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2.Billigflieger

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Linda stieg außer Atem in den Bus. Vor gut einer Woche war es ihr gelungen, ein billiges Flugticket nach England zu ergattern. Sie war sich im Klaren darüber, dass es bei einem solchen Angebot auch einige unvorhersehbare Unbequemlichkeiten geben könnte, doch das Risiko ging sie gern ein. Wie heißt es so schön: „No risk no fun.“

Das Aufstehen um vier Uhr in der Früh störte sie weniger, da sie sowieso ein early bird war, aber das Hotel ohne eine Tasse Kaffee verlassen zu müssen, das war schon unangenehm. Linda eilte zur Bahnstation Pokestown und versuchte ein Ticket für den Nahverkehr zu kaufen, was ihr aber wegen des fehlenden Kleingeldes nicht gelang. Nachdem sie mit ihrem ganzen Gepäck die vielen Treppen des Bahnhofes wieder hochgelaufen war, sprang sie in den heranfahrenden Bus. Dabei achtete sie allerdings nicht darauf, dass in England alles ein bisschen andersherum fährt. Außer Atem flötete sie dem Fahrer entgegen: „One ticket to Saxon Square, please.“

Der Busfahrer zeigte mit dem Daumen wortlos, dafür aber sichtlich genervt, hinter sich. Diesen Wink verstand jeder Tourist, ohne im Wörterbuch nachsehen zu müssen. Dankbar für den taktvollen Hinweis des Mannes eilte Linda samt Gepäck wieder ins Freie, überquerte die Straße und wartete auf den nächsten Bus in die andere Richtung. Als sie nach diesem kleinen Missgeschick endlich den Square erreicht hatte, galt es nur noch, den richtigen Bus zum Flughafen Stansted zu finden. Die Motoren der wartenden Busse brummten schon bei ihrer Ankunft und so rannte sie schreiend über den Platz. Der Busfahrer wartete freundlicherweise auf die liebe

Touristin. Engländer sind höfliche Menschen und kennen die Macken der „Krauts“ nur zu gut.

Linda seufzte erleichtert. Jetzt würde alles gut werden. Sie fummelte ein Mars aus ihrer Handtasche und wünschte sich sehnlichst einen Kaffee herbei. Wie viele Male musste sie heute noch umsteigen? Die Frage konnte sie auf Anhieb nicht beantworten, aber das war im Moment auch egal. Sie schwitzte noch von ihrem letzten Sprint und versuchte ungeduldig, die Lüftung auf kühler zu stellen. Doch der Knopf drehte durch, das Ding funktionierte wohl nicht und niemand hatte an eine Reparatur gedacht. Engländer haben ein Faible für Antiquitäten. Egal, irgendwie ging ihr sowieso noch die ungelöste Umsteigefrage durch den Kopf und mit Hilfe ihrer zehn Finger schaffte sie es festzustellen, dass sie noch ganze fünf Mal den Sitzplatz wechseln würde, um nach Hause zu kommen. Aber wie gesagt, bei einem Flugticket für zwanzig Euro kann man nicht meckern. Wobei die Kosten für den öffentlichen Nahverkehr sowohl in England als auch in Deutschland noch hinzugerechnet werden mussten. Vermutlich würde sie doppelt so viel für all die Busfahrscheine bezahlen wie letztendlich für das Flugticket.

Seit zehn Jahren besuchte sie nun ihre lieben Freunde in England und war jedes Mal über deren Herzlichkeit entzückt. Die Reiseplanung erforderte zwar etwas Geschick, doch wer mit wenig Geld reist, erlebt richtige Abenteuer. Im Moment nervte sie allerdings das englische Kind hinter ihr, das ihr unentwegt in den Rücken trat. Sie quälte sich aus dem engen Sitz hoch, drehte sich nach hinten um und forderte die Kleine auf:

„Please, stop kicking against my seat!“

Obwohl sie in einfachem Schulenglisch gesprochen hatte, stierte sie das kleine Monster an, als käme sie von einem anderen Stern. Seine liebe Mama schnarchte derweilen mit offenem Mund auf dem

Nachbarsitz. Da Linda keinesfalls Ärger in ihrem geliebten Gastland provozieren wollte, setze sie sich wieder hin. Sie hatte es sich noch nicht bequem gemacht, als ein wahrer Trommelwirbel von Fußtritten gegen ihren Rücken begann, der all ihre guten Vorsätze über Bord warf.

Gastland hin oder her, jetzt musste sie sich wehren. Sie griff nach ihrer Flasche und kippte eine Ladung Wasser zwischen Sitz und Fenster nach hinten. Es trat eine Sekunde Ruhe ein, aber dann fing das liebe Kind an zu schreien, als würde es in zu heißem Wasser gebadet. Das Gebrüll schreckte sogar die schlafende Mutter auf, die ihrer Tochter kommentarlos eine Ohrfeige versetzte, die unverzüglich für Ruhe sorgte. Linda war sprachlos, denn es ist in England verboten, Kinder zu schlagen. Sie mischte sich aber aus diplomatischen Gründen nicht in die privaten Streitereien ihrer Gastgeber ein.

Gegen zwölf Uhr erreichte der Bus endlich London. Lindas Herz hüpfte vor Freude. An der Victoria-Station angekommen überlegte sie kurz, ob die Haltezeit ausreichen würde, um einen Kaffee zu organisieren. Während sie grübelte, verließen alle anderen Passagiere den Bus. Das musste etwas zu bedeuten haben.

„Is this the Bus to Stansted“, wollte sie wissen.

„No, you have to change the line“, antwortete der Fahrer kopfschüttelnd.

Leicht irritiert suchte sie schnell ihre sieben Sachen zusammen und beeilte sich, um ja nicht den Anschlussbus zu verpassen. Sie war dann auch eine der letzten Fahrgäste, die in den Bus einstiegen. Alle Plätze waren bereits belegt und so landete sie ganz hinten im Fahrzeug. Aber das war nicht weiter schlimm, denn dort würde ihr auf alle Fälle niemand in den Rücken treten. Wer billig reisen möchte, muss Durchhaltevermögen beweisen.

Der Fahrer startete den Motor, doch im letzten Moment sprang ein weiterer Fahrgast durch die noch offene stehende Tür. Der Mann war außer Atem, steuerte mit hochrotem Kopf auf die letzte Sitzreihe zu und ließ sich direkt neben Linda in den Sitz fallen. Das lange Vehikel ruckte zweimal und fädelte sich dann in den Londoner Verkehr ein.

Auf den letzten Sitzplätzen spürte man das Auf und Ab des Busses besonders stark, aber das Schaukeln war für Linda kein Problem. Ihr Nachbar hielt jedoch eine Dose Bier in der Hand, die er mit zittrigen Fingern öffnete und dann zu trinken begann. Der Geruch des Alkohols schwebt wie eine Wolke über den Köpfen der Reisenden. Linda schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass der Alkohol und die Auf- und Ab-Bewegungen des Fahrzeugs ohne Komplikationen bleiben würden. Sie schielte verlegen zur Seite und registrierte sein aufgedunsenes Gesicht. Gütiger Himmel! Günstig zu reisen bedeutete, sich unters Volk zu mischen. Auf diese Weise bekommt man etwas vom Alltag des Gastlandes mit.

Linda schloss die Augen für einen Moment und versuchte ihre Nackenmuskeln zu entspannen. Es gelang ihr auch bis zu dem Augenblick, als sie ein lautes Würgen aufschreckte. Dem Nachbarn schien es nicht gut zu gehen. Sie fummelte in Windeseile eine Plastiktüte aus der Handtasche und überreichte sie dem Biertrinker im allerletzten Moment. Ein süßlich penetranter Geruch von Erbrochenem zog durch den Bus. Linda überlegte angestrengt, ob sie noch eine weitere Tüte eingepackt hatte, konnte sich aber nicht mehr erinnern. Stattdessen versuchte sie mit aller Kraft durch tiefes Atmen ihre Magennerven zu beruhigen. Dabei umklammerte sie den Griff ihrer Handtasche wie einen Rettungsring.

Entgegen ihrer sonstigen Angewohnheit stand sie schon vor der Ankunft in Stansted auf und drängelte sich zur Tür des Busses vor.

Durch ihr Hirn funkten wilde Fluchtgedanken. Den anderen Fahrgästen schien es ähnlich zu ergehen, was zur Folge hatte, dass ein Gedränge in dem schmalen Gang entstand, das den reibungslosen Ausstieg der Fahrgäste verhinderte.

Nachdem Linda leicht ramponiert im Freien stand, kamen ihr erste Zweifel an der Reiseplanung. Sollte sie nicht doch ein Flugticket direkt nach Frankfurt kaufen und dem ganzen Umsteigezirkus ein Ende bereiten? Ein Blick auf die Uhr, sie lag gut in der Zeit. Ach was, seit zehn Jahren hielt sie durch, warum sollte sie jetzt schlapp machen?

Zu ihrer großen Freude winkten die Kontrolleure alle Touristen durch die Sicherheitsschranke. Linda fiel erleichtert in einen Sessel im Wartebereich und sortierte zum zigsten Mal ihr Hab und Gut. Alles war vorhanden, alles bestens. Zwischenzeitlich hatte sich eine längere Schlange von Fluggästen am Schalter gebildet. Sie waren mit wunderschönen Souvenirs aus England beladen. Das sah den Krauts ähnlich, überall wollen sie die Besten und Ersten sein.

Plötzlich erschien eine weitere Stewardess auf der Bildfläche und öffnete einen zusätzlichen Schalter. Linda schnellte wie ein Torpedo nach vorn und kam so vor allen anderen Fluggästen in die Maschine. Siegesgewiss klemmte sie sich in eine der vordersten Reihen und freute sich diebisch, einen Platz am Fenster erwischt zu haben. Im Billigflieger gibt es keine Sitzplatz-Reservierungen, da muss man sehen, wo man bleibt.

Es folgte eine Karawane von Passagieren, beladen mit Gepäck und drängte sich durch den schmalen Gang. Wo bitte schön sollten all die Koffer und Souvenirs verstaut werden? Klappen über Lindas Kopf gingen auf und zu. Dicke Frauen drückten sich an schmalen Herren vorbei und versuchten krampfhaft, noch ein Tütchen in die

Gepäckablage zu stopfen. Das alles dauerte seine Zeit und Linda murmelte zur eigenen Beruhigung:

„Das Schlimmste liegt hinter dir, mein Schatz!“

Irgendwann saß auch der letzte Passagier und die größte Handtasche war verstaut. Eine junge Stewardess begann zu zählen, übrigens mit ihren Händen. Sie misstraute wahrscheinlich genau wie Linda technischen Geräten. Da alle Fluggäste anwesend waren, erklärte die hübsche Dame, wie sich die Fluggäste im Notfall verhalten sollten. Allerdings hörte kein Mensch der süßen Maus zu. Im Gegenteil, die lauten Zurufe der Mitglieder eines Kegelclubs untereinander übertönten die nette Stewardess, die sich aber aufgrund ihrer Jugend nicht aus der Ruhe bringen ließ.

Kurz nach dem Abgang der hübschen Frau trat der smarte Flugbegleiter in Aktion. Er drückte auf diverse Knöpfe und versuchte, die Tür des Fliegers zu schließen. Ein metallisches Knirschen ertönte, das Linda erschrocken zur Kenntnis nahm. Der Mann hielt verwundert inne. In vorderster Reihe sitzend konnte Linda alles genau sehen und ihr schwante weiteres Unheil. Die Fluggäste waren über ein ausfahrbares Scherengestell in die Maschine eingestiegen und dieses Ding musste sich verhakt haben. Sie reckte voll böser Ahnungen ihren Hals hoch und sah das Metallgestell, das nicht im Rumpf der Maschine verschwinden wollte. Der Stewart drückte wie wild auf verschiedene Knöpfe, aber es passierte nichts. Das Ding hing wie ein Fremdkörper an der Maschine. Linda schloss die Augen und seufzte.

Der Kapitän des Flugzeugs eilte aus dem Cockpit herbei und sah sich die Bescherung an. Linda seufzte noch tiefer. Da ging der Stewart zum Telefon und bat um Unterstützung. Eine Stimme drang durchs Mikrofon:

„Wir haben ein technisches Problem. Der Abflug verzögert sich um wenige Minuten.“

Linda hatte sich fast schon so etwas gedacht. Die Zeit verging und eine gewisse Unruhe machte sich unter den Fluggästen breit. Nach einer weiteren halben Stunde gelang es wenigstens, die Scheren-Treppe wieder auszufahren, und kurze Zeit später tauchte ein Mann auf, der einen Werkzeugkasten in der Hand trug. Einen solch blauen Blechkasten besaß Lindas Onkel Albert. Er reparierte damit seinen alten Opel Kadett. Dass man mit dem Inhalt einer solchen Kiste auch ein Flugzeug reparieren konnte, war ihr allerdings neu. Vermutlich fehlte es ihr wieder einmal an dem nötigen technischen Verständnis. Mit der festen Absicht ruhig zu bleiben, schloss Linda die Augen und versuchte zu meditieren.

Sie wusste wirklich nicht warum, aber es funktionierte einfach nicht. In ihrem Kopf sah sie Bilder, die sie eigentlich gar nicht sehen wollte. Zum Beispiel den Katastrophenfilm, in dem Außerirdische die Flugzeugtür aufreißen und die Passagiere durch den Luftsog ins Weltall katapultiert werden. Lauter blödes Zeug. Sie öffnete schnell wieder ihre Augen, damit sie den Unsinn nicht länger ansehen musste. Mittlerweile redeten alle Leute wie wild durcheinander. Was, wenn der Mann die Treppe nicht reparieren konnte? Linda stöhnte gequält auf. Gütiger Gott verhindere, dass ich noch einmal umsteigen muss Die Fluggäste saßen mittlerweile über einer Stunde in der Maschine fest. Gab es denn bei diesen Billigfliegern keine Sicherheitschecks?

Linda spürte, dass sie dem Heulen nahe war, ihr fehlte außerdem ihr Nachmittagskaffee und zur Toilette musste sie auch. Während sie die schrecklichsten Gedanken quälten, fiel plötzlich die Flugzeugtür zu. Eine Stewardess flitzte durch den Gang und winkte den

Fluggästen fröhlich zu. Blitzartig trat Schweiß auf Lindas Stirn. Eine Panikattacke bemächtigte sich ihrer und sie schrie aus Leibeskräften:

„Lasst mich raus, ich will hier raus“.

Alle verfügbaren Flugbegleiter kamen angerannt, redeten auf sie ein und legten ihr kalte Lappen auf die Stirn. Linda fühlte, wie ihr Gesicht langsam rot anlief und sie einer Ohnmacht nahe war. Zwischenzeitlich rollte das Flugzeug in Startposition, nahm Geschwindigkeit auf und dann geschah es. Die Maschine hob ab.

Mein Gott, sie flogen in die unendlichen Weiten des Himmels. In diesem Moment versagte Lindas Stimme. Sie brachte einfach keinen Ton mehr heraus. Egal was noch alles geschehen würde, sie musste in dieser verdammten Blechbüchse mitfliegen. In der Fliegersprache heißt dieser Moment übrigens:

„The point of no return.“

Das Herz hört alles

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