Читать книгу Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn - Gitta Becker - Страница 7

WILLKOMMEN, KLEINER MANN

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Die letzten Tage vor der Entbindung verbrachten wir, wie alle werdenden Eltern, in einer gewissen Anspannung. Manche Frauen haben in dieser Zeit Senkwehen oder mal ein Ziehen hier und da. Ich hatte nichts. Da war Ruhe, absolute Ruhe. Auf der riesigen Kugel, die ich als Bauch vor mir her schob, konnte ich bequem einen Teller abstellen. Dies hatte den Vorteil, dass ich mich nur minimal anstrengen musste, um die maximale Nahrungsmenge aufnehmen zu können.

Mein Mann war in dieser Zeit im Iran eingesetzt. Er hatte sich um den Geburtstermin herum extra Urlaub genommen. Alles war minutiös geplant. Nur Andreas interessierte sich in keiner Weise für unsere Planungen, er wollte zu diesem Zeitpunkt einfach nicht das Licht der Welt erblicken. Der Urlaub neigte sich dem Ende zu, mein Mann sollte wieder zurück in den Iran. Dorthin, wo seit Wochen die amerikanische Botschaft besetzt war.

April 1980, bis zu Andreas’ Geburt ein sonniger, warmer April. Niemals würde ich mich an das Wetter erinnern, wenn ich nicht auf meinen Sohn gewartet hätte. Nach seiner Geburt übrigens, gleich am nächsten Tag, schneite es in dicken Flocken.

Zwei oder drei Tage vor der Geburt hatte ich einen Arzttermin. Andreas schien sich in meinem Bauch nach wie vor wohl zu fühlen. Der Arzt konnte nicht die kleinste Wehentätigkeit feststellen, obwohl wir schon eine Woche über dem errechneten Geburtstermin waren. Nach dem Arztbesuch saßen Dieter und ich traurig in der Eisdiele. Wir wollten die letzten Stunden vor seiner Abreise noch genießen, es war warm und vor der Eisdiele ergatterten wir den letzten freien Tisch. Ein riesiger Eisbecher, aus dem ich genüsslich löffelte, stand auf meinem Bauch. Die Leute um uns herum schüttelten darüber nur den Kopf. Es war ihnen anzusehen, was sie dachten, und der eine oder andere sprach seine Gedanken laut aus: „Na, die hat es ja nötig, einen so großen Eisbecher in sich hinein zu stopfen!“

Wir bezahlten und fuhren zu meinen Eltern, wo ich mich meistens aufhielt, wenn mein Mann im Ausland war. Als wir auf den Hof fuhren, kamen alle hektisch winkend auf uns zu. Luxusartikel wie Handy oder Pager gab es damals noch nicht.

„Du sollst sofort im Büro anrufen!“, wurde mein Mann begrüßt, noch ehe wir überhaupt in der Wohnung waren.

„Was? Wen soll ich anrufen?“

„In deinem Büro in Erlangen sollst du anrufen. Dringend!“

Kurze Zeit später legte mein Mann den Hörer auf, machte ein Luftsprung und jubelte: „Ich muss nicht weg, die Ausreise in den Iran wurde untersagt! Aber ich muss morgen trotzdem nach Erlangen ins Büro fahren.“

Wir freuten uns wie kleine Kinder und eigentlich hätte Andreas sein Domizil nun freiwillig aufgeben müssen, so sehr wurde er in meinem Bauch hin- und hergeschüttelt. Aber er ließ sich auch von meinem unbeholfenen Gehopse nicht stören. Davon nicht und von so vielem anderen auch nicht.

Zwei Tage später ging ich ins Krankenhaus, wo am darauf folgenden Tag die Geburt eingeleitet werden sollte.

Morgens marschierte ich mit wehenden Fahnen und einem Buch unter dem Arm in den Kreissaal, wohl vorbereitet durch den Schwangerschaftskurs. Die Hebamme, eine Ordensschwester, war über mein Buch unter dem Arm verwundert, ich glaube sogar fast ein wenig verärgert.

„Sie werden wohl kaum zum Lesen kommen, wenn das Wehenmittel erst einmal wirkt!“, sagte sie, was in meinen Ohren ein wenig hämisch klang.

„Das werden wir sehen“, gab ich in gleichem Ton zurück.

Somit war der Grundstein für eine wundervolle Zusammenarbeit gelegt. Ich habe tatsächlich gelesen und tat dies noch, als mein Mann gegen Mittag aus Erlangen zurückkam. Ich hätte es wahrscheinlich auch getan, wenn ich die schlimmsten Wehen gehabt hätte, aus purer Rechthaberei, doch trotz des Wehenmittels tat sich nur wenig. Ab und zu eine Wehe, der Muttermund öffnete sich nur sehr langsam, egal wie hoch die Dosierung eingestellt wurde. Andreas juckten unsere Bemühungen nicht. Sein Vater beschloss, nach Hause zu fahren um etwas zu essen und anschließend wieder in die Klinik zu kommen.

Irgendwann am Abend wurde der Versuch, Andreas auf normalem Weg zu holen, abgebrochen und ein Kaiserschnitt angesetzt. Da ich eine gute halbe Stunde vor dem Operationssaal warten musste, weil dieser besetzt war, wurde Andreas schließlich gegen halb acht Uhr geholt.

Mein Mann und ich haben ganz unterschiedliche Sichtweisen über den weiteren Verlauf der Geburt. Ich hatte das Gefühl, alles ging irgendwie seinen normalen Gang und war sehr gelassen. Mein Mann sah die Blicke, die sich der Oberarzt und die Hebamme zuwarfen, spürte die Hektik, die ausgebrochen war.

Zugegeben, Andreas’ Start ins Leben war nicht optimal. Die Geburtsmedizin erschien mir, damals im Jahr 1980, absolut vertrauenswürdig und optimal. Und doch, im Rückblick war sie es nicht.

Durch den eilig angesetzten Kaiserschnitt wurde er verletzt und musste mit drei Stichen knapp neben der rechten Schläfe genäht werden. Er sollte eine kleine, kaum sichtbare Narbe zurückbehalten. Aber was spielt das für eine Rolle, wenn man sein Kind endlich in den Armen hält? Mir war es egal. Er war da: unser Andreas.

Während ich durch die Narkose tief und fest schlief, machte er seinen ersten Schrei. Mein Sohn.

Nach zweieinhalb Wochen durften wir nach Hause. Nun, Andreas war mein erstes Kind, ich wusste nicht, wie es ist, wenn Nächte keine Nächte mehr sind, sondern sich nur noch in Schlafeinheiten teilen. Ich war müde, hatte immer noch mit den Folgen der Geburt zu kämpfen. Mein Mann war auch müde, musste er doch zwischen Erlangen und Ludwigshafen pendeln, während ich im Krankenhaus lag. Da er seinen nächsten Auslandsaufenthalt bereits vorbereitete, blieben wir vorerst bei meinen Eltern. Er bot an, Andreas in der ersten Nacht, die wir mit unserem Sohn verbrachten, zu wickeln und ihm die Flasche zu geben. Natürlich wurde er wach, natürlich hatte er Hunger und natürlich war die Windel voll. Bis oben hin, voller ging es nicht. Andreas’ Papa ackerte schwer. Auch Andreas ackerte schwer, hatte er doch Hunger und wehrte sich daher gänzlich gegen alle Reinigungsversuche. Andreas’ Priorität lag ganz klar bei der Nahrungsaufnahme und nicht beim Windeln wechseln.

Als meine Mutter dem Schreien ihres Enkels nachging, war das Chaos schon perfekt: Andreas’ Papa stand vorm Wickeltisch, seinen Sohn vor sich, zappelnd und schreiend, den Inhalt der Windel überall verteilt. Mein Mann hatte die Kraft des kleinen Wesens unterschätzt sowie die Tatsache, dass es nachhaltige Folgen haben kann, wenn ein männlicher Säugling pinkelt. Die Unterstützung durch die Oma kam ein wenig spät, aber sie war dennoch sehr hilfreich.

Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Auf Andreas’ Seite, nicht auf der Seite seines Vaters. Während Andreas wieder sauber und satt in seiner Wiege lag, musste mein Mann erst den Weg über das Bad nehmen.

Im Laufe der Jahre wurde mein Mann aber zum perfekten Windelwechsler. Aller Anfang ist eben schwer.

Überhaupt entwickelt man im Laufe der Zeit seine eigene Methode, um effektiv, vor allem aber rasend schnell zu arbeiten. Andreas war von Anfang an ein Flaschenkind, das heißt wir mussten nachts mit halb geschlossenen Augen warten, bis das Wasser für die Flasche heiß war, um dann festzustellen, dass sie nun wieder heruntergekühlt werden muss. Später, als wir ein wenig mehr Routine hatten, bereitete ich dann die Flaschen vor, stellte sie in den Flaschenwärmer und programmierte diesen auf die Zeit, in der Andreas meist wach wurde. Ich stand lauernd mit der warmen Flasche vor seinem Bettchen, um ihn beim ersten kleinen Wimmern rauszuholen und ihn zu füttern. Ich habe mir immer eingebildet, dass sein Gesichtsausdruck in diesen Momenten die verschiedensten Schattierungen zwischen verdutzt und überrascht annahm.

Es dauert eine Weile, bis man seine eigene Arbeitsweise mit einem Baby hat, vor allem dann, wenn es das erste ist. Ich war in der glücklichen Lage, zwei Großmütter und Großväter zur Seite zu haben, die mir den Säugling ab und an mal abnahmen, ihn knuddelten und herzten, durch die Gegend trugen, wenn die Flasche wider Erwarten noch nicht fertig war, oder seinen Bauch kreisend streichelten, wenn Andreas Blähungen hatte. Niemand gab mir ungefragt Ratschläge – im Gegenteil, sie hielten sich immer an das, was ich vorgegeben hatte.

Ich hatte einen hübschen Sohn. Durch den Kaiserschnitt hatte er einen runden, wohlgeformten Kopf. Ein wenig kompakt wirkte er schon, denn das Geburtsgewicht von 4150 g konnte sich ja nur auf 51 cm Körperlänge verteilen. Ich war bei meiner Geburt übrigens auch so schwer gewesen, mein Mann wog ebenfalls nicht viel weniger, und so hatte unser Sohn wohl kaum eine Chance, zierlich zu werden.

Damals gab es in dem Krankenhaus, in dem ich entbunden hatte, eine Glasscheibe, durch die Besucher die Babys sehen konnten. Ungünstigerweise lag mein propperer Andreas zwischen zwei wirklich mageren Würmchen. Ich verstehe bis heute nicht, warum die Schwestern ihn genau da hingelegt haben. Eines schönen Tages entfuhr einem Besucher: „Boah, ist das ein Wonneproppen, der sieht ja aus, als sei er schon ein halbes Jahr alt!“

Danke, das saß!

Es war toll, mein Baby im Arm zu halten und es zu beobachten. Stundenlang, wenn es sein musste: seine Mimik, seine Grimassen, seinen Schlaf, sein Wachsein, einfach alles. Ich habe das bei all meinen Kindern genossen, ihren unverwechselbaren Geruch, das Zarte ihrer Haut, ihre willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen, das Nuckeln im Schlaf, das schiefe Lächeln. Einfach purer Genuss.

Es gibt ruhige und unruhige Babys, Schreibabys, Spuckbabys, brave Babys, wache und verpennte Babys. So individuell wir als Erwachsene sind, so individuell sind wir schon als Baby.

Andreas spuckte ab und zu, vorzugsweise auf Papas Hemd, schrie, wenn ihm etwas nicht passte, war ein aufgewecktes Baby. Hunger hatte er immer, er wurde schon zappelig wenn er seine Flasche nur sah. Gebadet und eingecremt zu werden, das liebte er, da er dabei von Kopf bis Fuß gestreichelt und massiert wurde. Er schlief früh durch, machte aber die Nacht zum Tag, als er Zähne bekam.

Der Sommer war durchwachsen, aber man konnte sich draußen aufhalten. Andreas wurde getauft, mein Mann war wieder im Ausland unterwegs und ich mit dem Kinderwagen im Park, stolz wie eine Nobelpreisträgerin – was hätte mein Glück stören können? Was sollte schon passieren?

Der Herbst kam und ging. Der Winter kam und mit ihm Andreas’ erstes Weihnachtsfest. Inzwischen krabbelte er, begierig, die Welt 30 cm über dem Boden zu erkunden.

Während der Weihnachtszeit hatte mein Mann keinen Auslandseinsatz. Wir genossen die Adventszeit zu dritt, buken Plätzchen, schmückten unsere Wohnung weihnachtlich und kauften einen monströsen Weihnachtsbaum. Wir wollten den Heiligen Abend in unserer Wohnung in Erlangen feiern und dann zu unseren Familien nach Ludwigshafen fahren, um die zwei Feiertage dort zu verbringen.

Andreas zeigte uns einmal mehr, dass es nicht mehr nur nach unserem Willen ging. Er kränkelte, hatte sich wohl einen Magen-Darm-Infekt eingefangen. In der Nacht zum Heiligen Abend erbrach er sich, am nächsten Tag hatte er Durchfall, schien aber alles in allem recht munter zu sein und sich bereits wieder zu erholen. Wir überlegten für einen kurzen Moment, ob wir wirklich zu unseren Familien fahren sollten, entschieden uns aber schließlich dafür, da Andreas wieder recht fit wirkte. Um pünktlich zum Essen dort zu sein, fuhren wir gleich nach dem Frühstück los.

Da richtiges Ausschlafen mit Kindern über Jahre wegfällt, kann man sich zu solchen Gelegenheiten wirklich früh auf den Weg machen. Benjamin, der Sohn meiner Schwester, der im gleichen Jahr wie Andreas geboren worden war, kränkelte auch. Allzu ängstliche Mütter, die fürchteten, dass unsere Kinder sich gegenseitig anstecken könnten, waren wir nicht.

Als wir in Ludwigshafen angekommen waren, hatten beide Jungs leichtes Fieber und so entschlossen wir uns, den Dienst habenden Kinderarzt zu rufen, der allerdings nichts Ernsthaftes feststellen konnte.

Ich fand es damals schon grausig, den Notdienst rufen zu müssen, heute noch viel mehr. Man weiß nie, was da für ein Arzt kommt und im Laufe der Jahre kam es mir bei manchen so vor, als hätten sie ihre Zulassung im Lotto gewonnen.

Trotz dieses kleinen medizinischen Intermezzos hatten wir eine Menge Spaß miteinander. Andreas, ein kleiner strammer Mann von nun schon acht Monaten, thronte in seinem Kinderstuhl, als sei er der König von England. Sein Cousin hing dagegen eher windschief in seinem Stuhl, er war immerhin vier Monate jünger.

Dieses Weihnachtsfest war etwas Besonderes, das erste Weihnachtsfest als Mütter und Väter, das erste Weihnachtsfest mit unseren Söhnen. Nach dem Essen legte ich Andreas hin, danach hielt auch der Rest der Familie Mittagsschlaf.

Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn

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