Читать книгу Das Experiment - Gisela Schaefer - Страница 5
ОглавлениеKapitel 2 – Ein Kind kommt auf die Welt
„Herrje, ist das ein Brocken! Wie weit ist es denn noch? Ich kann bald nicht mehr!“
„Was hast du gesagt? Wenn du so nuschelst, versteht man kein Wort – mach gefälligst den Schnabel auf!“
„Neiiiin! Bitte nicht! Cico, siehst du denn nicht, daß ihm gleich sein Zipfel wegrutscht? Hat den Knoten vergessen.“
„Wer ist das eigentlich, hast du ihn schonmal gesehen, Jabi?“
„Er heißt Stormi, neu eingestellt, sein erster Arbeitstag heute.“
„Die ganze Ladung hängt schief, weil dieser lahme Stormi da unten rumhängt. Flieg höher! Immer Ärger mit den Anfängern: Nicht in der Lage, mit vollem Mund laut und deutlich zu sprechen. Unfähig, das Gleichgewicht zu halten. Zu wenig Mark in den Knochen, um einen einzigen Transport ohne Gestöhne durchzustehen – wohl nur Luft drin, was? Ich kann bald nicht mehr, ha! Zu meiner Zeit war das anders: Drei Babys pro Tag war das mindeste. Und pünktlich und unbeschädigt abgeliefert, und allein, nicht mit drei Kollegen – an jedem Zipfel des Tragetuches einen – lächerlich!“
„Nun beruhige dich mal Magu. Wir wissen doch alle, daß du immer erstklassige Arbeit geleistet hast. Wer konnte ahnen, dass ausgerechnet dein allerletzter Auftrag vor der Pensionierung so stattlich sein würde. Du willst doch nicht behaupten, dass du den hier allein geschafft hättest?“
„Wer weiß!“
„Magu!“
„Schon gut. Um ehrlich zu sein, ein solches Monstrum ist mir in meiner ganzen Laufbahn noch nicht ins Tuch gepackt worden. Ich kann mich auch an keinen einzigen Fall erinnern, dass irgendwas anderes bestellt worden wäre als einer dieser kahlköpfigen, faltenreichen, krebsroten, zahnlosen und undichten Grantler.“
„Tatsächlich, jetzt wo du’s sagst – es tröpfelt kein bißchen, toi toi toi!“
„Wovon redet ihr denn da?“
„Du sollst den Schnabel halten, Stormi, höher mit dir, höher!“
„Was ist es denn überhaupt, ich kann bei Dunkelheit nicht mehr so gut sehen.“
„Keine Ahnung, nichts zu erkennen, hat einen Trainingsanzug an und Turnschuhe.“
„Mir wird schlecht!“
„Stormi, dir geht’s gleich noch viel schlechter, wenn du nicht sofort höher fliegst. Hellblau oder rosa?“
„Was?“
„Der Anzug, was sonst.“
„Dunkelblau glaub ich.“
„Na also, rosa wäre ein Mädchen gewesen, hellblau ist ein Junge – äh, dunkelblau ist ein großer Junge. Meine Güte, massenhaft Haare hat er auch schon. Ich wette, er hat auch schon ein komplettes Gebiß, paßt bloß auf eure Federn auf, falls er aufwacht.“
„Ich krieg einen Wadenkrampf!“
„Und gleich einen Weinkrampf dazu! Sag mal Magu, wer hat denn diesen extravaganten Wunsch gehabt?“
„Tja, das ist so’ne Sache, ziemlich heikel. Mein Vetter, der in der Bestellannahme arbeitet, hat mir anvertraut – aber das muß unter uns bleiben – dass es keine Mutter war...“
„Ein Vater etwa? Sollte mich nicht wundern, wenn da einer ganz clever war und sich den Schock des Lebens ersparen wollte. Ihr wißt doch, wie sie alle ihre neuen Babys anstarren, schreckensbleich und ungläubig. Dann beginnt in ihnen ein furchtbarer Verdacht zu keimen: es muß eine Verwechslung gegeben haben! Verzweifelt schauen sie in alle Bettchen auf der Suche nach einem, das ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Aber Pustekuchen – gibt es nicht. Immer dasselbe, schließlich müssen sie sich zufrieden geben mit dem kleinen Monster, das man ihnen als das ihrige zuweist.“
„Mal angenommen, du hast Recht Jabi, warum hat dieser Vater dann nicht zwei oder drei Jahre übersprungen, ich meine, dann sind sie doch auch schon ganz passabel? Aber dieser hier – laß mich mal schätzen – hat mindestens 7 Jahre auf dem Buckel, müßte eigentlich in der Schule sein, statt hier durch die Nacht getragen zu werden.“
„Meine Knie werden ganz weich!“
„Das ist nur gut gegen Wadenkrämpfe. Zum letzten Mal, flieg höher Stormi!“
„Um nochmal auf meinen Vetter zurückzukommen: Weder eine Mutter noch ein Vater haben diesen Riesen hier bestellt. Keinerlei Namensangabe auf dem Bestellschein, nur ein merkwürdiges Zeichen: Großes E und eine 1, also E1. Zuerst dachte mein Vetter, jemand hätte sich einen Scherz mit ihm erlaubt. Er also schnurstracks zu seinem Chef. Der druckst und stottert was von „Top secret“ – höchste Geheimhaltungsstufe. Anordnung von oben – ganz oben! Mehr wüßte er auch nicht.“
„Und wo sollen wir ihn abliefern ganz ohne Namen und Anschrift?“
„Alles was ich habe ist folgendes: 47. Breitengrad, 50 Minuten, 58 Sekunden nördliche Breite. 10 Grad, 56 Minuten, 7 Sekunden östliche Länge. Im Übrigen würden wir schon merken, wo wir landen und das Herzchen ablegen müßten. Was immer das zu bedeuten hat.“
„Woher weißt du denn, wo das 47. Reifenrad und 58 Stunden restliche Menge sind?“
„Oh Stormi, du nervst mich. Was lernt ihr eigentlich heutezutage in der Zusteller-Schule? Und sowas wird eingestellt. Schau dich lieber mal um, ob du was erkennen kannst, hast ja noch junge Augen.“
„Jawohl, Herr Cico. Ich sehe: kein einziges Licht, keine Straßenbeleuchtung, kein Krankenhaus, kein...“
„Du sollst mir nicht sagen, was du nicht siehst, sondern was du siehst.“
„Lauter nichts!“
„Nach meinen Berechnungen müßten wir nahe dran sein, merkwürdig. Wir gehen mal etwas tiefer – huuuups! Nicht so schnell! Oooooh – Flügel raus, so weit wie möglich! Luftloch! Achtung … Wald in Sicht, Baum in Sicht … bitte alle gleichzeitig aufsetzen, bitte!!!“
„Autsch – voll in den Magen rein, und noch eins auf’s Auge, na super. Halt die Flügel bei dir Stormi! Du schwankst ja wie auf hoher See. Stemm dein Hinterteil gegen den Baumstumpf, feste, ja genauso. Und jetzt hör endlich auf, wie ein Wilder um dich zu schlagen. Wir haben festen Boden unter den Füßen, wir sind unten.“
„Dieser Anfänger hat es geschafft, mir sämtliche Federn zu verknicken.“
„Laßt gut sein, die Hauptsache ist, dass wir alle noch ... wer röchelt denn da so schrecklich?“
„Röcheln nennst du das? Sei unbesorgt, das Geräusch kenn ich nur zu gut. Unser Zwergerl schnarcht mindestens so laut wie meine Frau, die Mara. Stups ihn an, dann ist er still. Mach ich bei ihr auch immer so.“
„Aber jetzt ist es zu still – ich spür’s in allen Knochen, gleich passiert irgendwas Furchtbares.“
„Ich bin festgeklemmt!“
„Stormi, du solltest dich nur anlehnen, nicht einklemmen. Jetzt kneif ihn fest zusammen und … hauruck, na also.“
„Hört mal, das Luftloch war kein Zufall, es stimmt haargenau überein mit meiner Ortsangabe.“
„Und weiter? Du hast doch gesagt, wir könnten auch sehen, wohin wir ihn legen sollen. Warum lassen wir ihn nicht einfach gleich hier und verschwinden?“
„Jabi, ich hätte nicht gedacht, daß aus deinem Munde ein so unehrenhafter Vorschlag kommen würde. Nicht, dass ich mich besonders wohlfühlen würde im Moment, irgendwas stimmt hier wirklich nicht, aber – wir warten. Ich schätze, es kommt gleich jemand mit einer Lampe...“
„Ist schon da!“
Ein silbriger Strahl tastete suchend durch das Geäst.
„Sieht so aus, als würden wir abgeholt. Schöne große Taschenlampe.“
„Von wegen Taschenlampe, ist ein Mondstrahl.“
„Ist mir auch egal, gehn wir ihm nach.“
Wie der Kegel eines Scheinwerfers glitt das Licht über umgestürzte, vermodernde Baumstämme. An zersplitterten Stümpfen entlang, in deren feucht aufgedunsenem, schwammigem Holz Flechten und Pilze wucherten. Es durchdrang die feingewebten Fallen der Spinnen, huschte an den glatten, graugrünen Buchenstämmen vorbei und warf tiefe Schatten in die rissige Rinde der Eichen. Kein Blatt löste sich von den Zweigen, denn kein Nachtwind streifte durch die Baumkronen. Kein Rascheln im trockenen Laub, denn kein Tier bewegte sich durchs Unterholz. Kein Aufleuchten von Augen, kein hetzender Verfolger hinter fliehendem Opfer. Nur bewegungslose Stille.
„Diese Geheimniskrämerei ist absolut lächterlich.“
„Mir reicht’s auch allmählich. Sobald irgendwas auftaucht, was auch nur annähernd wie ein Gitterbett aussieht, rein mit ihm und ab durch die Mitte. Wahrscheinlich ist sowieso alles nur ein Alptraum. Gleich wache ich neben meiner Mara auf, aber ich werde ihr nichts erzählen, weil sie mich nur auslachen würde.“
„Durch mich ist gerade was Warmes gezogen – mittendurch.“
„Der arme Stormi hat vor Angst Fieber gekriegt. Na Mahlzeit, dann haben wir auf dem Heimweg wieder was zu schleppen.“
„Es ist nur ein Traum, es ist nur ein Traum!“
„He, seht mal, ich glaube, wir sind am Ziel.“
Sie hatten eine Lichtung erreicht und der Mondstrahl bildete einen fahlen, fast senkrechten Lichtschacht um eine große, weit geöffnete Blüte herum. Ein Kranz langer, schmaler, spitz zulaufender Blätter umgab den bauchig rund geschwungenen Kelch.
„Ts, zu meiner Zeit hätte es sowas nicht gegeben.“
„Die Zeiten ändern sich eben, wenn jetzt Blümchen-Betten in Mode sind, mir soll’s recht sein. Legen wir ihn hinein, so, und jetzt das Tuch unter ihm wegziehen. Stormi, komm her zu mir, wir ziehen natürlich nur auf einer Seite – kannst du dir denken, warum?“
„Also, du kleiner Riese, mach’s gut. Mir ist nicht ganz geheuer bei dem Gedanken, ihn hier allein im Wald zurückzulassen, außerdem spukt es hier, eben hat mich was gestreift. Hallo, ist da jemand?“
„Warum verstecken wir uns nicht hinter einem Baum und schauen uns an, wer ihn abholt?“
„Weil wir den Auftrag ausführen und sofort zurückkommen sollen, weil wir uns um nichts weiter kümmern sollen. Aus, Schluß, das sind die Anweisungen!“
„Brrrr, ist mir auf einmal kalt.“
„Bloß nicht noch ein Kranker, Magu, du wirst dich doch nicht erkältet haben?“
„Merkwürdig, es war wie ein Schüttelfrost, jetzt ist es wieder vorbei. Fertigmachen zum Abflug – höher, immer höher! Wie spät ist es eigentlich?
Mitternacht stand kurz bevor.
Ein sanfter Luftzug umspielte die Lichtsäule – gefolgt und scharf geschnitten von einem eisigkalten. Es zischte und brodelte wie kalte Wassertropfen auf heißer Herdplatte, als der kalte Luftzug auf ein aufquellendes Gebirge heißer Dämpfe traf.
Ausgefranste, graue Nebelfetzen tauchten aus der Dunkelheit auf, veränderten ihre Form, lösten sich auf, sammelten sich erneut. Bildeten Gestalten, Gesichtszüge mit trüben, matten Augen.
Und dann bunte Wirbel, wie Luftschlangen, in die man hineinbläst, so daß ihre Ringe rasend schnell ausfließen. Schillernde Blasen, sich unaufhörlich teilend und schaumig auftürmend, um dann zu zerplatzen.
Duftig zarte Wölkchen, vergnügt umeinander und übereinander schwebend – nur einmal entsetzt auseinanderstiebend, als durch ihre Mitte etwas Hartes, Metallisches schnitt.
„Kann mir mal jemand sagen, was eigentlich los ist. Warum bin ich hierher bestellt worden? Was tut ihr denn alle hier?“
Planlos und hektisch sprang eine kleine, kauzige Gestalt zwischen den Anwesenden umher und schwenkte dabei einen Schnürsenkel mit Dreifach-Knoten vor ihrer Nase. Tief in die Stirn gezogen bis hinunter zu den Augenbrauen und von zwei gut abstehenden Ohren gehalten, bauschten sich Schwimmshorts auf ihrem Kopf. Um den Hals herum krempelte sich ein Hosenbein und in dem anderen steckte ein Arm. Die Beine dagegen waren durch die Ärmel eines grellrosa T-Shirts gezwängt worden, das von einem zweiten Schnürsenkel über dem
Bauch gehalten wurde. Nur ein Fuß steckte in einem Schuh (ohne Schnürsenkel), der andere in einem Socken mit Ein- und Ausgang, weil ihm die ganze Fußspitze fehlte.
„Heute übertriffst du dich mal wieder selbst. Schaust du dich eigentlich nie im Spiegel an bevor du ausgehst?“
„Na und ob! Was glaubst du denn, wieviel Mühe es macht, mich so herrlich unordentlich herzurichten. Als wenn das so einfach wäre, du hast keine Ahnung.“
„Schon gut, schon gut. Natürlich weiß ich, wer du bist, aber es verschlägt mir jedesmal aufs Neue die Sprache. Ich versteh’ es einfach nicht. Sieh mich mal genau an und antworte ganz, ganz ehrlich: Findest du es nicht schöner, so wie ich auszusehen?“
„Gott bewahre – sowas von fade! Du bist die Ordnung – ich bin die wundervolle, kreative, blühende, sprühende Unordnung – für nichts in der Welt möchte ich mit dir tauschen. Weißt du übrigens, warum wir alle hier sind?“
„Selbstverständlich weiß ich das. Wir haben doch alle eine Einladung bekommen, du doch auch, sonst würdest du ja wohl nicht vor mir stehen, oder?“
„Logisch, ich habe sogar einen Knoten in den Schnürsenkel gemacht als Erinnerung. Ich weiß nur nicht, warum ich kommen sollte.“
„Außer der Einladung lag auch noch ein Rundschreiben im Briefumschlag, hast du das nicht gelesen?“
„Oje, es waren zwei Zettel. Den Umschlag habe ich in die Badewanne, ins Spülwasser getan, zusammen mit allem, was auf dem Sofa, dem Sessel, dem Tisch, dem Schrank und den Stühlen lag. Ich hasse alte Unordnung mußt du wissen, zwischendurch muß ich Platz schaffen für neue. Aber vielleicht kann ich ihn wieder rausfischen, er liegt höchstens seit 8 Tagen drin.“
„Vergiß es, die Tinte ist verwischt.“
„Ja ist es denn zu fassen! Jeder weiß, wie leicht so ein kleines Malheur passieren kann, aber auf die Idee, mit wasserfester Tinte zu schreiben, da kommt keiner der hohen Herren. Also sag schon, was stand drin?“
„Das verrate ich dir auf keinen Fall. Soweit kommt’s noch, dass ausgerechnet ich deine Schlamperwirtschaft unterstütze. Ich geb dir aber einen Rat – nur damit hier alles ordentlich ablaufen kann. Stell dich ganz weit hinten an und paß genau auf, was die anderen sagen und tun. Dann wirst du schon verstehen. Nur soviel, der Kleine da vorn in der Blüte ist „E1“ … „Experiment 1“, mehr sag ich nicht.“
Die Ordnung drehte sich um und ging ihrer Wege, die Unordnung kratzte sich ratlos am Kopf, dann zog sie die Achseln hoch und schob sich wieder hektisch durch die Anwesenden: „ Wo ist das Ende der Schlange bitte? Sind sie der letzte, mein Herr? Nein? ...“
„Bitte macht mir Platz, laßt mich durch zu ihm“, sanft schob sie sich durch die Menge, hier ein wenig sich schmälernd, dort ein wenig ausweichend, dann liebevoll jemanden von einem Platz auf den anderen versetzend, bis sie die Blüte erreicht hatte. Rot glühte es in ihrer Mitte auf – und in dicht aufeinander folgenden Wellen verströmte sich die Wärme über den kleinen Jungen.
„Löse dich aus deiner Erstarrung, Menschenkind, bewege deine Gliedmaßen“, hauchte sie. „Erweiche deine Gesichtszüge durch ein Lächeln, belebe deine Augen mit Gefühlen. Erwärme vor allem dein Herz, laß es mitwirken und mitentscheiden bei allem, was du tust.“
„Tu dich nicht immer so wichtig. Du bist doch nicht allein beteiligt. Mitternacht ist schnell vorbei, also spute dich, wir wollen alle dazu beitragen.“
Der eisigkalte Luftzug schnitt jäh durch die pulsierende Wärme. Klirrend formierten sich Kristalle, wucherten bedrohlich in alle Richtungen mit spitzen, messerscharfen Kanten.
„Immer meinst du, du wärst das Wichtigste für diese Menschen, aber ohne mich kommen sie auch nicht aus in dieser Welt“, höhnte die Kälte. „Zum Teufel mit deinen warmen Gefühlsduseleien. Wie heißt es doch so treffend: ein kühler Kopf, ein kalter Verstand, sind des Glückes Unterpfand.“
„Was verstehst du schon von Glück. Aber da wären wir wieder bei unserem alten Thema angelangt.“
„Ganz genau, Herzensdame. Nur habe ich nicht die mindeste Lust, mit dir wieder stundenlang zu diskutieren, es kommt sowieso nichts dabei heraus, nicht mal ein vernünftiger Kompromiß.“
„Nein, nicht zwischen uns beiden, aber vielleicht gelingt diese schwierige Aufgabe unserem Menschenkind.“
„Papperlapapperlapapp – ich kann das Gezänke zwischen euch nicht mehr mit anhören – und ich will es auch nicht! Durch nichts und niemanden laß ich mir meine gute Laune und meinen frohen Sinn verderben, schließlich bin ich die Heiterkeit.“ Elastisch wippend näherte sich eine Kugel dem Lichtschacht, wirbelte ausgelassen um ihre eigene Achse und versprühte ein wahres Feuerwerk von Farben – winzige Explosionen in Gelb, Rot, Grün und Blau.
„Als wenn ich nicht schon genug zu tun hätte mit diesem Trauerkloß da dicht hinter mir. Wie schwarzes Öl breitet er sich aus, zwängt sich in kleinste Ritzen, durchtränkt jede Materie. Beschwert die Menschen, bis ihre Schultern sich beugen und ihr Herz wie ein Klumpen Blei in ihnen wiegt. Legt sich klebrig auf ihre Gedanken, bis sie unbeweglich und verängstigt stillstehen. Überschwemmt ihre Augen mit heißen Tränen. Wie, frage ich euch, kann man sowas jemandem antun?“
„Sprichst du von mir, oberflächliches, ekelhaft buntes Luftgespinst? Du weißt es ebenso wie alle anderen, daß Leid, Kummer und Schmerz den Charakter formen, die Not anderer erkennen und mitfühlen lassen. Also kannst du oder willst du nicht verstehen, dass ich lauter Tugenden in ihnen wecke? Was erdreistest du dich, so über mich herzuziehen? Was sind denn deine Gaben, he? Sag schon, raus damit, oder genierst du dich jetzt?“
„Trübsinn, dir ist nicht zu helfen. Fast tust du mir leid, denn du verpaßt das Beste auf dieser Welt. Nie wird dein Herz vor Freude klopfen und deine Augen strahlen beim Anblick einer schönen Blume, bei den Klängen einer fröhlichen Melodie, durch die Zärtlichkeit einer streichelnden Hand.“
„Ach du rosaroter Naivling, sag mir mal eins, weißt du nicht, dass jedes Blümchen verfault, oder, in der Blüte seiner Jugend gefressen wird von einer dieser großmäuligen Kühe? Dass Krankheit und Tod auch sie treffen? Hast du jemals, ich meine außer deinen süßen Melodeien, die Melodie des Schreckens oder der Angst gehört? Einen Schuß zum Beispiel, losgelöst von der gleichen Hand, die streicheln kann, einen Schmerzensschrei? Wenn du außer bunten Blasen noch was anderes im Kopf hast, dann mußt du erkennen, daß ich jedes Recht habe mitzuwirken.“
Die heiter beschwingte Kugel wich etwas zur Seite. Dieser Miesepeter ging ihr auf die Nerven. Sie würde auf jeden Fall genau aufpassen, dass sein Anteil nicht größer ausfiel als ihrer.
„Aus dem Weg, verdammtes Gesindel! Verschwindet! Du auch, verzieh dich!“
Mit den Ellenbogen erbarmungslos alles beiseite schleudernd, bahnte sich ein grün-gelber, massiger Körper seinen Weg. Auf dem gedrungenen Nacken saß ein kahler, fast quadratischer Kopf mit wulstigen Lippen und bleckenden Zähnen. Gefährlich funkelnde Augen, ständig auf der Suche nach neuen Opfern.
„Aaaah, da ist ja dieser elende Wurm, dieses jämmerliche Häuflein. Auf dass es immer mehr werden auf diesem widerwärtigen Planeten. Wie die Ameisen wimmeln sie. Aber macht euch um mich keine Sorgen Kameraden“, spöttisch grinsend schaute die Bosheit in die Runde, „ich weiß mir in jeder Lage zu helfen, passe mich neuen Situationen problemlos an. Was haltet ihr davon?“
Für alle gut sichtbar schwenkte er ein Glasfläschchen über seinem Kopf, ähnlich einem Parfumzerstäuber.
„Das Geheimnis ist die Mikrofeinsprühung. Eine enorme Arbeitserleichterung, will sagen Beschleunigung. Während ich früher mühsam mit der Pipette Tröpflein für Tröpflein auftragen mußte, kann ich nun mein boshaftes Gift über diese Menschenbrut sprühen, als wenn sie von Ungeziefer befallene Pflanzen einer Großplantage wären. Die Idee mit den Schlangenzähnen, die man nach Belieben melken kann weil immer neues Gift nachströmt, habe ich übrigens auch übernommen. Seht her, ein kleiner Biß ins Fläschchen – schon wieder voll, einfach genial bin ich. Doch nun zu dir, kleiner Hanswurst!“
Und ehe sich jemand von seinem Entsetzen erholen konnte, hatte der Boshafte eine gehörige Portion seiner giftgrünen Brühe über die Blüte und den kleinen Jungen darin gesprüht.
„Wer möchte noch, wer hat noch nicht?“ Sein gehässiges Gelächter dröhnte ihnen in den Ohren, bereitwillig wichen sie zurück, bahnten ihm eine Gasse und atmeten erleichtert auf, als er in der Dunkelheit verschwand. Die fein zerstäubten Tröpfchen schwebten in der Luft, langsam niedersinkend.
„Nein, nein, das darf nicht sein, so helft mir doch!“
Ein weiches, feines Gewebe hatte sich schützend um den Blütenkelch gelegt. Das niederschwebende Gift fraß winzig kleine Löcher hinein, aber es hatte seine Wirkung damit verloren.
„Liebe Güte, du bist aber tapfer!“ sagte irgendjemand voller Respekt.
Eine kleine Träne wischte die Güte sich aus dem Auge, dann lächelte sie wieder, dann war alles wieder vergessen und vergeben, die vielen kleinen, schmerzenden Wunden wieder verheilt. Sie hatte das Schlimmste im letzten Moment verhindern können – und das war die Hauptsache.
Ein seltsames Klappern wurde nun hörbar – erst gedämpft, dann immer deutlicher. Eine hagere Gestalt näherte sich, zwei Schritte vor, einen wieder zurückweichend. Ihr ausgefranstes Gewand schlotterte heftig, denn sie zitterte am ganzen Leibe. Das verzerrte, grauweiße Gesicht mit den weitaufgerissenen Augen unter einer Kapuze halb verborgen. Und das merkwürdige Klappen kam von ihren Zähnen – die Angst ließ sie unkontrollierbar zusammenschlagen. Nur noch wenige Schritte trennten sie von dem Lichtschein und dem kleinen Jungen – dann würde sie ihren Mund weit öffnen zu einem furchtbaren Schrei, einem stummen, schrecklichen Schrei, der Mark und Bein durchdringt und dem nur einer standhalten kann:
Ein Koloß aus blau schimmerndem Stahl hatte sich schützend vor den Blütenkelch gestellt, breitbeinig, die Füße fest in den Boden gestemmt, wie verankert mit diesem. Von dem lautlosen und dennoch so erbitterten Kampf zwischen der Angst und dem Mut konnten die Umstehenden nur ahnen, denn dieser Kampf wird nicht mit Fäusten ausgetragen, dieser Kampf tobt im Innern.
„Gib ihm Saures, los, mach ihn fertig!“
Ein erbärmlich schmächtiges Männlein mit Fistelstimme schwang drohend seine kleine Faust gegen den Stählernen, blieb jedoch in Deckung hinter dem weiten Gewand der Angst.
„Aha, heute versteckst du Memme dich hinter ihr“, der Mut wußte, dass er auch mit der Feigheit fertig werden würde, mochte sie aus noch so vielen Löchern, hinter noch so vielen Röcken hervorkriechen und zetern.
Unverrichteter Dinge, oder vielmehr „fast“ unverrichteter Dinge wich die Schlottergestalt, und auch die Fistelstimme verstummte.
Langgedehntes Ächzen und Stöhnen ließ die Umstehenden aufhorchen. Schleppende, schlurfende Schritte nahten. Verhangenes, Verschleiertes – über den Blütenkelch den langen, langen Schweif der Vergangenheit ziehend: Die Erfahrungen aller Generationen des Menschengeschlechts, von Anfang an. Ein Fundament, auf dem der kleine Junge auf- und weiterbauen konnte, wie das alle vor ihm getan hatten und nach ihm tun werden.
Zwei sehr Ungeduldige, ja man kann sagen Ungehaltene standen in der Schlange der Wartenden. Fast hätten sie einen Pakt geschlossen, wenn es nicht doch auch zwischen ihnen gewisse Reibereien und Eifersüchteleien gegeben hätte.
„Dieser Krempel von Annodazumal ist total überflüssig. Über Bord werfen sage ich nur, alle unmodernen Verhaltensmuster, alles alte Wissen – weg damit! Nimmt immer mehr Platz ein, dabei ist es bei den Menschen im Oberstübchen räumlich eng begrenzt. Wenn es so weitergeht wie bisher, müssen sie wohl in Zukunft wesentlich größere Köpfe kriegen, ob ihnen das gefällt oder nicht.“
„Ich bin ganz deiner Meinung, liebe Cousine Gegenwart, das ist genau das, was ich schon immer gesagt habe. Ich brauche Platz, Platz und nochmal Platz. Meine Pläne, meine Ideen, meine Vorhaben – sie müssen sich frei bewegen können, fliegen können – ach, ich könnte ins Schwärmen geraten bei all den Möglichkeiten. Wenn ich nur genügend Platz hätte, wie ich schon sagte“, seufzte die Zukunft bedauernd.
„Spinnerte Traumtänzerin. Immer denkst du an morgen, und übermorgen, und überüberübermorgen. Nur heute ist wichtig!“
„Langweilerin, rück schon vor, sie ist endlich fertig, wir sind dran.“
Alle kamen an die Reihe und fügten etwas hinzu, so dass schließlich die unendliche Vielfalt von Anlagen entstand, wie sie nur den Menschen eigen ist. Das mitternächtliche Treiben neigte sich seinem Ende zu. Eine letzte, vollkommen verhüllte Gestalt näherte sich dem Licht und der Blüte. Wie klares Quellwasser umfloß es sie, aber es war weder flüssig noch durchsichtig.
Wo steckst du nur, war sie schon oft gefragt worden, und immer wieder hatte sie geantwortet: „Schaut nur tief genug in mich hinein, bis auf den Grund, da bin ich. Aber ihr müßt Geduld haben, eure Augen brauchen Übung, und eure Seele auch.“
Ein kleines Teilchen aus ihrer Umhüllung löste sich und fiel wie ein Tropfen auf den kleinen Jungen, wo es auseinanderfloß zu einem dünnen Film und in ihn hineinsank.
„Auch von mir hast du nun etwas bekommen“, sprach sie, „sogar mehr, als es für dein Alter sonst üblich ist. Denn ich bin die Weisheit, die verborgene. Nur wer mich ständig sucht, findet mich … nach und nach. Ich kenne das Geheimnis der zwei Seiten aller Dinge, weiß um die Gegensätze und aller Für und Wider. Darum kann ich bewahren vor der blinden Liebe wie vor dem blinden Haß. Vor der erstarrten, leblosen Ordnung und dem unberechenbaren, unlenkbaren Chaos. Ich kann der Fröhlichkeit und der Traurigkeit Grenzen setzen, so daß sie niemanden wegschwemmen ins Uferlose. Ich zeige den Weg, wie man sich der Erkenntnisse der Vorfahren erinnert und sie nützlich anwendet, wie man die Träume der Zukunft wie einen Drachen hoch in die Lüfte steigen lassen kann, den Faden jedoch fest in der Hand, damit sie nicht in unerreichbare Höhen entschwinden. Du, kleiner Junge, trägst wie alle Menschen das Gute und das Böse gleichermaßen in dir. Aber in dem Moment, wo du Freude und Glück empfindest über deine guten Taten, hat das Gute die Oberhand gewonnen. Nun geh deinen Weg.“
Mitternacht war längst vorbei, fast schon ein Uhr. Der Mondstrahl verblaßte, zog sich immer weiter zurück, bis nur noch ein gleichmäßiger, heller Glanz auf dem Wald ruhte wie immer bei Vollmond. Alle Erscheinungen waren in die Dunkelheit entwichen, alle fremdartigen Laute verklungen. Der kleine Junge in der Blüte seufzte einmal tief, dann kamen seine Atemzüge wieder ruhig und gleichmäßig.
Eine sanfte Brise wehte durch den Wald, gab ihm seine Bewegungen aus Schwingen und Biegen und Wiegen zurück, und seine natürlichen Geräusche aus Knistern und Rascheln und Knicken.
Die Tagtiere in ihren Höhlen und Nestern blinzelten kurz, drehten sich um ihre eigene Achse, solange, bis sie die bequemste und wärmste Position gefunden hatten, schlossen die Augen und schliefen wieder ein. Die Nachttiere reckten und streckten sich, gähnten und gingen ihrer Aufgabe nach wie immer, der Nahrungssuche für sich und ihre Jungen. Manche von ihnen auf friedliche Weise, sie sammeln Grassamen und Tannenzapfen, zarte Schößlinge, Wurzeln aus der Erde oder Beeren vom Strauch, wie es ihnen angeboren ist.
Andere räuberisch, unbeweglich und lauernd im Hinterhalt, entschlossen zupackend, wie es ihnen angeboren ist.