Читать книгу Ihr letzter Herbst - Gitte Osburg - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеDer Regen prasselte diesen Septembermorgen so heftig auf die Straße, dass es sich monoton gleichmäßig, fasst gemütlich anhörte. Charlotte Hehl stand am Fenster ihrer Verbraucherzentrale und schaute zum grau verhangenen Himmel. Sobald wird es nicht aufhören, dachte sie und war eigentlich momentan mit dem Wetter ganz zufrieden. Wenn es regnete waren nicht viele Menschen unterwegs, nur die morgens zur Arbeit oder Schule mussten. Die Augen wurden von Kapuzen oder Schirmen bedeckt. Von den Geschäftsnachbarn war noch keiner da. Der Tagesbetrieb hatte noch nicht begonnen. Charlotte schaute auf ihre Armbanduhr. Gleich wird Lars kommen, dieser Gedanke machte sie schon nervös, um sich abzulenken blickte sie sich in ihrem kleinen Büro um. Das blinken am Anrufbeantworter ignorierte sie jetzt. Dafür wollte sie sich später Zeit nehmen. War sonst alles in Ordnung? Es sah noch alles wie vor zehn Minuten aus. Ein Regal von oben bis unten mit Aktenordner bestückt, einen Schreibtisch etwas zu groß für den kleinen Raum, für sie ein bequemer Schreibtischstuhl, vorm Tisch zwei für ihre Kunden. Auf dem Schreibtisch zwischen vielen Akten und Prospekten stand der Computer. Der Computer war noch nicht eingeschaltet. Es waren noch zwei Stunden bis zur Geschäftsöffnung. Sie drehte sich wieder zum Fenster. Ah, da oben, das wird er sein, durchfuhr es Charlotte. Ein heller Lodenmantel mit hochgeschlagenem Kragen. Pünktlich wie immer, gerader Gang mit schnellen Schritten, das war typisch für ihn. Vielleicht dachte er, wenn man schnell ist, wird man nicht gesehen. Sie wollte nochmal in den Spiegel schauen, ob alles so aussah wie vor zehn Minuten. Immer wenn Charlotte nervös war tat sie das. Sie zupfte dann an einer Locke, die sich nach ihrer Meinung zur falschen Richtung gelegt hatte.
Mit Schwung ging schon die Tür auf und pudelnass stand Lars vor ihr. Nachdem er wie selbstverständlich die Tür von innen verriegelte, wollte er sie gleich in die Arme nehmen. Sie lachte:
„Komm doch erst mal vom Fenster weg. Du bist ja ganz nass, warte ich hole ein Handtuch für Deine Haare und ziehe erst mal Deinen Mantel aus.“
Auf dem Weg zum Nebenraum. wo Spiegel und Waschbecken waren, schaute sie nochmal in den Spiegel. Sie griff mit der rechten Hand zum Handtuch während sie mit der linken Hand wieder am Haar zupfen wollte. Lars stand schon hinter ihr und küsste sie zart auf ihren Nacken.
„Wie schön Du bist, ich will Dich, lass doch das Handtuch weg“, sprach er mit seinen Lippen auf ihrer Haut, so dass es ihr kitzelte und eine Gänsehaut über ihren Rücken lief. Sie drehte sich und schaute ihm in die Augen. Sein Blick war voller begehren. Wie schaffte er es nur, mich immer wieder so schnell in Stimmung zu bringen, schoss es ihr durch den Kopf. Schon beim ersten Kennenlernen hatte sie das Gefühl von fließendem Strom. Sie schloss ihre Augen während sie sich innig küssten. Das Handtuch hielt sie immer noch fest in der Hand und versuchte vergeblich seine Haare trocken zu rubbeln. Dabei gingen seine Hände vom Rücken streichend, leicht massierend bis zur Brust und suchten die Knöpfe an ihrer Bluse. Während er einen nach dem anderen öffnete, ließ Charlotte das Handtuch fallen. Langsam schob er Charlotte zum roten Flockenteppich aus den 70iger Jahren – immer noch ihr ganzer Stolz.
„Wir haben leider wieder wenig Zeit“, flüsterte Lars.
Diesen Satz hätte er weglassen können, dachte sie, auch wenn er recht hatte. Sie hasste es, wenn er es in den schönen Momenten aussprach, aber sie verzieh es ihm.
„Ich bin ganz heiß auf Dich, Lotti“, flüsterte er ihr ins Ohr.
Ohne sich loszulassen sanken beide auf den Teppich und liebten sich leidenschaftlich. Wir sind bestimmt die Einzigen auf der ganzen Welt, vermutete Charlotte, die sich so bedingungslos liebten, obwohl ihr eine kleine Stimme sagte, dass sie in diesen Momenten eine rosarote Brille trug.
Lars Kauk, eigentlich Dr. Kauk, ein bekannter Zahnarzt in dieser Stadt, war verheiratet, genau wie Charlotte Hehl. Wo traf man sich da? Das Büro war immer noch das beste Alibi. In Heiligenstadt kannte man sich schon vom Sehen, nicht nur durch Schule oder Beruf. Ein paar Fremde, die am Tag durch die Stadt bummelten waren meist Kurgäste von der nahen Kurklinik. Touristen besuchten die Altstadt, um die gut erhaltene Stadtmauer oder das Museum des Dichters Theodor Storm mit angrenzendem barockem Rosengarten zu besichtigen. Man erreichte in etwa zwanzig Minuten fast jedes Ziel. In so einer Kleinstadt musste man sehr vorsichtig sein. Jeder kannte jeden. Eine Auskunft von der Verbraucherzentrale benötigten viele Einwohner. Hier lernten sie sich die beiden kennen. Während sie sich wieder anzogen, fragten sie sich gegenseitig wie es ihnen ging. Manchmal war Lars so voller Frust, dass sie meinte sogar Tränen in seinen Augen zu sehen. Er erzählte aber nicht viel aus seinem Privatleben und schon gar nichts von der Praxis. Charlotte hätte gern mehr über ihn gewusst.
„Du gibst mir Kraft zum Leben“, diesen Satz hörte sie oft von ihm.
Wenn sie nochmal nachfragte, dann brach er einfach das Gespräch ab mit:
„Alles wird gut, Lotti.“
Diesen Satz konnte sie nicht mehr hören. Es klang immer nach einem abwimmeln und nicht nach einer Problembewältigung. Seinen Lodenmantel knöpfte er wie immer sorgfältig bis oben zu. Alles musste seine Ordnung haben. Nur nicht unser Leben. Auf dem Weg zur Tür nahm er einen Schein aus seiner Manteltasche und legte ihn auf den Schreibtisch. Dieses geschah ohne Worte. Noch ein zärtliches Streicheln über ihren Arm. Ihre Augen suchten nach seinen Augen, an seinem Blick erkannte Charlotte, dass er mit seinen Gedanken schon wieder woanders war. Sie zog die Augenbrauen hoch und atmete heftig aus. Schon wieder an der Tür sagte er:
„Es tut mir leid, aber ich muss, Lotti. Ich melde mich wieder bei Dir“, dabei warf er nochmal einen Blick zum Schreibtisch.
Sie sollte sehen, da lag Geld für sie.
„Ich heiße Charlotte“, flüsterte sie leise.
So schnell wie Lars zu ihr gekommen war, so schnell ging er wieder. Gerade aus der Tür, lief er schon auf der anderen Straßenseite in Richtung Arztpraxis. Alles war für Charlotte wie unter einem Grauschleier. In diesem Moment hätte sie am liebsten geheult, aber dann hatte sie sich wieder im Griff und schaute nach dem Geldschein. Ein Fuffi, super, stellte sie fest und ging zu ihrem Globus. Diesen hatte sie sich gleich zum Geburtstag 1989 gewünscht, als die Wende war und die Welt nun grenzenlos schien. Sie wollte damals ihre Reiseziele immer vor Augen haben. Langsam schraubte sie am Äquator. Im unteren Teil lagen schon einige Scheine. Ohne weiter das andere Geld zu beachten, fast mechanisch legte sie die 50 Euro dazu und schloss ihn wieder. Was sie später mit dem Geld mal vor hatte wusste Charlotte nicht, sie nahm es einfach. Vielleicht wollte Lars sich damit von ihr unabhängig machen. So richtig über das Geld freuen, konnte sie sich nicht. Charlotte schaute wieder in den Spiegel, die Locken lagen wie immer. Man sieht mir nicht an, was gerade vor ein paar Minuten passiert war, ein bisschen verschwitzt, das kam auch vor, wenn man morgens vorm Öffnen das Büro wischt, dachte sie.
Die Telefonklingel holte sie wieder auf den Boden.
„Verbraucherzentrale, Sie sprechen mit Charlotte Hehl, einen guten Tag“.
Sie konnte kaum aussprechen, da hörte sie schon eine aufgeregte Stimme:
„Ach ein Glück, dass Sie schon da sind. Ich muss unbedingt von Ihnen wissen ...äh übrigens, was
kostet eine Auskunft, geben Sie überhaupt eine am Telefon?“
Zur gleichen Zeit rüttelte jemand an der Tür. Das würde wieder ein verrückter Tag werden. Sie erkannte eine ihrer Freundinnen und winkte schnell, sie sollte warten bis das Gespräch zu Ende war. Ihrem Telefonpartner erklärte sie höflich, dass eine Auskunft persönlich besser wäre. Sie könnten dann alles detaillierter besprechen bzw. gleich online nach dem aktuellen Stand schauen, Charlottes Devise war: Man kann nicht alles wissen, aber man muss wissen wo es geschrieben steht. Mit dem Anrufer vereinbarte sie hastig einen Termin. Nebenbei schaute sie zur Tür und rollte groß mit den Augen. Ihre Freundin sollte sehen, dass sie gleich Zeit für sie hatte. Jetzt endlich konnte sie die Tür öffnen.
„Susi, was ist? Du wirst doch nass.“
„Es hat aufgehört zu regnen. Ich wollte Dir auch nur einen guten Morgen wünschen und nicht einfach so vorbei gehen.“
Oh, dachte Charlotte, dann hätte ich mir doch für den Anrufer mehr Zeit genommen, denn ihre Kunden gingen eigentlich vor. Zehn Jahre arbeitete sie nun schon in dieser Verbraucherzentrale und wollte nicht ihren guten Ruf verlieren. Susanne, genannt Susi, beäugte sie kritisch und meinte:
„Hast ja geschwitzt, warst wohl schon fleißig?“
Charlotte erschrak.
„Ach ich habe nur schnell gewischt. Freitag war ich nicht mehr dazu gekommen.“
„Fleißig, fleißig, ach was mir noch einfällt, die Tanzstunden beginnen Samstag wieder. Kommt Ihr
mit?“
„Natürlich, da freue ich mich riesig, denn Samstagabend nur Fernsehen schauen, ist auch nicht die
Erfüllung.“
Außerdem, wenn Charlotte Musik hörte, könnte sie gleich tanzen egal ob Rock, Pop oder Klassik. Hauptsache es hatte einen guten Takt.
„Heute Abend telefoniere ich mit Dieter und frage ihn. Wenn er hört, dass ihr mitmacht, dann ist alles klar“, freute sie sich.
Dieter Hehl, Charlottes Mann, arbeitete die ganze Woche in einem Architekturbüro. Die Wochenenden waren ihnen wichtig. Sie wollten die immer genießen. Fast immer durfte Charlotte den Ablauf bestimmen. Er musste die Woche über wichtige Entscheidungen treffen, dass er sich am Wochenende lieber lenken und leiten ließ. Sie wäre aber auch mal froh, wenn er mit einer Idee käme. Ihre beiden Kinder Laura und Svenja standen schon auf eigenen Füßen. Laura eröffnete in Frankfurt mit Beziehungen ihres Vaters ein Kosmetikstudio. Svenja arbeitete nicht unweit von der Verbraucherzentrale als Friseuse. Trotzdem bekam Charlotte, Svenja fast genauso selten zu sehen, wie Laura. Sie lebte im Moment wieder allein, wie ihre Schwester in Frankfurt. Der Freundeskreis von beiden war sehr groß. Svenja bewarb sich zurzeit auf einem Kreuzfahrtschiff. Beide Mädchen waren sehr praktische Typen. Sie kamen im Leben zurecht. Beide wussten, man kann nur gut leben, wenn man selbst was organisierte.
„Gebratene Tauben fliegen nicht in den Mund“, pflegte Oma immer zu sagen.
„Dann bis Samstag“, hörte sie Susanne noch rufen, „wer zuerst da ist hält Plätze frei“.
Susanne musste sich auch beeilen, eine Straße weiter war ihre kleine Boutique. Charlotte hatte gerade ihre Bürotür verschlossen, da klopfte es wieder heftig. Oje, dachte sie, schon wieder, ich kann mich gar nicht auf den Tag vorbereiten. Durch die Glastür sah sie eine elegante Dame mit einer Businesstasche. Sie hatte das Gefühl, dass sie um ein Öffnen nicht herumkam.
„Entschuldigen Sie die frühe Störung. Ich bin Inga Mertens von der ALOE-Versicherung. Bei uns wurde ein Wasserschaden gemeldet. Würden Sie mir bitte den Schaden zeigen?“
Charlotte erschrak nochmals, sie hatte noch nicht nach Lars' Besuch aufgeräumt.
„Könnten Sie bitte später wiederkommen? Ich habe gleich einen wichtigen Termin“, fragte sie etwas
verlegen.
„Es wird nicht lange dauern, sonst müssen Sie länger warten. Ich habe nur heute Zeit und Sie
wollen doch Ihr Geld haben.“
Inga Mertens war sehr bestimmt und ging bei den Worten an ihr vorbei:
„Es war doch in Ihrer Küche? Oh, hier riecht es aber gut, nach einem guten Herrenparfüm“.
Charlotte versuchte noch schnell den roten Teppich zu richten, nahm ein grünes Handtuch hoch und
stopfte es schnell zu ihren Putzsachen. Dabei stotterte sie verlegen:
„Das Parfüm ist von meinem Mann.“
„Sie brauchen für mich nicht aufräumen“, bemerkte Inga Mertens, während sie den Schaden an der Decke begutachtete. Ihre Augen gingen wach durch den Raum. Dabei sah sie auf der Spiegelablage ein bekanntes Damenparfüm und lächelte etwas verschmitzt. Den Schaden aufzunehmen ging wirklich schnell. Inga Mertens war in ihrem Beruf sehr gewissenhaft. Man konnte sich auf sie verlassen. Von der ALOE-Versicherung wurde sie gern in den Außendienst geschickt. Sie hatte schon manchen Betrug aufgedeckt. Hier hatte alles seine Richtigkeit. Der Obermieter hatte nur vergessen, das Wasser abzudrehen. Die Dame von der Versicherung ging nun endlich zur Tür. Charlotte war froh, sie loszuwerden. An der Tür drehte sie sich nochmal um, um sich zu verabschieden. Während sie das Büro musterte sagte sie:
„Jetzt habe ich einen schweren Gang vor mir“.
„Wo müssen Sie denn hin?“
„Zum Zahnarzt Dr. Kauk“, tippte dabei auf ihre Wange und verzog schmerzhaft ihr Gesicht.
Charlotte bemerkte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Hoffentlich hat sie keine Röntgenaugen
und kann Gedanken lesen, dachte sie und sagte höflich:
„Ach, das tut mir aber leid“.
Nachdem sie die Dame verabschiedet hatte, schaute sie sich nochmal im Büro um. Dabei sah sie eine kleine Ecke vom 50 Euro Schein aus dem Globus gucken. Wie ich diese selbstbewusste Frau einschätze, hatte sie das auch gesehen! Charlotte war ganz verwirrt. Sie setzte sich auf ihren Drehstuhl und atmete tief aus. Manchmal wünschte sie sich, alles hinter sich zu lassen um ein ganz einfaches Leben zu führen. Aber wie? Im Grunde genommen ging es Charlotte gut. Der Stress auf der Arbeit machte ihr nicht viel aus. Sie brauchte das, um nicht in ein tiefes Loch zu fallen. In der Woche war sie abends immer alleine. So machte es ihr nichts aus länger zu arbeiten. Zu Hause dachte sie mehr an Lars als an ihren Mann Dieter. Sie stellte sich vor, wie er mit seiner Frau den Abend verbrachte. Manchmal hielt sie es nicht mehr aus und ging bis zu seinem Haus. Wieder sah sie beide auf der Terrasse sitzen. Er schenkte seiner Frau Wein ein und berührte dabei ganz zärtlich ihren Arm.
Im Winter, es war schon dunkel, die Fenster hell erleuchtet, beobachtete sie, wie er mit seiner Frau in der Küche gemeinsam kochte. Sie blieb auch schon mal bis sie zu Bett gingen und das Licht löschten. Doch an diesen Abend hatte sie sich zu auffällig benommen. Lars ging nochmal an das Fenster, um es anzukippen. Dabei sah er, wie Charlotte noch schnell versuchte, sich zu verstecken. Als er beim nächsten Mal bei ihr war, ermahnte er sie:
„Tu´ das bitte nie wieder.“
Charlotte verstand sich damals selbst nicht mehr, aber zu sehen wie liebevoll er mit seiner Frau umging, tat ihr jedes Mal weh. Eigentlich dürfte sie nicht eifersüchtig sein. Sie hatte ja auch ihren Ehemann.
Charlotte besann sich auf ihre Öffnungszeit und bediente den Computer. Dabei sah sie am Telefon den Anrufbeantworter blinken. Sie drückte die Taste und hörte wie jemand mit verstellter Stimme aufgeregt ins Telefon röchelte:
„Betrug, alles Betrug. Ich werde mich rächen, Sie Miststück. Laufen Sie mir ja nicht über den Weg.“
Schon wieder, ärgerte sich Charlotte. Trotz ihrer Angst musste sie lächeln. Ordinäre Worte vermischt mit höflicher Anrede, das konnte nur einer sein, Baumeyer. Das war sein Spitzname. Er hieß in Wirklichkeit Meyer und hatte ein Baugeschäft. In letzter Zeit wurde sie öfter von ihm bedroht. Er beschäftigte illegal ausländische Arbeiter, versicherte die nicht und nach einem Unfall wollte der Geschädigte Geld von der Versicherung, aber nichts gab es. Im Gegenteil der Arbeiter sollte verhaftet werden. Baumeyer behauptete, es hätte alles seine Richtigkeit, nur sie von der Verbraucherzentrale hätte Schuld, wegen angeblich falscher Beratung und hetzte den Arbeiter noch auf; sodass sie auch von ihm bedroht wurde. Charlotte musste zu ihrer eigenen Sicherheit den Baumeyer anzeigen. Nun dachte sie, dass der Anruf nur von ihm sein konnte. Sie hatte in letzter Zeit schon mehrmals welche. Sonst hatte sie die immer gleich gelöscht, aber diesmal ließ sie ihn gespeichert. Vielleicht werde ich es doch mal der Polizei melden, nahm sie sich vor. An solchen Tagen wie diesen, bekam sie immer Sehnsucht danach ein paar Worte mit ihrem Mann Dieter zu wechseln. Sie musste dies tun, bevor sie ihre Zentrale öffnete. Denn wenn erst mal geöffnet war, kam sie nicht mehr dazu. Außerdem wollte sie wissen, ob er am Sonntagabend gut in Frankfurt angekommen war und dann noch fragen, ob er Lust hatte, die Tanzstunde mitzumachen. Normalerweise meldete er sich gleich nach der Ankunft. Dass er dieses Mal nicht anrief, beunruhigte sie ebenfalls ein wenig. Vielleicht hatte er gestern auch noch Töchterchen Laura getroffen. Es kam vor, wenn er Sonntag nach Frankfurt fuhr, dass sie dann abends zum Essen gingen. Von ihm zu hören, wie es ihr ging, war immer glaubwürdiger, als wenn Charlotte sie fragte. Die Antwort war immer dieselbe:
„Es geht mir gut.“
Sie belastete nicht gern ihre Mutter mit ihren Problemen. Auf diese Entfernung konnte sie sowieso nicht helfen. Charlotte wählte die Festnetznummer vom Büro ihres Mannes. Es meldete sich auch gleich seine Sekretärin Frau Schuster, eine nette ältere Dame. Sie gehörte schon fast zur Familie. Er hatte in ihr eine Vertrauensperson gefunden, die auch schon mal ein Hemd bügelte oder ein neues für ihn kaufte.
„Was ist passiert?“ rief Frau Schuster in den Hörer.
„Nichts“, antwortete Charlotte. „Ich möchte gern meinen Mann sprechen.“
„Wieso? Der kommt doch heute später,“ reagierte Frau Schuster überrascht.
„Er ist wohl nicht im Büro?“
„Nein, er sagte mir, dass er heute später nach Frankfurt kommen würde, wegen einer dringenden Familienangelegenheit. Das habe ich Ihrer Tochter Laura auch schon gesagt. Sie hatte auch gerade angerufen.“
Charlotte war ganz verwirrt:
„Welche dringende Familienangelegenheit? Das wüsste ich doch.“
„Mehr weiß ich auch nicht, tut mir leid Frau Hehl.“
„Danke Frau Schuster, vielleicht habe ich was verpasst“, flüsterte Charlotte verlegen und legte auf. Jetzt war sie ganz durcheinander. Nachdem sie ein paarmal durch den Raum lief, besann sie sich und öffnete ihr Büro. Ihre Kunden merkten nichts von ihrer inneren Unruhe. Die Beratungen führte sie alle fachgerecht und souverän durch. Später als ein bisschen Ruhe einkehrte, wählte sie die Handynummer ihres Mannes. Meistens versuchte sie ihn auf dem Handy zu erreichen. Er hatte ihr das so mal geraten, damit sie bei keinem wichtigen Gespräch störte. Zurückrufen würde er auf jeden Fall. Diesmal war sie so in Sorge, dass sie gleich mehrmals seine Nummer wählte, weil er nicht dran ging. Dann dachte sie, jetzt reicht es, was mache ich denn, er sieht doch auf dem Display, dass ich ihn sprechen will. Laura hatte sich inzwischen auch bei ihr gemeldet und wollte von ihr wissen was los wäre. Bei ihrer Tochter tat sie so, als hätte sie vergessen, dass Dieter dienstlich unterwegs war. Nur Frau Schuster sollte von dem eventuell neuen Geschäftspartner nichts wissen und jedem sagen, er wäre privat unterwegs. Charlotte wollte ihre Tochter nicht belasten. Sie dachte mit einer Notlüge wäre alles gut. Am späten Nachmittag rief plötzlich Dieter zurück:
„Hallo Schatz, was ist? Ich war in einer Besprechung, darum konnte ich nicht gleich zurückrufen“, sagte er wie selbstverständlich. Charlotte dachte, sie träumte und verriet ihm nicht, dass sie schon mit Frau Schuster gesprochen hatte. Sie sagte nur:
„Ach, ich wollte Dir nur sagen, dass ich mich jetzt schon auf das nächste Wochenende mit Dir freue und Dich fragen ob Du Lust hast, wieder bei der Tanzstunde mitzumachen? Es ist eine Wiederholung. Susanne und Christian kommen auch mit. Hier ist doch sonst samstags nichts los.“
„Da machst Du so ein Theater. Ich habe mir große Sorgen gemacht, als ich sah, dass Du immer wieder gewählt hast.“
„Entschuldige“, antwortete sie kleinlaut.
Sie war über seine Lüge überrascht, aber sie wollte sich das nicht anmerken lassen.
„Du brauchst Dich nicht entschuldigen. Ich liebe Dich doch. Klar gehen wir mit.“
„Ich Dich auch,“ antwortete sie mechanisch. „Dann bis Freitag, Küsschen, mach`s gut.“
„Ja, bis Freitag, einen dicken Kuss auch von mir, Tschüss.“
Charlotte wusste nicht, was das bedeutet. Ob sie jetzt eifersüchtig sein sollte? Hatte er ein Verhältnis? Eifersüchtig durfte sie eigentlich nicht sein, ermahnte sie sich wieder selbst.
Es war schon nach 19 Uhr. Charlotte beschloss nun endlich Feierabend zumachen. In dem Moment, als sie sich das vornahm spürte sie eine Müdigkeit aufkommen und dachte, frische Luft täte ihr jetzt gut. Draußen wurde es langsam dämmrig. Ende September fiel schon kräftig das Laub. Nach einem trockenen Sommer war der Herbst voll im Gange. Auf dem Weg nach Hause wollte sie einen kleinen Umweg machen. Sie wohnte in der verlängerten Wilhelmstraße, dort standen noch gut erhaltene Villen. Eine davon gehörte ihr. Es war das Erbe ihrer Großeltern. Ihr Opa 1908 geboren, war Rektor an der damaligen Jungenschule. Jetzt Realschule und zu DDR-Zeiten war sie eine Polytechnische Oberschule. Dort ging sie zehn Jahre machte dann ihren Abschluss. Auch die Eltern von Charlotte waren beide Lehrer. Sie waren an der Erweiterten Oberschule und bedauerten natürlich sehr, dass ihre einzige Tochter kein Abitur machte. Später waren sie wieder ausgesöhnt, als sie sahen, man konnte auch ohne seinen Weg gehen. Jetzt waren sie rüstige Rentner und immer auf Reisen. Sie sagten:
„So lange es uns gut geht, müssen wir die Zeit nutzen.“
Sie kauften als Rentner eine schöne Eigentumswohnung. Charlotte schaute öfters nach, ob noch alles in Ordnung war. Sie als einzige Tochter wurde immer gut behütet, was ihr manchmal sogar zu viel war. Deswegen wollte sie auch damals schnell auf eigenen Beinen stehen. Nur Geldsorgen hatte sie nie kennengelernt, was bei ihrem Mann Dieter genau das Gegenteil war. Seine Eltern hatte er schon früh verloren. Er war damals neun Jahre alt. Nachdem er erst in der Verwandtschaft herum gereicht wurde und mehr Zeit auf der Straße verbrachte, als er durfte, kam er in ein Waisenhaus. Manchmal dachte Charlotte das Umtriebige steckte noch immer in ihm. Er war bestimmt auch deshalb nach Frankfurt gegangen. Dort konnte er seine Freiheitsliebe ausleben. Sie hatten sich sehr jung kennen gelernt. Ihre Eltern nahmen ihn auf, wie ihren eigenen Sohn. Somit konnte er mit ihrer finanziellen Hilfe studieren. Sie wollten, dass es ihrer Tochter mal gut ging.
Charlotte merkte, dass ihre Füße, sie in Richtung Heinrich-Heine-Park brachten. Der Park war sie grüne Lunge in diesem Kurort, welcher zudem von zwei Seiten mit Wald umschlossen war. Bewusst atmete sie tief aus und wieder frische Luft ein. Das machte sie öfter auf dem Nachhauseweg. Das Rascheln des Laubes genoss sie ebenfalls sehr. Es trug zu ihrer Entspannung bei. Aber diesmal stockte sie plötzlich, es raschelte auch hinter ihr. Sie drehte sich um und vermutete einen Jogger. Nein, niemand war zu sehen. Ganz weit vorn sah sie einen Spaziergänger mit seinem Hund. Das tröstete sie etwas. Die Dunkelheit brach schnell herein, damit hatte sie nicht gerechnet. Durch Bäume und Sträucher wirkte alles unheimlich. Das mache ich nie wieder und gehe hier um diese Uhrzeit im Herbst, dachte sie ängstlich. Charlotte wurde immer schneller. Sie hörte wieder ein Rascheln, ganz ungleich mit ihren Schritten. Wenn sie stehen blieb, war wieder alles still. Ihr blieb nur ein Gedanke, jetzt ganz schnell rennen. Erst als sie die ersten Häuser von der Gartenstraße sah, ging sie völlig außer Atem langsam. Jetzt war sie wieder in der Gartenstraße, wo Dr. Lars Kauk wohnte. Irgendwie ging sie automatisch weiter bis zu seinem Haus. Seine Drohung hatte sie einfach ignoriert. Sie war der Meinung, dass sie auch ein Recht auf ihn hatte. Jedenfalls hatte sie ihn an diesem Morgen erst glücklich gemacht und er sie. In diesem Moment ging das Gartentor auf. Da sah sie ihn, neben sich seine Frau, raus auf die Straße fahren. Damit hatte sie nicht gerechnet. Charlotte konnte noch sehen, dass beide ganz schick angezogen waren. Sie wäre am liebsten in den Erdboden versunken. Darum bückte sie sich schnell zu ihren Schuhen und tat so, als hätte sie Probleme mit einem Absatz. Dann schaute sie hinterher und sah noch, wie seine Frau sich umdrehte und dabei heftig diskutierte. Oje, weiß sie was und hatte er deswegen gedroht, fragte sich Charlotte erschrocken.
Nachdenklich ging sie nach Hause. Des Öfteren drehte sie sich um. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie jemand verfolgte. Zu Hause ging sie erst mal durch alle Zimmer und schaute ob die Fenster im Parterre und der Keller gut verschlossen waren. Ein Kellerfenster war nur angelehnt. Sie schloss es und ärgerte sich nicht schon den Abend vorher kontrolliert zu haben. Wenn Dieter zu Hause war, interessierte sie das nicht. Alleine fühlte sie sich die ersten paar Tage nicht ganz wohl. Wenn sie sich daran gewöhnt hatte, dann kam er schon wieder. Nach dieser Kontrolle machte sie es sich bequem. Das Haus hatte sie sehr geschmackvoll eingerichtet. In der Diele und im Esszimmer waren antike Möbel ihrer Großeltern, die sie mit moderne erweiterte. Es gab auch noch ein Raucherzimmer mit dem sogenannten Rauchertischchen, gemütliche Ledersessel und einer Vitrine. In der Vitrine befand sich eine Sammlung alter Pfeifen aus verschiedenen Ländern. Früher war es der ganze Stolz und Rückzugsort ihres Großvaters. Jetzt nutzte sie das Zimmer, um ab und zu eine Zigarette zu rauchen. Dieter wurde jedes Mal böse, wenn sie rauchte. Er sagte ihr dann immer, wie ekelig ihre Küsse dann schmeckten und Falten bekäme man auch schneller. In der Woche, wenn sie alleine war, dann konnte sie machen, was sie wollte. Ihre alte Plattensammlung befand sich auch dort. Nach Stimmung hörte sie von Karat bis Klassik. An diesen Abend entschied sie sich für Vivaldi „Vier Jahreszeiten“. Bei dieser Musik konnte sie gut entspannen. Nachdem sie etwas gegessen hatte, schenkte sie sich aus der angefangenen Flasche Rotwein ein und zündete sich dann eine Zigarette an. Diesmal kann ich mich gut entspannen, dachte sie noch. Sie hatte das Gefühl, als würde sie schweben und bekam Lust nach der Musik von Vivaldi zu tanzen. Während des Tanzens wurde ihr ganz schwindelig und schwarz vor den Augen. Sie spürte nicht mehr den Schlag mit dem Kopf auf das Rauchertischen. Die Schallplatte spielte weiter bis zum Ende. Charlotte bekam nichts mehr mit.
Sie war tot.