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Regina

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Cornelia, zum ersten Mal in ihrem Leben Schokolade im Mund, verdrehte die Augen.

„Wo wächst denn diese Schokolade, sag, hat die Königin einen Schokoladenbaum im Garten, von dem ich nichts weiß?“

„Er heißt Kakaobaum … sagt die Königin.“

„Und einen solchen Baum hat sie?“

„Das weiß ich nicht. Ich werde sie bei meinem nächsten Besuch danach fragen.“

„Natürlich ist es ein Leichtes, Schokolade zu kennen und an Kakaobäume zu kommen, wenn man in der Welt herumkommt, weil man Königin ist,“ dachte Cornelia bitter, „man sieht so vieles, was unsereins verborgen bleibt.“

Zu Miranda gewandt sagte sie: „Was meinst du mit dem nächsten Besuch?“

„Die Königin will mich bald wieder einladen.“

„Wozu?“

„Oh … äh … zum Erzählen … über dies und das.“

Cornelia schluckte: „Das freut mich für dich,“ brachte sie mühsam hervor, „und nein, du brauchst sie nicht zu fragen, ich sehe sie bald selber.“

Es wurde eine unruhige Nacht für die Schulleiterin, lange lag sie wach, und das nicht nur wegen ihres heftigen Verlangens nach Schokolade, sondern auch wegen der beunruhigenden Entwicklung der Dinge. Sie durfte nicht mehr länger warten, sie musste Eleonore so schnell wie möglich auf Regina aufmerksam machen und sie gleichzeitig von Miranda ablenken. Regina war eines der folgsamsten, bescheidensten, und stillsten Mädchen im Internat. Jeden Tag saß sie lange über ihre Bücher gebeugt und war beliebt bei allen Lehrerinnen. Nie hatte es auch nur eine einzige Beschwerde über sie gegeben – die Schulleiterin hatte allen Grund, sich über eine solche Musterschülerin zu freuen. Keine nervenden Fragen, keine respektlosen Antworten, keine aberwitzigen Flausen im Kopf. Irgendwann war Cornelia auf den Gedanken gekommen, dass dieses Mädchen ihr sehr ähnelte, als sie selber zwölf Jahre alt war. Von da an hatte sie Regina gefördert, wo sie nur konnte - diese Kopie ihrer selbst sollte den Platz einnehmen, den man ihr, Cornelia, damals vor der Nase weggeschnappt hatte. Nach und nach entwickelte sie einen Plan, wie sie vorgehen wollte, um ihr Ziel zu erreichen. Sie fing Eleonores Einladung an Miranda ab, die da lautete: ‚Hallo Miranda, komm morgen Nachmittag zu mir. Ich freue mich schon darauf, dir mein Erlebnis erzählen zu können … du wirst sehen, es ist nicht weniger spannend als deines. Eleonore‘

„Was denn für Erlebnisse,“ fragte sich Cornelia und beschloss sogleich, dies unbedingt herauszufinden – später. Zunächst jedoch ließ sie Miranda zu sich kommen.

„Ich habe eine besonders ehrenvolle Aufgabe für dich, bei der du außerdem viel lernen kannst. Die Krankenstation braucht unbedingt Hilfe, aber nicht irgendein Mädchen, sondern jemanden mit Verstand, der auch gut zupacken kann. Da dachte ich sofort an dich … du wirst dort bis auf meinen persönlichen Widerruf ab sofort jeden Nachmittag aushelfen.“

Das wollte Miranda gerne tun, vor allem, weil sie im Geiste viele Kranke, auf Hilfe wartend, vor sich sah – was war geschehen?

„Die Oberschwester, die Hilfsschwester und ich, gemeinsam werden wir es schaffen,“ dachte sie zuversichtlich und voller Tatendrang, „in ein paar Tagen werden sie alle wieder gesund sein.“

Was sie nicht wissen konnte war, dass Cornelia mit der Oberschwester Theresa ein Gespräch unter vier Augen geführt und ihr aufgetragen hatte, die Krankenstation neu zu organisieren, von allen Unterlagen eine Zweitschrift anzufertigen, Mobiliar und Wäsche auszuwechseln sowie eine gründliche Reinigung vorzunehmen. Und als Theresa recht skeptisch den Kopf hin und her bewegte, beruhigte sie sie sofort, indem sie für diesen Berg an Arbeit eine zusätzliche Hilfe namens Miranda versprach.

Als das geregelt war, machte Cornelia sich in Begleitung von Regina auf den Weg in den Palast – genau zu der Zeit, als Eleonore Miranda erwartete.

„Hochverehrteste, weiseste und gelehrteste Majestät,“ begann sie unterwürfig, „ich weiß, du hast nicht mich erwartet …“

„Was ist geschehen,“ unterbrach sie Eleonore alarmiert.

Cornelia sah weiterhin zu Boden. „Es tut mir so leid, aber Miranda ist auf der Krankenstation.“

Eleonore schaute sie erschrocken an. Sie musste sich eingestehen, dass sie Miranda in ihr Herz geschlossen hatte - sie war ganz anders als von Cornelia beschrieben. Und diese innere Stimme hatte ihr zugeflüstert, dass eine große Ähnlichkeit zwischen ihnen bestand. Auch sie galt im Alter von zwölf Jahren als Störenfried und war alles andere als der Liebling der damaligen Schulleiterin Hiltrud gewesen. Aber die alte Königin Sieglinde hatte Eleonore zur Nachfolgerin gewählt – und darüber war niemand überraschter gewesen als Eleonore selber.

„Was ist Miranda zugestoßen?“

„Wir wissen es noch nicht genau,“ antwortete Cornelia ausweichend, „aber sie hat hohes Fieber und Theresa vermutet eine ansteckende Krankheit. Sie wurde isoliert, niemand darf sie besuchen … sie braucht vor allem absolute Ruhe. Wir wollen hoffen,“ fügte sie scheinheilig hinzu, „dass sie bald wieder gesund sein wird.“

Eleonore fuhr sich über die Stirn: „Das hoffe ich auch, von ganzem Herzen. Gib mir jeden Tag Bescheid, wie es ihr geht, hörst du?“

„Selbstverständlich,“ nickte Cornelia, verärgert darüber, welch große Anteilnahme die Königin an Mirandas Schicksal nahm. Es war ernster als sie ohnehin schon vermutet hatte.

„Was nur findet sie an diesem Mädchen,“ dachte sie grimmig, und im gleichen Augenblick fand sie die Antwort: Sie waren sich ähnlich, so wie Regina ihr ähnlich war.

„Damit du den Nachmittag nicht alleine verbringen musst, habe ich dir das Mädchen Regina mitgebracht. Sie ist unsere fleißigste Schülerin.“

Cornelia zog Regina, die sich etwas im Hintergrund gehalten hatte, weiter nach vorne, damit Eleonore einen Blick auf sie werfen konnte.

Die Königin sah ihre Schulleiterin nachdenklich an und sagte dann langsam: „Sicher hast du dabei pflichtbewusst und vorausschauend an den Tag der Entscheidung gedacht.“

Cornelia zuckte zusammen: „Was meinst du?“

„In wenigen Wochen müssen wir beide unsere Nachfolgerinnen auswählen und bekanntgeben.“

„Oh das, ja natürlich, du hast vollkommen Recht … jetzt, wo du es sagst … je länger ich darüber nachdenke … ja, Regina wäre tatsächlich das passende Mädchen.“

„Hast du für dich auch schon eine Nachfolgerin gefunden?“

„Äh, nein … eigentlich nicht.“

„Wie wär’s mit Miranda,“ fragte Eleonore beiläufig und beobachte Cornelia scharf.

„Miranda,“ schrie die auf, „dieses Mädchen kommt für eine gehobene Laufbahn nicht infrage, unter keinen Umständen! Du kannst mir vertrauen in meiner Elfenkenntnis. Ich habe dir noch lange nicht alles erzählt, was sie so treibt. Aber du hattest ja inzwischen selber Gelegenheit, dich von ihrer Zügellosigkeit zu überzeugen. Auch wenn ich dich damit erzürne, aber sie hat kürzlich alles über euer Gespräch hinausposaunt, du weißt schon, ihr Erlebnis und deines. Sie protzt ganz ungeniert und gibt damit an, dass du sie ständig einladen würdest und solche Sachen.“

Cornelia sah mit Befriedigung in Eleonores Augen erst das Erstaunen, dann die Enttäuschung über die Schwatzhaftigkeit Mirandas. Gut so!

„Schade,“ seufzte Eleonore nachdem sie sich wieder gefasst hatte, „lass Regina hier, ich möchte mich allein mit ihr unterhalten.“

„Ja, wenn du willst …“

Etwas linkisch verabschiedete Cornelia sich, weil sie sich abserviert vorkam. Sie flüsterte Regina ein ‚Viel Glück!‘ zu, doch die war die ganze Zeit über so sehr in den Anblick des prächtigen Palastes versunken gewesen, dass sie gar nicht mitgekriegt hatte, was vorging. Und sie verstand auch Cornelias Bemerkung nicht, da sie in deren Pläne nicht eingeweiht war. Ratlos und stumm blickte sie die Königin an.

„Setz dich doch,“ begann Eleonore das Gespräch, „ich habe gehört, du seist eine sehr gute Schülerin.“

„Ich glaube, das bin ich, Hochverehrteste …“

„Lass die Anrede weg.“

„Ja, Frau Königin.“

„Welche Fächer hast du gewählt?“

„Mathematik, Biologie, Musik und die Zwergensprache, Frau Königin.“

„Sehr interessante Fächer.“

„Ja, Frau Königin.“

„Was machst du so den ganzen Tag, ich meine, wenn du nicht in der Schule bist?“

„Aber ich bin immer in der Schule, Tag und Nacht, Frau Königin.“

„Lass die Frau Königin weg … ich habe natürlich gemeint, wenn du keinen Unterricht hast.“

„Dann lerne ich.“

„Erzähl mir doch mal etwas über dich.“

„Was denn?“

Eleonore holte tief Luft und stieß sie wieder aus: „Na, zum Beispiel, welche Hobbys du hast, welche Blumen und Tiere du besonders gern magst. Bist du schon mal heimlich aus dem Internat entwischt?“

„Nein, noch nie.“

„Hättest du nicht ab und zu Lust dazu,“ fragte Eleonore hoffnungsvoll.

„Es ist verboten.“

„Ich weiß, ich weiß, war eine überflüssige Frage.“

„Ich kann Gedichte aufsagen …“

„Gedichte … mhm … sehr lobenswert … ein anderes Mal.“

Eleonore schaute zum Fenster hinaus, dann wieder auf Regina: „Ich habe mich gefreut, dich kennenzulernen. Grüß bitte Cornelia von mir und richte ihr aus, sie würde bald von mir hören in der bestimmten Angelegenheit.“

Als Regina den Palast verlassen hatte, dachte Eleonore: „Sehr lieb, wahrscheinlich ein bisschen eingeschüchtert, beim nächsten Mal wird’s bestimmt besser … aber Miranda wäre mir lieber gewesen. Wirklich schade, dass sie charakterlich wohl doch nicht infrage kommt … dass ich mich so in ihr getäuscht habe!“

Es wurde eine unruhige Nacht für Eleonore, sie wälzte sich von einer Seite auf die andere und ein undeutliches Gefühl beschlich sie, dass irgendwas nicht stimmte. Aber eines war richtig: Die Nachfolgefrage musste bald entschieden werden. Sie beschloss, Regina in Kürze erneut einzuladen, gähnte und schlief endlich ein.

Der zweite Besuch Reginas bei der Königin verlief ähnlich dem ersten. Es war äußerst mühsam, mit ihr ein Gespräch zu führen. Welches Thema auch immer Eleonore ansprach, die Antworten Reginas gingen kaum über ein Ja oder Nein hinaus. Das war anstrengend, das war langweilig, es führte zu nichts und das Mädchen blieb ihr fremd.

Nach einer quälend langen Stunde fragte die Königin nach Mirandas Befinden und ob sie noch immer auf der Krankenstation sei.

„Ja,“ antwortete Regina wie gewohnt einsilbig, doch dann fügte sie doch noch etwas hinzu: „Die Oberschwester ist zufrieden mit ihr.“

„Das hör ich gern, dann ist sie auf dem Wege der Besserung?“

„Oh, sie soll besser und fleißiger sein als die Hilfsschwester.“

„Wer soll fleißig sein,“ fragte Eleonore verwirrt.

„Miranda.“

„Was du nicht sagst! Und mit wem hat die Oberschwester darüber gesprochen, dass sie fleißig und mit ihr zufrieden ist?“

„Mit Cornelia.“

Eleonore schwieg eine Weile. „Also Miranda … geht es gesundheitlich gut, ist das richtig?“

„Oh ja, obwohl sie schwer arbeitet.“

„Obwohl sie schwer arbeitet,“ wiederholte Eleonore langsam, „ich bin sehr froh über diese Nachricht.“

„Ich auch.“

„Du magst Miranda?“

„Wir sind gute Freundinnen.“

„Das ist noch eine gute Nachricht. Schön, dass du hier warst, komm gut nachhause, du hörst von mir.

Cornelia hatte gerade ihren Unterricht in Kräuterkunde beendet und war auf dem Weg in ihr Arbeitszimmer. Sie öffnete die Tür – und ein Schock fuhr ihr durch alle Glieder: Eleonore saß an ihrem Schreibtisch. Nie zuvor hatte die Königin ohne Vorankündigung die Schule besucht.

„Welchen Grund mag sie wohl haben,“ überlegte sie fieberhaft, und um sich zu beruhigen, redete sie sich ein, dass das gestrige Gespräch zwischen Regina und Eleonore wohl erfolgreich verlaufen war und die Königin ihr nun persönlich die Entscheidung mitteilen würde.

„Welch eine Ehre,“ schmeichelte sie, „hätte ich von deinem Besuch gewusst, wäre dir ein gebührender Empfang bereitet worden.“

„Genau das wollte ich vermeiden,“ winkte Eleonore ab, „ich bin ganz privat hier. Das heißt, eigentlich wollte ich ja direkt zur Krankenstation, aber dann habe ich mich entschlossen, dir vorher kurz guten Morgen zu sagen.“

„Du willst zur Krankenstation? Warum denn das?“

„Ich habe gehört, dort sollen umfangreiche Renovierungsarbeiten stattgefunden haben, das möchte ich mir gern ansehen und dabei Theresa meine Anerkennung aussprechen … ja, und wenn ich schon mal drüben bin, kann ich auch Miranda kurz besuchen. Das Wohl meiner Untertanen liegt mir sehr am Herzen, vor allem das der Kinder.“

Cornelia war blass geworden. Um Zeit zu gewinnen, zählte sie all die Maßnahmen auf, die sie veranlasst hatte, um die Krankenstation auf den neuesten Stand der Technik zu bringen und sie freundlicher einzurichten. Eleonore nickte zu allem und wartete.

„Ja, und was Miranda betrifft … da muss ich wohl doch mit der Sprache rausrücken,“ sagte Cornelia zerknirscht.

„Was meinst du? Steht es so schlimm um sie?“

„Ja, das tut es … aber nicht, wie du jetzt denkst.“

„Und wie denke ich jetzt?“

„Dass sie schwer krank ist.“

„Ja, das hast du mir selber gesagt, nicht wahr?“

„Es war nur eine Notlüge, sie ist und war nie krank. Die bittere Wahrheit ist, dass sie wieder unverschämt und frech war, sich meinen Anordnungen widersetzt und die Regeln der Schule missachtet hat. Erspar mir die Einzelheiten. Ich habe sie bestrafen müssen, indem ich sie an den Nachmittagen zum Aushelfen in die Krankenstation geschickt habe … in der Hoffnung, dass sie irgendwann zur Besinnung kommt und sich ordentlich, wie alle anderen auch, verhält. Mit all dem wollte ich dich nicht belasten … sie ist dir nicht ganz unsympathisch, nicht wahr? Aber glaube mir, sie ist eine gute Schauspielerin und narrt jeden, wenn sie will. Das werde ich nicht länger zulassen. Gerade auch, weil der Tag der Entscheidung naht. Ich kann dich nicht blindlings in etwas hineinlaufen lassen, das du später bereuen müsstest.“

Während Cornelia dies alles heraussprudelte, saß Eleonore still da und unterbrach sie nicht. Wem sollte sie glauben, ihrer alten Schulfreundin Cornelia, oder diesem Mädchen Miranda, das sie erst vor kurzem kennengelernt hatte. Vielleicht hatte sie sich die Ähnlichkeit zwischen ihnen ja auch nur eingebildet.

„Ich danke dir für deine Rücksichtnahme,“ sagte sie schließlich, „da die Strafe nun schon einige Tage andauert, schlage ich vor, es damit gut sein zu lassen. Schick sie morgen Nachmittag zu mir … nein, nicht zu einem Plauderstündchen, sondern zu einer gehörigen Standpauke. Frechheiten können wir im Internat nicht dulden, da gebe ich dir völlig Recht, genauso wenig wie Lügen oder Ungerechtigkeiten … all das muss und wird bestraft werden.“

Cornelia senkte den Blick.

Elfen sind keine Engel

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