohn, ein Baby, der in mir seine feste Bezugsperson hat. Je länger ich hierbleibe, umso schwieriger wird es später für den Jungen, sich einer anderen Frau zuzuwenden.«

»Warum wollen Sie fort, Waltraud?« kam es plötzlich scharf von Martins Lippen. Er richtete sich brüsk auf und blickte kühl auf sie hinab.

Sie biß sich schmerzhaft in die Unterlippe, ehe sie fast hochmütig entgegnete: »Weil ich keine Haushälterin bin, sondern Hebamme. Und weil ich einfach keine Lust mehr habe, von Ihnen wie Luft behandelt zu werden. Schreiben Sie Ihrer Schwägerin endlich die Wahrheit. Bitten Sie die Tante Ihrer Kinder um Hilfe. Mag es Ihnen auch aus einem mir unbekannten Grund schwerfallen.«

Nachdenklich wandte er sich ab, vergrub beide Hände in den Taschen seiner saloppen Hausjacke und durchschritt den Raum.

»Nun ja! Das muß ich Ihnen wohl abnehmen, das mit der Haushälterin spielen. Wer versorgt schon gern zwei Kinder? Sie sind Hebamme! Sehr richtig!«

Nun drehte er sich jählings zu ihr herum, und seine hellen Augen blitzten unheilverkündend auf. »Dennoch bereue ich keine Minute, das Fräulein Hebamme für einige Zeit aus dem – Verkehr gezogen zu haben.«

Das war zuviel! Waltraud erhob sich und schritt ohne ein Wort der Entgegnung zur Tür. Wieder drängten sich heiße Tränen in ihre Augen, denn ihr Herz wurde schmerzhaft berührt von den vorwurfsvollen Worten. Konnte er denn wirklich so ungerecht empfinden? Er selber hatte doch an jenem Abend ihren streikenden Wagen bei der Pappelallee entdeckt und die Werkstatt angerufen.

Schon griff sie zur Türklinke, als seine Stimme hinter ihr aufklang: »Es tut mir leid, ich weiß, das hätte ich nicht sagen sollen.«

Nun war er bei ihr, legte eine Hand auf ihre Schulter und zwang sie, ihn anzusehen.

Sie tat es erst nach einigem Zögern, stand mit halb abgewandtem Gesicht da und sagte leise: »Bitte, versuchen Sie es mit Ihrer Schwägerin. Ich kann nicht länger hierbleiben. Doch es wäre sicherlich besser festzustellen, ob die Tante mit den Kindern zurechtkommt. Würde sie diese Aufgabe überhaupt übernehmen wollen?«

Sie standen sich nun dicht gegenüber, und seine Hand ruhte immer noch auf ihrer Schulter. Sie fühlte die Wärme seiner Finger bis auf ihre Haut und war bemüht, sich nicht zu rühren.

Er blickte sie schweigend an, ehe er ruhig entgegnete: »Ja, ich glaube schon, daß Rita hierherkäme. Ich bin mir ziemlich sicher. Doch ich halte es immer noch nicht für gut, Waltraud.«

»Warum nicht? Ist Ihre Schwägerin keine – warmherzige Frau? Oder was befürchten Sie?«

Seine Finger regten sich, gruben sich einen Moment in ihre Schulter ein, ehe Martin Lorrimer zurücktrat und seine Hand von ihr abnahm. »Was sollte ich schon befürchten«, sagte er rauh und mit sich verengenden Augen. »Rita ist eine patente Frau, darüber besteht kein Zweifel. Doch sie war immer unabhängig, ist unverheiratet und mit Kindern… Du meine Güte, ich weiß nicht, ob Rita Römer mit Kindern umgehen kann. Aber warten wir es ab. Ich kann ja mal schreiben und hören, was sie dazu meint. Zufrieden, Fräulein Hebamme?«

Seine Mundwinkel zuckten verhalten. Er schien sich über etwas zu amüsieren, und Waltraud brauchte ein paar Augenblicke, um zu erraten, was Martin Lorrimer so belustigte.

Es war ihre besorgte Miene, die sie unbewußt aufgesetzt hatte, als er mit einigen Zweifeln in der Stimme meinte, er wüßte nicht, ob Rita Römer mit Kindern umgehen könne.

»Also muß ich sie unter allen Umständen vorher in ihre Pflichten einführen«, sagte sie darum energisch, »denn schließlich ist Ulli noch ein Baby und braucht seine Pflege. Schreiben Sie schnell, Herr – Martin, damit endlich eine geeignete Person gefunden wird.« Martin Lorrimer grinste immer noch und meinte: »Eigentlich habe ich bisher angenommen, die geeignete Frau für meine Kinder schon gefunden zu haben. Aber bitte – kümmern wir uns um eine bessere.«

Waltraud hielt unwillkürlich den Atem an. Das klang so sarkastisch, und nun trat Martin Lorrimer noch einmal nahe vor sie hin und sagte mit völlig veränderter, zornig-ernster Stimme:

»Ich habe meiner Frau ein Versprechen gegeben –, zum Teufel noch einmal, und das werde ich halten. Für meine Kinder ist die beste Frau gerade gut genug. Bei Ihnen, Waltraud, sind Ulli und Liesel in guter Obhut. Glauben Sie nur nicht, daß sei mir entgangen, weil ich – Sie mit meiner Gegenwart nicht belästigen wollte. Ich lasse Sie nicht eher fort, bis es einen vollwertigen Ersatz für Sie gibt, verstanden?«

Das klang nun äußerst gebieterisch und erregte Waltrauds Empörung.

Sie reckte ihr Kinn und fauchte zurück: »Seien Sie froh, daß Ihre Kinder nichts von Ihrem Charme besitzen, der dem einer Bulldogge ähnelt, dann wäre ich nämlich lange schon auf und davon. Aber zum Glück sind Ulli und Liesel nette, heitere Kinder, und darum bleibe ich sowieso, bis – bis Ihre Schwägerin hier eintrifft. Gute Nacht, Herr Martin Lorrimer.«

Seine Miene veränderte sich schlagartig, wurde regelrecht heiter, glich im Moment trotz Waltrauds Hinweis der seines kleinen Sohnes. Wie der Junge ja überhaupt sehr dem Vater ähnelte.

»Ich bin nun völlig im Bilde, Waltraud, und möchte Ihnen Ihr Kompliment insofern zurückgeben, als ich sage, daß Sie nicht nur besonders reizvoll sind, sondern darüber hinaus auch echten Charme besitzen. Gute Nacht! Schlafen Sie dennoch unbeschwert.«

Doch gerade dessen war sich Waltraud nicht sicher.

*

März war es inzwischen geworden, und die Sonne spendete selbst am späten Nachmittag schon etwas Wärme.

Waltraud genoß mit den Kindern diesen besonders schönen Tag. Liesel, sonst recht blaß, hatte ungewohnt rote Wangen und sprang übermütig vor dem Kinderwagen her, den Waltraud gemächlich am Bachufer entlangschob.

Das Baby schlief. Warm eingehüllt in Kissen. Ein frisches rundliches Gesichtchen mit Pausbacken, zwei vorwitzige Lockenkringel stahlen sich unter dem Mützchen hervor. Vaters Haare. Kräftig und dunkel. Waltraud konnte sich nicht sattsehen an dem Jungen, hätte ihn am liebsten auf die dichten, mädchenhaft langen Wimpern geküßt, unter denen sie Martin Lorrimers helle graublaue Augen wußte.

»Liesel! Paß auf den Bach auf!«, rief sie statt dessen der Achtjährigen zu, die beängstigend nahe am vereisten Rand des Baches herumturnte. »Ist nicht mehr haltbar, das Eis, Lieselchen.«

»Oooch! Sieh doch nur den Papi drüben«, rief Liesel zurück und wies zu den Teichen nahe der alten Mühle. »Der ist auf dem Teich und sticht Löcher in die Decke, damit seine Fische nicht ersticken.«

Tatsächlich! Waltraud blieb mit dem Kinderwagen stehen, legte der sinkenden Sonne wegen eine Hand über die Stirn. Da stand der Forellenzüchter auf einem der Teiche und hieb mit kräftigen Stößen Löcher in die Eisdecke. Nun mußte auch er sie entdeckt haben, denn er hielt mit seiner Arbeit inne und winkte flüchtig zu ihnen herüber.

»Hallo! Papi!« rief Liesel, und ehe Waltraud erriet, was die Kleine vorhatte, stürmte sie über die nahe Holzbrücke den Teichen entgegen.

Waltraud mit dem Kinderwagen folgte ihr eilig. »Nicht so schnell, Liesel«, rief sie angstvoll, denn immer hatte sie ein ungutes Gefühl, wenn das kleine Mädchen über die vereisten Schleusen zu den Teichen hinüber balancierte. Auf das Eis selber durfte Liesel niemals ohne ihren Vater gehen. Wie Martin Lorrimer überhaupt nicht gern sah, wenn Liesel zu ihm hinauskam. Dies sei sein Arbeitsgebiet, hatte er dem Töchterchen mehr als einmal erklärt. Da habe sie nichts zu suchen, nicht auf der anderen Seite des Baches. Dort, wo auch die alte Mühle stände und überhaupt alles recht altersschwach sei. Dort müsse erst noch vieles erneuert werden.

Im allgemeinen hielt Liesel sich an das Verbot, doch heute war sie voller Übermut, sah nur den Vater auf der glatten Eisfläche.

Waltraud erkannte die Gefahr noch vor Martin Lorrimer, der nun langsam, weil er anders gar nicht konnte, auf der spiegelglatten Fläche zu den Schleusen herunterkam.

»Nicht!« schrie Waltraud in höchster Panik, denn das Kind turnte über die erste Schleuse hinweg, gerade dort, wo der Bach recht ungestüm war. »Festhalten! Liesel! Halt dich fest.«

Doch zu spät! Liesel klammerte sich zwar noch verzweifelt an seiner Eisenstange fest, doch ihre Füße waren schon auf dem vereisten schmalen Gelände abgerutscht.

Nun erfaßte auch Herrn Lorrimer, was drüben jenseits der Eisfläche passierte. Er beschleunigte seinen Schritt und kam dennoch zu spät.

Waltraud hatte gerade mit dem Kinderwagen die Brücke überquert, stellte ihn sicher ab, rannte dann auf die Schleuse zu.

In diesem Augenblick stieß Liesel einen hellen, spitzen Schrei aus und fiel in den Bach, der schon reichlich Hochwasser führte.

Nur eine Sekunde erstarrte Waltraud in eisigem Schrecken. Dann rannte sie am Ufer entlang, bis sie einige Meter Vorsprung hatte und stürzte sich ohne nachzudenken ins Wasser. Sie mußte das hilflos treibende Kind auffangen, ehe das Wasser des Bachs unterirdisch in die Mühle mit dem alten rostigen Mühlrad abfloß, in dem sich Liesel schwere Verletzungen zufügen konnte.

Die eisige Kälte des Wassers raubte ihr fast die Besinnung, doch Waltraud japste laut auf, weil das den Schock milderte, stand ansonsten fest mit beiden Beinen im schäumenden Wasser und sah Liesel entgegen.

An der Schleuse war der kleine Körper zunächst von den wirbelnden Wassern untergetaucht worden, dann wieder aufgestiegen. So hatte Waltraud Zeit gewinnen können, sich einen festen Grund im Bach zu erkämpfen, denn sehr hoch war er nicht, der Mühlbach.

Dennoch riß und zerrte das Wasser an ihr.

Aber da kam der kleine Kinderkörper herangeschossen, zwei kleine Hände fuchtelten in der Luft umher, ein bleiches Gesichtchen mit großen, vor Schreck geweiteten Augen.

Ganz ruhig war Waltraud jetzt. Sie packte zu, hielt das Kind fest an sich gepreßt – und wäre beinahe gestürzt. Taumelnd wurde sie von dem Wasser mitgerissen.

Immer näher kam sie, das Kind im Arm, dem Abgrund. Dorthin, wo das Wasser in die Tiefe stürzte. Wo sich das Mühlrad drehte.

Und immer schneller floß der Bach. Verzweifelt mühte sich Waltraud um einen festen Halt.

Bis sie ihn endlich an Martin Lorrimer fand, der sie mit seinen kraftvollen Händen packte.

Auch er stand im Wasser. Nahe des Abgrunds. Er packte eisern zu und kämpfte sich so mit Waltraud und dem Kind bis an den Rand des Baches zurück.

»Halten Sie sich an mir fest«, keuchte er dabei. Doch dieser Aufforderung hätte es nicht bedurft.

Liesel klammerte sich sofort wimmernd an seinen Hals, wobei sie hin und wieder kleine angstvolle Schreie ausstieß.

Waltraud hielt sich an Martin Lorrimers kräftiger Hand fest und ließ sich von ihm mitziehen.

Er trug hohe Gummistiefel, die bis weit über seine Knie reichten, und blieb so von dem eisigen Wasser verschont.

Anders Waltraud. In ihre pelzgefütterten Wildlederstiefel drang das Wasser ein, machte sie bleischwer und zu Eisklumpen, die jeden Schritt erschwerten.

Mühsam erreichten sie so das Ufer, und Martin Lorrimer, sein nasses, wimmerndes Töchterchen im Arm, half Waltraud auf sicheren Boden, ehe er rasch seine dicke Lammfelljacke auszog, um Liesel darin einzuhüllen.

»Schaffen Sie es allein?« fragte er dabei und blickte Waltraud fest in die Augen.

Sie stand noch an ihn gelehnt, atemlos, zitternd vor Kälte und Aufregung. Sein warmer, noch schneller Atem streifte ihr Gesicht, und nun legte er spontan den freien Arm um ihre Schulter, preßte sie sekundenlang fest an sich. »Schnell, Waltraud«, murmelte er dabei, »damit ihr beide mir nicht Schaden nehmt durch das kalte Bad hier.«

Dann gab er sie frei und eilte mit seinem Kind dem Haus zu. Waltrauds Füße schienen wie abgestorben zu sein, als sie mühsam den Kinderwagen über die Brücke zurückschob. Doch den Kleinen hier einfach zurücklassen, brachte sie nicht über sich. Obwohl Ulli immer noch fest schlief und von alledem nichts mitbekommen hatte.

Als sie das Haus endlich erreichte, kam Martin Lorrimer ihr schon entgegen, nahm den Wagen und trug ihn mitsamt seinem Sohn in die warme Diele.

»So, da kann er vorerst bleiben«, meinte er.

»Wo ist Liesel?« Matt sank Waltraud auf die Treppenstufe und versuchte ihre Stiefel aufzuschnüren. Doch ihre kalten, steifgefrorenen Hände waren so ungeschickt, daß der Mann sich nach einigen Sekunden des Zusehens einfach zu ihr niederließ und einen Stiefel aufzuschnüren begann.

»Liesel sitzt in der Badewanne. Hören Sie nur, wie das Wasser da oben rauscht. Nicht zu glauben, doch wahr. Mein kleiner Spatz ist quickfidel. Hat ja auch kaum Wasser geschluckt, weil Sie so schnell reagiert haben, Waltraud.«

So, nun hatte er einen Stiefel abgestreift, machte sich schnell an den zweiten.

Waltraud blickte auf sein dunkles krauses Haar hinab und dachte daran, wie er sie vorhin so jählings an sich gedrückt hatte.

»Ich – es geht jetzt schon. Lassen Sie«, stammelte sie in aufsteigender Verlegenheit, denn Martin Lorrimer umspannte mit seinen warmen Händen ihre eiskalten Füße, blickte nun rasch und intensiv von diesen hoch in ihre Augen.

»Am besten, Sie nehmen ein warmes Fußbad. Ja, steigen Sie doch einfach mit Ihren Beinen zu Liesel in die Wanne. Warten Sie!«

Ehe Waltraud erriet, was er vorhatte, stand er auf, nahm sie auf seine Arme und trug sie die Treppe hinauf.

»Was – was soll das denn?«, rief sie fast ängstlich aus und versuchte, seinem nahen Blick auszuweichen. »Ich kann doch laufen. Außerdem mache ich Sie mit meinem nassen Mantelsaum auch noch klitschnaß.«

Er lachte, drückte sie in plötzlichem Übermut ganz fest an sich und sagte: »Am liebsten würde ich Ihnen einen Kuß geben, Mädel, weil Sie so nervenstark mein armes Spätzchen aus dem Bach gezogen haben. Meine Güte, ich wäre doch zu spät gekommen!«

Nun preßte er tatsächlich seine Wange gegen ihre, ließ sie dann, im Badezimmer angelangt, sanft zu Boden.

»Sieh, Liesel! Hier bringe ich dir die tapfere Waltraud«, sagte er rauh und war im nächsten Moment wieder durch die Tür verschwunden.

Ein Glück! So gewann ihr aufgeregt pochendes Herz seine Ruhe zurück, und sie wagte auch wieder zu atmen. Beides war vorhin auf Martin Lorrimers Armen recht durcheinandergeraten.

Meine Güte, dachte Waltraud verwirrt, da habe ich einmal gesagt, er besäße den zweifelhaften Charme einer Bulldogge, und dabei – dabei kann niemand charmanter sein als Martin Lorrimer, wenn er es darauf anlegt.

Oder wenn er wie jetzt voll freudiger Erleichterung ist, mußte sie hinzufügen und betrachtete das Kind in der Wanne.

Genüßlich drückte Liesel einen dicken Schwamm aus und blinzelte ein wenig schuldbewußt, doch sehr schalkhaft zu ihr auf.

»Dein Mantel sieht gräßlich aus, Waltraud, und – und deine Strümpfe sind ganz naß. Bestimmt hast du kalte Füße. Oh, ich hatte kalte Füße! Überhaupt war mir schrecklich kalt! Aber hier im warmen Wasser ist es schön. Komm! Steck deine Füße ruhig auch hier in die Wanne.«

Waltraud mußte unwillkürlich lachen. »Du bist ein Herzchen! Aber warum nicht? Dein Vater meinte das gleiche.«

Die Anspannung fiel von ihr ab und machte glücklicher Erleichterung Platz. Rasch zog sie den langen Cordmantel aus, die Strümpfe folgten, und dann saß Waltraud auf dem Rand der Badewanne und hielt ihre Beine wohlig ins Wasser, ließ sich von Liesel mit dem Schwamm die Füße bearbeiten.

Beide lachten sie übermütig dabei, bis Waltraud meinte, es sei genug. Nun müsse Liesel mit einer Wärmflasche ins Bett und tüchtig schwitzen. Dazu gebe es Lindenblütentee.

*

Am späten Abend gab es dann erneut Aufregung im Haus des Forellenzüchters.

Waltraud entdeckte bei ihrem letzten Gang ins Zimmer der kleinen Liesel, daß diese ganz heiße Wangen bekommen hatte.

Sofort begab sie sich darum an die Hausapotheke, nahm das Fieberthermometer heraus und wollte gerade wieder die Treppe hinaufgehen, als Martin Lorrimer aus seinem kleinen Büro am Ende der Diele auftauchte.

»Nanu? Ich denke, Sie wollten früh zu Bett gehen, Waltraud«, sagte er verwundert.

Sie hielt ihm das Fieberthermometer vor die Augen und seufzte ein wenig. »Wir haben anscheinend zu früh geglaubt, Liesel mache das Bad im eisigen Mühlbach nichts aus. Ich fürchte, das Kind hat Fieber.«

Nebeneinander stiegen sie die Treppe hinauf. Martins Gesicht zeigte Besorgnis. »Wir werden auf alle Fälle den Arzt kommen lassen«, meinte er.

»Messen wir erst einmal die Höhe des Fiebers«, entschied Waltraud ruhig. »Kinder neigen leicht zu erhöhter Temperatur am Abend. Besonders wenn eine leichte Erkältung im Anzug ist.«

Am Bett seines Töchterchens erschrak Martin, denn das Kind wälzte sich mit hochroten Wangen unruhig in dem Kissen hin und her.

»Gefällt mir aber gar nicht«, murmelte er bestürzt.

Waltraud schob ihn sanft zur Seite, ließ sich auf der Bettkante nieder und schob Liesel das Thermometer in den Mund. »Setzen Sie sich am besten dort in den Schaukelstuhl«, raunte sie dem besorgten Vater zu und wies etwas abseits zwischen die beiden Fenster.

Gehorsam ließ Martin Lorrimer sich in den Schaukelstuhl fallen, ohne einen Blick vom Gesichtchen des Kindes zu wenden. Wie zart es aussah. Elfenhaft fein. Würgende Furcht befiel ihn.

Hoffentlich behielt die stets so umsichtige junge Person auch diesmal recht, und es bestand keine Gefahr für Liesel.

Meine Güte, nein! Daß nur dem Kind nichts passierte!

»Ich habe mich in letzter Zeit viel zu wenig um – meine Kinder gekümmert«, sagte er gedämpft.

Ein rascher Blick aus Waltrauds tiefblauen Augen flog zu ihm hinüber. »Eine gute Erkenntnis«, sagte sie ebenso leise.

Von Liesels Lippen kamen wirre unvollständige Worte, die Waltraud dennoch betroffen aufhorchen ließen.

Auch Martin Lorrimer vernahm die angstvollen, nunmehr verständlicher werdenden Laute, und er stand überrascht auf, trat ganz nahe an das Bett.

»Was? Was hat sie da gesagt?« raunte er ungläubig und neigte den Kopf tiefer.

Waltraud gab keine Antwort, denn wieder warf Liesel ihr schweißnasses Köpfchen heftig von einer Seite zur anderen, wobei sie hervorstieß: »Nein! Bestimmt verrate ich es dem Papi nicht. Aber wenn nun das Brüderchen tot ist? Warum – bist – du auch auf den Schemel gestiegen? Papi schimpft doch immer und – und er sagt, du sollst nicht so – unruhig sein! Nicht! Nicht auf den Schemel steigen und – und das Fenster putzen! Du fällst! Mami! Mami!«

Mit einem wilden Aufschrei riß Liesel die Augen weit auf, erhob sich jählings im Kissen, um mit einem erleichterten Seufzer in Waltrauds Arme zu sinken.

»Lieselchen! Ich bin es doch! Hast du geträumt, Spätzchen? Ja, ja, du hast geträumt, doch nun ist alles wieder gut. Schlaf, Kleines.«

Behutsam ließ sie das Kind zurück in die Kissen gleiten, nahm das Fieberthermometer und blickte darauf, dann in das Kindergesicht.

»Ich – habe von meiner Mami geträumt«, wisperte Liesel. Der Blick ihrer großen fieberglänzenden Augen ging zum Vater, der regungslos über ihr Bett geneigt stand und sie überrascht und schmerzlich berührt ansah.

»Ja, Spätzchen«, sagte er dumpf, »du hast von der Mami geträumt. Aber sag mir bitte, wie das damals war. Ist die Mami wirklich wieder auf Stühle und Schemel gestiegen, um irgendwo herumzuwischen und zu putzen, obwohl ich ihr das verboten hatte?«

»Herr Lorrimer«, mahnte Waltraud leise und voller Empörung. »Das Kind hat hohes Fieber und – und Sie…«

Scharf traf sie sein verweisender Blick, ehe er sich wieder dem Kind zuwandte: »Du kannst mir ruhig die Wahrheit sagen, Liesel, ich bin dir nicht böse und – und der Mami auch nicht. Dem Ulli ist ja nichts passiert. Doch erzähl mir bitte, wie das damals gewesen ist.«

Irgendwie schienen das Kind die leisen, sanften Worte des Vaters zu beruhigen. Waltraud beobachtete voller Verwunderung, daß sich die Furcht aus Liesels Gesicht verlor. Ja, fast schien sie erleichtert darüber, endlich von der kleinen Seele reden zu können, was sich am Geburtstag ihres Brüderchens zugetragen hatte. Ein Tag, der viele Schrecken für das sensible Kind brachte, denn die Mami stürzte in der Küche von einem Schemel, bat ihr kleines Töchterchen jedoch, dem Papi nichts davon zu erzählen, weil der sonst schrecklich schimpfen würde.

»Ich wollte wohl zu dir in die Mühle laufen und – und dich schnell ins Haus holen. Doch die Mami hat geweint und gesagt, wenn nun dem Brüderchen was zugestoßen sei, dann, dann wärst du schrecklich traurig und auch böse mit ihr. Aber – nicht wahr, Waltraud, dem Ulli fehlt gar nichts. Dabei hat sich die Mami viele Sorgen um ihn gemacht.«

»Ulli ist gesund und munter, Liesel, und du wirst es morgen auch wieder sein, wenn du ganz schnell die Äuglein schließt und einschläfst.« Damit fuhr Waltraud dem Kind zärtlich mit einem feuchten Tuch über die heiße Stirn. »So! Nun trink noch etwas Tee, das tut dir gut. Durstig bist du, nicht wahr, Kleines?«

Gehorsam leerte das kleine Mädchen die Tasse mit dem lauwarmen Tee, schien sich jetzt wirklich schläfrig zu fühlen, aber frei von Alpträumen.

Sie lächelte zu ihrem Vater auf. »Ich bin froh, daß du der Mami nicht böse bist. Die arme Mami! Es ist nur gut, daß – wir die Waltraud haben.«

Da wandte sich Martin Lorrimer schweigend ab, während Waltraud das Kind sanft zudeckte und sagte: »So, nun ist genug geredet. Mach schön die Augen zu. Ich bleibe hier bei dir am Bett, bis du ganz fest eingeschlafen bist.«

Und so geschah es auch. Waltraud saß ganz still und dachte darüber nach, was die Kleine im Fieber ausgeplaudert hatte. Fast zehn Wochen hatte die kleine Liesel ihr Wort treu gehalten, das sie in jener Schreckensstunde der Mutter gegeben hatte. Nichts sollte sie dem Papi erzählen, und sie hatte es nicht getan, obwohl sie damals fast schon ihr, Waltraud, das Herzchen ausgeschüttet hätte.

Warum habe ich damals nicht behutsam weiter in Liesel geforscht, bedauerte Waltraud in dieser Stunde des Nachsinnens. Wie viele quälende, selbstkritische Stunden hätte ich mir erspart. Aber daß selbst die Ärzte im Hospital nicht auf den Gedanken gekommen sind, Frau Lorrimer könne sich durch einen Sturz verletzt haben?

Doch dann mußte sie zugeben, daß der kleine Junge tatsächlich ungeheures Glück hatte. Ulli war wohlgestaltet geblieben, obgleich es sehr leicht anders hätte sein können.

Waltraud reckte sich, stand vom Bettrand auf und beschloß, sich etwas Bequemeres anzuziehen. Ihren Bademantel vielleicht. Sie brauchte auch noch eine Tasse Kaffee, um hier während der Nacht an Liesels Bett nicht einzuschlafen.

Ulli in seiner Wiege hielt beide Fäust­chen gegen die Wangen gepreßt und schlief wie ein kleiner Bär. Der Junge machte überhaupt wenig Kummer. Ein überaus zufriedener kleiner Erdenbürger.

Waltraud neigte sich dicht über ihn, küßte sanft eines der Händchen. Dann ging sie in ihr kleines Duschbad, kleidete sich aus und hüllte sich in den Bademantel. Sie trug mollige Hausschuhe und schlich leise die Treppe hinunter, ging in die Küche, aus der Lichtschein fiel.

Martin Lorrimer saß am Küchentisch. Vor sich die Kaffeekanne. Zwei Tassen standen auch dort, und nun goß er ihr schweigend Kaffee ein.

»Den kann ich brauchen«, sagte Waltraud und ließ sich am anderen Ende des Tisches nieder. »Liesel schläft, doch es ist besser, die Nacht über bei ihr zu bleiben. Ich übernehme die ersten Stunden, und gegen zwei Uhr lösen Sie mich dann bitte ab, damit ich noch ein paar Stunden schlafen kann, bis der Junge sich meldet. Einverstanden?«

»Ja, gut«, entgegnete er mit rauher Stimme, blickte immer noch starr in seine Tasse und fügte leise hinzu: »Ich muß Sie wohl um Verzeihung bitten wegen – meiner anklagenden Worte damals.«

Dann schüttelte er in hilflosem Zorn den Kopf, spreizte seine Finger und fuhr sich damit durchs Haar. »Es ist zum Verrücktwerden. Wie oft habe ich Inge damals erklärt, sie soll die Fenster in Ruhe lassen. Überhaupt die schwere Arbeit im Haus nicht mehr verrichten. Es kam ja auch eine Putzfrau, aber Inge steckte voller Unrast. Ich vermute, es war ihre geheime Sorge, daß…«

Martin Lorrimer schloß gequält die Augen, und ruhig vollendete Waltraud seinen angefangenen Satz: »… es auch diesmal nicht der ersehnte Sohn sein könnte. Ach, es ist wirklich zum Verzweifeln! Ich erlebe es oft, daß schwangere Frauen viele Monate hindurch von den unnötig belastenden Gedanken gequält werden, ob es diesmal das Wunschkind sei. Bei Ihrer Frau wirkte es sich besonders schlimm aus. Sie müssen es vergessen, Martin.«

Er blickte sie voll an, ein sonderbar forschender Ausdruck war in seiner Miene. »Ich muß Ihnen etwas gestehen, Waltraud. Dort! Sehen Sie, was dort auf der Anrichte liegt?«

Erstaunt folgte Waltrauds Blick seiner Hand. »Ein Brief.« Er lachte trocken auf. »Und Sie raten nicht, an wen dieser Brief, den ich auf Ihr Verlangen hin schon vor zehn Tagen schreiben sollte, adressiert ist?«

Waltraud hob fragend die Brauen, schob sie dann ärgerlich zusammen und entgegnete bestürzt: »Nun sagen Sie bloß, das ist der Brief an Ihre Schwägerin in Baden?«

»Richtig, Waltraud.« Martin Lorrimer lächelte dünn, hob die Schultern und fügte gelassen hinzu: »Meine Skepsis hielt mich davon ab, Rita Römer ins Haus zu holen. Doch nun habe ich kein Recht mehr – hatte es ja eigentlich nie –, Sie noch länger hier festzuhalten. Meine Trickkiste ist geschlossen, Waltraud. Bitte! Da liegt der Brief und geht morgen früh zur Post. Dann wird meine – Schwägerin uns sehr wahrscheinlich in der nächsten Woche auf die Pelle rücken.«

Waltraud enthielt sich jeder Antwort, leerte ihre Tasse und erhob sich. »Gute Nacht, Martin Lorrimer«, sagte sie kühl, obwohl ihr Herz unter seinem intensiven Blick schon wieder in Aufruhr geriet.

»Ich werde Sie bald ablösen, Waltraud«, gab er sanft zurück, »und möchte Ihnen noch sagen, daß es schön war, Sie im Haus zu haben. Selbst unter so – bedauerlichen Umständen.«

Er blieb bei seinen Worten ruhig am Tisch sitzen, seine gutgeformten Hände jedoch umklammerten die Tasse etwas zu hart.

Er ist gar nicht so ruhig, dachte Waltraud verwirrt. Im Gegenteil, er ist besorgt und innerlich angespannt. Aber warum? Warum hat er etwas gegen die Tante der Kinder? Gegen die Schwester seiner verstorbenen Frau, die seiner Meinung nach doch eine patente Person ist. Genauso hat er sich damals bei unserem Gespräch ausgedrückt.

Es wurde höchste Zeit für sie, dem Witwer zu entfliehen, ehe er noch mehr Unordnung in ihr Leben brachte.

*

Es handelte sich bei Liesel wirklich nur um eine leichte, fiebrige Erkältung, und in drei Tagen war das kleine Mädchen wieder wohlauf.

Waltraud nahm Ullis Windeln von der Leine, die dort lustig im Frühlingswind flatterten.

Der Kinderwagen mit dem Baby stand an einem besonders sonnigen Plätzchen im Garten, und Liesel war bei ihm. So konnte Waltraud der schon wieder recht übermütigen Liesel oftmals mahnende Worte zurufen. Liesel jedoch schien der Ansicht, daß Ulli es gern hatte, stets geschaukelt zu werden. Die beiden waren nicht zu trennen. Ullis Jauchzer drangen bis zu Waltraud hinüber, wenn seine kleine Schwester es besonders stürmisch mit dem Kinderwagen trieb.

»Du wirfst ihn mir noch um«, rief Waltraud gerade leicht besorgt, lächelte jedoch Martin Lorrimer beruhigend zu, der den Bruchsteinweg von der Rückseite des Hauses heraufkam. Er trug ein paar dicke Holzstücke auf den Armen, die er dem Kachelofen einverleiben wollte. Auch er schien besorgt um seinen Sohn.

Der schnittige kleine Sportwagen kam von der anderen Seite angebraust, stoppte im Hof, an den sich die Wiese und der Garten anschlossen. Die Tür wurde aufgestoßen, und eine junge Frau sprang heraus.

Waltraud konnte alles gut beobachten, und plötzlich war ihr, als wanke der weiche Grasboden unter ihren Füßen. Unbewußt preßte sie die Windeln an ihr Herz, das ein paar dumpfe Schläge getan hatte beim überraschenden Anblick dieser Fremden.

Doch eigentlich war sie keine Fremde. Im Gegenteil, sie war eine nur zu vertraute Erscheinung, wenngleich eine höchst trügerische, denn…

»Mein Gott«, flüsterte Waltraud mit trockener Kehle, »die arme Liesel! Wie reagiert sie wohl darauf?«

Ein schneller Blick ging zu dem Kind, das immer noch mit seinem Brüderchen beschäftigt war und dabei den Kinderwagen etwas weiter dem Haus zugeschoben hatte. So blieb Liesel der erste Anblick der Frau erspart, die sich sofort Martin Lorrimer zugewendet hatte.

»Martin!« rief sie und eilte auf ihn zu. »Oh, Lieber, ich habe den Brief gestern erhalten – und hier bin ich.«

Dabei breitete sie beide Arme aus, warf sie im nächsten Moment dem wie erstarrt dastehenden Mann um den Hals.

Waltraud, mittlerweile etwas gefaßt, spürte einen wilden Stich in der Brust. Die Ähnlichkeit dieser Rita Römer mit Inge Lorrimer schien sich nur auf das Äußerliche zu beschränken, denn die Verstorbene wirkte eher schüchtern und zurückhaltend.

Diese dort sprüht nur so vor Temperament, mußte Waltraud erkennen, während sie langsam auf die beiden zuschritt.

Temperamentvoll, attraktiv, wohl auch sehr spontan. Nun ja, immerhin war Martin ihr Schwager, dennoch liegt etwas viel Gefühl in dieser Umarmung, dachte Waltraud und hielt den Blick angestrengt auf den Mann und die hübsche rotblonde Frau gerichtet, deren Frisur anders, moderner als die der Verstorbenen war. Sonst jedoch – welche Ähnlichkeit!

Bei näherem Hinsehen entpuppte sich Rita Römer immer mehr als das Ebenbild von Inge Lorrimer, und plötzlich begriff Waltraud auch, warum Martin seine Schwägerin nicht zur Beerdigung hatte kommen lassen. Lieselchen hätte es bestimmt sonst noch schwerer gehabt und – nun ja, der Mann selber vielleicht auch.

Nun befreite er sich auflachend aus der stürmischen Umarmung, selbst immer noch recht wehrlos durch die Holzscheite, die er nun auf der niedrigen Mauer ablegte, die das Haus vom Wiesengrundstück seitwärts trennte. »Rita! Na ja, ich hatte mit einem Anruf gerechnet, aber daß du gleich kommst…«

»Ach was! Wozu Anruf? Als ich von – von dem Unglück las, hab’ ich sofort meine Koffer gepackt und mit meinem Chef, du weißt, dieser schreckliche Mensch, der Rudi, ein heilloses Theater gehabt. Aber das ließ ihn völlig kalt. Die armen Kinderchen! Meine Güte, warum hast du mir nicht früher eine Nachricht…?«

»Das ging wohl nicht gut«, knurrte Martin gereizt und blickte dabei Waltraud an. »Ist so noch arg früh für Liesel. Wird – Wunden aufreißen, Rita. Na, wenigstens hast du meiner Bitte entsprochen und – dein Haar verändert.«

Die Hände der jungen Frau fuhren zum Haar, schoben es mit verlegenem Lachen zurecht. »Gern hab’ ich es nicht getan. Mir das Haar gefärbt, Martin. Ich weiß gar nicht recht, ob es dir so gefällt an mir. Ob du mich überhaupt noch für die – alte hältst mit den helleren Haaren.«

Spott zuckte in seiner Miene auf, als er trocken entgegnete: »Du weißt recht gut, daß diese Frisur dir steht, Rita, sonst hättest du eine andere gewählt.«

»Stimmt!« Lachend nickte sie, wandte sich dann Waltraud zu und betrachtete sie verwundert: »Das also ist die junge Hebamme, die dir aus der Not hilft. Ich muß schon sagen, mein Guter, sie sieht nett aus. Ja, sehr nett. Eigentlich habe ich mir genauso ein – echtes Schwarzwaldmädel vorgestellt.«

Bis unter das blonde, naturgelockte Haar errötete Waltraud. Sie senkte den Blick verlegen auf die Windeln, versuchte sie etwas zu ordnen, was natürlich nur eine Ablenkung sein sollte, um Martin Lorrimers Blicken zu entgehen. Er sah sie plötzlich an, als errege Rita Römers Feststellung seine besondere Aufmerksamkeit.

Dabei fand sie sich selber ziemlich vernachlässigt. Vorhin hatte sie alle Betten frisch bezogen, in der Waschküche hantiert und dazu ein paar Gummistiefel getragen, die sie gleich für ihren Weg hierher auf die feuchte Wiese anbehalten hatte. Ihre Jeans, die sie im Haus oft trug, steckten bis weit über die Waden in den Schäften dieser unförmigen Stiefel, und ihre dicke Shetlandjacke war alles andere als hübsch zu nennen. Doch praktisch und warm. Richtig kuschelig, meinte Liesel immer.

Oh, diese Liesel. Waltraud spürte plötzlich einen kleinen zarten Körper, der sich von hinten an sie drückte. Sie blickte sich um und sah das Kind, sah, daß es in schweigender Versunkenheit die Frau anstarrte.

»Liesel«, sagte sie behutsam und neigte sich der Kleinen zu, »deine Tante ist gekommen. Willst du ihr nicht guten Tag sagen? Weißt du, Spätzchen, es ist die Schwester deiner Mami. Das kann man sehen, nicht wahr? Ist es nicht schön, daß deine Tante sich nun um euch kümmern will?«

Zaghaft nickte Liesel, schob sich zögernd vor, warf erst einen fragenden Blick zu ihrem Vater hoch, ehe sie mit einem Aufschluchzen Rita Römer in die ausgebreiteten Arme fiel.

*

»Na, Gott sei Dank!« stieß Frau Böhm erleichtert hervor, als ihr Waltraud zwei Tage später einen Besuch abstattete und von Rita Römer berichtete.

»Warum hast du denn deine Koffer nicht gleich mitgebracht, Kind? Verstehe ich nicht.«

Lustlos stocherte Waltraud in der Kirschtorte herum, die ihr die Mutter diesmal vorgesetzt hatte. Sonderbar, es wollte sich in ihr einfach keine Erleichterung einstellen. Im Gegenteil. Der Gedanke, Ulli und Liesel verlassen zu müssen, bereitete ihr tiefen Kummer. Besonders weil der Junge so an ihr hing.

»Du, Mama, es ist ganz schrecklich«, sagte sie und schenkte der rundlichen kleinen Frau einen besorgten Blick, »aber Ulli mag Fräulein Römer anscheinend nicht. Wenn sie nur in seine Nähe kommt, stimmt er ein fürchterliches Geschrei an. Ich begreife das einfach nicht. Der Junge ist sonst ein so friedliches Kind.«

Frau Böhm ließ sich am anderen

Tischende nieder, sah die Tochter prüfend an und meinte bedenklich: »Hoffentlich wirft das deine Entscheidung nicht um, Waltraud. Du wolltest heimkehren. Spätestens in der nächsten Woche. Mach mir keinen Kummer, Mädel. Ich habe Peter Maier auf seine drängende Frage hin schon fest erklärt, daß du nun bald von dort oben fortgehst. Hab’ ihm gesagt, es bestände nun kein Grund mehr für dich, länger bei Lorrimer zu bleiben.«

Erregt fuhr Waltraud auf. »Das hätte Peter mich fragen sollen. Ich hätte ihm schon erklärt…«

Da brach sie ab, senkte vor dem eindringlichen Blick der Mutter ihre Augen. »Zuerst muß Ulli sich an Fräulein Römer gewöhnt haben, sonst habe ich doch keine Ruhe. Er nimmt ja nicht einmal seine Flasche von ihr. Das mußt du doch verstehen, Mama!«

Ihre Stimme zitterte vor Verzweiflung, und Frau Böhm lenkte rasch ein:

»Kind, wenn ich ehrlich sein soll, ich verstehe deine Fürsorge nicht ganz, werde mich jedoch bemühen, Verständnis dafür aufzubringen. Aber nun möchte ich doch gern wissen, wo dieses Fräulein Römer bei euch untergebracht ist. Du hast hoffentlich dein Zimmer behalten dürfen?«

Erleichtert und belustigt ging Waltraud sofort auf die Frage ihrer Mutter ein. »Aber gewiß, Mama. Ich bewohne weiterhin mein Zimmerchen, das ja gleich neben dem von Liesel liegt. Beide sind durch mein kleines Duschbad verbunden und liegen sozusagen auf der Rückseite des Hauses. Auch dort gibt es einen hübschen Balkon, der allerdings völlig getrennt ist vom großen vorderen Balkon. Das wird dich sicherlich beruhigen, Mamachen.«

So war es auch. Frau Böhm, die aufmerksam zugehört hatte, nickte befriedigt. »Schön, dann sag mir nun, wo die Schwägerin des Witwers untergebracht ist. Ich frage nicht aus Neugierde, sondern weil sich hier in der Stadt einige – Geschichten um Lorrimer und die junge Frau ranken. Sie soll ja der Verstorbenen sehr ähnlich sehen.«

»Die Schwestern waren Zwillinge«, entfuhr es Waltraud hastig. »Ich habe das auch nicht gewußt, Mama. Und wo Fräulein Römer im Hause ihr eigenes Reich bekommen hat, ist schnell gesagt. Sie bewohnt neben dem früheren Schlafzimmer des Ehepaars ein schönes, großes Zimmer, das einmal Ullis Kinderzimmer werden sollte. Es hat einen Balkon…«

Waltraud verstummte, nahm ihre Kaffeetasse und wich den forschenden Blicken der Mutter aus. Warum auch alles der moralisch sehr streng empfindenden Mutter sagen? Es war für sie selber ja auch ziemlich niederschmetternd, als sie feststellen mußte, daß Rita Römer sich über ihre Unterbringung sehr befriedigt zeigte. Ihr Zimmer lag direkt neben dem Schlafzimmer der Eheleute, in dem Martin nunmehr allein schlief. Beide Räume lagen zur Sonnenseite hin und waren mit einem großen Balkon verbunden. Einem wunderschönen geschnitzten Eichenholzbalkon, dem Martin Lorrimers besondere Pflege galt.

Dieser Balkon versetzte auch Rita in helles Entzücken. »Hier werden wir oft gemeinsam unser Frühstück einnehmen, Martin«, rief sie begeistert aus und griff mit einer impulsiven Geste nach seinem Arm. Blickte mit leuchtenden Augen zu ihm auf. Daß Waltraud mit Liesel in der Nähe stand, schien ihr nichts auszumachen.

Martin Lorrimer auch nicht? So genau konnte Waltraud seine Reaktion nicht beobachten, doch sein Lachen klang eine Spur ironisch, als er zurückgab: »Wenn ich mich recht erinnere, Rita, warst du früher eine Langschläferin. Ich hingegen liebe es, morgens beizeiten mit meiner Arbeit zu beginnen. Ist auch kaum anders zu schaffen. Mit einem gemeinsamen Frühstück wird es also nichts werden. Doch hier ist es auch am Nachmittag angenehm. Am Nachmittag bin ich manchmal hier oben und trinke Kaffee. Halte das mal in deinem temperamentvollen Köpfchen fest.«

Ja, genau diese Worte gab er zurück. Waltraud hatte jedes einzelne in ihrem Kopf festgehalten. Sie hielt auch den Blick fest, den die beiden danach tauschten.

Gut, daß Mutter davon nichts ahnt, dachte sie und rüstete sich zum Aufbruch.

»Ich mache noch einen Sprung zu Peter in die Apotheke«, sagte sie zum Abschied. »Ulli braucht neue Babypflegemittel.«

Die Mutter zeigte sich sehr erfreut darüber. »Grüß Peter schön von mir, Waltraud.«

Sie begleitete die Tochter noch zur Tür hinaus, blickte ihr nach, wie sie schnell die Straße überquerte und zur Apotheke ging.

*

Peter Maier hatte alles zusammen vor sich auf der Theke liegen.

Alles, was man zur Körperpflege eines Babys so benötigte.

Zufrieden nickte Waltraud. »Fein, Peter, das wäre es für heute.«

Während der blonde sympathische Mann zur Kasse schritt, um die Artikel zu registrieren, beobachtete Waltraud ihn verstohlen und mußte sich eingestehen, daß eine Entfremdung zwischen ihnen zweifellos bestand, die vor einigen Monaten noch nicht vorhanden war.

Sie waren damals nicht verlobt, dennoch mehr als gute Freunde. Sie kannten sich von Kindheit an, hatten ihre ersten Küsse miteinander getauscht, später an Zärtlichkeiten mehr. Es war immer schön und oftmals sehr lustig miteinander gewesen, und sie hofften eigentlich schon viele Jahre, daß eines Tages aus ihnen ein Paar fürs Leben werden würde.

Peter Maier hoffte es bestimmt. Er hatte die Apotheke von seinem Vater übernommen, nachdem er in Heidelberg sein Studium abgeschlossen hatte. Das war vor zwei Jahren, und damals hatte er ihr gegenüber zum ersten Mal die ernsthafte Andeutung gemacht, er sei nun in der Lage, eine Familie zu gründen.

Waltraud seufzte verstohlen, packte Öl und Seife zum Puder in eine Plastiktasche, die Peter ihr schweigend über die Theke gereicht hatte.

»Waltraud!« Peter Maier blickte sie mit seinen hellbraunen Augen ruhig und fest an. »Wann fahren wir mal wieder zusammen irgendwohin? Eine Vertretung ist doch wohl schon da für die lieben Kleinen. Mädel, ich möchte mich mal wieder so richtig mit dir ausquatschen können. Ist das etwa zuviel verlangt?«

Es war gerade außer Waltraud niemand im Laden, und so konnte der junge Apotheker diese saloppen Worte gebrauchen. Und er konnte sich ein wenig über den Tresen beugen und Waltraud blitzschnell auf die Wange küssen.

Verlegen trat Waltraud einen Schritt zurück. »Peter, wenn uns jemand sieht! Aber nun im Ernst. Mutter hat es doch schon erwähnt. Ich komme bald heim, dann reicht die Zeit wieder für – vieles. Bis dahin wirst du dich schon noch gedulden müssen.«

Ihr Blick lächelte und ihre frischen Lippen auch. Sie legte einen Geldschein auf die Theke, und Peter Maier nahm ihn mit einem ärgerlichen Aufstöhnen.

»Dieser Lorrimer! Wenn ich den schon sehe in seinem Fischwagen. Neuerdings, beliefert er sogar den ›Baseler Hof‹ mit seinen Forellen. Ist mir schleierhaft, wie er sich so schnell hier in St. Blasien einnisten konnte. Sind sonst stockkonservativ, die guten Leutchen. Aber dieser Mann erwirbt das alte Haus, die halbverfallene Mühle, beginnt die Zucht, und alles scheint ihm zu gelingen. Der Mann ist ein Glückspilz, Waltraud.«

»Er ist tüchtig und arbeitet hart«, entgegnete diese ruhig. »Außerdem kannst du ihn keinen Glückspilz nennen, denn er hat seine Frau verloren.«

Peter Maier kam von der Kasse zurück, reichte Waltraud das Wechselgeld und blickte sie dabei sonderbar angespannt an. »Ja, das stimmt, Lorrimer hat seine Frau verloren, aber hoffentlich gewinnt er dadurch keine andere. Nicht dich, Waltraud! Dich will ich für mich haben, verstehst du?«

Tiefes Rot überflutete Waltrauds Gesicht unter dem vollen, schönen Haar. Ihre blauen Augen wurden ganz dunkel, und mit bebender Stimme gab sie zurück: »Eigentlich will ich von niemandem besessen werden, Peter. Sag das nie mehr in diesem Ton zu mir. Überhaupt, sprich auch nicht so – anzüglich von Martin Lorrimer und mir. Oh, wehre jetzt nicht ab. Ich kann mir vorstellen, daß du es bist, der meiner Mutter so einiges zuflüstert. Nun, ich bin dir nicht einmal böse deshalb. Bist halt ein Mann und gewissen Vorstellungen leichter zugänglich. Doch du irrst dich gewaltig, wenn du glaubst, Martin Lorrimer sehe mich auch nur mit – mit den Augen eines Mannes an. Der blickt immer noch durch mich hindurch. Er tut es seit dem Tag und der Stunde, da er aus dem Hospital heimgekehrt und mir gesagt, daß seine Frau tot sei. Und, Peter, weißt du, was er noch damals sagte? Er sagte, es sei meine Schuld. So, nun höre mit dem Gerede auf, Martin Lorrimer mache mir schöne Augen.«

Betroffen hatte Peter Maier ihr zugehört. Mein Gott! Wie gequält Waltraud das alles sagte. Ahnte sie denn gar nicht, wie sehr sie sich damit verriet?

»Waltraud«, sprach er und legte seine Hand auf die ihre, »ist ja schon gut. Es war ein Fehler von dir, nicht sofort wieder sein Haus verlassen zu haben. Doch das ist bald vorbei. Du wirst das alles vergessen. Komm nur bald zurück, Mädel, dann findet sich das andere schon. Mag es zunächst auch schmerzen, so… Waltraud! Renn doch nicht fort!«

Aber die junge Hebamme riß die Plastiktüte an sich und floh aus dem Laden. Sie lief die wenigen Stufen hinunter, überquerte eilig die Straße und verlangsamte ihre Schritte erst, als sie den kleinen Parkplatz am Brunnen erreicht hatte.

Sie stieß mit tränenblinden Augen und zitternden Fingern den Autoschlüssel ins Schloß, wußte nicht, wie sie die Wagentür öffnete. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen fort, ließ den Motor an und kurvte langsam um den Brunnen herum, fuhr in eine Seitenstraße hinein, damit ihre Mutter sie nicht von ihrem kleinen Haus aus sehen konnte.

Erleichterung überfiel sie, als die Landstraße zum Mühltal vor ihr lag.

Natürlich war es ein Fehler, nicht sofort die Kinder ihrem Schicksal überlassen zu haben. Warum sich um zwei kleine mutterlose Wesen kümmern? Sollte der Vater sich doch damit abmühen. Sollte er früher seine attraktive Schwägerin ins Haus geholt haben. Egal, ob sein zartes, sensibles Töchterchen unter der Ähnlichkeit litt. Jetzt tut sie es ja auch. Oder etwa nicht? Waltraud verringerte die Schnelligkeit, sann angestrengt darüber nach, wie es im Herzchen des Kindes wohl aussehen mochte.

Schwierig, da eine Antwort zu finden. Liesel folgte Rita wie ein kleines treues Hündchen, doch oftmals kam sie auch zu ihr, Waltraud, und weinte ohne ersichtlichen Grund. Ja, neuerdings weinte sie wieder sehr viel.

Dennoch mußte die junge Hebamme zugeben, daß sich Rita Römer mit den Kindern die größte Mühe gab. Sie wollte es eigentlich schaffen, wenn auch nur des Vaters wegen.

Ja, das hatte Waltraud längst erkannt. Es ging der rassigen Frau um Martin Lorrimer. Rita war verliebt in den Mann ihrer verstorbenen Zwillingsschwester. Daran gab es keinen Zweifel.

Und nicht erst seit jetzt, mußte Waltraud sich insgeheim sagen. Oh, nein! Da schwebte schon länger etwas zwischen den beiden, was nicht weiter verwunderlich war, denn die Gaststätte, in der Rita als Serviererin tätig war, gehörte früher Lorrimer. Er hatte sie vor vier Jahren verkauft und war ins Mühltal gezogen. Mit seiner Frau und der kleinen, damals knapp vierjährigen Liesel.

Hatte Martin Lorrimer dies alles getan, um seine Ehe zu retten? Waltraud schien dies eine durchaus realistische Erklärung zu sein.

Doch die Wahrheit konnte natürlich auch völlig anders aussehen. Geht mich ja alles gar nichts an, überlegte die junge Frau, während sie ihr Wägelchen hinter dem Haus parkte. Mir geht es nur darum, daß die Kinder gut versorgt sind, wenn ich hier weggehe.

*

Als Waltraud in die Diele trat, vernahm sie Kichern, dann Liesels heitere Stimme, in die Rita Römer einfiel.

Die beiden mußten sich im Wohnzimmer befinden, während das Baby wahrscheinlich noch oben in der Wiege seinen Nachmittagsschlaf hielt.

Gerade wollte sich Waltraud die Treppe hinaufschleichen, um zuvor rasch einen Blick auf Ulli zu werfen, als hinter ihr noch jemand ins Haus kam.

»Ach, da sind Sie ja wieder!« Martin Lorrimer warf ihr einen kurzen Blick zu und begann dann, seine dicke Lammfelljacke aufzuknöpfen.

Neuerdings behandelte er sie wieder ziemlich kühl, was Waltraud auf ihre Art zu deuten wußte. Nun, da ihre Zeit hier sowieso bald abgelaufen war, sparte sich der Forellenzüchter halt jedes überflüssige Wort.

Ohne eine Erwiderung eilte Waltraud die Treppe hinauf, betrat auf Zehenspitzen ihr Zimmer und – erstarrte. Sie stand zunächst völlig fassungslos da. Konnte es nicht begreifen.

Dann wandte sie sich um und lief die Treppe hinunter. Unten hatte Martin sich gerade aus seinem rechten Stiefel gequält und mühte sich nun mit dem linken ab. Es war immer eine Tortur, aus den hohen, engen Gummistiefeln herauszukommen.

Mit blassem Gesicht und zornig sprühenden Augen trat Waltraud dicht vor ihn hin.

»Wa – warum haben Sie das geduldet? Die Wiege! Warum ist sie nicht mehr in meinem Zimmer?«

Ein fester Ruck! So, nun hielt er den Stiefel in den Händen, starrte darauf hinab, als sehe er ihn zum erstenmal, wobei er ungeduldig knurrte: »Es mußte ja schließlich einmal sein. Ein paar Tage früher oder später macht doch nichts. Oder?«

Er hob rasch den Blick und schaute in Waltrauds erregte Augen. »Und geduldet? Ich selbst habe sie aus Ihrem Zimmer geholt.«

Waltraud stieß einen verächtlichen Laut aus, runzelte die dunklen Brauen zornig. »Das hätte ich nie von Ihnen gedacht, Martin Lorrimer. Aber…«

Sie mußte nun hinter ihm herrennen, weil er sich brüsk abgewandt hatte und zu seinem Büro ging. Nun betrat er es, ließ die Tür jedoch offen, so daß Waltraud gleichfalls eintreten konnte.

Was auch geschah. Mit empörter Miene drückte sie dann die Tür ins Schloß, fest entschlossen, endlich ihrem ganzen Groll einmal Luft zu machen.

Oh, es gefiel ihr einiges nicht an Martin Lorrimer. Es gefiel ihr auch an Rita Römer einiges nicht, aber da ein endgültiges Urteil abzugeben, schien ihr verfrüht. Es war alles Martins Schuld. Jawohl! Sein ganzes Wesen wirkte auf Frauen ungeheuer aufreizend. Seine Schweigsamkeit, die Blicke, die er manchmal über jemanden gleiten ließ, ohne ihn wirklich damit zu erfassen.

Er wirkte interessant durch seine offensichtliche Kühle und Zurückhaltung. Rita Römer fieberte danach, sein kaltes Herz zu entzünden, doch er selber schien dieses Bestreben völlig zu ignorieren.

Aber was geschah, wenn die hübsche heißblütige Frau es satt hatte, sich um Martin zu bemühen?

Oh, das ahnte Waltraud auch. Rita Römer würde sich in ihren Wagen setzen und wieder verschwinden, und es war ihr dann völlig gleichgültig, was mit Ulli und Liesel geschah.

»Sie selber haben also Ullis Wiege aus meinem Zimmer geholt«, begann sie immer noch sehr erregt.

Ungerührt nickte er, ließ sich im Schreibtischsessel nieder und griff zum Telefonhörer. »Warum stehen Sie da, wenn Sie schon mit mir streiten wollen?«

Er wählte eine Nummer, schaute sie unverwandt an, während er sich seinem kurzen Gespräch widmete, bei dem es sich um die Lieferung von Forellen handelte.

»Ja, Sie erhalten sie lebend. Sind gute Tiere. Nicht zu groß. Ja, Mittelklasse, habe verstanden. Morgen früh gegen sieben Uhr bin ich in Freiburg. Geht in Ordnung. Danke!«

Er legte den Hörer auf und schwang sich im Sessel zu Waltraud herum. »So, Mädel, nur zu. Machen Sie Ihrem Herzen Luft, doch vergessen Sie dabei bitte nicht, daß Sie es waren, die mir ständig in den Ohren lag, ich solle Rita herholen, weil Sie nicht länger bleiben könnten. Was also paßt Ihnen jetzt wieder nicht?«

Seine scharfen Worte schmerzten sie, aber sie durfte sich nur ja nichts anmerken lassen.

So entgegnete Waltraud mit mühsamer Beherrschung: »Es geht mir nur um Ulli. Ich denke, es hätte nichts ausgemacht, ihn erst in Fräulein Römers Zimmer zu stellen, wenn ich das Haus verlasse. Es stimmt zwar, daß Ulli des Nachts schon durchschläft, doch er – er deckt sich manchmal auf, und es ist doch noch so kalt in den Nächten.«

Immer stockender hatte Waltraud gesprochen, denn Martin Lorrimer blickte zuerst sehr verwundert, dann belustigt zu ihr auf, wobei er mit dem Drehstuhl hin und her schwang.

Das machte sie nun erneut zornig, und so fügte sie bitter hinzu: »Oh, ich weiß sehr gut, daß ich in Ihren Augen hier nicht mehr gebraucht werde. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan und kann gehen. Er stört nur noch. Dennoch, Martin Lorrimer, verzeihe ich Ihnen nie, daß – daß Sie mir den Jungen nicht so lange… Mein Gott, Rita Römer kann ihn doch ein Leben lang behüten, wenn – sie es richtig anstellt.«

Ihre leisen, verzweifelten Worte verklangen in einem erstickten Seufzer, Waltraud drehte sich um, tastete zur Türklinke und spürte plötzlich Martins Arm, der sich um ihre bebenden Schultern legte.

»Kommen Sie, Waltraud, ich muß Ihnen, glaube ich, etwas zeigen.«

Ihr Gesicht ruckte zu ihm herum. »Nein, bitte, ich kann jetzt nicht«, flehte sie mit Tränen im Blick.

»Sie müssen«, entgegnete er ruhig und schob seine Hand unter ihr Haar, bis sie fest Waltrauds Nacken umspannte.

Seine Berührung versetzte sie jedesmal in eine fast schmerzliche Spannung. Ob er das denn gar nicht ahnte? Sah er so wenig die Frau in ihr, daß er selber völlig ungerührt blieb, wenn sie sich, wie in diesem Augenblick wieder, so nahe kamen?

Nein, er blieb kalt und nüchtern. Waltraud sah es seiner Miene an, während sie Seite an Seite das Büro verließen, die Treppe hochstiegen, wobei seine Hand immer noch ihren Nacken berührte.

Mit der anderen öffnete er die Tür zu seinem Schlafzimmer, in dem immer noch die Ehebetten standen.

Und dort stand auch wieder die hübsche buntbemalte Bauernwiege, aus der mal leise, mal lautere Töne zu ihnen herüberdrangen. Ulrich schien wach zu sein. Doch friedlich wie er war, beschäftigte er sich mit sich selber.

Waltraud fand zunächst keine Worte, blickte nur von der Wiege zu Martin Lorrimer, der sie nun freigab und lächelnd meinte:

»Ja, ich habe meinen Sohn wieder zu mir genommen. Doch ich hätte es nicht getan, wenn mir eine Ahnung gekommen wäre, daß es Sie verletzen könnte, Waltraud.«

Sie schluckte trocken, schritt zur Balkontür, vor der die Wiege stand. Ja, vor der Balkontür, und nun war Waltraud noch mehr verunsichert.

Sie blickte in die Wiege hinein, und ein Lächeln überflog ihr Gesicht, als sie das Kind sah.

»Ulli! Mein kleiner Liebling. Bist wach und so artig.« Ihr Herz zuckte schmerzlich und glücklich zugleich. Oh, hüte man sich fremden Kindern zuviel Liebe entgegenzubringen, wenn man sie wieder verlassen muß. Es ging fast über ihre Kräfte, den kleinen Jungen, dessen ersten Schrei sie gehört hatte, wieder aus ihrem Leben zu streichen. Es war doch ihr Kind. Sie hatte ihn drei Monate lang gebadet, gefüttert, sein erstes Lächeln beobachtet.

Ihr zur Seite stand sein Vater und blickte gleichfalls zu seinem Sohn hinab. Seine Miene, das konnte Waltraud trotz der beginnenden Dämmerung erkennen, hatte sich verdüstert.

»Ich muß ihn bei mir haben, Waltraud«, sagte er rauh.

»Es mag Ihnen sonderbar erscheinen, und ich kann es Ihnen auch nicht näher erklären, doch der Junge – hier in diesem Raum – gibt mir ein Gefühl der Sicherheit. Er schützt mich vor Gefühlen, die Sie, mein unschuldiges kleines Schwarzwaldmädel, sicherlich nicht verstehen würden.«

Unwillkürlich hielt Waltraud den Atem an. Sie blickte zur Balkontür hinter dem Kopfende der Wiege und verstand plötzlich sehr gut, was er meinte.

Tiefes Rot flutete in ihre Wangen, und um den hellen, in leiser Ironie funkelnden Augen des Mannes ausweichen zu können, blickte sie wieder das Kind an.

Ulli stieß einen kleinen Jauchzer aus, sah unverwandt aus großen Augen zu ihr auf. Seine Händchen streckten sich zitternd und freudig ihr entgegen.

Waltraud schluckte ihre Tränen hinunter und lächelte stärker. »Dein Vater glaubt, ich sei dumm und wisse nichts. Nun gut, mein kleiner Ulli. Soll er bei seiner Meinung bleiben. Ich jedenfalls bleibe so lange bei dir, bis du von Rita Römer dein Fläschchen nimmst, ohne dich wie ein zorniges, verängstigtes Bärenkind aufzuführen.«

Nach diesen Worten wurde ihr tatsächlich freier ums Herz, und nun hob sie ihren Blick klar und eine Spur amüsiert zum Gesicht des Mannes auf.

Sein Lächeln wirkte eingefroren, als er zwingend fragte: »Haben Sie eigentlich schon einmal geliebt, Waltraud? Ich meine, beispielsweise den jungen Apotheker?«

Zunächst schwieg Waltraud, sah ihn jedoch immer noch an, ehe sie achselzuckend zurückgab: »Wenn Sie meinen, ob ich wirklich das dumme unschuldige Schwarzwaldmädel bin, für das Sie mich halten, so muß ich das zurückweisen. Ich bin eine Frau von fünfundzwanzig Jahren und halte mich durchaus für fähig, Gefühle zu verschenken. Doch ob es die Liebe war, die mich beispielsweise mit Peter Maier verband, wage ich zu bezweifeln.«

Angestrengt hatte er zugehört, um nun, als sich Waltraud schnell dem ungeduldiger werdenden Kind zuwandte, betont gleichgültig zu sagen: »Das war eine ehrliche Antwort, Waltraud. Ich – möchte Ihnen dafür danken.«

Verwundert blickte sie auf. »Danken? Warum? Was ist Besonderes an meinen Worten?«

Martin Lorrimer wandte sich der Tür zu, indes Waltraud den Jungen in seine Decke einhüllte und aufhob.

»Sie haben mir ein Geschenk gemacht, Mädel, und dafür habe ich mich bedankt«, tönte es gelassen herüber.

Martin drehte sich an der Tür um, ließ ihr mit dem Kind den Vortritt. Dann, als sie dicht an ihm vorbei mit dem Jungen aus dem Raum ging, geschah es.

Martin hielt sie zurück, legte eine Hand auf das Köpfchen seines Sohnes und umspannte mit der anderen Waltrauds Kinn, bog ihr Gesicht dem seinen zu und küßte sie auf den Mund.

Seine Lippen gruben sich flüchtig in ihre ein mit einem wilden hungrigen Begehren, das sie tief erschreckte.

Ebenso schnell gab er sie wieder frei, trat zurück und sagte rauh: »Ich stelle die Wiege doch besser wieder zu Ihnen herein, Waltraud. Es war Unsinn, sie dort fortzunehmen.«

Benommen drückte Waltraud das Kind an sich und ging die Treppe hinunter. Martin Lorrimer blieb zurück.

*

»Es hat keinen Sinn, ich schaffe es einfach nicht ohne Ihre Hilfe, Waltraud.«

Verzweifelt schüttelte Rita Römer den selbst am frühen Morgen hübsch frisierten Kopf und überließ Waltraud den schreienden Jungen.

»Ulli! Was ist nur in dich gefahren?« Zärtlich wischte die junge Hebamme zuerst einmal die dicken Kullertränen vom Gesichtchen des Babys, wiegte es dann beruhigend im Arm.

Genau auf den Tag wurde Ulrich vier Monate. Liesel, die dabeistand, als Waltraud es nun noch einmal mit dem Griesbrei versuchte, meinte tiefsinnig:

»Weißt du es noch, Waltraud? Eigentlich sollte Ulli ja Felix getauft werden. Felix der Glückliche. Nun scheint er sehr unglücklich zu werden. Mein Brüderchen wird nie mehr so lieb und artig sein.«

Liesels Blick ging zu den beiden Frauen, betrachtete mal Rita, die ihre Tante war und dabei der verstorbenen Mutter so ähnlich sah, dann wieder das vertraute Antlitz von Waltraud Böhm. »Jetzt ist er still, der Ulli«, sagte sie in kindlichem Ernst. »Siehst du nun, Waltraud, daß mein Brüderchen sich an dich gewöhnt hat und nie, niemals verwinden wird, wenn du uns wirklich übermorgen verläßt?«

Seufzend senkte Waltraud den Blick auf das Baby, das nun zufrieden einen Löffel nach dem anderen leerte. »Er wird sich sicher noch an Fräulein Römer gewöhnen, Lieselchen«, sagte sie unglücklich.

»Bestimmt wird er das.«

Rita schwieg, preßte ihre Lippen aufeinander und hatte doch verdächtig feuchte Augen. Sie tat Waltraud fast leid, denn all ihre Mühe fruchtete nicht. Aber vielleicht fehlte es ihr einfach nur an Ausdauer. Kinder merkten rasch, wenn man ihrer schnell leid wurde.

Und Liesel sagte es in diesem Augenblick auch mit der grausamen Offenheit, die Kindern eigen ist.

»Tante Rita ist ja auch viel glücklicher ohne uns. Am liebsten wäre sie mit – mit Papi allein. Ja, stimmt doch!«

Empört wollte Rita auffahren, doch das kleine Mädchen ließ sich nicht einschüchtern, sondern sagte in wildem Trotz: »Hab’ aber doch gehört, als du gestern erst zu meinem Papi gesagt hast, es sei jammerschade, daß ihr nicht mal eine Stunde für euch allein sein könntet. Immer sei jemand von uns in der Nähe. Entweder käme ich angerannt, oder der Ulli müsse trocken gelegt werden. Das sei doch schrecklich. Ja, genau das hast du gesagt.«

Plötzlich schluchzte Liesel bitterlich auf und verbarg ihr Gesichtchen an Waltrauds Schulter.

»Oh, Spätzchen! Sieh nur! Jetzt hast du Ullis Gesichtchen mit Grießbrei verschmiert. Sieh dir nur seine Miene an«, versuchte Waltraud das Kind von seinem Kummer abzulenken.

Und richtig! Liesel hob das blonde Köpfchen, sah Ulli an – und kicherte im nächsten Moment vergnügt auf.

Es sah aber auch wirklich zu drollig aus. An Ullis Pausbäckchen klebte Grieß­brei, und nun lachte er selber auch schelmisch seine große Schwester an.

Die Situation war gerettet. Ulli, nun satt, blickte friedlich umher, als Waltraud ihn zurück in den Stubenwagen bettete.

Für Liesel wurde es höchste Zeit, denn der Schulbus fuhr in den Hof ein. Heute war ihr Papi nicht zur Stelle, um ihr beim Einsteigen zu helfen; er war schon unterwegs nach Freiburg, um dort Forellen abzuliefern.

»Warum reagierte Liesel so böse?« Rita Römer stand am Fenster, als Waltraud von der Haustür zurückkehrte. Der Bus fuhr schon die Abfahrt hinunter.

»Böse? Sie sagte nur die Wahrheit. Kinder sagen stets, was sie ehrlich empfinden. Natürlich wären Sie lieber mit Martin Lorrimer allein hier in dem schönen Haus. Doch leider sind da zwei Kinder, die ihr Recht fordern. Das paßt Ihnen nicht so recht ins Konzept, nicht wahr, Fräulein Römer? Gut, Sie geben sich alle Mühe. Das akzeptiere ich. Doch leider genügt Mühe allein nicht, um die Herzen der Kinder zu gewinnen. Ulli und Liesel müssen spüren, daß es Ihnen ernst ist mit Ihren Bemühungen. Dazu gehören Ausdauer und Liebe. Lieben Sie die Kinder eigentlich? Das würde mich sehr interessieren, Fräulein Römer. Sie sind nun schon vierzehn Tage im Haus, Sie lachen mit Liesel und beschäftigen sich auch mit ihr, doch habe ich nicht ein einziges Mal gesehen, daß Sie dem Kind eine Zärtlichkeit schenkten. Von Ulli will ich gar nicht reden, weil Sie ja ohnehin kaum wagen, das Baby auf den Arm zu nehmen.«

Waltraud kamen einige Bedenken. Ja, sie bezweifelte plötzlich wirklich ernsthaft, ob Rita Römer für Ulli und Liesel eine neue Mutter sein könnte.

So fragte sie noch einmal eindringlich: »Lieben Sie die Kinder? Haben Sie Ulli und Liesel wenigstens von Herzen gern?«

Rita zuckte mit den Achseln und entgegnete schlicht. »Ich liebe Martin.«

»Dann versuchen Sie es doch ihm zuliebe«, sagte sie dennoch fest, »und sind etwas herzlicher zu Ulli und Liesel. Besonders zu dem kleinen Mädchen.«

Die beiden Frauen maßen sich eine Weile schweigend mit Blicken, bis Rita die sorgfältig nachgemalten Brauen hob, lächelte und meinte:

»Sie sollten hier bei den Kindern weitermachen. Ja, ich sollte Sie als gute Tante herzlich darum bitten, weiterhin so treu für Ulli und Liesel zu sorgen, doch ich tu’s aus einem so egoistischen Grund nicht. Ich – will mir Martin endlich erkämpfen. Sie sollen wissen, daß wir beide…«

Sie unterbrach sich, biß sich nachdenklich mit den regelmäßigen weißen Zähnen in die Unterlippe, als bereue sie diese voreiligen Worte.

Doch Waltraud meinte leichthin: »Ich weiß es bereits, Fräulein Römer. Ich bin zwar in einer Kleinstadt aufgewachsen, dennoch weder blind noch taub. Sie waren Martins Geliebte, nehme ich an. Es interessiert mich jedoch nicht weiter, es geht mich ja auch nichts an. Ich finde es sogar gut, denn je eher die Kinder wieder eine Mutter bekommen, um so besser ist es für die beiden.«

Perlend lachte Rita auf, schüttelte den Kopf und meinte: »Sie sind schon ein sonderbares Mädchen. Wissen Sie, was ich annahm, als ich Sie bei meiner Ankunft zum ersten Mal sah?«

Waltraud war nun sehr verwirrt. »Nein, was – was denn?« stammelte sie unruhig.

»Ich nahm an, Sie seien schrecklich verliebt in Martin. Ich nahm ferner an, auch er sei verliebt in Sie, Kleines. Doch zum Glück scheint dies ja nicht der Fall zu sein. Wenngleich…«

»Was? Was wenngleich?« fragte Waltraud mit jagendem Herzen und trat etwas in den Hintergrund der Küche.

»Wenngleich man bei Martin nie genau wissen kann, woran man ist. Er wirkt ja äußerlich meistens sehr kühl, dabei kann er überaus hitzig werden.«

Rita Römer schwieg, ihr Atem ging schneller, das sah Waltraud deutlich wegen des knappen Pullis, der Ritas Brust eng umspannte. Zu ihrer eigenen Bestürzung mußte sie in diesem Augenblick an den überraschenden Kuß denken, den Martin Lorrimer ihr gestern stahl. Ja, stahl. Und auch er verriet eine fast ungezügelte Leidenschaft.

Ganz trocken wurde ihre Kehle, als sie ihr Blut in die Wangen steigen fühlte. Zudem spürte sie die wachsamen Blicke Ritas, vernahm ihre Stimme sonderbar bewegt, als sie sagte:

»Manchmal denke ich – es liege Martin immer noch schwer auf der Seele, daß er damals seine Frau mit mir betrogen hat. Im Grunde ist er ein Moralist, der Gute.«

Entsetzt starrte Waltraud in die spöttischen Augen der hübschen Frau, die Inge Lorrimer so sehr ähnelte. »Betrogen? Ja, war Martin denn damals schon verheiratet? Ich meine, es war doch Ihre Schwester. Sie können doch nicht Ihrer eigenen Schwester den – den Mann gestohlen haben.«

Fast mitleidsvoll sah Rita Römer in ihr blaß gewordenes Gesicht. »Ach, Kleines! Fragt denn Liebe danach? Ja, leider waren Inge und Martin verheiratet, als ich zu ihnen in die Gaststätte kam als Serviererin. Inge erwartete damals die kleine Liesel und nun ja, sie hat Martin vernachlässigt. Aber keine Bange, da war noch nichts zwischen uns. Ich sagte doch schon, daß Martin eigentlich ein überaus moralisch empfindender Mann ist. Er hätte seine schwangere Frau niemals betrogen. Doch leider vergaß meine liebe Schwester auch nach Liesels Geburt, daß da außer dem süßen Töchterchen auch noch ein Mann war.«

Plötzlich fühlte sich Waltraud erschöpft und deprimiert. »Es geht mich ja alles gar nichts an«, murmelte sie und begann den Frühstückstisch abzuräumen. »Was geht es mich denn an, wann und warum Sie und Martin Lorrimer ein Verhältnis miteinander begannen? Kann mir schon denken, wie so was bei einem Moralisten endet. Eines Tages hatte er von dem Betrug an Frau und Kind die Nase voll, verkaufte seine Gaststätte und fing hier in St. Blasien neu an. Und seine Frau hatte ihm vermutlich verziehen, als er ihr seinen Fehltritt beichtete.«

Wieder lachte Rita auf. Diesmal eine Spur bitter. »Stimmt! Genauso endete unsere Liebe. Aber vielleicht wird sie auferstehen. Mal sehen! Was denken Sie, Schwarzwaldmädchen?«

Waltraud ging an den Stubenwagen und betrachtete den Jungen, der auch sie sofort mit seinen hellen Augen sah und aufgeregt zu strampeln begann. Der Junge wurde seinem Vater immer ähnlicher. Und nun lächelte er sie schelmisch an und spreizte beide Händchen.

»Sie müssen die Herzen seiner Kinder gewinnen, Rita, sonst werden Sie scheitern. Ich glaube, den alten Martin Lorrimer gibt es nicht mehr. Dieser Mann, den ich kenne, ist ein völlig anderer. Ein stiller, in sich gekehrter Mann, der hart arbeitet und für seine Kinder eine Zukunft schaffen will. Darin hat nur eine Frau ihren festen Platz, die ihm ebenbürtig ist. Leidenschaft allein reicht Martin Lorrimer mittlerweile nicht mehr. Ja, ich weiß nun, daß ihn heute die verbotene Liebe, die Sie beide damals miteinander erlebten, quält und bedrückt. Der Tod seiner Frau hat ihn geläutert, und er bereut es längst, Inge betrogen zu haben. Er würde es gern ungeschehen machen, weil er ihr damals sehr weh getan hat. Bitte, machen Sie es ihm nicht noch schwerer.«

Waltraud sah auf in das Gesicht der jungen Frau. Rita Römer zuckte mit keiner Wimper, doch die junge Hebamme ließ sich nicht täuschen und bemerkte ihre Ergriffenheit.

Und nun sagte Rita leise: »Vielleicht war es ein Fehler von mir, hierhergekommen zu sein.«

Energisch schüttelte Waltraud den Kopf und gab zurück: »Das war es nur, wenn Sie einzig wegen Martin kamen. Zu ihm gehören Ulli und Liesel. Das sollten Sie nicht vergessen, Rita.«

Da nickte Rita und entgegnete bestimmt: »Nun gut, Waltraud, dann tun auch Sie endlich das Richtige. Gehen Sie fort von hier. Ich bin ja nun da, und wenn die Kinder Sie nicht immer vor Augen haben, werden sie sich viel schneller an mich gewöhnen. Doch gehen Sie nicht erst übermorgen oder in einer Woche oder irgendwann einmal. Nein, am besten wird es sein, wenn Sie sofort das Haus verlassen.«

Entsetzt blickte Waltraud zu ihr hinüber. »Sofort? Ohne Abschied zu nehmen von Liesel und…« Sie verstummte, senkte den Blick wieder zu Ulli und fühlte eine heiße Blutwelle in ihre Wangen steigen, denn Rita funkelte sie plötzlich sehr spöttisch an. Und meinte dann:

»Von Martin, nicht wahr? Ohne Abschied zu nehmen von ihm. Das trifft Sie, Waltraud, ich verstehe. Ich beginne sowieso langsam zu begreifen, daß zwischen Martin und Ihnen mehr besteht als die Sorge um Ullis Gedeihen.«

»Nein! Oh, nein, Sie irren«, stieß Waltraud bebend hervor und blickte die hübsche Frau beschwörend an. »Es ist nur, weil Ulli von Ihnen seine Flasche so ungern nimmt. Er ist noch ein Baby und…«

Ungerührt warf Rita dazwischen: »So werd ich Liesel anleiten, ihr Brüderchen zu füttern, bis sich der Junge an mich gewöhnt hat. Liesel ist doch schon acht Jahre alt und sehr vernünftig für ihr Alter. Es wird gehen. Bitte, glauben Sie doch. Es wird alles wunderbar, wenn Sie nicht ständig dabei sind.«

Da senkte Waltraud wortlos den Blick wieder auf das Kind und mußte bitter erkennen, daß Rita Römer in ihr eine Rivalin vermutete und sie darum aus dem Haus entfernen wollte.

Sie sagte es dann auch in ihrer offenen Art. Sagte ganz gelassen und ungerührt: »Überlegen Sie sich meinen Vorschlag in aller Ruhe, Waltraud. Entweder Sie oder ich. Sollten Sie nicht heute noch Martins Haus verlassen, so werde ich es tun. Ich habe lange genug ertragen, wie sehr die Kinder leuchtende Augen bekommen bei Ihrem Anblick. Denken Sie, ich kenne Martins Überlegungen nicht? Er hat uns beide längst heimlich miteinander verglichen, und ich bin dabei bestimmt nicht sonderlich gut davongekommen. Schon aus diesem Grund wäre es mir lieber, wenn Sie bald aus seinem Blickfeld verschwänden. Aus seinem und dem der Kinder.«

Ullis Händchen, seine zarten Finger, umklammerten die ihren, und bei der fremden lauten Stimme verzog sich sein Gesicht zum Weinen.

»Still, mein Liebling«, flüsterte Waltraud und neigte sich über ihn. »Sei ganz still, mein Bübchen. Dein Vater kümmert sich schon um unseren Ulli.«

Und sich wieder aufrichtend, sagte sie bittend zu Rita: »Also gut, ich packe meine Sachen, aber – bitte, achten Sie auf das Baby. Denken Sie daran, daß der kleine Kerl keine Mutter mehr hat. Ihrer toten Schwester zuliebe seien Sie fürsorglich zu dem Kleinen.«

Fast ärgerlich runzelte Rita die Brauen. »Ich verspreche Ihnen sogar, daß ich Sie rufen lasse, wenn es wirklich mit mir und dem Kind nicht geht. Zufrieden, Waltraud?«

Da atmete diese erleichtert auf. »Danke, Rita. Ja, ich bin zufrieden. Es stimmt, was Martin einmal zu mir sagte, Sie – sind eine patente Frau.«

*

Pünktlich wie versprochen lieferte Martin Lorrimer seine Forellen in einem renommierten Freiburger Hotel ab.

Er machte sich sofort auf den Heimweg und kam unerwartet früh wieder in St. Blasien an, durchfuhr die hübsche Kurstadt, nahm dann jedoch nicht den gewohnten Weg über die Landstraße ins Mühltal, sondern bog kurz davor ab in Richtung Friedhof.

Gegenüber der Kirche parkte er seinen Wagen, stieg aus und ging durch das schmiedeeiserne Friedhofstor, blickte sich flüchtig suchend um, denn die Veränderungen innerhalb der Grab­anlagen muteten ihn sonderbar fremd an.

Jetzt hatte Lorrimer sich orientiert und schritt dem Grab seiner Frau zu. Er hatte vor Tagen einer Gärtnerei den Auftrag erteilt, die Grabstätte mit Frühlingsblumen zu bepflanzen. Mal sehen, dachte er, ob man diesen Auftrag schon ausgeführt hatte.

Ja, da war es! Noch ohne Grabstein. Nur das schlichte kleine Holzkreuz am Kopfende. Noch ein Hügel, noch ganz frisch. Doch nun – mit Primeln und Stiefmütterchen bedeckt, sah es ordentlich aus. Freundlich! Inge sähe es gern so. Sie liebte die einfachen Frühlingsblumen – wie ja überhaupt die kleinen netten Dinge des Lebens. Nie war sie wie Rita. Kannte eigentlich keine Höhen und Tiefen. War stets von gleichbleibender Heiterkeit, bis…

»Warum nur, Inge?« stieß Martin mit zusammengepreßten Zähnen hervor. »Warum diese Veränderung in deinem Wesen, in einer Zeit, die dir doch besondere Ruhe und Abgeklärtheit schenken sollte? So war es bei Liesel, und – so während der Schwangerschaft mit Ulli. Was ging nur in dir vor, mein Liebes? Wenn ich das doch im nachhinein noch ergründen könnte.«

Martin strich sich über die Stirn, als könne er so die quälenden Überlegungen auslöschen, die ihn oft zu überwältigen drohten.

Im Grunde hatten sie keine gute Ehe geführt, Inge und er. Das wußte er heute. Es war, als hätten sie in zwei verschiedenen Welten gelebt.

Inge ging voll in ihrer Rolle als Mutter auf. Das Kind, die Liesel, bedeutete ihr alles. All ihre Gedanken galten dem kleinen, zunächst außerordentlich zarten Kind. Ihre Fürsorge erstreckte sich ausschließlich darauf, und so kam es, daß sie für ihn, den Mann, kaum noch Liebe und Zärtlichkeit hatte.

Natürlich liebte auch er sein Kind. Jawohl, das tat er. Hatte später sein Restaurant nicht nur verkauft wegen der Affäre mit Rita. Nein, das Kind sollte an frischer Luft, in einem geregelten Haushalt aufwachsen. Nicht in der Atmosphäre aufwachsen müssen, die doch einer Nachtbar ähnelte, denn das Restaurant besaß eine kleine intime Kellerbar, in der Rita Römer noch bis vor kurzem tätig war.

Rita paßte dort hinein.

Aufwachend aus seinen Gedanken, schüttelte Martin den Kopf, blickte zum Kreuz und murmelte: »Inge, gib es doch zu. Die Geschichte mit Rita wäre damals nicht passiert, wenn ich mich von dir nicht so vernachlässigt gefühlt hätte.«

In der hochstämmigen Kiefer über dem Grab säuselte der Aprilwind.

Martin Lorrimer blickte hoch, glaubte darin das Lachen einer Frau zu vernehmen. Ein sanftes, spöttisches Lachen aus einer anderen Welt.

»Inge«, stöhnte er verwundert und betroffen auf. »Inge, bin ich verrückt geworden, oder was bedeutet diese sonderbare Stunde hier?«

Wieder tastete er mit der Hand zur Schläfe, hinter der sein Blut pochte. Er mußte endlich aufhören damit, ständig laut vor sich hin zu reden. Was war nur mit ihm los? Nie zuvor fühlte er sich so zerrissen, so angerührt von etwas – Unbeschreiblichem.

Doch was glaubte er vorhin von den Lippen seiner Frau vernommen zu haben? Wovon sollte er gehört haben?

Ach ja! Natürlich! Wie einfach plötzlich alles wurde. Er verstand. Fühlte sich jählings tief erleichtert, als er nunmehr nicht mehr laut, sondern lautlos zu sich selber und zu – Inge sagte:

»Ich werde der Gesellschaft Genüge tun und das Jahr meiner Trauer vollenden, ohne dir, liebste Inge, die Treue zu brechen. Zufrieden damit, mein armes Weib?«

Ja, sie mußte es wohl sein, denn plötzlich zeigte sich die Welt wieder so nüchtern und klar wie vorhin. Die Frühlingsblumen auf dem Grabhügel zitterten im Wind und neigten zustimmend ihre Blütenköpfchen.

Martin mußte unwillkürlich lächeln und war froh, keinen Zuschauer gehabt zu haben.

Drüben an der Kirchenmauer jedoch standen drei ältere Frauen, die in ein erregtes Gespräch vertieft waren.

Sie sahen den hochgewachsenen sportlich gekleideten Mann nicht, der nun unwillkürlich seinen Schritt verhielt und zuhörte.

»Frau Böhm«, sagte eine der Frauen mit vor Empörung zittriger Stimme, »wissen Sie denn gar nicht, was man sich alles schon über diese seltsame Tätigkeit der Waltraud zuflüstert? Holen Sie das Kind doch schnell von dort fort. Der Lorrimer ist ein arger Taugenichts. Wenigstens war er es früher mal. Hatte eine Nachtbar und fuhr einen – einen Rennwagen. Nun ja, jetzt fährt er ja mit seinen Forellen.«

Die Frauen kicherten amüsiert, und auch um Martins Mund zuckte es belustigt, dabei jedoch war er zornig wie nie in seinem Leben.

Diese geschwätzigen Elstern. Doch waren sie so ganz im Unrecht, diese braven Frauen?

Lorrimer dachte an den Kuß, den er Waltraud gestern beim Verlassen seines Schlafzimmers gab. Und er dachte daran, wie sehr sein Blut dabei in Wallung geriet. Oh, er wußte sehr gut, um seine unergründliche, tiefe Leidenschaft für dieses Mädchen.

Frau Böhm schien sich nun mit einigen, allerdings recht kläglichen Versuchen rechtfertigen zu wollen. Ihre Waltraud sei schließlich kein Kind mehr. Sie wisse genau, wie weit sie bei dem Lorrimer zu gehen habe. Außerdem käme sie wirklich bald heim.

Darauf reagierten die beiden anderen Frauen mit einem Lachen. Einem Lachen, das regelrecht boshaft in Martins Ohren klang.

Fast tat ihm Frau Böhm leid, die nun kein Wort mehr sagte, sondern sich umwandte und in die Küche trat.

Die beiden Frauen folgten ihr.

Martin Lorrimer ging zu seinem Wagen und fuhr nachdenklich dem Mühltal entgegen.

Er wußte plötzlich, was er tun mußte. Noch heute. Doch es tat ihm leid, und hoffentlich begriff Waltraud seine Lage.

Aber durfte er überhaupt in aller Deutlichkeit seine Wünsche und Hoffnungen jetzt schon an sie herantragen?

Nein! Das wäre höchst unfair ihr gegenüber. Sie hatte schon viel zu lange seine Probleme zu ihren eigenen gemacht. Sie war jung und sollte sich frei fühlen. Und wenn sie eines Tages zu ihm käme, sollte es nicht wegen seiner Kinder sein. Nein, er wollte, daß sie zu ihm käme. Natürlich mochte sie die Kinder, und es war darum besonders schön zu wissen, daß sie ihn – liebte. Ja, sie liebte ihn, dessen war er sicher.

Aber sie soll sich frei fühlen, bis das Jahr meiner Trauer vorbei ist, sann Martin Lorrimer und fühlte sich beruhigt und wieder gelassen.

Er lenkte seinen Wagen auf den holp­rigen Weg, der hinter die Mühle führte. Dort stellte er ihn ab, um zuerst einmal zu der Schleuse des hinteren Teiches zu gehen. Gestern abend hatte er sie geschlossen und damit die Wasserzufuhr gestoppt.

Doch nun mußten die Fische in diesem Teil der Anlage wieder vom sauerstoffreichen Wasser des Baches einiges dazubekommen.

Lorrimer war bei der Schleuse angelangt, hievte sie hoch, und das Wasser des Mühlbachs schoß darunter hervor in den Teich.

Schon wollte sich Martin aufrichten, als das Schleusengatter wieder herunterrasselte und seine Hand traf.

*

Also ohne Abschied von der kleinen Liesel!

Waltraud begriff es nur schwer, als sie in dem netten Zimmer begann, ihre Sachen zu packen. Es war in den nunmehr fast drei Monaten einiges zusammengekommen, aber sie konnte ja alles bequem in ihrem Wagen verstauen.

Ich bliebe viel lieber hier, mußte Waltraud sich insgeheim eingestehen, während sie den Koffer hinuntertrug, ihn im Kofferraum ihres Wagens verstaute.

Ulli weinte, mußte aus dem Schlummer aufgeschreckt sein. Ob er sich rasch wieder beruhigte?

Nicht hinhören, Waltraud, rief sie sich energisch zu und blieb dennoch vor der Tür zur Küche stehen.

Rita schien mit dem Baby zu reden, aber Ulli schrie aus Leibeskräften.

Langsam ging Waltraud die Treppe hinauf, um ihren zweiten kleineren Koffer und die Reisetasche zu holen.

Als sie zurückkehrte, die Zimmertür sorgsam zumachte, wobei ihr letzter Blick zur Wiege ging, die dort so verlassen wirkte, rief Rita ungeduldig ihren Namen.

»Ich werde verrückt«, jammerte sie und trat an den Fuß der Treppe, »aber der Junge ist richtig blau im Gesicht, so schreit er. Was soll ich nur tun?«

Fast wäre Waltraud zornig aufgefahren, doch sie beherrschte sich und antwortete: »Ihn zunächst einmal hochnehmen und zu beruhigen versuchen. Warten Sie, ich komme.«

Sie stellte ihr Gepäck ab und betrat vor Rita die Küche. Das Baby war naß und schrie deshalb. Waltraud legte Ulli trocken, und Rita stand wortlos dabei.

Waltraud blieb dann noch, bis Ulli fest eingeschlafen war.

Sichtlich erleichtert, sank Rita im Wohnzimmer in einen Sessel, streckte die Beine aus und griff nach ihren Zigaretten.

»Jetzt werde ich erst einmal in aller Ruhe eine Zigarette rauchen«, sagte sie und stieß den blauen Rauch genüßlich zur Decke.

»Vergessen Sie nicht, daß in einer Stunde Liesel schon aus der Schule kommt und ihr Mittagessen haben will«, spottete Waltraud gutmütig, »und Martin ißt ja neuerdings auch mit uns. Er – wird hungrig sein, denn sein Tag begann heute gegen fünf Uhr in der Frühe. Ja, dann auf Wiedersehen, Rita. Grüßen Sie den Hausherrn von mir.«

Rita nahm die Beine von der Sessellehne und stöhnte ärgerlich auf. »Schon gut, Schwarzwaldmädel! So deutlich brauchen Sie mir nicht gerade zu sagen, daß ich als Hausfrau eine Niete bin. Begebe ich mich also an den Herd. Aber könnten Sie mir nicht noch einen letzten Gefallen erweisen?«

Rita blickte sie so treuherzig an, daß Waltraud unwillkürlich lachen mußte. »Also was denn noch? Ich denke, je eher ich hier verschwinde, um so besser ist es für alle Beteiligten.«

Zunächst nahm Rita einen langen Zug aus der Zigarette, legte sie dann in einen Aschenbecher und erklärte: »Ich habe Martin versprechen müssen, falls er nicht rechtzeitig bis zwölf Uhr zurück sein sollte, drüben bei der alten Mühle die Fischbrut zu füttern. Ja, sehen Sie mich nicht so erstaunt an, er hat es mir zugedacht, die lieben Tierchen zu versorgen, aber es graust mich, dort hinüberzugehen. Könnten Sie das nicht für mich übernehmen?«

Waltraud war in der Tat sehr erstaunt. Sie wußte um diese Fischbrut, die regelmäßig nach der Uhr versorgt werden mußte. Sie hatte es einige Male übernommen, und Martin schien stets zufrieden gewesen zu sein.

Und nun hat er Rita damit beauftragt, dachte sie schmerzlich berührt. Warum nur?

Zugleich aber mußte sie zugeben, daß dem Forellenzüchter gar keine andere Wahl blieb, als Rita in einige Dinge einzuarbeiten, denn Waltraud Böhms Tage waren hier ja schon gezählt.

»Na gut, ich gehe zur Mühle«, sagte sie darum und verließ das Haus.

Im Mühlraum, wo vor vielen Jahren einmal das Korn zu Mehl gemahlen wurde, standen in einer Nische der Ofen und das alte Sofa. Dort gab es auch einen alten Tisch, einen Stuhl, lagen einige Zeitschriften umher.

In einer anderen Ecke stapelten sich die Säcke mit dem Fischfutter, dazwischen große Wasserbehälter.

Waltraud hielt sich hier nicht lange auf. Sie mußte den großen Raum durchqueren, um zu den Brutbehältern zu gelangen.

Doch bevor sie weiterging, vernahm sie Schritte außerhalb der Mühle. Sie kamen von der entgegengesetzten Richtung und stiegen nun die Außenleiter hoch.

Doch im nächsten Moment unterdrückte sie einen Schreckensschrei. Martin Lorrimer starrte sie verwundert an. »Was tun Sie denn hier? Ich hatte doch Rita…«

Er brach ab, zog schmerzlich die Brauen zusammen, während Waltraud schon zum Tisch eilte, auf dem, wie sie wußte, der Kasten mit Verbandszeug stand.

»Wie ist denn das passiert?« fragte sie anstatt einer Antwort und warf einen Blick auf die verletzte Hand des Mannes.

»Das Schleusengatter ist plötzlich heruntergerasselt«, stöhnte er und ließ sich auf das Sofa niederfallen, »mir direkt auf den Handrücken. Ich verstehe immer noch nicht, wie das passieren konnte. Doch nun sagen Sie mir endlich, was Sie hier suchen? Hat Rita Ihnen das mit der Fischbrut übertragen? Na, hätte ich mir denken können, daß die Gnädige dazu nicht taugt.«

Er schloß die Augen und überließ Waltraud die Hand, auf deren Rücken sich eine häßliche tiefe Wunde zeigte, aus der Blut quoll.

»Ich gehe heute schon fort, und da habe ich das schnell noch erledigen wollen«, sagte Waltraud und begann, das Blut mit einem jodgetränkten Tuch behutsam abzuwischen.

Martin zuckte zusammen, biß die Zähne aufeinander, so daß seine Wangenknochen hart hervortraten.

Waltraud sah es und fragte leise: »Tut es sehr weh? Aber es muß sein, verstehen Sie. Die Wunde muß desinfiziert werden.«

»Ja, es schmerzt«, antwortete Martin und blickte sie mit sonderbarer Anspannung an, »doch es muß sein, Sie haben recht, Waltraud.«

Ihr kam der Gedanke, seine Worte seien in einem völlig anderen Sinne gemeint als ihre.

Ja, so mußte es sein, denn nun fügte er grimmig hinzu: »Der Schein muß gewahrt werden. Hörst du, Mädel! Es ist nun mal so, die Leute erwarten es, und – ich selber will es meiner verstorbenen Frau wegen. Hoffentlich, Waltraud, bist du klug genug, um mich zu verstehen.«

Mittlerweile hatte sie begonnen, seine Hand mit einer Mullbinde zu umwickeln. Nein, um ehrlich zu sein, sie verstand ihn nicht. Sie hörte nur, daß er kein Wort des Bedauerns sagte. Das hätte ihr den Abschied erleichtert. Nur ein paar Worte. Es täte ihm leid, daß seine Kinder eine so nette Person verlieren würden. Oder daß er sehr gut wüßte, wie gern sie im Grunde bei ihnen geblieben wäre. Oder wenigstens, daß Ulli und Liesel sie nicht so schnell vergessen würden.

Doch von alldem sagte er kein Wort, und langsam stiegen in Waltrauds Augen heiße Tränen auf, lösten sich endlich von den Wimpern, rannen über ihre Wangen, tropften auf den Verband.

Sie konnte nichts dagegen tun. Konnte sie nicht einmal von ihren Wangen wischen, denn ihre Hände waren noch mit Martins verletzter Hand beschäftigt.

Er bemerkte zwar ihre Tränen, doch auch diese schienen ihn nicht sonderlich zu bewegen, denn er fuhr ruhig fort mit seinem unverständlichen Gerede:

»Anders, Mädel, würden die Leute es nicht verstehen, und wer kann sagen, ob es nicht zum Besten für uns ist? Es vertieft das, worüber ich jetzt noch nicht reden kann und – will.«

»Sind Sie geimpft?« fragte sie besorgt und gab seine Hand nur zögernd frei. »Sie sollten schnell einen Arzt aufsuchen. Dies hier ist nur eine Notlösung. Die Wunde sieht übel aus.«

Nun lachte er und nickte bestätigend. »Ja, es ist nur einen vorübergehende Notlösung, Waltraud. Registriere das in deinem zauberhaften Köpfchen.«

Er sagte du zu ihr, bemerkte sie plötzlich verwirrt. Doch seine Worte riefen eine ungute Erinnerung in ihr wach. »Es genügt wohl, daß Rita einige Ihrer Worte in ihrem Köpfchen registrierte«, spottete sie mit wehem Herzen.

»Ich für meine Person habe genug von Ihnen. Leben Sie wohl, Martin Lorrimer.«

»Nein! Nicht so, Waltraud«, murmelte er nahe vor ihrem Mund. »Ich habe dich gestern geküßt, und es schien dir nicht gerade angenehm zu sein. Das bedaure ich, Mädel, und da du meine Worte schon nicht in Erinnerung behalten willst, muß ich dir auf andere Weise zeigen, wie es um uns steht.«

Ehe Waltraud die Kraft fand, ihn energisch von sich zu stoßen, küßte er sie in atemberaubender Zärtlichkeit auf den Mund.

Längst hatten sich ihre Arme um seinen Hals gelegt, und sie erwiderte seine Küsse mit der ganzen Innigkeit, die Martins Nähe ihr vermittelte.

Bis sie schließlich beide atemlos und mit erregter Miene einander betrachteten, schweigend und schmerzlich verlangend.

Waltraud umspannte mit beiden Händen sein schmales, kantiges Gesicht, blickte ihn an und wußte, daß sie ihn immer lieben würde. Doch er ließ sie trotzdem gehen. Oh, er liebte wahrscheinlich Rita immer noch. Kam nicht von der rassigen Frau los. Egal! In diesen Minuten zählten nur sie beide.

Wieder verdunkelten Tränen ihren Blick, die er in einer plötzlichen Aufwallung aus ihren Augen fortküßte.

»Nicht! Weine bitte nicht. Mache es nicht noch schwerer«, murmelte er rauh und preßte sein Gesicht an ihren zarten Hals.

Sie erschauderte, bog ihren Körper von ihm fort, der zuvor unbewußt den seinen gesucht hatte.

Sein Blick verengte sich, er unterdrückte ein Stöhnen und erhob sich brüsk. »Geh nun, Waltraud«, befahl er heiser und trat von ihr fort an den Tisch.

*

Zwei Tage verbrachte Waltraud in lähmender Untätigkeit, dann begann für sie wieder der Alltag einer Landhebamme.

Frau Speidel rief sie zu Hilfe, und Waltraud kam der Aufforderung gern nach. Sie fuhr zusammen mit der alten Hebamme zu einer Bäuerin nach Gronau hinauf.

Die Geburt verlief schnell und gut, die Frau bekam ihr drittes Kind, ein Mädchen. Zwei Buben im Alter von vier und sechs Jahren hatte das Ehepaar schon.

Glücklich und zufrieden fuhr Waltraud heim, indes die alte Hebamme bei dem Bauern übernachten würde, um die junge Mutter und ihr Neugeborenes auch am folgenden Tag zu betreuen.

Ihren Wagen stellte Waltraud vor der Garage ab. Sie blickte auf die nahe Kirchturmuhr und dachte fast automatisch daran, daß um diese Zeit der Schulbus bei Martin Lorrimer in den Hof fuhr, um Liesel zurückzubringen.

Hoffentlich schafft es Rita, überlegte sie und ging zur Haustür.

Frau Böhm erwartete sie und hatte ein ärgerlich-mitleidiges Gesicht aufgesetzt.

»Was ist, Mama? Was schaust du so beleidigt drein?« fragte Waltraud und schälte sich aus der Wildlederjacke.

Ihre Mutter machte ein Zeichen zur Treppe hin, wo Waltraud ein Appartement unter dem Dach des kleinen Fachwerkhauses bewohnte.

Verwundert sah sie die Mutter an, spürte im gleichen Moment ihr Herz heftig schlagen. Besuch für sie? Vielleicht Martin?

Schon lief sie die Treppe hoch, vernahm hinter sich die Stimme der Mutter:

»Das Essen ist fertig. Kaum bist du wieder zu Hause, da geht es schon los mit…«

Mehr hörte Waltraud nicht, denn sie war in ihr Wohnzimmer eingetreten und schloß hinter sich rasch die Tür.

»Ja, Liesel! Was machst du denn hier um diese Zeit?« Besorgt blickte sie das Kind an, um plötzlich den Blick zu senken, denn da stand ein so trostloser Ausdruck im Gesicht der kleinen Liesel Lorrimer.

Sie saß aufrecht und still in einem der Sessel und blickte Waltraud groß und anklagend an. Ihre Schultasche stand neben dem Sessel, und Waltraud vermutete, daß Liesel, statt auf den Schulbus zu warten, einfach von der Grundschule hierhergekommen war.

»Liesel«, sagte sie sanft und näherte sich dem Kind. »Weiß deine Tante, daß du mich besuchst? Oder hast du deinem Papi Bescheid gesagt? Man kann nicht einfach von zu Hause fortbleiben, weil sich sonst die Angehörigen sorgen. Verstehst du das, Spätzchen? Aber es ist schön, daß du mich…«

»Ach! Aber einfach fortgehen, das – das darf man«, kam es hoch und schrill von Liesels Lippen. Und nun schoben sich die Brauen zornig über der Nasenwurzel zusammen, während sie heftig hervorstieß: »Besuchen? Ich will dich ja gar nicht besuchen. Ich will dir nur sagen, wie gemein ich es finde, ohne ein Wort zu sagen einfach fortzugehen. Oder denkst du, ein – ein Kind sorgt sich nicht? Ich hab’ mir doch auch um dich Sorgen gemacht.«

Der Zorn war verraucht, Liesels Augen füllten sich mit Tränen, und im nächsten Moment lag der zarte Körper an Waltrauds Herzen.

»Liesel! Oh, mein armes Spätzchen«, murmelte diese und umschloß das Kind mit beiden Armen, wiegte es sanft hin und her.

»Es tut mir so leid, meine Kleine. Doch du mußt das verstehen. Ich wollte es nur für dich leichter machen. Weißt du, Liesel, es fällt oft sehr schwer, Abschied nehmen zu müssen. Ich hab’ dich doch sehr lieb, meine Kleine. Das weißt du doch sicher.«

Heftig nickte Liesel, blinzelte nun etwas beruhigter zu Waltraud auf. »Aber du hättest mir doch lieber auf Wiedersehen sagen sollen«, schluchzte sie noch einmal auf.

»Ich wollte es zuerst gar nicht glauben, als Tante Rita sagte, du seist fort. Überall im Haus habe ich dich gesucht, und – und der Ulli hat so geweint.«

Nun kam der ganze Kummer zurück, von dem auch Waltraud erfaßt wurde. Nun weinten sie beide, hielten sich umfangen und schluchzten, bis Waltraud sich einen Ruck gab und energisch sagte, so ginge es nun auch nicht.

»Spätzchen, nun ist es genug, ja? Wir müssen bei dir zu Hause Bescheid sagen, sonst ruft dein Papi noch die Schule an, und die verständigt am Ende gar die Polizei. Komm! Hier steht ein Telefon, und du kannst selber wählen. Sag der Tante einfach, daß du heute bei mir zum Mittagessen eingeladen bist. Später möge sie oder dein Papi dich hier abholen.«

Noch war Liesel unsicher, wohl auch ein wenig trotzig. »Ich wollte eigentlich nur mit dir sehr böse reden und dich dann nie – nie mehr wiedersehen.«

Ruhig blickte Waltraud sie daraufhin an. Sie wußte plötzlich, wie sehr sie dem Kind weh getan hatte. So ging es einfach nicht. Liesel hatte völlig recht. Fortzugehen ohne Abschied, hinterließ stets Bitterkeit, auch bei einem Kind.

»Es tut mir leid, Liesel«, sagte sie darum noch einmal, »aber nun erzähle mir, wie es dem Brüderchen geht.«

Damit schob sie dem Kind das Telefon zu. »Nimmt er seine Flasche? Achtet dein Vater darauf, daß Ulli gut versorgt wird?«

Da leuchteten Liesels Augen flüchtig auf. »O ja! Papi war gestern den ganzen Tag zu Haus, und ich durfte Ulli das Fläschchen geben. Er war so lieb. Alles hat er ausgetrunken. Die Tante war eigentlich auch sehr nett.«

Waltraud atmete auf.

»Na, siehst du, Spätzchen! Es wird schon alles prima gehen bei euch – auch ohne mich.«

Da verfinsterte sich Liesels Gesichtchen wieder, und sie sagte leise: »Tante Rita sieht ja aus wie meine Mami, aber sie ist es nicht. Ich weiß schon längst, daß sie nicht wie meine Mami ist. Da bist du mir lieber gewesen, Waltraud, obwohl du gar keine Ähnlichkeit mit meiner Mami hast. Nun hab’ ich dich auch noch verloren. Zuerst die Mami und nun dich.«

Liesel sagte es sehr ernst und mit leiser, tonloser Stimme, wobei sie Waltraud in stiller Anklage betrachtete.

Es schnürte der jungen Frau fast die Kehle zu. Doch was sollte sie dem Kind darauf antworten?

»Bitte, ruf nun an, Liesel«, sagte sie und strich zart über das blonde Köpfchen der Achtjährigen.

»Kennst du eure Nummer?« fragte sie.

Ja, Liesel wußte Bescheid und machte sich eifrig daran, die Nummer zu wählen.

Die Tante war am Apparat und sagte, ihr Vater laufe schon ungeduldig auf dem Hof umher, weil der Schulbus überfällig sei.

»Der Papi soll mich von Waltraud abholen«, rief Liesel schnell und legte den Hörer auf.

»Gut so?« Sie blickte die junge Hebamme an und hatte etwas von der stillen Heiterkeit zurückgewonnen, die Waltraud an dem Kind so liebte.

»Ich will nämlich, daß mein Papi mich abholen kommt. Vielleicht nimmt er dich gleich wieder zu uns mit.«

Ein winziges schelmisches Lächeln überflog ihr Gesicht, doch Waltraud konnte ihr da gar keine Hoffnung machen.

»Gehen wir doch hinunter Mittag­essen«, sagte sie ablenkend. »Dein Vater wird ja nicht gleich angebraust kommen. Jetzt, da er weiß, wo sein Spätzchen steckt.«

So war es auch.

Frau Böhm hatte den Tisch schon längst wieder abgeräumt, noch rasch einen leckeren Schokoladenpudding für den kleinen Gast serviert, indes Waltraud einen Kaffee trank.

Nun war Liesel auch mit ihrem Pudding fertig, zeigte Waltraud gerade, was sie heute in der Schule gelesen hatten, als der Wagen von Martin Lorrimer in der Nähe des Hauses, direkt am Brunnen, stoppte.

»Da ist mein Papi!« rief Liesel und rutschte vom Stuhl, packte ihr Lesebuch in den Schulranzen zurück, während Frau Böhm am Fenster stand und zu dem Wagen hinüberblickte.

»Warum steigt dieser Mensch nicht einmal aus?« fragte sie in leiser Empörung.

Waltraud folgte Liesel hinaus in die Diele, nahm deren Mäntelchen vom Ständer und half ihr hinein. Und während der ganzen Zeit über hoffte und bangte sie dem Anblick des Mannes entgegen.

Doch Martin stieg nicht aus dem Wagen. Auch jetzt nicht, da er sah, daß Waltraud seine kleine Tochter vor dem Haus mit einem zärtlichen Kuß verabschiedete.

»Ich habe mir vorhin deine Telefonnummer aufgeschrieben«, flüsterte Liesel ihr zum Abschied ins Ohr. »Kommst du, wenn ich dich mal anrufe und sage, daß – wir dich brauchen? Ja, Waltraud, kommst du dann zu uns?«

Ein Gefühl von Freude und Glück stieg in Waltrauds Herz. »Ich komme ganz gewiß, Spätzchen. Das verspreche ich dir. Aber nun lauf zu deinem Papi, damit er nicht zornig wird.«

Da winkte Liesel ab und meinte: »Das wird er bestimmt nicht. Er ist doch froh darüber, daß ich bei dir war.«

Diese Meinung konnte Waltraud allerdings nicht ganz teilen, denn warum hielt Martin es nicht einmal für nötig, ihr guten Tag zu sagen? Er hätte doch nur auszusteigen und die wenigen Meter vom Brunnen bis an ihr Haus zu gehen brauchen.

Bestimmt ist er ungehalten über Liesel, dachte sie und blieb noch in der offenen Haustür stehen, und dem Kind nachzublicken.

Liesel hüpfte mit ihrem Schulranzen über die Straße zum Wagen hin, dessen Tür nun geöffnet wurde. Martin schwang sich vom Sitz, hob das Kind hinauf, und ohne sich aufhalten zu lassen, stieg er wieder ein.

Waltraud schlug das Herz dumpf vor Kummer. Wie gebannt stand sie und blickte zu dem weißen Auto. Sie konnte es nicht glauben, nicht begreifen, daß Martin sie so völlig übersehen wollte.

Schon ließ er den Motor an.

In diesem Moment streckte er den Kopf etwas aus dem heruntergekurbelten Fenster und winkte ihr flüchtig zu. Mehr mit den Augen als mit der verbundenen Hand.

Dann schnellte der Wagen vorwärts, fuhr um den Brunnen herum in die Straße zurück, aus der er gekommen war.

Nachdenklich ging Waltraud zurück ins Haus. Wie heiter Martin aussah. Keine Spur verärgert. Eher glücklich. Doch warum nur?

Die Mutter stand immer noch am Fenster und mußte wohl alles beobachtet haben. Nun blickte sie Waltraud forschend an und meinte:

»Was mag den Lorrimer so daran gefreut haben, daß seine kleine Tochter von der Schule zu uns gelaufen ist?«

*

In Peter Maier brannte die Eifersucht nach wie vor, obgleich er eigentlich keinen Grund mehr dazu hatte.

Waltraud Böhm lebte wieder bei ihrer Mutter ganz in der Nähe seiner Apotheke. Oft kam sie auf ein paar Minuten zu ihm in den Laden, plauderte über dies und das, erzählte von den Neugeborenen, die sie gerade ins Leben geholt hatte.

Nie sprachen sie von dem Forellenzüchter, und eben dies verursachte dem jungen Apotheker Mißbehagen. Er selber hatte zu Anfang versucht, Waltraud zum Reden zu bringen. Sie solle mal von ihrem Leben im Mühltal erzählen. Wie es denn so gewesen sei als Ersatzmutti für die beiden Halbwaisen.

Doch da waren sogleich Schatten über ihr Gesicht gefallen, und sie wich mit ein paar nichtssagenden Worten aus. Was es da schon zu erzählen gebe?

Aus! Vorbei! Es schmerzte immer noch, gewiß. Doch allmählich verlor sich der tiefe Schmerz in eine dumpfe Resignation.

Es gab genug Arbeit, die sie vergessen ließ. Es gab einen jungen Mann, der behutsam und einfühlsam andere, heitere Dinge an Waltraud herantrug.

Sie war ja immer ein lebensbejahendes Mädchen gewesen, das gern einmal tanzen ging, Theater und Oper liebte und Geselligkeit überhaupt, solange dies nicht in oberflächlichen Trubel ausartete.

Peter Maier verwöhnte sie mit kleinen Aufmerksamkeiten. Mal mit Karten für ein Sommertheater in Baden, mal mit einem gemütlichen Abendessen im »Baseler Hof«.

Das Leben ging weiter, und es brachte viele nette Dinge für die junge Hebamme.

An diesem Tag kam Peter Maier und hielt eine Überraschung bereit.

»Gehst du mit mir zum Sommerball, Waltraud? Sehr stilvoll im ›Baseler Hof‹. Erinnerst du dich, Liebling? Im vorigen Jahr waren wir auch dort.«

Im vorigen Jahr? Ungläubig starrte Waltraud den gutaussehenden jungen Mann an. »Irrst du dich auch nicht? Tatsächlich?«

»Ja! Bestimmt!« Verwundert blickte Peter ihr in die tränenden Augen und ahnte nicht, daß Waltraud eigentlich längst mit allem abgeschlossen hatte, was vor jenem Tag ihrer ersten Begegnung mit Martin Lorrimer lag.

»Ich gehe gern mit dir zum Sommerball«, entschied sie dennoch wehen Herzens. Sie hatte plötzlich das Empfinden, unbedingt diesen Ball besuchen zu müssen. Sie mußte sich endlich entscheiden, ob es mit ihr und Peter Maier noch eine gemeinsame Zukunft geben konnte. Dieser Abend sollte dazu dienen, ihre Gefühle ehrlich zu prüfen. Das verdiente Peter unbedingt.

*

Die Hoteldirektion hatte ein ausgezeichnete Kapelle engagiert.

Getanzt wurde wegen es herrlichen Wetters auf der großen Terrasse, die dem Eßrestaurant angeschlossen war.

Es gab mehrere kleinere, urgemütliche Nebenräume, die auch von Gästen belegt waren. Zudem einige Bierstübchen, ein Jägerstübchen, eine intime Sektbar.

Waltraud und Peter jedoch saßen auf der Terrasse im Restaurant, denn sie waren beide eifrige Tänzer und so ganz nahe an der Tanzfläche.

»Du bist wunderschön heute abend«, raunte ihr Peter gerade ins Ohr, als sie zu den Klängen eines Foxtrotts über das Parkett glitten.

Heiter gab Waltraud das Kompliment zurück:

»Ich finde, du siehst heute auch nicht aus wie ein abgekämpfter Alltagsmensch, die wir doch beide sonst sind, Peter. Schau, wenn sich die Leute doch dazu durchringen könnten, hin und wieder dem Alltag zu entfliehen wie wir heute abend. Wenn sie sich mal hübsch machten, einfach zum Tanzen gingen! Manch einem würde das guttun, Lieber. Findest du nicht? Weißt du was, Peter? Wenn die Leute sich dazu aufraffen könnten, würdest du am Ende nicht mehr so viel an deinen vielen teuren Arzneien verdienen.«

Das Gesicht des jungen Apothekers war einfach köstlich anzusehen, perlend lachte Waltraud auf.

Mit süß-saurer Miene entschloß sich Peter schließlich auch dazu. »Du bist schon ein sonderbares Mädchen«, meinte er dabei. »Immer denkst du ans Glück der anderen Leute. Denke lieber mal über uns beide nach, Waltraud.«

Das kam ernst und zwingend, und auch Waltrauds Miene veränderte sich, wurde fast ein wenig traurig.

Sie blickte zu Peter auf, der sehr groß und schlank war und in seinem Smoking eine blendende Figur machte. Sein blondes Haar, noch voll und sehr gepflegt, zog das Auge manch hübscher Frau auf sich. Oh, es machte Spaß, an seiner Seite über die Tanzfläche zu schreiten.

Das geschah nun auch, denn der Tanz war zu Ende, und Peter führte Waltraud zurück zu ihrem Tisch.

Dort nahm sie ihre kleine Abendtasche und raunte ihm zu, sie müsse ihn mal für einen kleinen Augenblick verlassen.

»Trinken wir noch eine Flasche Wein? Ich könnte sie inzwischen bestellen«, fragte Peter wieder in bester Laune. Vorhin, da war ihm bei Waltrauds Worten ein wenig bang ums Herz geworden, denn er liebte es nicht, sich über anderer Menschen Wohl und Weh zu unterhalten, und erst recht nicht, wenn es um finanzielle Dinge ging. Waltraud verspürte ein leichtes Schwindelgefühl, das vom Wein oder vom schnellen Tanz herrühren mochte. Auf jeden Fall schien es ihr bedenklich, noch eine Flasche Wein zu bestellen.

»Du, Peter, da sind noch gut zwei Gläser drin«, meinte sie und kämpfte umsonst gegen den Schwindel an. Sie wollte doch bei klarem Verstand bleiben an diesem Abend. Klar und nüchtern sich prüfen, wie es denn nun um sie und Peter stand.

Ich mag ihn schon, überlegte Waltraud, während sie den Weg durchs erste Bierstübchen nahm, um zu den Toiletten zu gelangen.

Huch! Wie heiß es hier war. Da saß das einfache Volk bei Bier und Jägerschnitzel.

Belustigung stieg in Waltraud auf, während sie durch Tabakwolken hindurch zu einer gewissen Tür schritt – oder schwankte?

Genau konnte sie das später nicht mehr klären.

Sie wußte nur noch ganz genau, wann sie plötzlich Martin Lorrimer gegenüber auf einer Eckbank saß.

Das mußte unmittelbar passiert sein, als sie von der Toilette zurückkam, an einem der Fensternischen vorbeiging und gegen ihn gestoßen war.

Sie stieß oder fiel taumelnd gegen seinen Tisch in der Fensternische, an dem er auf der Eckbank saß. Allein saß! Vor sich ein Bier und vor seinen Augen die gläserne Verbindungstür zum Restaurant. Zur Tanzfläche auch, denn sie schloß sich ja unmittelbar an.

»Hoppla«, sagte er und packte sie beim Handgelenk, drückte sie auf die Eckbank und sah sie in ruhiger Freundlichkeit an.

Anders Waltraud. Sie starrte ihn an, als sehe sie einen Geist. Sie japste förmlich nach Luft und saß bewegungslos wie eine Statue vor ihm.

Schweigend betrachtete er sie, um endlich zu sagen: »Hübsch siehst du aus in deinem schönen Kleid.«

Dabei wanderte sein Blick langsam und genußvoll über ihre nackten Schultern.

Ja, er schien erfreut über das, was er sah. Anders konnte Waltraud sich den Ausdruck seiner Miene nicht erklären.

Sie selber kam sich alles andere als hübsch vor in diesem Moment. Sie war verwirrt, und ihr war immer noch schwindelig.

»Guten Abend«, sagte Waltraud und kam sich dabei ziemlich dümmlich vor. Immerhin saßen sie sich ja schon eine ganze Weile schweigend gegenüber, und er hatte sie nicht einmal begrüßt. Mit keinem Wort. Als ob er immer alles mit seinem Schweigen erklären könne!

Langsam wurde Waltraud wütend. Sie umklammerte ihre kleine silberne Abendtasche und schob ungeduldig die Brauen zusammen. Ihre Augen sprühten förmlich, als er plötzlich zu lächeln begann.

»Warum sagen Sie nichts?« fauchte sie und war plötzlich den Tränen nahe.

Da wurde er schlagartig ernst, neigte sich über den Tisch hinweg ihr zu, forschte angestrengt in ihren Augen und sagte zwingend: »Wie soll ich sagen, Waltraud? Gib mir deine Hand, und ich werde dich etwas fragen, Mädel.«

Willenlos streckte sie ihm ihre rechte Hand entgegen. Er nahm sie zwischen seine beiden Hände, betrachtete sie zunächst aufmerksam, drehte sie schließlich sanft herum und neigte sein Gesicht tief darüber. Sein Mund berührte ihr Gelenk. Dort, wo ihr Puls vibrierte. Wo ihr Blut nun heiß und schnell durchströmte bis zu ihrem Herzen.

Ein Schlag durchzuckte ihren Körper mit schmerzlicher Intensität.

»Martin«, hauchte sie tonlos und schloß sekundenlang die Augen.

Sofort gab sein Mund ihre Haut frei, und erlöst zog sie schnell ihre Hand zurück.

Doch sie hielt die Augen noch geschlossen, weil ihr Blick ihm Klarheit verschafft hätte über die Qualen, die er ihr unentwegt zufügte.

Dann vernahm sie seine ruhigen, eindringlichen Worte: »Muß das sein, Waltraud? Das frage ich dich hiermit. Mußt du hier sein und tanzen in einem so verführerischen Kleid? Aber gut! Gut, es hat gar nichts zu bedeuten. Es ändert nichts zwischen uns. Ich…«

Da brach er ab, und erschrocken öffnete Waltraud die Augen, sah in Peter Maier zorniges Gesicht und vernahm seine kalte Stimme: »Ich muß schon sagen, Herr Lorrimer, Ihnen ist nicht zu entrinnen. Lassen Sie Fräulein Böhm doch wenigstens an diesem Abend ungeschoren. Komm, Waltraud!«

Damit faßte er sie beim Ellbogen, und sie war ihm sogar dankbar dafür, denn ihre Knie schienen sonderbar weich und zittrig.

»Auf Wiedersehen, Herr Lorrimer«, brachte sie tonlos hervor, dann wandte sie sich wie eine Marionette um und ließ sich willenlos abführen.

Jawohl, abführen! So kam es ihr plötzlich vor.

Willenlos duldete Waltraud, daß Peter Maier sie hinausführte an die milde Abendluft. Der Ball war für sie beendet.

*

Der folgende Tag war ein Sonntag.

Waltraud hatte lange geschlafen, sich in ihrer modernen Dachgeschoßwohnung selber das Frühstück zubereitet.

Nun saß sie gedankenverloren da und hatte das Empfinden, unbedingt ein Rätsel lösen zu müssen.

Ja, genauso bezeichnete sie die wenigen Worte, die Martin Lorrimer in der gestrigen Ballnacht unverhofft mit ihr gewechselt hatte. Das heißt, eigentlich sprach ja nur er, und das auch nur sehr wenig.

Aber er sagte etwas, das ihr nicht mehr aus dem Kopf ging. Er sagte: »Muß das sein? Mußt du hier tanzen in diesem verführerischen Kleid? Aber gut, es hat nichts zu bedeuten. Es ändert nichts zwischen uns.«

Und gerade dieser Satz raubte Waltraud am heutigen Sommermorgen die Ruhe.

Schlaf hatte sie ohnehin nicht viel in der kurzen, vergangenen Nacht gefunden, die ihr noch verblieben war, als Peter Maier sich endlich ziemlich verärgert von ihr verabschiedet hatte.

Würde mich nicht wundern, wenn er zurück zum »Baseler Hof« gegangen ist, um mit Lorrimer noch ein Wort unter Männern zu reden, dachte Waltraud nervös.

Ihre Mutter rief zum Mittagessen, doch sie lehnte mit der Begründung ab, daß sie gerade erst gefrühstückt habe.

Dann drehten sich ihre Gedanken wieder im Teufelskreis des gestrigen Geschehens. Peter war mehr als verärgert. Er wollte noch in der Nacht eine Entscheidung erzwingen, die sie ihm noch nicht geben konnte. Das unverhoffte Wiedersehen mit Lorrimer hätte sie restlos verwirrt.

Seine Küsse nahm sie widerstandslos hin. Ihr Herz jedoch blieb völlig unberührt davon. Es sehnte sich nach Martin Lorrimer.

Auch heute! Zu dieser Stunde, da alles in ihr in Aufruhr war wegen seiner sonderbaren Worte.

Plötzlich durchfuhr Waltraud ein Gedanke, den sie sofort in die Tat umzuwandeln begann.

Sie warf den Bademantel ab, zog sich ein leichtes Sommerkleid über und kämmte flüchtig ihr Haar.

Sie mußte zu Lorrimer und ihn um eine Erklärung bitten. Seine Worte erschienen ihr jählings wie eine leise Mahnung.

Doch wozu? Was änderte es nicht zwischen ihnen beiden? Was bestand denn eigentlich noch von dem, was sie einst so drängend zueinander hinzog? Sie hatte ihn geliebt, sicher.

Doch sie hatte sich mehr noch zu seinen Kindern hingezogen gefühlt, denn er war nie sonderlich liebenswürdig zu ihr.

Was gab ihm überhaupt das Recht, so zu tun, als sei sie ihm eine Erklärung schuldig, wenn sie sich mal amüsieren wollte?

Mit diesen trotzigen Gedanken bestieg Waltraud ihren Wagen, fuhr ihn aus der Garage, rief ihrer Mutter ein paar Worte zu, die erstaunt den Kopf aus dem Fenster steckte.

»Zum Kaffee bin ich wieder da, Mama! Fahre nur ein wenig durch die Gegend.«

»Ja, aber… Vergiß nicht, daß Peter zum Kaffee eingeladen ist!« rief ihr Frau Böhm noch zu.

Dann brauste Waltraud davon.

*

»Wir werden heute den Kaffee auf der Terrasse trinken«, ordnete Rita an, und Martin stimmte zu.

»Gut, dann lasse ich das Sonnenrollo herunter«, meinte er und kniff seinem Töchterchen im Vorbeigehen lachend in die Wange.

»Au! Papi, das ist nicht fair«, schrie Liesel kichernd auf und geriet prompt mit der Sahnenspritze über den Tortenrand.

Es gab Erdbeertorte mit Schlagsahne. Die Früchte waren aus dem eigenen Garten und verströmten einen herrlichen Duft.

Rita stand am Herd und bereitete den Kaffee zu. Sie hatte sich verändert und sah eigentlich überaus hübsch und fraulich aus. Ihr Haar war an den Wurzeln nachgedunkelt und nicht mehr so ordentlich frisiert. Ihr Make-up beschränkte sich auf ein dezentes Lippenrot und leicht gefärbte Wimpern.

Sie trug weiße, hautenge Jeans und einen ärmellosen Pulli, der viel von ihrer braunen Haut zeigte.

Lorrimer vermied tunlichst ihren Blick, begab sich vom Wohnzimmer aus auf die breite Terrasse, auf der Liegestühle standen und einer runder Holztisch um den herum passende Stühle gruppiert waren.

Nun war Liesel doch noch mit der Torte fertig geworden und kam mit einem Tischtuch herbei.

»Was sehe ich denn da?« Grinsend blickte Martin ihr ins vor Eifer gerötete Gesichtchen, tippte mit seinem Zeigefinger auf die rosig gefärbte Nasenspitze der Achtjährigen. »Erdbeeren genascht und Sahne hinterher«, scherzte er zärtlich.

Die Sahne zeigte sich in Liesels Mundwinkeln, die sich nun schelmisch verzogen. »Das ist bei Köchinnen nun mal so«, gab sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag zurück.

Martin wandte sich lachend um, denn in diesem Moment fing sein Sohn hell an zu krähen.

Ulli saß in einem feinmaschigen Laufställchen und hielt seinen roséfarbenen Gummibär in beiden Händen. Er lachte zu seinem Vater auf, der sich über ihn geneigt hatte.

»Hallo! Stimmst der Liesel natürlich wieder zu, was, Ulli?« Rita kam mit dem Servierwagen angefahren, und bald saß die ganze Familie um den Kaffeetisch.

Martin hielt seinen Sohn auf dem Schoß, und Liesel saß dicht neben ihm, scherzte mit dem Baby und steckte ihm hin und wieder eine Erdbeere ins Mündchen, die der Junge genüßlich verspeiste.

Auch Rita schlenderte nun heran, setzte sich dicht neben Martin auch noch auf die Liege und hielt seinen Blick mit ihrem fest.

»Na, du? Glücklichster Vater der Welt«, sagte sie mit dunkler schwingender Stimme, wobei ihre Finger zärtlich durch sein volles Haar glitten. »Der Junge gedeiht prächtig. Findest du nicht auch? Sind wir nicht eine phantastische Familie?«

Liesel fuhr in der Hocke hoch, starrte mal ihren Vater, dann die Tante erschrocken an, ehe sie über die Terrasse davonsauste.

Martin blickte seinem Sohn in die Augen und sagte rauh: »Wie oft habe ich dich schon gebeten, im Beisein meiner Tochter so was nicht zu sagen?«

Heftig biß Rita sich auf die Unterlippe. Dann jedoch gab sie plötzlich ruhig zurück:

»Ich muß mit dir reden, Martin. So kann es nicht weitergehen mit…«

Sie brach ab, erhob sich von der Liege, und auch Martin sah verwundert auf seine Tochter.

Liesel war wieder da, Verwirrung im Gesichtchen. Die Augen groß und weit geöffnet.

Doch ihre Stimme klang schrill und erregt:

»Papi! Ich habe Waltraud gesehen. Sie – sie stand gleich hinter dem Haus. Ganz nahe an der Terrasse. Sie hat uns sicher beobachtet. Bestimmt hat sie das getan. Und – und sie muß auch gehört haben, daß Tante Rita meint, wir – wir sind eine phantastische Familie. Dabei sind wir das doch gar nicht.«

Noch während sie redete, hatte sich Martin erhoben und Ulli zurück in sein Ställchen gesetzt.

Nun fragte er schnell: »Wo hast du Waltraud gesehen? Zeig mir die Stelle.«

Liesel nahm seine ausgestreckte Hand, und gemeinsam gingen sie um die Hausecke. Dorthin, wo das Kaminholz aufgestapelt war.

Doch von Waltraud keine Spur.

»Hast du dich auch nicht geirrt?« Martins Augen suchten die Umgebung ab. Vergebens! Kein Auto, keine lichte Frauengestalt war zu erblicken.

Doch noch wollte er nicht so rasch aufgeben und wandte sich eindringlich Liesel zu. »Sprich, Schätzchen! Hast du das vielleicht nur erfunden aus Ärger über Ritas Worte?«

Aber heftig schüttelte Liesel ihren Kopf. »Bestimmt nicht, Papi. Waltraud stand hier, sie hat mich so traurig angesehen, und plötzlich lief sie davon.«

Verzweifelt strich sich Martin übers Haar. »Ja, zum Teufel, sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Wohin ist sie denn gelaufen?«

»Ich weiß nicht! Es ging alles so schnell«, stammelte Liesel verwirrt. »Aber ich glaube, dort hinauf!«

Ihre Hand zeigte auf die nahen Hügel des Mühltals, aus der auch der Bach geflossen kam.

»Hm! Dann müßte sie ihren Wagen unten an der Pappelallee stehengelassen haben«, murmelte Lorrimer und schritt nun zügig aus.

Liesel hielt tapfer mit, und dann sahen sie auch tatsächlich den kleinen Wagen zwischen zwei Pappeln stehen. Dicht vor der Abzweigung zum Haus.

Von Waltraud jedoch erblickten sie immer noch keine Spur. Martins Gesicht umwölkte sich immer mehr. »Komm, Kleines«, sagte er ruhig, obwohl er innerlich keinesfalls gelassen war, »gehen wir zurück. Du mußt ja Rita in der Küche beim Abwaschen helfen. Ich – gehe mal ein Stück zur Höhe hinauf.«

»Ist gut, Papi.« Liesel schien erleichtert zu sein und fügte ernsthaft hinzu: »Tante Rita sagen wir besser nichts davon, daß wir uns um Waltraud sorgen, nicht wahr, Papi?«

Erschüttert blickte dieser in die Augen seines Kindes, die ihm sonderbar reif erschienen.

»Gut, Liesel«, gab er rauh zurück und fragte sich insgeheim zum ersten Male, ob er es richtig machte. Ob er nicht doch vor Waltraud hintreten sollte, um ihr zu sagen, wie sehr er und die Kinder darauf warteten, daß sie endlich wieder zu ihnen käme. Weil wir sie brauchen, fügte er gedankenvoll hinzu und sah zu den bewaldeten Hügeln hinauf. Waltraud! Mein lichter Schmetterling! Wir brauchen dich so sehr. Läufst davon. Ja, ahnst du denn immer noch nicht, wie sehr ich dich liebe? Aber was hatte dich überhaupt hergetrieben? Meine Andeutungen heute nacht? Bist du am Ende nicht recht klug aus ihnen geworden, du sonst so kluges Geschöpf?

Dann muß ich deutlicher werden, überlegte Martin, während er Rita flüchtig erklärte, er mache noch einen Spaziergang.

»Kann ich mir denken«, entgegnete sie verärgert und wandte ihm den Rücken zu.

»Paß auf Ulli auf«, sagte Martin zu seinem Töchterchen und schritt über die Terrasse davon.

Kaum war er fort, als sich Rita Römer zu einem Schritt entschloß, den sie schon längst hatte tun wollen.

Es ist sinnlos, noch länger hier meine Zeit zu vertun, dachte sie und eilte die Treppe hinauf in ihr Zimmer.

Ihr Blut, so schon voller Heißsporn, kochte vor Enttäuschung. Martin dachte überhaupt nicht daran, sich ihr wieder wie früher zuzuwenden. Und wenn sie gar von Heirat sprach, wehrte er sofort eindeutig ab.

Dabei habe ich mir so viel Mühe gegeben, zürnte Rita, während sie begann, ihre Sachen zu packen. Rudi, ihr früherer Chef, würde sie mit offenen Armen wieder aufnehmen.

*

Waltraud hatte ihr Auto an der Pappelallee angehalten und beschlossen, zu Fuß weiterzugehen.

Das Schwarzwaldhaus wirkte behäbig und vertraut. Stille umgab die vordere Seite, den bruchsteingepflasterten Hof, die Wiese, auf der die Wäschespindel stand. Doch Ullis Windeln hingen nicht da, es war ja auch Sonntag.

Wo mögen sie sein? überlegte Waltraud unentschlossen. Eigentlich war ihr Mut schon wieder geschwunden. Sollte sie umkehren?

Doch da siegte ihre Sehnsucht, den kleinen Jungen wenigstens einmal flüchtig zu sehen. Ein halbes Jahr alt war Ulli mittlerweile und sicher tüchtig gewachsen.

Zur Vorderfront des Hauses mochte sie nicht gleich marschieren. So entschloß sie sich, erst einmal zur Ostseite zu gehen.

Sie schreckte auf, denn Stimmen erklangen von der Terrasse her.

Also war die Familie doch im Haus. Sie hatte schon geglaubt, alle seien zu einem Spaziergang aufgebrochen.

Waltraud lauschte mit angespannten Sinnen, und was sie hörte, versetzte ihrer sowieso schon aussichtslosen Liebe den Todesstoß. Sie vernahm zunächst die gelöste, heitere Stimme Martins, wie er mit seinem Töchterchen scherzte.

Vorsichtig wagte sich Waltraud einen Schritt vor. Nur einen Blick tun dürfen auf ihn und Ulli. Vielleicht auf Lieselchen, die nun ein übermütiges ›Huhu! Ulli, such mich!‹ hervorstieß.

Waltraud war um den Holzstapel herumgegangen und blickte zur Terrasse hinüber. Ihr Herz drohte auszusetzen, als sie Rita dicht neben Martin auf der Liege sitzen sah. Nun fuhr sie durch sein volles Haar und sagte mit glücklicher Stimme: »Sind wir nicht eine phantastische Familie?«

Sofort schoß Liesel hinter dem Kopfende der Liege hervor, rannte über die Terrasse direkt auf die junge Hebamme zu.

Waltraud durchfuhr ein panischer Schreck, der sie zunächst lähmte.

So standen sie sich unverhofft gegenüber. Liesel blickte mit großen, erstaunten Augen zu ihr auf.

Waltraud fühlte brennende Scham in sich aufsteigen. Meine Güte, sie war ertappt als Lauscherin. Was mußte man von ihr denken?

Ehe Liesel etwas sagen konnte, warf sie sich herum und eilte blindlings davon. Durch die wilden Kirschbäume, durch Beerensträucher, die ihre nackten Beine zerkratzten, bahnte sie sich einen Weg. Fort! Nur fort von hier.

Bis sie schließlich vom Haus nichts mehr sah. Da hielt sie erschöpft inne, orientierte sich flüchtig, um den Weg in Richtung Bachlauf fortzusetzen.

Dabei geriet sie in sumpfiges Gebiet, sank mit ihren Schuhen ein, ihr Kleid bekam bei dem Versuch, von einem Gesträuch befreit zu werden, Risse und Flecken von roten Beeren.

Wie sehe ich nur aus, klagte Waltraud in stiller Verzweiflung und wußte doch, daß es ihr im Grunde völlig egal war. Alles war ihr plötzlich egal geworden. Entwurzelt kam sie sich vor. Heimatlos geworden, weil sie längst schon Martin und die Kinder als ihre Heimat betrachtet hatte.

Geschieht dir recht, verspottete sie sich selber. Warum hast du dich von ein paar unergründlichen Worten hierherlocken lassen?

Doch nun war sie einmal hier. Genauer gesagt, sie steckte mit beiden Füßen wieder mal im schlammigen Untergrund des Mühlbaches. Gelbe Dotterblumen ringsum, hohes Schilfgras. Sie hatte den falschen Weg gewählt. Sie mußte umkehren, was sie nun auch tat. Summende Libellen und unheimlich große Fliegen begleiteten sie. Sonst herrschte die stille Schwüle eines Sommernachmittags um sie herum.

Dann wurde der Boden fester. Erschöpft wankte sie zu einer Kiefer, ließ sich in deren Schatten nieder und begann mit einem Taschentuch den Kleidersaum abzureiben.

Zwecklos! Sie mußte an den Bach zurück, aber dorthin, wo er klares Wasser mit sich führte und ein festes Ufer hatte.

So ging Waltraud erhitzt und müde zurück, wohlweislich einen anderen Weg wählend.

Sie kam auch bald danach an den Mühlbach und sein richtiges Bachbett. Vorhin war sie einem tückischen Rinnsal zum Opfer gefallen. Hier war es schon am Bachrand. Waltraud ließ sich auf einem Baumstamm nieder und hielt ihr Taschentuch ins Wasser. Sie streifte ihre beschmutzten Schuhe von den Füßen und steckte die Beine ins Wasser. Langsam gewann sie ihre Fassung zurück, bis sie fürchterlich erschrak.

Ja, plötzlich stand Martin vor ihr und blickte auf sie herab.

»Hallo, Waltraud«, sagte er gelassen. »Was machst du nur für Sachen, Mädel?«

Zwei Sekunden starrte sie ihn an, dann senkte sie den Blick wieder auf ihre Beine und begann erneut, sie mit dem Taschentuch zu säubern. »Ich bin – ich habe mich verirrt«, stammelte sie tonlos.

»Ja, aber warum bist du fortgelaufen?« wollte er wissen und ließ sich dicht an ihrer Seite nieder. »Wo du schon den Weg zu uns gefunden hattest.«

Nun war sie empört, wrang das Tüchlein aus und sagte dabei bitter: »Ich bin nur gekommen, weil – ich Sie fragen wollte, warum Liesel nicht einmal wieder zu uns kommt. Hat Rita dem Kind verboten…«

»Nicht Rita«, fiel er ihr rasch ins Wort und sah sie eindringlich dabei an. »Ich habe meine Tochter gebeten, vorerst nicht wieder zu dir zu kommen, Waltraud.«

Ihr Leid machte sie ungerecht und zornig, als sie entgegnete: »Ich versteh! Haben Sie befürchtet, das Kind könne mich in sein Herz schließen? Mich vielleicht mehr als – Rita?«

»Keineswegs«, erwiderte er lä­chelnd und maß sie mit ganz sonderbarem Blick. »Liesel hat dich lieb, Waltraud, das weißt du auch. Es ging mir nur darum, daß du dir über deine Gefühle Klarheit verschaffen konntest, ohne von dem Kind beeinflußt zu werden. Du neigst nun mal dazu, dein Herz allzu sehr an Personen zu verschenken, die dich brauchen. Doch diesmal geht es auch um dich. Es sollte dir eigentlich nur um dein Glück gehen.«

Jetzt hatte Waltraud genug von seinen Orakeln. »Ich verstehe nichts von alledem, was Sie mir da erzählen. Wie könnte das Kind mich beeinflussen? Und um mein Glück machen Sie sich nur keine Sorgen.«

»Waltraud«, mahnte er plötzlich ungehalten, »mach bloß keine Dummheit – aus Trotz. Ich muß gestehen, daß du mir wie ein ziemlich verärgertes, kleines dummes Mädchen vorkommst. Das gefällt mir nicht. Auch nicht deine Freundschaft mit Peter Maier.«

Nun war es mit Waltrauds Beherrschung völlig vorbei. »Oh, Sie – Sie sind unerträglich arrogant«, stammelte sie fassungslos, »wie können Sie es wagen, mich so zu nennen? Sie gefallen sich anscheinend in Ihrer Rolle sehr. Eine großartige Rolle, wirklich.«

Sie sprang auf, denn seine Nähe machte sie völlig kopflos. Am liebsten hätte sie ihn durchgerüttelt. Seine Ruhe und Unerschütterlichkeit waren nicht mehr zu ertragen.

So lief sie ein Stück den Bach hinauf. Auf nackten Füßen, in ihrem zerrissenen Kleid. Sie fühlte sich genauso jämmerlich, wie ihr äußeres Bild sein mußte.

»Gehen Sie fort!« rief sie ihm erregt zu. »Warum sitzen Sie da und weiden sich an meinem Anblick?«

Da schaute er unwillig hoch und schrie zornig zu ihr herüber. »Sag mal, Mädel, denkst du ab und zu darüber nach, daß ich meine Frau erst vor sechs Monaten begraben habe?«

Das brachte sie jählings zur Vernunft. Ihr Zorn fiel ab, machte einem Gefühl der Beschämung Platz.

Er sah es und kam näher, wobei er ruhiger fortfuhr: »Viele Leute finden es sicher sehr pietätlos und hart, daß ich mich sofort wieder in eine andere Frau verliebt habe, doch es ist nun mal geschehen, und ich bereue es keine Sekunde. Doch das Jahr meiner Trauer werde ich einhalten, Waltraud, und sei es noch so schwer. Es ist schwer, und an Tagen wie beispielsweise heute nacht, bringt es mich fast um.«

Nun war er bei ihr, umschloß mit seinen warmen Händen ihre Schultern und sah sie eindringlich an. »Dann nagt die Eifersucht an mir, dann möchte ich vor dich hintreten und dich bitten, nicht mit einem anderen Mann tanzen zu gehen. Hast du dir einmal überlegt, was ich alles ertrage, Waltraud? Ich ertrage den verletzten Stolz meiner Schwägerin, die nicht begreift, daß ich nicht sie, sondern dich liebe. Ich ertrage die fragenden Augen meiner kleinen Tochter, die nicht verstehen kann, warum ich dich noch nicht zurückgeholt habe. Ich höre das Weinen meines Sohnes, wenn er mit seinen Augen dich sucht und nicht finden kann. Doch ich ertrage das alles mit dem Wissen um unser Glück, Mädel. Eines Tages wirst du bei mir sein. Und du wirst es sein, weil du mich liebst – und meinen Kindern eine gute Mutter sein möchtest. Du wirst nicht meine Frau werden, weil du meine Kinder liebst und mich so nebenher mit in Kauf nimmst. Davon halte ich nämlich nichts. Das habe ich einmal durchgemacht. Bei Inge. Ja, bei meiner Frau. Sie war zuerst Mutter, und dann kam zunächst lange nichts mehr, ehe sie sich an mich erinnerte. Das darf nicht wieder geschehen.«

Ihre Blicke hingen ineinander. In Waltrauds Augen stiegen Tränen. Sie sah die Qual in Martins Gesicht und begriff immer noch nicht recht, warum er ihr dies alles verschwiegen hatte.

»Warum hast du nie etwas angedeutet?« fragte sie leise.

»Habe ich das nicht?« Er musterte sie mit hochgezogenen Brauen. »Dir nie meine Liebe gezeigt? Ja, sag mal, wie lauteten denn meine Worte damals in der Mühle?«

»Ach ja!« Plötzlich erinnerte sich Waltraud wieder daran. Vergessen hatte sie ja kein einziges Wort, nur ihre Bedeutung nicht erfaßt.

Sie lehnte ihre Wange gegen Martins Brust und sagte mit einem erlösenden Seufzer: »Ich liebe dich. Verzeih mir meine Dummheit, Liebster. Aber es ist, weil ich dich so sehr liebe.«

Seine Arme umschlangen sie, preßten ihre biegsame Gestalt heftig an seine Brust. »Du begreifst auch, daß wir uns nicht so oft sehen können, Liebes?«

Sie spürte die Leidenschaft in jeder seiner Gesten und erschauderte. Sein Mund suchte ihre Schläfe, wanderte dort entlang bis in ihr Haar, dann weiter abwärts.

»Martin«, hauchte sie und fuhr sanft über sein dichtes, etwas störrisches Haar. »Ich finde, wir sollten vielleicht zurück…«

Da hatte sein Mund den ihren gefunden und gab ihn lange nicht frei. Bis Waltraud ihn schließlich atemlos zurückdrängte.

»Meine Schuhe«, stammelte sie und lief einfach vor ihm davon. Sie suchte im Ufergras ihre weißen Schuhe, streifte sie über und blickte Martin dann ruhiger entgegen.

Auch er hatte sich gefangen und lächelte in sanftem Verstehen. »Ich bekomme eine zauberhafte Frau«, sagte er und nahm ihren Arm, zog ihn liebevoll durch seinen. »Eine Frau nach meinem Geschmack. Eine, die Zärtlichkeit verschenkt und sich nicht scheut, mir täglich zu beweisen, daß sie mich liebt. Ein halbes Jahr, Waltraud. Sag mal, Liebes, wie bringt man das am schnellsten hinter sich?«

»Indem man arbeitet«, zählte sie fröhlich auf, »seine Kinderchen nicht vernachlässigt, seine Verlobte hin und wieder besucht. Du, Martin, das ist doch erlaubt, oder?«

Sie blieb stehen, sah ihn an, war nun leicht beunruhigt. »Ich habe mich so gesehnt nach euch allen«, sagte sie scheu.

In seinen Augen stand viel Zärtlichkeit, als er sie fragte: »Waltraud Böhm, bringst du den Mut auf, mich jetzt in mein Haus zu begleiten? Aber bitte nimm zur Kenntnis, daß Rita im Augenblick nicht gut auf dich zu sprechen ist.«

Da lachte Waltraud auf, schüttelte den Kopf und sagte mit neu erwachter Energie: »Sie kann mich nicht zurückhalten, wenn du es willst. Wenn du möchtest, daß ich heute dein Gast bin, kann mich überhaupt nichts davon abhalten.«

»Na, dann komm. Du siehst übrigens herrlich salonfähig aus, Fräulein Hebamme.«

Damit streifte sie sein zärtlich-spöttischer Blick, doch auch daraus machte Waltraud sich gar nichts mehr.

»Vielleicht findet sich noch ein sauberes Kleid für mich«, gab sie heiter zurück. »Im Schrank meines – früheren Zimmers.«

Atemlos starrte er sie an. »Willst du damit sagen, daß noch einiges von dir zurückgeblieben ist?«

Da blickte Waltraud ihn lange schweigend an, ehe sie fest entgegnete: »Mein Herz ist zurückgeblieben in deinem Haus, Martin Lorrimer. Ich fände niemals mehr ein volles Glück auf dieser Erde, wenn es nicht bei dir sein könnte.«

»Ach, Kind!« Er seufzte, zog sie ungestüm wieder an sich. »Sag mir um Himmels willen nicht solch zauberhafte Dinge. Du raubst mir eh schon meine Ruhe.«

Als sie endlich weitergingen, neigte sich die Sonne tief im Westen und ließ Waltrauds Haar aufleuchten. Auch ihre blauen Augen leuchteten in einem tiefen, reinen Glück.

Etwas von ihrer Verzauberung ging auf Martin über. Sie gingen nun Hand in Hand und schritten zügig aus.

»Hoffentlich erkennt mich Ulli noch«, sagte Waltraud nahe des Hauses und brannte vor Ungeduld.

Martin blieb plötzlich stehen und kniff die Augen zusammen. »Ritas Wagen stand doch vor der Garage, und nun ist er fort«, sagte er unruhig.

Sie liefen das letzte Stück den leichten Hang hinunter. Martin rief nach Liesel, die nun auf der Terrasse erschien.

»Ach, da bist du ja wieder, Papi«, sagte sie strahlend. Und dann sah sie Waltraud, lachte jauchzend auf und flog ihr entgegen. »Wie schön, daß Papi dich gleich mitgebracht hat«, ihr Gesicht drückte geheimnisvolle Freude aus, »da kannst du gleich sehen, was ich gemacht habe.«

Emsig zog sie Waltraud an der Hand ins Wohnzimmer, dann weiter in die Küche.

»Hier! Was, da staunst du! Sieh dir den Ulli an. Hab’ ihn ganz allein trockengelegt und ihm seine Flasche warm gemacht. Er hält sie ja jetzt immer selber fest.«

Martin und Waltraud blickten zunächst ziemlich verwirrt auf die kleine Liesel, dann auf Ulli, der zufrieden an seiner Flasche nuckelte. Er sah etwas sonderbar aus, denn seine Strampelhose war an den Beinchen verdreht, und die Knöpfe waren an den Schultern falsch zugemacht. Doch der kleine Junge strahlte Waltraud sofort überglücklich an.

»Ulli«, seufzte sie atemlos vor Rührung bei seinem Anblick. »Mein süßer kleiner Ulli! Was bist du für ein großer Junge geworden!«

Sie nahm ihn aus dem Stubenwagen, der sonderlich klein wirkte gegenüber früheren Tagen.

»Wo ist Tante Rita?« fragte Martin seine Tochter und nahm sie bei den Schultern, um ihr ins Gesichtchen blicken zu können.

Zunächst hielt Liesel den Blick beharrlich zu Boden gerichtet, bis Waltraud ihr zurief: »Sie ist fort! Gelt, Lieselchen. Die Tante will doch lieber wieder in Baden wohnen, darum ist sie vorhin mit ihrem Auto fortgefahren.«

Da ging ein Zug der Erleichterung über Liesels Gesicht. »Ja, genau das hat sie gesagt. Und – ein Brief liegt auf deinem Schreibtisch, Papi, und – und ich hab’ doch den Ulli gut versorgt, nicht wahr?«

»Du hast es sehr gut gemacht, Liesel«, lobte Martin gerührt und schritt aus der Küche, um den Brief zu lesen. Er war erleichtert, dennoch unruhig. Nun hatte er wieder keinen für die Kinder. Daß Liesel es übernahm, ging ja nicht, sie war noch viel zu klein, um Ulli zu versorgen.

Als er zurückkehrte, stand Waltraud in der Diele. Ulli auf dem Arm und den Telefonhörer in der rechten Hand. »Also, Mama, du kannst dich nun entscheiden. Entweder kommst du, um Martin aus der Patsche zu helfen, oder ich bleibe hier im Haus.«

Erstaunt verhielt Martin an ihrer Seite den Schritt, nahm ihr den Jungen ab und hörte die jammernde Stimme von Frau Böhm, die erwiderte: »Was bleibt mir anderes übrig? Du kannst auf keinen Fall im Haus des Forellenzüchters bleiben. Jetzt erst recht nicht, da du mir gesagt hast, daß er dich heiraten wird. Oh, Gott! Was machst du für Geschichten, Waltraud. Aber gut, ich bin in einer Stunde da. Hörst du, Kind? In einer Stunde. Packe nur rasch meine Koffer und bestelle mir ein Taxi. Aber ob das gutgehen wird zwischen mir und – und diesem Mann, wage ich zu bezweifeln.«

»Es wird fabelhaft gehen, Mama«, rief Waltraud heiter aus. »Du hast keine Ahnung, wie charmant Martin sein kann, wenn er sich davon einen Vorteil verspricht. Also bis bald, Mamachen.«

Damit legte sie auf und blickte Martin vergnügt an. »So, um die Kinder kümmert sich nun ihre zukünftige Großmutter. Bist du damit einverstanden, Liebster?«

Lachend nickte Martin. »Was bleibt mir anderes übrig? Aber deine Mutter wird sich wundern. Ich werde tatsächlich versuchen, das Herz der alten Dame zu gewinnen. Schon dir zuliebe, Mädel.«

Da atmete Waltraud erleichtert auf, und gemeinsam gingen sie alle auf die Terrasse zurück, wo es immer noch sommerlich warm war.

Den Jungen ließ Waltraud nicht mehr vom Schoß, und Liesel war auch in der Nähe. Martin mußte hinüber zur alten Mühle, um die Fischbrut zu füttern. Sie sah ihn mit ruhigen Schritten hinübergehen und bald darauf zurückkehren.

Und dann saß er neben ihr, und sie schmiedeten Pläne. Zuerst Heiratspläne, dann andere, die das Haus und die Kinder betrafen. Auch ihre gemeinsamen Kinder, die es einmal geben würde.

»Da kommt die Omi Böhm!« rief schließlich Liesel erfreut.

Mami Bestseller 6 – Familienroman

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