Читать книгу Die Königin des Lichts - Gisela Luise Till - Страница 10
Das Geständnis
ОглавлениеFalko saß bei Max’ Vater Johann und berichtete, was geschehen war. Sein alter Jugendfreund wusste von Luzies Geheimnis. Die beiden Familien verband eine enge Freundschaft und so war es für Max und Luzie normal, dass sie bei jedem zu Hause waren. Falko saß mit Johann bei einem Glas Wein und sie diskutierten Max’ Unfall. Johanns Rat war ihm wichtig. Als Schulleiter wusste er, mit den Sorgen und Nöten der Kinder umzugehen, und hatte für jeden ein offenes Ohr.
Als Johann hörte, dass Luzie Max mit einem Handstreich umgehauen hatte, zog er nachdenklich die Stirn kraus. Er schenkte seinem Freund Rotwein nach und seufzte: „Luzies Kräfte nehmen zu. Sobald sie wütend wird, brechen sie durch. Mit ihren elf Jahren kann sie die Kraft nicht kontrollieren und niemand weiß, wie es endet.“
Falko nickte sorgenvoll und Johann mahnte: „Du musst Luzie aufklären, heute noch. Du siehst ja, was passiert. Warte nicht länger, sonst ist es eines Tages zu spät und es geschehen Dinge, die du nicht mehr in Ordnung bringen kannst.“
Falko zuckte hilflos die Schultern. „Du hast gut reden, aber wie soll ich Maria dazu bringen? Sie will davon nichts wissen. Luzie soll, solange es geht, wie alle anderen Kinder aufwachsen.“
Johann schüttelte verärgert den Kopf, er verstand seinen Freund nicht mehr. Er war doch sonst nicht so zaghaft. Wie lange wollte er denn noch warten? Langsam verlor er die Geduld und murrte: „Indem du Luzie endlich die Wahrheit sagst. Geh nach Hause, Falko, mach es jetzt gleich. Geh, bevor noch mehr passiert!“
Falko fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Er streckte seine Glieder und stand auf. „Du hast recht, Johann, ich muss es tun. Ich mach mich sofort auf den Weg. Danke für deinen Rat.“
Auf dem Heimweg durchdachte Falko nochmals sämtliche Möglichkeiten. Dabei kam er zu dem Entschluss, Maria sofort anzusprechen und von der Notwendigkeit, Luzie aufzuklären, zu überzeugen. Er hatte sich fest vorgenommen, keinen Aufschub mehr zu dulden, und ging festen Schrittes nach Hause.
Während er seine Jacke an den Garderobenhaken hängte, rief er nach Maria. Er fand sie im Wohnzimmer und kam gleich zur Sache. „Wir müssen reden. Du kannst Luzie nicht länger im Ungewissen lassen. Wir müssen ihr jetzt sagen, was mit ihr los ist.“
Maria schaute Falko mit großen Augen an. Vor dieser Aussprache hatte sie sich schon lange gefürchtet. Sie wusste, dass er recht hatte, trotzdem versuchte sie, ihn wieder davon zu überzeugen, noch zu warten.
„Ach, Falko, Luzie ist doch noch so klein. Ich möchte, dass sie so lange wie möglich ein unbekümmertes Kind bleibt. Wenn sie lernt, ihre Kräfte zu kontrollieren, dann ist doch alles gut.“
„Und wie willst du das machen? Du kannst ihre Gedanken nicht kontrollieren. Wie willst du ihr erklären, dass sie Zauberkräfte hat und wenn sie sich etwas wünscht, alles in Erfüllung geht?“
„Indem ich ihr sage, dass sie keinen Wunsch aussprechen darf. Sie muss ihre Wünsche anders formulieren. Sie muss fragen: Kann ich ein Pferd bekommen? Oder: Es wäre schön, wenn ich ein Pferd bekommen würde. Dann ist doch alles gut.“
Falko raufte sich die Haare. „Oh Gott, Maria! Das ist gefährlich! Irgendwann passiert noch was, das wir nicht mehr in Ordnung bringen können. Hör auf mich, sag es ihr!“
„Du hast gut reden! Wie soll ich einem elfjährigen Mädchen erklären, dass es unsterblich ist? Und überhaupt, niemand weiß, ob es ein Fluch oder ein Segen ist. Stell dir vor, sie weiß, dass sie unsterblich ist, läuft blindlings in jede Gefahr und verletzt sich ständig! Oder jemand nimmt sie gefangen, lässt sie hungern und dursten und sie muss das immer und ewig ertragen. Das wäre doch die Hölle auf Erden!“
„Um Himmels willen, Maria, wie kommst du auf solche Schauergeschichten? Das ist ja furchtbar.“
„Siehst du, Falko? Jetzt überleg mal! Wenn du ein Kind wärst, könntest du mit so einem Wissen glücklich und sorglos leben?“
„Nie und nimmer! Du hast recht, sie darf es nie erfahren!“ Falko war ganz schwindelig geworden. Er sah seinen kleinen Sonnenstrahl schon in den Klauen eines Berggeists. Seine Angst war nicht unbegründet, wusste er doch, dass bei Opa im Stall ein Käfig mit einer Krähe im Gebälk hing, die ein verzauberter Berggeist war. Sie hatten ihn seinerzeit gefangen und im Land der Eltern, wo er keinen Schaden anrichten konnte, in Verwahrung gegeben.
Falko sank kraftlos in den Sessel und sein ganzer Mut war dahin. Maria versuchte, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Sie stellte sich hinter ihn, legte die Arme um seinen Hals und flüsterte in sein Ohr. „Es gibt etwas, das wir tun können, Falko. Wie du weißt, ärgert Luzie sich über den Spitznamen Blinki. Wie wäre es, wenn wir ihr ein Hemdchen anfertigen, das leicht wie eine Feder, dünn wie Papier und undurchdringlich wie Gold ist? Sie könnte das Hemd unter ihren Kleidern tragen und damit das Licht unsichtbar machen. Wenn niemand mehr das Licht sieht, ärgern die Kinder sie auch nicht mehr.“
„Hm, das wäre schön. Woraus willst du das machen?“
„Aus ihren Haaren. Sie sind wie goldene Fäden, dünn und stark wie Seide, damit müsste es gehen. Die Zauberkraft, die in ihrem Körper wohnt, findet sich auch in ihrem Haar.“
„Das könnte klappen, Maria. Einverstanden, versuch es.“
Während die beiden darüber nachdachten, wie sie das Hemdchen anfertigen wollten, polterte in Luzies Schlafzimmer etwas auf den Boden. Falko schnellte aus seinem Sessel empor, spurtete die Treppe hoch, stürmte in Luzies Zimmer und stieß einen grellen Schrei aus.
„Mariaaa! Wo kommt das Tier her?“ Er konnte nicht glauben, was er sah. Auf dem Boden lag Luzie und in ihrem Bett machte sich ein weißer Hund breit.
Maria hastete die Treppe hoch, starrte auf den Hund und stammelte: „K...k...keine Ahnung, der war eben noch nicht da!“
„Aber du musst doch wissen, wo der herkommt, du warst doch die ganze Zeit hier! Das ist eine Katastrophe. Wenn du nicht weißt, wo der herkommt, ist das der Anfang vom Ende.“
„Beruhige dich, Falko, das ist doch nur ein Hund.“
„Beruhigen? Was redest du für einen Unsinn? Wenn niemand weiß, wo der Hund herkommt, hat das etwas zu bedeuten!“
Maria war den Tränen nahe. So aufgebracht hatte sie Falko noch nie gesehen. Er schien ernsthaft in Sorge zu sein und hatte für ihre beruhigenden Worte kein Ohr. Während sie noch nach einer Erklärung suchte, erwachte Luzie. Verschlafen rieb sie sich die Augen und blickte erstaunt auf ihre Eltern, die mit roten Köpfen in ihrem Zimmer standen.
Falko hob sie auf und ließ sie unsanft aufs Bett plumpsen. „Was ist das für ein Hund? Wo kommt der her?“
Tino huschte unter das Bett und Luzie hätte am liebsten gesagt: „Ich sehe keinen Hund“, doch sie merkte, dass der Vater böse war und sie mit dieser Lüge alles noch schlimmer machen würde. Deshalb antwortete sie wahrheitsgemäß: „Den hab ich mir gewünscht und dann war er plötzlich da.“
„W...a...a...as?! Den hast du dir gewünscht?“
Luzie nickte.
Falko stockte der Atem. Er bekam keine Luft mehr. Der Boden schwankte unter seinen Füßen und er hatte das Gefühl, jemand schnürte ihm die Kehle zu. Nun war das passiert, was er vermeiden wollte und wovor er immer gewarnt hatte. Er warf Maria einen vorwurfsvollen Blick zu, öffnete seinen Hemdkragen und sank ächzend auf das Bett.
Als er sich etwas beruhigt hatte, klopfte er auf die Bettkante. „Luzie, setz dich zu mir. Mama und ich müssen mit dir reden. Wir müssen dir etwas sagen, was wir schon längst hätten tun sollen.“
Maria setzte sich neben Luzie und kraulte Tino, der sich zwischen sie gedrängt hatte. Falko wusste nicht, wie er anfangen sollte, und es entstand eine beklemmende Stille.
Schließlich raffte Maria ihren Mut zusammen und sagte leise: „Luzie, du hast etwas gemacht, was du nie mehr tun darfst. Deshalb erklären wir dir heute, weshalb deine Brust so leuchtet und warum du so stark bist.“ Maria legte den Arm um Luzies Schultern und suchte nach den richtigen Worten.
Plötzlich sprudelten die Worte aus ihrem Mund und sie erzählte Luzie ihre eigene Lebensgeschichte: „Vor einigen Jahren besaß ich eine Zauberperle, die alle Wünsche erfüllte. Der Berggeist Schakan wollte sie haben und mit der Magie der Perle groß und mächtig werden, damit er alle Bewohner im Waldaland beherrschen konnte. Papa und ich haben gegen ihn gekämpft. Während des Kampfes verwandelte der Berggeist sich in eine Krähe. Wir haben ihn besiegt, eingefangen, mit einem Bannspruch belegt und in das Land deiner Großeltern gebracht. Dieses ist frei von Magie, dort kann der Berggeist Schakan keine neuen Kräfte sammeln. Nur bei uns im Waldaland kann er seine Zauberkräfte benutzen. Deshalb haben wir beschlossen, unser Land auch von der Magie zu befreien und keine Zauberkräfte mehr zu nutzen. Du kennst den Berggeist Schakan. Es ist die alte Krähe, die in dem Käfig in Opas Stall sitzt. Weil er so gefährlich ist, haben wir dir stets verboten, dich diesem Tier zu nähern. Als du drei Jahre alt warst, hast du meine Zauberperle gefunden und sie verschluckt. Seitdem steckt sie in deiner Brust und leuchtet aus dir heraus. Die Prophezeiung sagt, wer die Perle schluckt und nicht daran stirbt, erhält das ewige Leben. Du hast die Perle in dir und mit ihr alle Macht der Magie. Deshalb hast du ungeahnte Kräfte, und immer wenn du dir etwas ganz heftig wünschst, geht es in Erfüllung.“
Luzie war so überrascht, dass sie kein Wort sagen konnte.
Maria warnte noch einmal: „Das ist gefährlich! Wenn du dir unbedacht etwas wünschst, können schlimme Dinge passieren, die du vorher nicht bedacht hast. Es könnte jemand davon erfahren, der deine Kraft haben will, und dir etwas antun. Deshalb müssen wir darauf bestehen, dass du dir nichts mehr wünschst. Versprichst du uns das?“
Luzie rutschte unruhig hin und her und senkte traurig ihren Blick. „Ich darf mir nie mehr was wünschen? Nie mehr?“
Maria nickte. „Nie mehr! Du weißt ja, wie du es machen musst, wenn du etwas haben willst, das haben wir doch geübt.“
Falko sah den Kummer in Luzies Augen und versprach: „Wenn du dich daran hältst, darfst du den Hund behalten. Wenn nicht ...“
Luzie hörte nur „Hund behalten“ und versprach alles, was man von ihr verlangte. Sie drückte ihr Gesicht in Tinos Fell und jauchzte: „Hast du gehört, Tino? Ich darf dich behalten!“
Am nächsten Morgen war Luzie schon früh aus den Federn. Sie schlang das Frühstück hinunter, rief Tino und rannte zur Tür.
Die Mutter hielt sie fest.„Halt, halt, wohin so eilig?“
„Ich will zu Max.“
Maria schüttelte den Kopf. „Nicht so schnell! Zuerst muss ich dich kämmen.“
„Ich bin gekämmt!“
„Setz dich hin, Luzie. Dein Haar ist struppig. Bevor du gehst, muss ich dich kämmen.“
Luzie setzte sich seufzend auf den Stuhl und Maria bürstete ihr Haar. Sie rupfte ihr eine Handvoll Haare aus und murmelte seltsame Sprüche dazu.
Luzie schrie: „Au! Das tut weh. Du reißt mir ja die Haare aus.“
Maria streichelte ihren Kopf und lachte. „Eins, zwei, drei, schon vorbei.“
Luzie verdrehte böse die Augen und wollte weg. Die Mutter drückte sie auf den Stuhl, bürstete weiter und murmelte monoton:
„Drei wie Vater, Mutter, Kind;
drei miteinander verwoben sind.
Drei mal drei vieltausendmal,
drei mal drei ist die richtige Zahl.“
Als sie wieder einige Haare ausriss, sprang Luzie auf und lief mit Tino hinaus. Sie nahm die Abkürzung über die Bergwiese, rannte zur Dorfstraße, klopfte bei Max an die Tür und brüllte: „Mach auf, ich bin’s. Luuuzie!“ Sie stand mit Tino vor der Tür und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
Als sich nichts rührte, rief sie aus Leibeskräften: „Max! Komm raus, ich muss dir was zeigen!“ Zwei Sekunden später pochte sie abermals gegen die Tür, ging einen Schritt zurück und blickte zum Fenster. Als sich immer noch nichts rührte, trommelte sie mit den Fäusten gegen die Tür.
Luzie tigerte ungeduldig vor dem Haus auf und ab und konnte es kaum erwarten, Max den Hund zu zeigen. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis sie endlich Schritte hörte und Max verschlafen die Tür öffnete. „Warum kommst du so früh? Es sind doch Ferien!“
Luzie hielt ihm Tino unter die Nase und jauchzte: „Ist der nicht süß?“
Max riss die Augen auf: „Oooh! Ist das deiner? Woher hast du den?“
„Den hab ich mir gewünscht und dann war er plötzlich da.“
„Einfach so? Kannst du zaubern?“
Luzie schaute sich um und flüsterte: „Ich denke schon. Wenn du niemandem etwas erzählst, verrate ich dir ein Geheimnis.“
Max verdrehte beleidigt die Augen. „Warum fragst du? Du weißt doch, dass deine Geheimnisse bei mir sicher sind!“
„Heb deine Hand und schwöre!“
Max streckte drei Finger in die Luft und Luzie erzählte: „In meiner Brust steckt eine Zauberperle, und wenn ich mir was wünsche, geht es in Erfüllung. Deshalb musste ich meinen Eltern versprechen, dass ich mir nie mehr was wünsche.“
„Und hast du?“
„Na klar! Sonst hätte ich Tino nicht behalten dürfen.“
„Schade, ich habe so viele Wünsche, ein paar hättest du mir erfüllen können.“
„Genau davor hat meine Mutter mich gewarnt. Es darf niemand wissen, sonst kommen alle Leute mit tausend Wünschen und ich hätte keine ruhige Minute mehr.“
„Na ja, kann sein, aber es wäre schon schön!“ Max streichelte Tino versonnen das Fell und dachte an die vielen schönen Sachen, die er sich wünschte. Er schob den verführerischen Gedanken zur Seite und fragte: „Und was machen wir jetzt? Sollen wir dem kleinen Kerl ein paar Kunststücke beibringen?“
„Na klar! Dann zeig ich dir, wie schlau Tino ist. Du wirst sehen, er versteht alles, was ich sage.“
Max zog seine Schuhe an, steckte sich ein belegtes Brot vom Frühstückstisch in seine Tasche, nahm noch eins in die Hand und lief hinaus. Bei jedem Schritt, den er machte, sprang Tino an ihm hoch. Max lachte und überlegte, ob der Hund ihn als neuen Freund begrüßte oder ob er nur das Wurstbrot haben wollte. Er warf ihm ein Stöckchen zu und schleuderte irrtümlich das Brot weg. Tino schnappte danach, verschlang es hastig und sauste davon. Luzie und Max liefen lachend hinterher in den Wald. Sie rannten zum Perlbach, an dem die großen Tauerweiden standen. Dort machten sie halt, warfen Steine ins Wasser und planschten eine Weile.
Danach tobten sie mit Tino auf der angrenzenden Wiese herum. Den ganzen Tag verbrachten sie dort. Erst als die Sonne sank und der Abend nahte, gingen sie heim.
Am anderen Morgen kämmte Maria Luzie wieder ausgiebig ihr Haar. Sie nahm die Bürste, rollte ein paar lange Haarsträhnen ein, murmelte den gleichen Vers wie am Vortag und riss sie aus. Luzie schimpfte und wetterte. Die Mutter hörte jedoch gar nicht hin, sagte nur: „Eins, zwei, drei, schon vorbei“, und machte am anderen Tag genau das Gleiche. Luzie hasste die Prozedur, ließ sie aber über sich ergehen und rannte anschließend mit Tino zu Max.
Max hatte schon den Rucksack mit Essen und Trinken gepackt und alles für ein schönes Picknick am Bach vorbereitet. Tino begrüßte ihn wie einen alten Freund. Er machte Männchen, schlug Purzelbäume und zeigte, was er gelernt hatte.
Das Wetter versprach einen sonnigen Tag. Max holte seine Angel, schulterte den Rucksack und machte sich mit Luzie und Tino auf den Weg zum Perlbach. Heute wollten sie Fische fangen und sie am Lagerfeuer braten. Sie verbrachten wieder einen herrlichen Ferientag am Bach und gingen abends glücklich nach Hause.
Am vierten Tag stand Luzie früh auf. Max wartete, sie wollten in den Wald und Tino neue Kunststücke beibringen. Heute hatte sie es besonders eilig. Deshalb nahm sie ein Brot vom Tisch, steckte es in den Mund und wollte weg.
Die Mutter hielt sie fest und bürstete wie immer ihr Haar. Sie kämmte und kämmte. Luzie konnte kaum stillhalten und quengelte herum. Die Mutter hielt sie fest und bürstete ihr Haar heftiger als sonst. Sie nahm sich heute besonders viel Zeit und machte nicht den Eindruck, dass sie bald aufhören wollte. Genau wie an den drei Tagen zuvor riss sie Luzie einige Haarsträhnen aus und murmelte geheimnisvolle Sprüche. Luzie hielt es nicht länger aus, sie nahm ihr die Bürste aus der Hand, zog sie dreimal durch ihr Haar, sprang auf und sauste mit Tino zu Max.
Es dauerte nicht lange, da waren die drei auf dem Weg zu ihrem Lieblingsplatz. Als sie zum Perlbach kamen, machten sie bei den Trauerweiden halt. Max drehte einige Äste der Weide wie ein Seil zusammen und ließ Tino darüber springen. Die Übung war viel zu leicht für Tino, er brauchte etwas Anspruchsvolleres. Max verknotete die Zweige der Weide zu einem Ring und hielt ihn Tino vor die Nase.
Luzie verbeugte sich tief und rief: „Manege frei für den großen Hundedompteur. Jetzt kommt Max, der große Tierbändiger.“
Max dirigierte Tino mit einem Stock in die richtige Stellung, zählte bis drei und ließ Tino durch den Reifen springen. Danach warfen sie Tino kleine Stöcke zu, die er alle zurück brachte. Sie waren so in ihr Spiel vertieft, dass sie blindlings immer tiefer in den Wald liefen.
Die Zeit verflog und niemand merkte, dass die Mittagsstunde schon lange vorüber war. Erst als der Hunger sich meldete und ihre Mägen knurrten, unterbrachen sie ihr Spiel. Sie durchwühlten ihre Taschen, aber keiner hatte etwas Essbares dabei. In der Hoffnung, im Wald etwas zu finden, schauten sie sich die Umgebung etwas genauer an. Der Wald hatte sich verändert. Hier war tiefster Urwald und der Weg, auf dem sie sich befanden, führte direkt zur hohen Gracht.
Die beiden steckten die Köpfe zusammen und trauten sich kaum zu atmen. Sie wussten, dass sie hier nicht spielen durften; die hohe Gracht war für Kinder verboten. Um den Berg rankten sich geheimnisvolle Geschichten. Er war verhext und es war strengstens untersagt, sich allein in seiner Umgebung aufzuhalten.
Die Dorfbewohner erzählten, dass einst ein Erdrutsch ein ganzes Zwergenvolk ausgelöscht hatte und hier ihre Seelen umhergeisterten. Andere erzählten von schwarzhaarigen Gestalten, die Menschen und Tiere fraßen. Obwohl niemand solche Ungeheuer je gesehen hatte, machten alle im Waldaland einen großen Bogen um den Berg. Umso unheimlicher war es, dass sie nun, mit Hunger im Bauch, allein im schwarzen Wald standen.
Der Wald war schaurig und still. Kein Vogel zwitscherte in den Zweigen und kein Tier raschelte im Gebüsch. Die Stille verströmte ein beklemmendes Gefühl und beide spürten, dass sie diesen unheimlichen Ort schleunigst verlassen mussten.
Max nahm Luzies Hand und drehte sich wortlos um. Sie waren kaum ein paar Schritte gegangen, da kroch Tino ein ekliger Geruch in die Nase. Er knurrte und fletschte die Zähne. Plötzlich schoss er davon, rannte zu einer Reihe Tannen und kläffte sie an. Luzie pfiff ihn zurück. Doch Tino reagierte nicht und bellte Alarm.
Luzie ging in die Knie. „Tino, was hast du? Komm her!“
Tino bellte weiter. Max blickte sich um, er konnte nichts Verdächtiges sehen und zuckte ratlos die Schultern. Tino konnte sich kaum beruhigen und bellte immer wieder Alarm. Die Sache wurde unheimlich. Max schlich zu ihm, packte sein Halsband und versuchte, ihn wegzuziehen. Der Hund war keinen Zentimeter fortzubewegen; er bellte und fletschte die Zähne.
Max hielt ihm die Schnauze zu. „Psst! Ich weiß, dass du uns warnen willst. Sei still, ich erkunde mal die Gegend.“ Max kroch durchs Gebüsch und entdeckte in einer Senke eine heruntergekommene Hütte. Die hatte er noch nie gesehen. Er winkte Luzie heran und murmelte: „Guck mal, da ist eine Hütte, kennst du die?“
Luzie schüttelte den Kopf. „Nee, die hab ich noch nie gesehen. Vielleicht gibt es da was zu essen!“
Die Hütte sah verfallen aus und Max bezweifelte, hier überhaupt etwas zu finden. Trotzdem schlich er näher heran. Er duckte sich unter das Fenster und spähte ins Innere. Nichts war zu sehen: Die kleinen Scheiben waren mit so viel Grünspan überzogen, dass es unmöglich war, etwas zu erkennen. Er lauschte auf irgendein Geräusch. Als sich nichts regte, klopfte er leise an das Fenster. „Ist da jemand?“ Niemand antwortete.
Max schlich um die Hütte herum. Er überprüfte die Rückseite, blieb an der Vorderseite stehen, öffnete die schiefe Tür und ging hinein. Luzie folgte ihm mit Tino. Sie stand dicht hinter Max und spähte über seine Schulter in die Stube.
Als der Lichtstrahl durch die geöffnete Tür drang, erkannten sie eine düstere Kammer, in der sich ein Ofen und ein paar Regale befanden. Der Boden war übersät mit Abfall und auf den Möbeln, die aus einem Bett, Tisch und zwei Stühlen bestanden, klebten sauer stinkende Essensreste. Ein beißender Gestank strömte aus dem düsteren Raum und brannte in ihren Nasen. Max hielt die Luft an und wollte raus. Er hatte schon einen Fuß draußen, als plötzlich etwas auf ihn zuschlurfte.
In der dunkelsten Ecke der Hütte bewegte sich ein schwarzer Schatten und eine Stimme krächzte: „He, ihr Saubande! Was wollt ihr hier?“
Max machte einen Satz rückwärts, stolperte über Tino und fiel auf den Boden. Luzie riss ihn hoch und rannte mit ihm davon. Sie waren grade mal ein paar Meter gelaufen, da vermissten sie Tino. Sie blieben stehen und schauten sich um. Tino war noch bei der Hütte und kläffte eine alte Frau und einen schmuddeligen Jungen an, die daraus hervortraten. Die Alte, die Tino in einem fort ankläffte, war eine bucklige Zwergin und sah einer Hexe zum Verwechseln ähnlich. Lange graue Haare fielen auf ihre Schulter und im Gesicht prangte eine spitze Nase. Ihre Haut war bleich und faltig und die runzeligen Lippen waren ein Anzeichen für eine Reihe fehlender Zähne. Aus ihrem geöffneten Mund schauten ein paar wacklige, faule Eckzähne heraus, die ebenfalls einen stinkenden Geruch verbreiteten.
Der Junge sah nicht besser aus. Völlig verdreckt verströmte auch er einen muffigen Gestank. Sein Fuß war verkrüppelt und seine Oberlippe gespalten. Sabber floss aus seinem Mund und aus seiner Kehle drangen krächzende Laute. Der Junge duckte sich hinter die Alte, schielte hinter ihrem Rücken hervor auf den Hund und warf kleine Steine nach ihm. Tino kläffte, als wollte er mit seinem Gebell die beiden verscheuchen.
Luzie spürte die Gefahr und schrie: „Tino! Hierher!“
Die Alte grinste honigsüß, schnippte mit ihren langen Fingern und säuselte: „Komm, mein Hündchen, komm zu mir, ich hab Leckerchen für dich.“
Als Luzie sah, wie heimtückisch die Alte sich an den Hund heranmachte, kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Ihr fielen die furchtbaren Geschichten über diese Gegend ein und sie befürchtete, dass die zwei die Schreckgespenster waren, die sich an Tiere und Kinder heranmachten. Tino war in Gefahr.
Luzie zwinkerte Max zu und murmelte mit unbeweglichen Lippen: „Bleib hier und halte mir den Weg frei. Ich hol Tino. Wenn ich ihn habe, läufst du los!“ Zwei Sekunden später flitzte sie zu Tino und wollte ihn einfangen.
Doch die Alte versperrte ihr den Weg und keifte: „Verschwinde. Der Hund bleibt hier!“
Die schrille Stimme klang wie eine quietschende Eisentür. Luzie zuckte zusammen und rief: „Tino! Hierher!“
Tino kläffte weiter. Luzie wurde langsam böse und brüllte lauter. Doch alles Rufen und Pfeifen war vergebens. Es war wie verhext: So hatte Tino sich noch nie verhalten. Luzie überlegte, wie sie ihn weglocken konnte, und tat so, als würde sie fortgehen. Plötzlich lief der Junge mit einer Geschwindigkeit, die man ihm nie zugetraut hätte, zu Tino, schnappte ihn und rannte mit ihm davon.
Die Alte klatschte in die Hände und lachte. „Satan, mein Junge, komm zu mir! Komm, bring das Hündchen zu deiner Mami!“
Luzie lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie blickte zu Max und wollte etwas sagen, doch sie brachte keinen Ton heraus. Wie versteinert stand sie da und zeigte auf den Jungen. Der war der Sohn der Hexe und sie nannte ihn Satan ... wie den Teufel. Ihre Lippen formten stumm das Wort „Lauf“.
Max verstand, was sie wollte, und rannte hinter dem Jungen her. Er holte ihn ein, bekam seinen Ärmel zu fassen und hielt ihn fest. Doch Satan war schnell. Er riss sich los, boxte Max in den Bauch und entkam. Max krümmte sich für ein paar Sekunden zusammen. Als der Schmerz verging, sah er Luzie mit blitzenden Augen hinter Satan her rennen und er folgte den beiden eilig.
Satan blickte Luzie in die Augen und blieb geblendet stehen. Was war das? Ihre Augen funkelten und versprühten grelle Lichtstrahlen. So etwas hatte er noch nie gesehen. Er starrte in Luzies Augen und konnte sich nicht bewegen. Inzwischen hatte Max ihn eingeholt, er hielt ihn fest und Luzie zerrte Tino aus seinen Armen.
Die Jungen wälzten sich im Gras und kämpften. Die Alte stand abseits und sah grinsend zu, wie sie rauften. Es schien ihr zu gefallen, denn sie dachte nicht daran, die Streitigkeiten zu beenden. Erst als Max Satan wegstieß und mit Luzie und Tino davonlief, kam Bewegung in ihren buckligen Körper. Mit drohenden Fäusten eilte sie hinterher und kreischte: „Halt, der Hund bleibt hier!“
Max blieb verdutzt stehen. Luzie knuffte ihn in die Seite. „Los, Max. Komm weiter, renn!“
Luzie flitzte den Waldweg entlang und wurde immer schneller. Max hatte Mühe, ihr zu folgen, und blieb keuchend stehen. „Ich kann nicht mehr. Hoffentlich erreichen wir das Dorf, bevor wir schlappmachen.“
Plötzlich bewegte sich hinter der Wegbiegung ein Schatten. Luzie beschleunigte ihre Schritte. „Komm schneller, Max, ich glaub, wir werden verfolgt.“
„Ist das die Alte?“
„Ja, komm!“
Sie sausten weiter. Ein paar Sekunden später bog die Alte mit wehenden Haaren um die Ecke.
Luzie zerrte an Max’ Ärmel. „Lauf, lauf!“
Max rannte, was seine Lungen hergaben. Er schielte dauernd zurück und wunderte sich, dass die Greisin mit ihren kurzen Beinen die Geschwindigkeit halten konnte. So ein schneller Schritt war für eine Zwergin nicht normal. Er legte noch einen Zahn zu.
„Guck mal, wie schnell die läuft. Das ist Hexerei!“
Luzie drehte sich um. „Nichts wie weg hier, das ist bestimmt wirklich eine Hexe.“
Max hastete den Weg entlang. Doch jedes Mal, wenn er sich umschaute, war die Alte noch einen Schritt näher gekommen. Er versuchte, das Tempo zu steigern, doch von Seitenstechen geplagt, wurde er wieder langsamer. Es dauerte nicht lange, da konnte er kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Aus der Puste torkelte er von einer Seite zur anderen und hatte Mühe, aufrecht zu gehen. Luzie sah ihn schwanken und nach Atem ringen. Sie nahm seinen Arm, legte ihn um ihren Hals und zog ihn weiter. Auf ihr ruhte nun die ganze Last. Rechts schleppte sie Max und links hing Tino schwer in ihrem Arm. Sie konnte ihn nicht absetzen, das Risiko war zu groß, dass er zurücklief und die Hexe wieder ankläffte. Trotzdem mussten sie weiter, die Alte war schon dicht hinter ihnen.
Max sah, wie sie aufholte, und japste erschöpft: „Ich wünschte, es würde jemand die Alte aufhalten. Ich kann nicht mehr.“
„Das wünsche ich mir auch. Komm weiter, Max, reiß dich zusammen, vielleicht gibt sie bald auf.“
Luzie glaubte selbst nicht daran, aber irgendwie musste sie Max Mut machen. Er musste weiter, die Hexe streckte schon ihre langen Finger aus und versuchte, sie zu ergreifen. Max stolperte und fiel hin. Luzie zog ihn am Hosenbund hoch. Nun hing er wie eine Marionette in Luzies Armen und seine Füße schwebten kraftlos über dem Boden. Sie flitzte mit ihm den Weg hinunter, bekam einen Vorsprung und bald war von der Hexe nichts mehr zu sehen.
Luzie folgte dem abschüssigen Weg zum Bach und eilte zu den am Ufer stehenden Trauerweiden. Sie wollte sich verstecken und lief zu der abseits stehenden Weide, deren lange Zweige bis zum Boden reichten und eine dichte Laube bildeten. Während sie auf den Baum zusteuerte, suchten ihre Augen nach einem Schlupfloch, um unbemerkt in das Gewirr der langen Äste einzudringen.
Sie war noch ein paar Meter entfernt, da neigte die Trauerweide plötzlich ihre Krone, schlang ihre Zweige ineinander und formte aus ihren dünnen Ästen ein riesiges Vogelnest. Der Wind frischte auf und in den Blättern säuselte es: „Springt rein! Hier seid ihr sicher.“
Luzie sprang und kullerte mit Max und Tino erschöpft in das Nest. Die Weide richtete sich auf und einen Augenblick später ging es wie auf einer Achterbahn in die Höhe.
Das leichte Schwingen der Äste machte Max schwindelig. Kreidebleich drückte er sich an Luzie. „Wie ist das passiert, hast du dir das gewünscht?“
Luzie schüttelte den Kopf. „Ich ... nee! Du hast dir gewünscht, dass jemand die Alte aufhält!“
„Stimmt! Doch ich glaub nicht, dass es mein Wunsch war, der das bewirkt hat. Du hast es dir doch auch gewünscht! Also ist dein Wunsch in Erfüllung gegangen.“
Luzie zuckte zusammen. „Oje, Max. Meinst du wirklich? Wenn das stimmt, darfst du es niemandem erzählen, sonst muss ich Tino abgeben.“
„Au Backe! Daran hab ich nicht mehr gedacht. Keine Angst, Luzie, ich halt dicht.“
Luzie lehnte sich beruhigt zurück und schloss müde die Augen. Da wehte ihr ein muffiger Geruch in die Nase. Plötzlich war die Müdigkeit wie weggeblasen. Sie lugte durch die Äste und sah die Hexe um den Baum schleichen. Max hielt Tino die Schnauze zu und zeigte nach unten. Die Hexe schlich um den Baum herum und maulte etwas vor sich hin.
Plötzlich stachen Luzie tausend Nadelstiche in die Ohren, denn sie hörte das, was sie nie mehr hören wollte:
„Blinki blinkt aus allen Ecken,
sie kann sich nicht verstecken.“
Ihr Kopf wurde feuerrot, sie presste die Lippen zusammen und kniff die Augen zu. Max sah, wie sie ihre Fäuste ballte, und befürchtete einen Wutausbruch. Er hielt ihr die Ohren zu, neigte sich über den Nestrand und schrie: „Du alte Hexe, verschwinde!“
Die Alte kicherte. Jetzt wusste sie, wo die Kinder waren. Sie starrte ins Blätterdach und wetterte: „Nur nicht so frech, du Erdling! Komm runter, wenn dir dein Leben lieb ist. Ich hab dich schon längst gesehen.“
Luzie glaubte nicht, dass die Alte sie gesehen hatte. Die Baumkrone war so hoch und die Blätter so dicht, dass es schier unmöglich war, von unten das Licht zu sehen. Sie lugte über den Nestrand und rief furchtloser, als ihr zumute war: „Dann hast du uns eben gesehen, du alte Hexe. Was willst du?“
„Komm runter, dann sag ich es dir. Du weißt doch, dass du dich nicht verstecken kannst, deshalb heißt du ja Blinki!“
„Na und?! Besser ich heiße Blinki und blinke, als dass ich so stinke wie du. Auch wenn du meinen Freund Erdling nennst, ist dieser Name genauso wie der meine besser als deiner!“
„Ach! Und wie heiß ich deiner Meinung nach?“
„Das ist nicht schwer zu erraten. Du stinkst drei Kilometer gegen den Wind und deine drei Zähne sind wackelig. Du kannst nur Stinki Wackelzahn heißen.“
Max zupfte Luzie am Ärmel. Ihm war es peinlich, so respektlos über die alte Frau zu sprechen, und er wunderte sich, woher Luzie den Mut nahm. Trotzdem musste er lachen. Stinki Wackelzahn, der Name passte hervorragend.
Luzie sah ihn finster an. Immer wenn jemand sie ärgerte oder etwas Unrechtes geschah, gerieten ihre Gefühle außer Kontrolle. So konnte sie ihr Versprechen, sanftmütiger zu sein, nie einhalten. Nun passierte es schon wieder. Verärgert schlug sie mit der Faust gegen den Ast. „Wieso kennt die Alte meinen Spitznamen?“
„Keine Ahnung, vielleicht hat sie uns heimlich beobachtet.“
„Waaas?! Wenn das stimmt, dann weiß die Wackelzahn, wo wir wohnen.“
Max erschrak. Er spähte nach unten, beobachtete die Hexe und erschauderte. „Luzie! Guck mal, die Hexe hängt an den Zweigen und will hoch.“
Luzie lehnte sich über den Nestrand und sah, wie Stinki sich an einen Ast klammerte und dauernd abrutschte. Es war sonderbar, sobald sie ihre Füße vom Boden hob, brauste ein Sturm durch die Weide und peitschte ihr die langen Zweige ins Gesicht. Diese trafen ihren Rücken, ihre Arme und schlugen auf ihre Beine. Die Hexe verlor den Halt, fiel runter und blieb auf dem Boden liegen. Sie wartete, bis der Wind sich legte, und versuchte es erneut. Doch es passierte genau dasselbe wie zuvor. Sobald sie sich der Trauerweide näherte, heulte der Wind durch das Geäst und die Zweige peitschten sie zurück.
Max lachte. „Na, hast du jetzt genug? Hau ab!“
„Halt’s Maul, Erdling! Ich krieg dich noch. Wenn nicht heute, dann morgen. Irgendwann kreuzen sich unsere Wege.“
Luzie duckte sich tiefer ins Nest. Sie drückte Tino enger an sich, schlang ihre Arme um Max und flüsterte: „Was will die Hexe von uns? Hoffentlich haut die bald ab.“
„Vielleicht hat das was mit deinem Licht zu tun und sie will dich fangen.“
„Das glaub ich nicht. Die ist hinter Tino her, das hat sie doch gesagt.“
„Stimmt! Am besten bleiben wir hier und warten, bis sie weg ist.“
Die drei saßen eng beieinander und warteten. Keiner sagte ein Wort. Plötzlich wurde Max ganz verlegen. Er druckste herum, wollte was fragen, traute sich aber nicht. Nach ein paar Minuten gab er sich einen Ruck und sagte mit gespielter Gleichgültigkeit: „Luzie ... zeigst du mir das Licht in deiner Brust?“
Luzie zog schweigend den Pullover hoch und ließ ihr Licht leuchten. Max war wie geblendet. Mitten in ihrer Brust leuchtete ein goldener Punkt und strahlte wie eine kleine Sonne aus ihrem Körper. Er legte seine Hand darauf und fühlte eine wohltuende Wärme. Luzie saß ganz still und ließ es geschehen.
Max legte seinen Kopf auf ihre Brust, kuschelte sich an sie und murmelte aus tiefer Seele: „Meine Blinki, meine strahlende Blinki!“
Plötzlich begriff er, was das bedeutete, und befürchtete einen Wutausbruch. Doch Luzie lächelte ihn an. Es war unbegreiflich! Er nannte sie Blinki und Luzie lächelte.
Verwirrt rückte er ein Stück von ihr ab. „Entschuldige. Ich wollte dich nicht ärgern. Ich find Blinki schön!“
Sie knuffte ihn in die Rippen. „Wenn du meinst. Erdling ist auch nicht schlecht.“
Max schloss erleichtert die Augen und genoss Luzies Wärme, die in seinen Körper eindrang. Die Hitze floss durch seine Adern, durchflutete seinen Leib und hinterließ ein wunderbares Glücksgefühl. Max hatte noch nie so ein schönes Gefühl kennengelernt und genoss jede Sekunde an Luzies Seite. Selbst Tino fühlte die Wärme und kuschelte sich näher an sie heran. So saßen sie eng zusammen und vertrauten darauf, dass die Hexe verschwand. Trotz der Gefahr, die noch immer unten lauerte, versank Max in einem wunderschönen Traum.
Er rekelte sich benommen, als Luzie ihn plötzlich anstupste, ihren Pullover runterzog und ankündigte: „Die Hexe ist weg, wir können nach Hause.“
Die Zeit war wie im Flug vergangen und er hatte ganz vergessen, dass sie nur darauf warteten, dass die Hexe verschwand. Er raffte sich auf und fragte verdutzt: „Und wie kommen wir hier runter?“
Luzie zuckte die Schultern. „Ich frag die Weide, sie hat uns hochgeholfen und wird uns gewiss auch wieder runterhelfen.“
Max zog die Augenbrauen hoch. „Wenn du meinst.“
Luzie sprach mit der Weide wie mit einer alten Freundin und bat, sie hinabzulassen. Die Weide schüttelte sich, neigte ihre Krone und schob das Nest auf den Boden.
Luzie bedankte sich, sprang hinaus und rief Max zu: „Bist du bereit, Erdling? Komm, wir rennen heim!“