Читать книгу Die Königin des Lichts - Gisela Luise Till - Страница 11
Оглавление*
Das goldene Hemd
Drei Tage hatte Maria Luzies Haare kräftig gekämmt, alle Haarsträhnen aus der Bürste gezogen und diese in einer Schachtel gesammelt. Heute, am vierten Tag, fehlten ihr noch einige. Deshalb nahm sie sich an diesem Morgen besonders viel Zeit. Sie bürstete Luzies Haar heftiger als je zuvor und murmelte dazu geheimnisvolle Sprüche. Selbst als Luzie herumquengelte, ließ sie sich nicht davon abhalten und kämmte weiter. Als sie wieder einige Haarsträhnen ausriss, verlor Luzie die Geduld. Drei Tage hatte sie stillgehalten, doch als es nun am vierten Morgen wieder passierte, nahm sie die Bürste, zog sie dreimal durch die Haare, warf sie auf den Tisch und sauste mit Tino zu Max.
Maria betrachtete zufrieden die vielen Haare in der Bürste und ordnete sie der Länge nach auf dem Tisch. Heute wollte sie das Zauberhemd nähen. Es musste weich wie Samt, leicht wie Federn und dünn wie Seide werden. In Luzies Haar steckte die Zauberkraft und diese Zauberkraft sollte das Licht in Luzies Brust unsichtbar machen.
Maria wählte den besten Seidenkokon, den sie in ihrer Sammlung fand, und setzte sich ans Spinnrad. Sie streifte den Faden über ihre Finger, fügte einzelne Haare hinzu und wickelte alles auf eine Spule. Danach webte sie alles zusammen. Sie webte und nähte, nähte und webte. Und während sie flocht und spann, murmelte sie eine Zauberformel nach der anderen:
„Rädchen, dreh dich geschwind,
will heut weben für mein Kind.
Aus goldnem Haar gewonnen,
wird das Garn gesponnen.
Drei wie Vater, Mutter, Kind,
drei miteinander verwoben sind.
Drei heißt die magische Zahl,
drei ist die richtige Wahl.
Wie die Seide rein und fein
soll das Hemd geflochten sein.
Aus Zauberhaar gewonnen,
wird das Hemd gesponnen.“
Maria hatte den ganzen Tag gesponnen, gewebt, genäht und machte nun die letzten Stiche. Sie war so in ihre Arbeit versunken, dass sie gar nicht bemerkte, wie spät es schon geworden war. Ein lauter Schlag und freudiges Hundegebell rissen sie aus ihren Gedanken. Dann hörte sie eine Tür zuknallen und hastige Schritte über den Flur rennen. Luzie lief, gefolgt von Max und Tino, in die Küche, öffnete den Kühlschrank und stellte alles Essbare auf den Tisch.
Maria blickte zur Uhr und bekam ein schlechtes Gewissen. Es war schon Abend und sie hatte noch kein Abendbrot gemacht. Steifbeinig stand sie auf, versteckte das Hemd hinter ihrem Rücken und ging in die Küche. Die Kinder saßen wie Kannibalen am Küchentisch und stopften sich große Scheiben Wurst und Brot in den Mund. Selbst Tino fraß gierig eine riesige Wurst.
Maria traute ihren Augen nicht und fragte verwundert: „Wo kommt ihr denn her? Wieso seid ihr so hungrig?“
Luzie steckte sich gerade ein Stück Speck in den Mund. Sie würgte es mit dicken Backen hinunter und nuschelte: „Aus dem Wald. Wir haben Tino Kunststücke beigebracht und den ganzen Tag noch nichts gesessen.“
„Ihr wart den ganzen Tag im Wald? Wieso kommt ihr denn so spät nach Hause? Max, wissen deine Eltern, wo du bist?“
Max biss ein Stück von seiner Wurst ab: „Jaaa ... bei Luzie.“
„Aber das erklärt immer noch nicht, wieso ihr so spät heimkommt. Wart ihr bei Papa? Der war auch im Wald.“
Die Kinder sahen sich kopfschüttelnd an und verneinten.
„Wo wart ihr dann?“
Luzie druckste herum und wollte nicht so recht mit der Sprache heraus. Doch sie begriff, dass sie ihrer Mutter alles erzählen musste.
„Wir haben im Wald eine verfallene Hütte entdeckt. Darin haust eine alte Frau mit ihrem Jungen. Kennst du die zwei?“
„Ich weiß nicht, wo war das denn?“
„Auf dem Weg zur hohen Gracht.“
„Was?! Ihr wart an der hohen Gracht? Aber Luzie! Das ist doch Sperrgebiet!“
„Ich weiß, wir haben nicht gemerkt, dass wir schon so weit gelaufen waren, und standen plötzlich im schwarzen Wald vor der Hütte.“
Maria runzelte nachdenklich die Stirn. „Das kann nur die alte Einsiedlerin gewesen sein. In der Gegend hat mal ein Zwergenvolk gehaust. Die Männer suchten in den Bergen nach Gold und Diamanten. Nachdem sie bei einer Explosion in der hohen Gracht umgekommen sind, zogen die Frauen und Kinder in ein anderes Land. Die Alte blieb als Einzige zurück. Papa ist ihr schon mal im Wald begegnet. Doch meistens versteckt sie sich. Hat sie euch denn gesehen?“
„Und ob!“, knirschte Max. „Die war richtig gruselig und wollte uns Tino wegnehmen.“
„Was? Was wollte sie denn mit dem Hund?“
„Keine Ahnung, Mama. Aber du solltest mal den Jungen sehen, der sieht vielleicht gruselig aus. Und weißt du, wie die Alte ihn nennt? Sie nennt ihn Satan. Wie den Teufel!“
„Nein, so was! Das macht doch keiner. Wie kann man denn einem Kind so einen Namen geben? Vielleicht ist sie doch nicht so harmlos, wie Papa sagt. Ich hab schon mal mit ihm über diese Frau gesprochen. Aber einen Jungen hat er noch nie bei ihr gesehen. Vielleicht sollte Papa die Frau mal beobachten.“
Luzie bemerkte, dass die Mutter etwas hinter ihrem Rücken versteckte, und griff nach ihrem Arm. „Was hast du da?“
Maria drehte sich hin und her. Als Luzie fast vor Neugier platzte, hielt sie ihr das Hemdchen vor die Nase. „Ach, das hab ich ganz vergessen. Das ist für dich. Damit kannst du dein Licht abdecken. Probier mal, ob es funktioniert.“
Luzie riss ihr das Hemd aus der Hand, streifte es über und zog alle Vorhänge zu. Im Dunkeln watschelte sie zu Max und fragte: „Kannst du mich sehen?“
Max schüttelte überrascht den Kopf.
Als Luzie keine Antwort bekam, fragte sie noch mal: „Siehst du mich?“
„Nein! Wie sollte ich? Es ist dunkel.“
Luzie musste die Antwort erst verdauen, doch dann sprang sie jubelnd in die Höhe. „Juhu! Es funktioniert, es funktioniert.“
Luzie hatte mit allen möglichen Sachen versucht, das Licht abzudecken, nie hatte es geklappt. Jetzt war es das erste Mal, dass im Dunkeln kein Lichtschein zu sehen war. Sie zog das Hemd hoch und es wurde wieder hell. Voller Freude schob sie das Oberteil rauf und runter, und so wie das Zimmer hell und dunkel wurde, fragte sie: „Siehst du mich? Und jetzt? Siehst du mich jetzt?“
Max nickte und Max schüttelte den Kopf. Im Zimmer wurde es hell und dunkel. Es war, als würde jemand einen Lichtschalter betätigen und das Licht an- und ausknipsen. Luzie machte es so viel Spaß, dass sie gar nicht mehr damit aufhören wollte. Sie war glücklich, endlich konnte sie bestimmen, wann sie leuchtete und wann nicht.
Als es draußen dämmerte, funkelte ein schelmisches Blitzen in ihren Augen. Sie zwinkerte Max zu und lief hinaus. „Komm, ich bring dich nach Hause.“
Max wunderte sich, warum Luzie ihn begleiten wollte. Die Abkürzung über die Wiese war ein Katzensprung. Er kannte hier jeden Maulwurfhügel und fand auch im Dunkeln zielsicher nach Hause. Es gab also keinen Grund, weshalb sie ihn begleiten wollte.
„Wieso willst du mit? Ich kann allein nach Hause gehen.“
„Das lässt du hübsch bleiben. Ich will doch wissen, ob es draußen auch klappt.“
„Warum soll das denn nicht klappen?“
„Was weiß ich?! Vielleicht ist die Luft zu feucht, das Gras zu nass oder eine Hexe unterwegs.“
Luzie schaute zum Sternenhimmel, drehte sich um die eigene Achse und tanzte wie ein Wirbelwind um Max herum. Dabei hob und senkte sie ihr Hemdchen und vergewisserte sich immerzu: „Siehst du mich, siehst du mich?“
Tino tänzelte vor Max’ Füßen, sodass er Mühe hatte, einen vernünftigen Schritt zu tun.
Luzie versteckte sich vor und hinter Max, zog das Hemd rauf und runter und fragte: „Siehst du mich?“
Als Max verneinte, zog sie ihr Hemd über den Kopf. „Und jetzt?“
Max verdrehte die Augen. „Jetzt seh ich dich.“
Luzie hopste im Zickzack über die Wiese und zog im Zweivierteltakt ihr Hemdchen rauf und runter. Ihr Licht flammte auf und erlosch. Im Mondlicht sah sie aus wie ein Leuchtturm, der alle paar Sekunden ein Lichtsignal sendete.
Max beobachtete sie mit Unbehagen. „Luzie, hör auf! Du flackerst wie eine kaputte Laterne, kein Wunder, dass dich alle Blinki nennen.“
Luzie blieb so abrupt stehen, dass Max glaubte, sie sei auf ihn wütend. Er holte tief Luft und wollte sich rechtfertigen. Doch sie zwinkerte ihm zu und lachte. „Na klar, Erdling. Ich bin Blinki und kann blinken, wo und wann ich will. Ist das nicht herrlich?“
Max verstand die Welt nicht mehr. Es war das erste Mal, dass Luzie sich über den Namen Blinki freute. Als er begriff, was das bedeutete, legte er den Arm um ihre Schultern. „Ja, das ist wunderbar, damit können wir bestimmt herrliche Streiche machen.“
Mittlerweile senkte sich die Nacht hernieder, sie standen am Wiesenrand und Max überlegte: „Wir könnten morgen mit Tino ein Picknick machen. Was hältst du davon?“
Luzie hob ihr Hemdchen und ließ das Licht kurz aufblitzen.
Max zog fragend die Augenbraue hoch. „Und was heißt das jetzt?“
Die Antwort gab Tino. Er bellte einmal kurz und das bedeutete: „Ja.“