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DER ERSTE ANFALL

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Gegen 16 Uhr wurden wir langsam wieder wach, die Frauen jedenfalls, die Männer brauchten etwas länger. Während ich den Kaffeetisch deckte wurde Andreas wach. Ich setzte ihn mit seiner Flasche Kamillentee neben meinen Vater auf dessen Bett.

Kurz darauf rief dieser: „Gitta, komm mal schnell her! Andreas...“

„Was ist, mag der Herr seinen Tee nicht?“

Diese Worte werde ich niemals mehr vergessen.

„Komm her! Schnell! Andreas, er macht so komisch…“

Ich ließ alles stehen und liegen und rannte zu ihnen. Ich betrat das Schlafzimmer meiner Eltern, sah meine Mutter gerade vom Fenster her kommen, sah meinen Vater auf dem Bett sitzen, sein Enkel neben ihm.

Ich sah Andreas an, er atmete merkwürdig, verdrehte die Augen, war nicht ansprechbar, reagierte nicht auf mich. Er schnappte nach Luft. Ich rannte hinaus, aber anstatt den Notarzt zu rufen ging ich meinen Mann wecken. Ich kann mir bis heute nicht erklären, wieso ich nicht den Krankenwagen gerufen habe. Ich ging zurück zu Andreas, nahm ihn hoch, wickelte ihn in eine Decke und rief abermals meinen Mann, der inzwischen verschlafen im Flur stand. Ich schrie ihn an, hätte ihn am liebsten gerüttelt und geschüttelt, aber ich konnte nicht, ich hatte Andreas auf meinem Arm. Auf die Idee, einen Notarzt zu rufen, sind wir immer noch nicht gekommen. Niemand.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, saßen wir im Auto in Richtung Kinderklinik. Ich glaubte, Andreas würde sterben, hörte mich immer und immer wieder rufen: „Er stirbt! Er stirbt!“

Es hörte einfach nicht auf. Er war nicht ansprechbar. Wir rasten mit eingeschalteter Warnblinkanlage in unserem Auto durch die Straßen, über rote Ampeln, laut hupend bahnte Dieter uns den Weg. Nach einem endlos scheinenden Weg kamen wir bei der Kinderklinik an und rannten hinein. Ein Arzt, der einen Blick auf unseren Sohn warf, ließ den Vater des Jungen, den er gerade behandelt hatte, stehen und schob uns in ein Behandlungszimmer. Auf seine Anweisung hin öffnete ich Andreas’ Windel und er gab meinem Baby ein Medikament mit einer Rektiole in den After. Augenblicklich war alles vorbei. Andreas atmete normal, entspannte sich und schlief ein.

Ich sehe mich immer noch dort stehen, in einem schicken hellblauen Ensemble, in Hausschuhen und ohne Mantel den Worten des Arztes folgend. Es sei wohl nur ein Fieberkrampf gewesen und Andreas müsse bleiben, man wolle ihm eine Infusion wegen des Magen-Darm-Infektes geben.

Fieberkrampf? Ich hatte noch nie etwas davon gehört. Ich war damals 24 Jahre alt, Andreas war mein erstes Kind. Ich hatte keine Ahnung von Fieberkrämpfen. Der Arzt versuchte mich zu beruhigen, sagte, so etwas würde sich irgendwann verlieren, wir sollten jetzt gehen und uns ein wenig entspannen. Wir wurden verabschiedet und standen an der Tür. Ich erstarrte, als ich Andreas schreien hörte. Es klang, als sollte ich ihm helfen, das zu verhindern, was ihn heilen sollte. Ich tat nichts, um ihn zu befreien. Tat nichts, um das Festgehaltenwerden zu beenden, den Schmerz, den er beim Legen des Zugangs für die Infusion aushalten musste. Dann war er so erschöpft, dass er einschlief. Wir gingen nun endgültig. Ohne unser Kind. Wir standen da wie vom Donner gerührt, wussten nicht, wie uns geschah.

Damals, 1980, war es noch nicht üblich, dass Mütter bei ihren Kindern in der Klinik bleiben. Ich hatte nicht die nötige Reife, um darauf zu bestehen bei ihm zu bleiben, ich wusste noch nicht einmal, dass es möglich gewesen wäre. Woher auch?

Ich kam mit meinem Kind an und fuhr mit leeren Händen nach Hause, in Hausschuhen, ohne Mantel, ohne Jacke. Meinem Mann ging es nicht anders. Ich habe das, was ich an diesem Tag zu diesem festlichen Anlass getragen habe, nie wieder angezogen.

Wir kamen ohne unseren Andreas zu Hause an, Weihnachten war vorbei.

Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn

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