Читать книгу Schottisches Feuer und englische Anmut - Band 1 - Giulianna G. Bailie - Страница 6
ОглавлениеKapitel 1
1512, London, Nordufer der Themse
„Hast du wenigstens eine Arbeitsbestätigung?“ Stille „Das ist das Haus der Archers, denkste ich lasse hier einfach jeden streunenden Hund ein?!!“ Die vermummte Gestalt wich vor der zuknallenden Tür zurück und drängte sich wieder in die Ansammlung der Londoner Meute. Es war wie immer zu dieser Jahreszeit, eisig kalt und der Regen liess einfach nie nach. Die Gestalt drückte sich durch die Menschenmassen, bis sie in eine Zwischenstrasse gelang, die hinunter zur London Bridge führte. Es dunkelte bereits. Das vermummte Geschöpf setzte sich bei den Pfeilern der Brücke auf einen ausrangierten Holzstuhl und begrub das Gesicht in Händen. Ja es war eine vollkommen lächerliche Idee gewesen ohne jegliches Zeugnis bei der Archer Familie anzufragen, sie hatte es eigentlich gewusst. Ein rascheln aus der Ecke liess sie aufschrecken
„Wer ist da?“ Klamme kalte Hände ergriffen ihr Herz. Panik stieg ihre Kehle hinauf und sie lauschte angespannt in die Dunkelheit. Hatte man sie gefunden? Waren sie ihr bis hierher gefolgt?! Ihr Atem floss stossweise über ihre ausgetrockneten Lippen. Sie zog ihre Augen zu schlitzen zusammen und versuchte in der Dunkelheit einen Umriss auszumachen. Die Zeit verrann und mit jeder einzelnen Sekunde in der Niemand aus einer zwielichtigen Ecke hinaus sprang, verringerte sich ihr Pochen. „Verdammt! Beruhige dich!“ schalt sie sich streng. Es würde ihr nicht helfen, wenn sie Gespenster sah, die nicht existierten! Es war ihr kein Wesen gefolgt und sie hatte bei Gott aufgepasst! Sie schluckte. Es musste eine Ratte oder sonst ein Tier gewesen sein, das sie aufgeschreckt hatte. Sie riss sich missmutig die Kapuze vom Gesicht und strich sich gedankenverloren durch die Haarsträhnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten. Sie hatte rückenlanges, schwarzbraunes Haar, das normalerweise als grosse schwere Locken ihr Gesicht umspielte. Seit sie unterwegs war, hatte sie es nie offen getragen. Zu riskant und zu leichtsinnig wäre es. Sie würde damit zu viel preisgeben, da die Dienstmädchen hier in der Umgebung Hauben trugen, um die Haarpracht vor gierigen Blicken zu schützen. Ein gurrendes Geräusch echote zwischen den Wänden. Ihr Magen! Sie hatte kein Essen gefunden, schon seit Tagen nicht. Auch ihr tiefer Seufzer konnte daran nichts ändern. Eigentlich konnte sie es sich nicht erlauben von ihrer eisernen Reserve etwas zu verbrauchen, aber einstweilen würde es ihr auch nicht helfen, wenn sie verhungerte. Sie schlich an ihr Versteck, tastete sich an den Mauersteinen entlang, bis sie einen fand, der leicht nach innen gewandt war. Sie zog an ihm und der Stein löste sich kratzend aus seiner Halterung. Im halbdunklen ertastete ihre Hand einen Fetzen Pergament, sie umklammerte es. Es war noch da. Sie löste sich leicht zitternd davon und ihre Finger strichen über den Boden der staubigen Nische. „Ahh“ ein kleiner Lederbeutel, nicht schwer, wiegte in ihrer Hand. Sie nahm ihn an sich, löste die ledernen Bänder und sah hinein. Einige wenige Münzen glitzerten ihr entgegen. Sie ergriff einige und schnürte den Beutel rasch wieder zu. Sie vergewisserte sich, dass der Stein nicht allzu auffällig in der Wand steckte. Rasch verstaute sie ihren grossen Beutel unter dem Unrat und stieg wieder hinauf. Die Nacht war nun vollends über London hereingebrochen. Sie stapfte über die Pflastersteine und die Strassen, die nun fast keine Besucher mehr trugen. Zu dieser Tageszeit waren die Docks gefährlich. Sie hastete den Weg entlang und wenn sie Männer schon von weitem hörte, presste sie sich ganz dicht an eine Hauswand und wartete bis sie vorbeigezogen waren. Sie war wenig erpicht auf solche Gestalten zu treffen, davon hatte sie schon genügend unangenehme Begegnungen erlebt. Sie bog um eine Ecke und sah von weitem die Taverne wolf claws. Als sie die Taverne erreicht hatte, wurden soeben die Öllampen angezündet. Die Tür schwang weit auf und drei betrunkene Vagabunden torkelten aus der vollen Taverne. Sie hatten die Arme um die Schultern ihres Nachbarn gelegt und sangen ein wollüstiges Lied
„Jaa wenn nee holde Maid dich bitt, dann zögreee nicht, dann zöögre nicht“. Einer der Männer blieb stehen, sodass die ganze Gruppe zu schwanken begann und erhob seine Stimme „so halt das Weib und reit es zuuu“. Die beiden anderen Männer brachen in schallendes Gelächter aus. Sie wackelten weiter und wurden schliesslich von der Nacht verschluckt. Der Geruch von Gebratenem stieg ihr in die Nase und brachte ihren Magen zum Rebellieren. Das letzte Mahl lag schon einige Zeit zurück und man konnte es eigentlich nicht als Mahlzeit, eher als Brotkruste bezeichnen. Schnell lief sie zu der noch offenen Tür und drängte sich hinein. Die Luft war von Rauch und Schweiss geschwängert und kratzte sie im Hals. Die Wirtin scheuerte das Feuer noch mehr an und hängte einen grossen Messingtopf über die züngelnden Flammen. Das Mädchen steuerte auf einen Tisch zu, der in einer dunklen Ecke stand. Bisher hatte sie immer vorlieb mit diesem Platz genommen, denn von dort aus hatte man die ganze Absteige im Blick, wurde aber nicht gleich von jedem der Eintrat bemerkt. Wie immer war wolf claws vollgestopft mit Dienstboten, anderen Hausangestellten und Vagabunden. Hierhin würde sich wohl kaum ein edler Herr verirren. Nein, für das edle Geschlecht wäre dies nichts weiter als eine gewöhnliche Spelunke, indem sich Gesindel aufhält. Und genau das war ihr gerade recht. Mona, die Wirtin kam auf sie zu
„Na klenes, was möchtest den heut? Hast aber diesmal Münzen dabei, ich kann dich nämlich nich nochmal für uns schuften lassen. Des würd menem Harry gar nich gefallen“. Sie besass einen starken germanischen Akzent und kratzte sich verlegen am Kinn, wo eine daumengrosse Warze war.
„Oh nein nein, dieses Mal habe ich Münzen. Ich nehme das Billigste und ein Laib Brot zum Mitnehmen“ sagte sie. Mona schenkte ihr ein Lächeln und meinte
„Jut wir habn heut Haferschleim und den Laib bringt ich dir denn“. Mona drehte sich um und verschwand schwankend in Richtung Küche. Sie war eine rundliche, kleine Frau mittleren Alters. Hatte blondes strohiges Haar, welches unter ihrer Haube zusammengebunden war. Die wenigen Male in denen sie Mona gesehen hatte, war sie immer äusserst liebenswert gewesen. Bei ihrer letzten Begegnung hatte Mona sie sogar ohne Bezahlung essen lassen, zum Ausgleich half sie ihr am Abend die Taverne zu säubern, bevor die Nachtruhe eintrat. Jetzt lehnte sie sich zurück und liess ihren Blick über die Menge gleiten. Zwei Dienstmädchen, die sie schon einmal hier gesehen hatte, kamen gerade in die Taverne und liefen auf einen Tisch in ihrer Nähe zu. Die eine war eine magere grosse Gestalt mit rotem Haar, welches sie mit ihrer Haube zurückgesteckt hatte. Die andere, sie hiess Dina, das wusste sie, war gleich gross wie sie, zirka fünfeinhalb Fuss und hatte braunes Haar, welches in vier Zöpfen um ihren Kopf geschlungen war.
„Ne wirklich Dina, du solltest dich schon was schämen, wir sollten uns nich von anderen bereichern“
„Ach komm tu nicht so, als würd es dich treffen, der alte tatter Greis bekommt eh nix mehr mit. Ich sags dir Cynthia ich sags dir, der machts nicht mehr lange. Wir müssen uns was anderes suchen, bevor er ins Gras beisst!“ Cynthia liess bei den letzten Worten einen kleinen Schrei los und bekreuzigte sich schnell. Dina warf Cynthia einen bösen Blick zu und rief dann Mona zu was sie gerne zu essen hätten. „Also“, fuhr Dina im selbem Tonfall fort „im Moment sind nicht gerade viele Dienstboten gefragt, vor allem nicht solche wie wir. Die feinen Herren wollen alle junges frischeres Fleisch und wenn man dann auch noch kein Zeugnis hat, dann beäugen sie dich. Aber ich habe gehört, wie in der Grafschaft von Surrey Dienstboten gesucht werden und die zahlen auch einiges mehr für die Arbeit, aber man sollte sich beeilen… diese Möglichkeit ist vielleicht nicht lange da“. Cynthia, die bis anhin still Dina gelauscht hatte, bekam grosse Augen
„Ne, bist du wahnsinnig! Ich habe Dinge gehört, da würden uns“
„Sooo klenes hier ist der Haferschleim“. Aus ihrem Lauschangriff gerissen, blinzelte sie ein wenig verdattert und sagte
„Danke Mona, hier die Münzen“
„Ne is jut das reicht schon“ sagte Mona, nahm nur die Hälfte und ging weiter. Mona war wirklich das liebenswerteste Geschöpf, dass ihr bisher begegnet war. Mona kam, so hatte sie gehört, vom Kontinent. Sie hatte dort länger für ein adliges Haus gearbeitet, doch dann seien ihren Herrschaften die Erben ausgegangen und somit ging der Besitz an den König. Dieser nutzte das Haus jedoch nicht und Mona konnte nicht darauf warten, bis neue Herrschaften einzogen und kam nach England.
„Also Cynthia“, nun hörte sie wieder das Gespräch der beiden Frauen und liess ihre Gedanken über Mona fallen „…was du tust ist mir dann egal, aber ich bleib nicht hier und verhungere und dann stirbt der Greis auch noch und dann?? Dann können wir einpacken. Das wird ja nicht das Tor zur Hölle sein! Sobald ich kann, werd ich nach Surrey gehen und mir eine tolle Anstellung sichern und du kannst ja weiterhin hier rumhocken“. Cynthia schüttelte nur ihren Kopf und fing an den Brei zu Löffeln, den auch ihr Mona hingestellt hatte. Tausend Gedanken schienen zeitgleich durch ihren Kopf zu rasen. War es möglich? Konnte sie diesem Geschwätz glauben schenken? Surrey... Sie wusste natürlich, dass dies eine englische Grafschaft war... nicht weit von hier. War dies das Zeichen, auf das sie gewartet hatte? Diese eine Möglichkeit? Sie könnte Geld verdienen und wenn sie genug hätte, konnte sie auf den Kontinent reisen. Ausserdem würde ihr die Zuflucht im Haus eines Peers die nötige Sicherheit verschaffen... Voller Euphorie löffelte sie den Brei aus, nahm den Laib Brot, winkte Mona zu und ging so schnell es möglich war Richtung Brücke, wo sie seit ihrer Ankunft in London hauste.
Die Sonne strahlte und weckte die kleine zusammen gerollte Fremde unter der Brücke. Sie streckte sich und gähnte herzhaft. Gemächlich drehte sie sich auf den Rücken und sah in Richtung Sonne. Was für ein schöner Morgen, dachte sie. Rasch stand sie auf, rückte ihre Hemden zurecht und begann ihren Beutel eilig zu packen. Sie riss den Mauerstein hinaus, klemmte ihren Münzbeutel unter ihr Mieder. In den grösseren warf sie einige Pence und Schilling, falls sie überfallen werden sollte konnte sie ihnen diese Münzen übergeben. Keiner würde Zweifel daran hegen, ob sie noch mehr besässe. Vorsichtig schob sie den Mauerstein zurück. Sie hatte sich genau überlegt, wie sie nun vorgehen sollte. Sie benötige auf jeden Fall ein neues Kleid. Sie sah an sich hinunter… zerrissene Träger, das Mieder war halb zu sehen und ihr Rock hing mehr in Fetzen von ihr herunter, als dass er noch ganz war. Wenn ich so bei der Grafschaft antrete, dann kann ich gleich wieder gehen, dachte sie verbittert. Sie nahm die Stufen zur Strasse hinauf und machte sich auf den Weg zum Stadtzentrum. Es war zwar ein kleiner Umweg, sie kannte die Schneiderin von früher aus einem ganz anderen Leben, doch sie war zuversichtlich, dass die Dame sie nicht erkennen würde. An einer Ecke, bevor sie zum Marktzentrum gelangte, blieb sie stehen und klopfte sich den Staub und den Dreck aus den Kleidern, wischte sich mit dem Seidentuch, welches sie unter ihrem Hemd versteckte, das Gesicht ab. Nach einem Blick in den Brunnen, sah sie, dass dies vergebens war und ging langsam auf den Laden der Schneiderin zu. Vor dem Schaufenster wagte sie einen Blick hinein, es schien sich niemand im Laden aufzuhalten. Sie nahm einen tiefen Atemzug und öffnete die aus Birkenholz gefertigte Ladentür. Der Laden hatte sich kaum verändert. Rundherum in den Regalen lagen die feinsten Stoffe von unterschiedlichster Qualität. Seide, Samt, Brokat, Leinen, Spitzen, Musselin, Wolle alles wovon eine Frau normalerweise träumte. Sie lief an den verschieden Regalen entlang und bewunderte die schönen Stoffe, selbstverständlich ohne sie mit ihren schmutzigen Fingern anzufassen.
„Bitte kann ich… dir helfen?“ Die skeptische Frage kam von einer Frau, die gerade hinter einer Tür hervor trat. Sie erkannte sie als eine der Helferinnen der Schneiderin
„Ich habe gerade die Stoffe bewundert“
„Ja sie sind sehr schön… und sehr teuer“ meinte die Frau argwöhnisch. Ihr entging die Anspielung nicht und deshalb sagte sie
„Oh natürlich, ich habe ein wenig gespart, um mir ein neues Gewand zu kaufen. Ich bräuchte ein ganz einfaches“. Ohne Umschweife ging die Frau zu einem der Regale nahm eine Rolle Stoff hinunter und sagte
„Das einzig billige, was wir an Stoff zu bieten haben, ist diese Art von Wolle. Sonst ist alles von bester und feinster Qualität!“
„Nora? Nora! Haben wir eine Kundin?“ kam es aus dem Raum hinter der Tür. Dann kam eine Frau von ungefähr dreissig Jahren durch die Tür. Sie hatte langes blondes Haar, welches sie offen über ihrem Rücken trug. Einen hellen Teint, hohe Wangenknochen und hellblaue Augen. Sie sah zuerst die Kundin und dann ihre Helferin Nora an.
„Madam, ich wollte sie nicht belästigen, es handelt sich nicht um eine Kundin. Sonst hätte ich sie bestimmt herbeigeholt“ meinte Nora kleinlaut und rasch, wobei sie einen Knicks machte.
„Das musst du mir erklären Nora, es handelt sich nicht um eine Kundin?“ Dann wandte sie sich an den Gast und meinte „Wollten sie bei uns etwas kaufen?“ Noch völlig verwirrt von der ganzen Situation antwortete sie
„Ja… ich wollte ein einfaches Kleid kaufen“. Die Frau lächelte sie an und sagte
„Mein Name ist Miss Elisabeth Beyron. Mir gehört diese Schneiderei und selbstverständlich finden wir etwas für sie. Wie ist ihr Name?“
„Mein Name ist Isa… Isobel… Mason… ich danke ihnen“. Miss Beyron lächelte und sagte
„Keine Ursache Miss Mason, wir werden schon etwas für sie finden“. Sie warf einen Blick über die Schulter und sagte „Nora geh bitte und bring mir Bertha, du kannst dafür an ihrer Arbeit weiter machen“. Nora nickte und verschwand in der Tür, in der kurze Zeit später Bertha auftauchte. Sie machte sich sofort an die Arbeit und nahm von Isobel Mason die Masse. „Miss Mason was haben sie sich vorgestellt?“ fragte Miss Beyron.
„Ich benötige ein Alltagskleid und vielleicht ein Sonntagskleid, wenn das Geld reicht. Wie viel verlangen sie für ein Kleidungsstück?“ Als Bertha mit dem Vermessen fertig war und alles auf ein Pergament gekritzelt hatte, ging sie in den Näherinnenraum zurück.
„Hmm lassen sie mich nachdenken, ein Alltagskleid ist nicht sehr teuer, das würde vierzig Pence kosten. Ich habe ein wunderbar warmes aus brauner Wolle und ich kann ihnen ein schönes Sonntagskleid aus einem bestehenden Modell aus der vorletzten Saison zaubern… diese alten Modelle müsste ich ihnen nur anpassen und möglicherweise“. Miss Beyron ging um sie herum „das eine oder andere Ergänzen. Geben sie mir fünfundsechzig Pence. Ich denke, das ist angemessen“. Sie sah Miss Beyron ungläubig an
„Angemessen?! Verzeihen sie mir Miss Beyron, doch das ist viel zu grosszügig. Ich möchte nicht, dass sie das tun... Wolle, Spitze und Leinen wären viel mehr Wert. Selbst die Spitze alleine… “
„Kennen sie sich mit Stoffen aus, arbeiten sie als Näherin?“
„Nicht direkt, ich meine…“ stammelte sie, blickte weg und überflog nochmals die Regale.
„Gut dann hätten wir das geklärt. Ich denke sie schlüpfen hinten rasch in die beiden Kleider, die ich in meinem Kopf habe und dann stecke ich sie ab. Ich bezweifle, dass ich lange dafür benötige… Die Saison beginnt erst und somit habe ich noch nicht viele Aufträge, die erledigt werden müssen“. Sie sah Miss Beyron in die Augen
„Nun dann bestehe ich darauf, dass ich ihnen so gut ich kann helfe“. Miss Beyron sah sie an und in ihren Augen funkelte ein Lachen
„Von mir aus. Bitte hier entlang“ sagte Miss Beyron und sie folgte ihr in den Näherinnenraum. Sie hatte es schon damals gewusst, Miss Beyron besass ein gutes Herz. Sie ergänzten die bestehenden Modelle mit weiteren Stoffen und die Schneiderin nähte die Kleider um, damit sie ihr nicht zu gross waren. Sie half die Fäden einzuziehen und die Stoffe zu zuschneiden. Sie konnte einen Knopf annähen, aber zu mehr sah sie sich nicht im Stande. Dies war wohl das erste Mal, dass sie sich dafür schämte keine Fertigkeiten in der Nähkunst zu besitzen. Kurz vor Mittag schloss Miss Beyron ihren Laden und schickte ihre beiden Helferinnen nachhause, somit waren nur noch sie und Miss Elisabeth Beyron in der Schneiderei. „Wissen sie Isobel… ich darf sie doch so nennen?“ Isobel Mason nickte etwas verlegen und blickte Miss Beyron an. Elisabeth Beyron erwiderte ihren Blick und sah dann wieder auf ihre Näharbeit „Nun… ich habe den leisen Verdacht, dass wir uns schon einmal begegnet sind. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass dies nicht ihr richtiger Name ist, jedoch spielt das keine Rolle. Ich mag sie und habe das Gefühl, dass sie eine Vertraute brauchen könnten, ist es nicht so?“ Miss Beyron hob ihren Blick erneut
„Da mögen sie recht haben, doch verzeihen sie mir mein… nun ja kleines Geheimnis. Falls sie sich unwohl fühlen, ich versichere ihnen ich begehe kein Verbrechen oder habe eines begangen. Es ist nur… manchmal gibt es nicht allzu viele Wege für eine Frau ihr Glück zu finden“ schloss sie und senkte ihre Augen. Miss Beyron lächelte
„Da erzählt ihr mir nichts neues Isobel. Ich weiss nur zu gut was sie meinen und glauben sie mir“ sie liess die Nadel niedersinken und berührte Isobel an ihrer rechten Hand „in mir haben sie eine Freundin. Sie brauchen ihren Schmerz nicht alleine zu tragen. Sie sind wie ich, als ich noch jung war. Sie wollen die Welt entdecken und kennen lernen. Doch nicht alles in ihr ist schön und manchmal auch zum Verzweifeln. Ich möchte nur, dass sie wissen, ich bin jederzeit für sie da und kann ihnen helfen Isobel“. Sie blickte Miss Elisabeth an
„Vielen Dank, das werde ich ihnen nicht vergessen“. Kurze Zeit später setzte Miss Beyron die letzte Nadel an und Isobel Mason konnte sich im Spiegel bewundern
„Es sieht wirklich fantastisch aus Miss Elisabeth! Sie haben wahre Wunderhände. Ich danke ihnen aus tiefstem Herzen“. Miss Beyron lächelte nur
„Es war mir eine Freude Miss Isobel Mason und wie ich ihnen sagte, wenn sie Hilfe brauchen, kommen sie zu mir“. Die falsche Miss Mason nickte dankend und nahm Miss Beyron in die Arme. Sie konnte Elisabeth nicht der Gefahr aussetzen. Er würde alles und jeden niedermetzeln, wenn er nur einen winzigen Schimmer einer Lüge entdecken würde. Nein, es waren schon genug Menschen für sie gestorben. Miss Beyron lächelte und reichte ihr ihren Leinensack. Sie packte die beiden Kleider in ihren abgenutzten Sack und übergab ihr die fünfundsechzig Pence. Sie trat durch die Tür nach draussen. Sie richtete ihre Augen auf den Horizont und kannte ab da nur noch eine Richtung. Das Dringlichste war allerdings ihre Geschichte. Sie sollte sich eine plausible Vergangenheit ausdenken und allem voran einen passableren Namen. Es war ziemlich brenzlig bei Miss Beyron geworden! Wie kam sie denn nur auf diesen Namen… Isobel... heutzutage hiess doch niemand mehr Isobel! Wenn du in Surrey bist, dann dürfen keine Fehler mehr vorkommen! Es darf mir niemand ansehen, dass etwas nicht stimmt! Ich bin jetzt ein Dienstmädchen! Marterte sie sich selbst in den Kopf. Sie lief weiter. Sie befand sich auf der direkten Landstrasse nach Surrey. Die Reise würde bis in die Nacht dauern. Doch sie wollte soweit es ging vorankommen. Vermutlich würde sie sich im Gestrüpp einen Unterschlupf suchen und erst am nächsten Tag der Familie gegenübertreten. Es war später Nachmittag als sie sich an den Strassenrand setzte und den Laib Brot aus einem ihrer Beutel hervor grub. Ihre Füsse schmerzten und zwei ihrer Blasen waren aufgeplatzt. Sie massierte ihre Füsse und verspeiste die Hälfte des Laibes. Sie sass erst etwa zehn Minuten an dieser Stelle als sie Reiter hörte. Es musste eine ganze Gruppe von Reitern sein. Sie kamen immer näher und ein ungutes Gefühl beschlich sie. Aus reinem Reflex zog sie ihre Kapuze tief ins Gesicht und richtete ihren Blick auf den Boden. Die Reiter kamen aus dem Wald links vor ihr. Sie warf einen Blick auf die berittene Truppe. Es waren bewaffnete Männer. Als der Vorderste von ihnen die Gestalt am Boden entdeckte, verfiel er in Schritt mit seinem Pferd und ritt auf die Gestalt zu. Ihr wurde es flau im Magen. Dieses Wappen war ihr zu vertraut! Zwei schwarze Keiler, die sich mit ihren Hauern verkeilt hatten und sich auf einem grüngrauen Hintergrund befanden. Der Mann auf dem Pferd kam näher
„He, du Weib! Woher kommst du?“ Sie zitterte, sie musste sich beherrschen und biss sich auf die Zunge. Wie konnte er es wagen! Dieser Abschaum! „Weib sprich, sonst blüht dir böses, meine Männer sind schon seit Tagen unterwegs“ er grinste seinen Männern zu. „Weisst du nicht, wer ich bin? Ich bin George Talbot, Earl of Westmorland“. Natürlich war er das! Wie immer hatte er grossen Mut ein wehrloses Wesen zu erniedrigen…. Dieser abscheuliche Feigling, schoss es ihr durch den Kopf.
„Habt erbarmen edler Herr, ich bin ein altes Weib“ sagte sie mit kratziger Stimme „ich komme aus Surrey und wollte im Wald Pilze sammeln“. Sie unterdrückte ihren aufkeimenden Zorn und ihre Angst, am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte sich auf diesen Nichtsnutz gestürzt und ihm die Kehle zugedrückt! Der Mann grunzte
„Sag mir, hast du hier in der letzten Zeit eine junge Dame gesehen, welche du nicht kennst?“
„Nein mein Herr, hab ich nicht. Meine Augen sind aber auch nicht mehr die Jüngsten“. Sie begann heftig zu husten und strich über ihre offenen, zerschundenen Füsse.
„Aahh“ meinte er angewidert „Kommt Männer, wer weiss was die Alte da für Seuchen hat. Reiten wir zurück, hierdurch ist sie bestimmt nicht“. Die Männer wendeten ihre Pferde und ritten in die Richtung zurück, woher sie gekommen waren. Vor Erleichterung liess sie sich rückwärts ins Gras fallen. Es war eine bescheuerte Idee gewesen den Weg nach Surrey zu gehen. Sie hätte für die gesamte Strecke eine Kutsche nehmen sollen. Doch nun lag sie da, im noch feuchten Gras und versuchte ihren Schock zu verdauen. Er suchte sie also auch in London und den umherliegenden Grafschaften. War sie denn nirgends vor diesem Kerl sicher?! Sie rappelte sich auf, nahm hastig ihre Sachen und rannte beinahe den Weg weiter nach Surrey.
Ein aller letzter Hügel lag noch vor ihr und dahinter befand sich die ersehnte Grafschaft. Der Nachmittag hatte sich dahingezogen und als sie über dem Hügel war, sah sie ein kleines Dorf und lief darauf zu. Es herrschte geschäftiges Treiben, Bauern und Handwerker gingen ihrer Arbeit nach. Vor dem Dorf stand ein Schild mit dem Namen der Stadt, sie hiess Spelthorne. Jetzt musste sie nur noch herausfinden, wo das Herrenhaus stand und sich gleich dort vorstellen. Sie sah eine Taverne die Georges hiess und ging auf sie zu. Als sie drinnen war, ging sie zu einer Bank und stellte dort ihren Leinensack ab, dann trat sie an die Schenke. Der Wirt hob den Blick und fragte
„Auf der Durchreise? Was darfs den sein?“ Sie lächelte freundlich und sagte
„Nicht direkt, ich suche das Herrenhaus des Earls, ich möchte mich für eine Stelle vorstellen. Gerne ein Malzbier“
„Aha jemand der Sesshaft werden will hier, des ist gut. Wir haben nämlich zu wenig Mädchen hier. Ich bin Norman der Wirt in Spelthorne. Und das Herrenhaus befindet sich im Süden, in Surrey selbst. Wenn du wünschst, kann ich dich später mit meinem Karren mitnehmen. Muss noch etwas abliefern“
„Welch glückliche Fügung, ähm ich meine… sehr gut, ich bin nämlich schon eine Weile unterwegs“. Sie setzte sich an die Schenke, nippte an ihrem Malzbier und versuchte ihr Mienenspiel unter Kontrolle zu behalten. Sie wollte nicht, dass Norman ihren Gefühlsausbruch sah und sich wunderte. So wenig Aufmerksamkeit wie nur irgend möglich war ihre Devise. Der Wirt verschwand in der Küche, um noch einige Arbeiten zu erledigen. Sie wandte sich um und begutachtete Georges. Diese Taverne war viel edler, als jene in London, wo Mona arbeitete. Sie hatte reiche Holzschnitzereien in Tischen, Stühlen und Bänken. Es gab gar einige Fenster mit Glasscheiben. Das sah man in London nicht. Dort war die Taverne, im Vergleich, ein sumpfiges Loch. Hier war es äusserst sauber, der Boden war gewischt und keine Abfälle verzierten ihn. Auch keine Hunde, die am Boden nach Essensresten suchten. Das konnte nur bedeuten, dass Norman ein Wirt mit viel reicher Kundschaft war, wenn er sich so etwas leisten konnte. Sie stand auf und ging auf eines der Fenster zu, welches nach Süden zeigte. Sie sah Hügel, dahinter musste also Surrey selbst liegen. Sie hatte früher einiges über Surrey gehört. Sie kannte es, sie hatte es schon auf einer Landkarte gesehen und doch wusste sie praktisch nichts über den Earl und seine Familie. Die Sonne wanderte immer rascher Westwärts, es musste schon später Nachmittag sein, denn sie war an diesem Fenster fast nicht mehr zu sehen. Konnte sie überhaupt zu dieser Zeit noch bei den Herrschaften anfragen? Aber wo sollte sie sonst die Nacht verbringen? Sie konnte nur hoffen, dass Norman der Wirt nicht noch allzu lange brauchen würde. Als sie ihren Blick weiter über die Landschaft und die Leute gleiten liess, entdeckte sie eine kleine Dorfkirche. Sie blickte sich um, Norman würde ganz sicher noch eine Weile benötigen. Rasch verschwand sie aus der Taverne und ging über den Platz bis hin zur Kirche. Es war eine kleine Kapelle mit schönen weissen Wänden und einer grossen, dicken Eichenholztür, die der Kirche etwas Besonderes gab. Sie öffnete die schwere Tür und trat ein. Die Kirche war ebenso eindrücklich, wie zuvor die Taverne. Viele hölzerne Bänke mit verzierten Ecken und Kanten. Ganz zu vorderst der Altar und das Weihwasser. Hinter dem Altar prangerte eine riesige Fensterscheibe. So etwas hatte sie nicht einmal bei sich zuhause gesehen. Die einzelnen Quadrate der Fenster waren alle verziert, in den schimmernsten und grellsten Farben leuchteten sie einem entgegen. Sie musste sich zwingen den Mund geschlossen zu halten, doch dies fiel ihr äusserst schwer beim Anblick solchen Reichtums. Sie hatte einmal Jemanden davon erzählen hören, dass es weit weg von hier in Italien und Athen solch bewundernswerte Kirchen und Schlösser gab, aber sie hätte es sich in ihren kühnsten Phantasien niemals so ausmalen können. Ihre Augen forschten weiter und sogen alles auf. Riesige Engel auf Wolken zierten die Decke. Es musste unendlich viele Stunden Arbeit gekostet haben bis diese Kapelle fertig gestellt worden war. Auf der linken Seite des Altars stand ein kleines Podium für den Priester. Auf der Rechten waren Sitzecken für den Chor eingerichtet. Sie nahm in der ersten Reihe Platz und liess den Ort der Ruhe auf sich wirken.
Als sie wieder aus der Kapelle kam, ging die Sonne gerade unter. Schlendernd lief sie zur Taverne zurück, wo sich mittlerweile die ersten Gäste eingefunden hatten. Als sie eintrat drehten sich alle Gesichter zu ihr herum. In diesem Moment kam Norman hinter der Theke hervor
„Ah da bist du ja Mädchen. Ich wollte soeben los, bist du soweit?“ Sie nickte nur, griff nach ihren Beuteln und ging hinter Norman aus der Taverne. Draussen half er ihr ihre Sachen auf den Zugkarren zuladen. Das Pferd war bereits eingespannt. Norman sass vorne auf dem kleinen Bock und sie setzte sich hinten zu ihrem Gepäck. Keine fünf Minuten später ruckelte das Gefährt los und sie liessen Spelthorne hinter sich. Der Karren wirkte unglaublich klein neben Norman und sie musste schmunzeln. Er war ein Koloss von einem Mann. Sie konnte sich gut vorstellen, dass kleine Kinder ihn für einen Riesen hielten! Er brauchte den ganzen Kutschbock und seine Kleidung spannte sich streng um seinen Rücken. Er hatte braunes schütteres Haar, in der Mitte des Kopfes hatte er bereits eine Glatze, die nun aber von einem Hut verdeckt wurde. Dafür hatte er aber einen äusserst beeindruckenden Vollbart im Gesicht. Obwohl seine äussere Erscheinung einem in Angst und Schrecken versetzen konnte, merkte sie rasch, dass Norman ein liebenswürdiger Mann war. Trotz allem würde sie ihn lieber nicht wütend erwischen wollen. „Wir werden so in zweieinhalb Stunden dort ankommen. Wie ist eigentlich euer Name?“ fragte Norman. Ihr blieb das Herz für eine Sekunde stehen, sie hatte sich immer noch keine Gedanken zu ihrer Geschichte gemacht! Was sollte sie bloss sagen...?
„Ich heisse Rose… Rose Grey“. Sie hatte sich also entschieden ihren zweiten Namen zu nennen. Sie versuchte ihre Gedanken zu beruhigen, die Alarm schlugen. Niemand würde hier ihren zweiten Namen kennen und wer würde schon auf den Gedanken kommen, dass sie sich als Dienstmagd und hier in Surrey verstecken würde?! Jetzt wo es dunkel wurde, merkte man die Kälte, die einem die Glieder empor kroch. Wenn sie nicht bei den Herrschaften arbeiten könnte, dann musste sie wohl oder übel irgendwo im Feld, oder vielleicht würden sie ihr erlauben im Stall zu schlafen?! „Ist das denn kein Hindernis, wenn ich zu dieser Zeit bei den Herrschaften Anfrage? Ich will sie nicht in den Abendstunden stören“ fragte sie, während sie noch immer halb überlegte, ob es falsch war ihren Namen zu nennen. Norman grollte
„Ach nein Rose, ich glaube die Herrschaften sind froh, wenn sie Hilfe bekommen“ und dann meinte er etwas ernster „ist im Moment keine einfache Zeit. Der alte Earl ist krank, keiner weiss wies um ihn steht. Seine Söhne sind extra von Weither angereist, um ihm beizustehen. Der Earl hat zwei Söhne und eine Tochter... Schlimme Sache, doch wir alle hoffen nur das Beste für die Familie“. So fuhren sie eine Zeit weiter. Norman erzählte noch einiges über die Landschaft von Surrey, aber bei der Familie hielt er sich rar. Rose hörte nur noch halb zu. In ihren Gedanken gestaltete sie ihre Geschichte bis ins Detail, damit auch nichts mehr dem Zufall überlassen werden musste. Nach kurzen zweieinhalb Stunden, fuhren sie die Auffahrt zum Herrenhaus hinauf. Es war überwältigend. Das Haus war einige Yards hoch und etliche lang. Die Fassade war dreistöckig und aus grauem Stein genauestens bearbeitet worden. Es zeigte den Stolz der Familie und natürlich ihren Reichtum. Über der grossen Doppelflügeltür hing das Wappen der Familie in Rot und Gold unterteilt und darauf ein grosser Löwe. Bei ungefähr zwei Yards fingen die ersten Fenster an, die alle so gross waren wie das Kappelenfenster. Das Haus stand auf einem kleinen Hügel, links hinunter ging es zu den grossangelegten Pferdeställen und rechts war eine hohe Mauer. Man konnte nicht erkennen was sich dahinter befand. Norman half ihr aus der Karre und sagte „Also Mädchen geh und hol dir eine Arbeit“. Sie sah Norman an
„Du musst nicht zu den Herrschaften?“
„Ich habe noch einen etwas weiteren Weg und stelle die Fässer für die Herrschaften so wie immer ab“ lächelte er sanft und zog seinen Hut.
„Ich bin dir äusserst dankbar Norman der Wirt. Ich werde mich irgendwann dafür revanchieren“
„Das kannst du schon jetzt tun. Gib das doch bitte dem jungen Lord Blackheat. Und bitte versprich mir, dass nur, ausschliesslich nur er dieses Paket erhält“. Norman sah sie eindringlich an. Rose nahm den versiegelten Umschlag
„Ja ich verspreche es, nur Lord Blackheat wird dieses Paket erhalten“
„Gut, also dann eine gute Nacht und ein herzliches Willkommen in Surrey“. Er winkte mit seinem Hut, dann ging er zum Karren, stieg auf und fuhr davon. Rose schaute ihm noch eine Zeit lang nach und drehte sich dann mit ihrem Leinensack, der langsam ein wenig zu schwer wurde, um und ging zur Haupttür des Hauses. Sie wollte gerade den grossen Türklopfer benutzen, als sie plötzlich ein seltsames Geräusch hinter sich vernahm. Ein Keuchen… nein eher ein Hecheln… es wurde deutlicher. Es war eher ein Knurren... Sie lauschte angestrengt. Nun hörte sie es ganz klar. Es war ein Knurren, eindeutig! Ein bedrohliches, zähnefletschendes Geräusch. Sie drehte sich hastig um und sah, dass von den Ställen her ein schwarzes Etwas, das diese Geräusche verursachte, auf sie zusteuerte. Rose stiess einen Schrei aus, liess alles was in ihrer Hand war fallen und floh in Richtung der Mauer. Sie rannte so schnell sie konnte dieser Mauer entlang und erst als sie am Ende angekommen war, entdeckte sie hinter den Ginsterbüschen eine Holztür. Ohne nachzudenken, bahnte sie sich einen Weg zwischen den Büschen hindurch. Die Äste kratzten über ihr Gesicht und zerrten an ihren Hemden. Sie gab sich grosse Mühe dieses kleine Stück, dass sie von der Tür trennte, noch zu überwinden. Bei der Tür angekommen rüttelte sie am Schloss und hämmerte dagegen. Sie schien verschlossen. Hastig warf sie einen Blick nach hinten, um zu sehen, wo das schwarze Etwas geblieben war. Sie sah es nur einige Schritte von ihr entfernt, wie es vor den Büschen lauerte und es langsam schleichend auf sie zukam. Schweiss rann ihr die Stirn hinab und sie versuchte ihre zitternden Hände unter Kontrolle zu bringen. Sie warf ihr gesamtes Gewicht gegen die Holztür
„Bitte geh auf!“ rief sie verzweifelt. Die plötzliche Leere vor ihr, liess sie straucheln. Die Tür war offen. Rose spurtete hinein und schmiss die Tür hinter sich ins Schloss. Der Riegel schnappte im Halter ein. Die Kreatur sprang wild gegen das Holz und keifte fürchterlich. Rose versuchte sich zu beruhigen und presste ihre rechte Hand auf das Herz, sie lief weiter rückwärts, liess die Augen nicht von der Holztür. Plötzlich stiess mit etwas hartem, grossem und warmen zusammen. Rose wirbelte herum, schlug und trat um sich, in der Hoffnung alles Mögliche zu treffen. Sie schrie auf, als das grosse harte Ding versuchte sich an ihr festzukrallen. Sie kratzte und biss, so dass sie sich befreien konnte und rannte weg in das Gebüsch das ihr am nächsten war. Es war so Dunkel, sie konnte nur schleierhafte Umrisse erkennen. Sie rannte immer weiter. Ihre Haare verfingen sich in den Ästen und öffneten ihren Zopf. Verzweifelt fragte sie sich, wie die schwarze Bestie nur hineingekommen war. Sie hatte die Tür doch sofort verrammt! Sie rannte weiter, Äste peitschten ihr ins Gesicht, zerkratzten ihre Arme, zerrissen ihr Kleid. Sie rannte über weichen Boden und stiess schliesslich mit einem Baum zusammen, stolperte über dessen Wurzel und fiel krachend zu Boden. Ihr Kopf drehte sich. Sie spürte die feuchte Erde auf ihrem Gesicht, die in ihren offenen Wunden brannte. Ihr tat alles weh. Es war zu viel! Wie hatte sie nur je glauben können, dass sie ein solches Leben überstehen würde?! Sie versuchte sich aufzurichten, doch jeder einzelne Knochen schmerzte unerbittlich. Sie spürte, wie sie all ihre Kraft verloren hatte. Eine Vibration auf der Erde liess ihre Gedanken verstummen. Sie wusste, dass das Etwas sie jetzt eingeholt hatte. Tränen rannen ihr über die Wange, wofür sie sich gleich wieder tadeln könnte. Wieso gab sie sich jetzt Tränen hin?! Sie durfte nicht schwach sein! Sie fühlte eine warme, harte… Hand?! War das möglich...? über ihren Kopf zu ihrem Hals hinab wandern. Die Hand hielt bei ihrer Halsader an und drückte darauf. Dann spürte sie, wie sich etwas über sie beugte, vor sie hinkniete und sie umdrehen wollte. Sie wagte nicht ihre Augen zu öffnen, doch das spielte sowieso keine Rolle, denn ihr Herz, so schien es ihr, klopfte ohnehin so laut, dass jeder es hören konnte. Das Wesen kam ihr ganz nah und öffnete mit einem Finger ihr linkes Augenlied. Nun war es mit der inneren Ruhe von Rose geschehen. Sie öffnete beide Augen und starrte in dunkelgraue, fast schwarz schimmernde Höhlen. Im ersten Moment sah sie nur diese beiden pechschwarzen Punkte, bevor sie den Rest, der noch dazu gehörte, erblickte. Eine markante Nase, harte Wangenknochen, die das Gesicht kraftvoll und fast einschüchternd aussehen liessen, erkannte sie nach und nach. Volle schwarze Wimpern und Augenbrauen, die mit dem schwarzen Haar, das ein wenig zerzaust wirkte, auf eine Art wunderbar harmonierten. Harmonierten?! War sie jetzt völlig übergeschnappt!? Wie konnten Augenbrauen harmonieren? Sie musste sich unweigerlich den Kopf gestossen haben… sie blinzelte, um den stechenden Augen auszuweichen. Dann sah sie ein Kinn und einen Hals, welche zu einem kräftigen Oberkörper mit breiten Schultern wurden. Rose wusste nicht, wie lange sie ihn so angestarrt hatte. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Ah verdammt“ wetterte sie und zog ihre Hand zu ihren Lippen, wo sie warmes Blut fühlte.
„Eigentlich hätte ich das Recht meinen Zorn laut zu äussern… was zum Teufel tut ihr zu dieser Zeit da draussen?!“ kam es von einer rauen männlichen Stimme. Rose achtete nicht auf ihn und richtete sich auf. Er erhob sich. Als auch Rose schliesslich stand, richtete sie endlich einen Blick auf den gesamten Mann. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Er war grösser als sie gedacht hatte, sicher fast sechseinhalb Fuss. Seine Kniebundhose zeigte deutlich seine kräftigen Schenkel. Rose liess denn Blick aber sofort wieder nach oben wandern und bemerkte, dass auch er sie musterte. Sie reckte ihren Rücken. Sie würde keine Schwäche preisgeben. Ihr Anblick musste ziemlich entsetzlich sein, voller Blut und Erde. Sie sah hinunter und begutachtete sich. Einige Schrammen an Armen und Gesicht konnte sie deutlich spüren, ihr Hemd war an einem Ärmel zerrissen und gab ein Stück ihrer feinen Haut frei. Sie zog an dem Stofflappen und hielt ihn fest. Der Hüne kam näher zu ihr, ihrer Meinung nach zu nah, sie konnte seinen Duft wahrnehmen. Sie atmete tief ein, klammerte sich an ihren Stofflappen und funkelte ihn zornig an. Sie schob ihr Kinn nach vorn. Sie würde auch dieses Hindernis meistern und diesem Lüstling klar zu verstehen geben, dass sie nicht eine dieser Damen sei. Er streckte seine Hand nach ihr aus. Sie presste ihren Kiefer aufeinander und schlug seine Hand entschlossen weg. Er kniff seine Augen zusammen und sah sie durchdringend an „Wollt ihr noch weiter, wie ein wildes Tier um euch schlagen oder kann ich mir jetzt eure Wunden ansehen?!“ meinte er bissig. Sie beäugte ihn misstrauisch, aber liess diesmal seine Hand an ihre Wunden. Er streifte mit seinen rauen Fingern über ihre Stirn und hielt erst bei ihrer Lippe inne. „Sie sind nicht tief, es muss nichts genäht werden. Ein wenig Wasser und Seife wird reichen“. Er taxierte sie scharf „Was wolltet ihr hier Draussen?“ meinte er vorwurfsvoll. Rose schnaubte und strich sich mit ihrer Hand über die Wange, wo Sekunden zuvor noch seine Hand geruht hatte. Was wollte er damit sagen, war es ihre Schuld, dass sie angegriffen worden war?!
„Danke für diesen überaus unfreundlichen Empfang!“ Sie klopfte ihren Rock aus. Erde und Staub wirbelten zu Boden „Ich hätte heute eigentlich beim Earl of Surrey, der Familie de Warenne, vorstellig werden sollen, aber so wie ich jetzt aussehe, kann ich mir das gleich aus dem Kopf schlagen! Vielen Dank, dass ihr mich durch dieses Gestrüpp gehetzt habt!“ Sie ging an ihm vorbei in die Richtung zurück, wo sie hergekommen war.
„Wohin gedenkt ihr zu gehen?“ sagte er eiskalt. Rose merkte, wie ihre Knie zitterten. Sie wappnete sich innerlich und meinte
„Na dorthin, wo ich hergekommen bin. Ich hoffe nur, dass bis morgen mein Gesicht wieder einigermassen ansehnlich wirkt“ meinte sie knapp. Sie ging weiter. Er schien ihr zu folgen
„Aber wo gedenkt ihr bitte zu nächtigen? Das nächste Dorf befindet sich zu Fuss eine Stunde entfernt und ihr würdet es sowieso nicht finden“. Sie blieb stehen und sah ihm in die Augen, ihre Wut schäumte nur so an die Oberfläche
„Denkt ihr das, weil ich eine Frau bin?! Seid versichert in meinen Knochen steckt mindestens so viel Mut wie in euren“ sie schien diese Worte beinahe auszuspeien. Wie konnte er! Solche selbstverliebten Männer, Engländer, kannte sie zu genüge. Sie ging auf die Holztür zu und wollte sie gerade öffnen, als er von hinten kam und die Tür zudrückte. Dabei presste er Rose mit dem Rücken an die Holztür und blieb ganz dicht bei ihr. Er machte einen tiefen Atemzug und sagte durch zusammengepresste Zähne
„Nein, ihr kennt euch hier nicht aus und es ist dunkel. Da Draussen ist es zu gefährlich“. Er schluckte und nahm Abstand von ihr „Bleibt hier! Ich werde sehen was ich für euch tun kann“. Er wollte sich gerade umdrehen, blickte aber nochmals in ihre Augen „Werdet ihr hier bleiben?“ Sie sog scharf die Luft ein und sah tief in seine beängstigenden Augen
„Ich… ich…“ ihr fielen keinerlei Widerworte ein… was konnte sie schon entgegnen? Dieses Etwas von einem Mann hatte leider recht. Sie kannte sich nicht aus und es war dunkel. Deshalb antwortete sie ausweichend „Meine Habseligkeiten liegen vor der Tür des Herrenhauses… ich kann sie nicht dort lassen“. Anscheinend schien er ihre ausweichende Antwort zu durchschauen
„Falls ihr morgen noch leben und nicht als kaltes Fleisch am Strassenrand enden wollt, dann hört ihr besser auf mich! Ich kümmere mich um eure Besitztümer“ meinte er genervt und entschwand in die Dunkelheit. Sie schluckte und fing an zu zittern. Sie sah, wie er im Schatten des Lichtes beim Herrenhaus wieder in Erscheinung trat. Erst langsam begann sie die Geschehnisse der letzten halben Stunde zu verarbeiten. Ihre Knie schwankten bedrohlich und sie setzte sich in die feuchte Wiese und wisperte leise zu sich selbst
„Ich bin nun in Sicherheit“. Sie sog die kühle Nachtluft in ihre Lungen.
Ω
Alexander ging die Stufen zum Herrenhaus hinauf und betrat das Foyer von der Gartenseite her. Er sah Carson, den Butler, geradewegs ins grosse Wohnzimmer gehen, als er ihm rief
„Carson, bitte holt doch vor der Haupttür die Taschen, welche bei der Treppe liegen müssten. Bringt sie in mein Gemach. Ausserdem sollten sie sich alle in Acht nehmen, denn wir haben wieder hundswütige Tiere. Informieren sie auch Elaine und meine Stiefmutter und veranlassen sie, dass heisses Wasser in die Wanne im Pavillon gebracht wird und das so schnell als möglich“. Er wollte erst ihr Gepäck inspizieren, bevor er sie in das Haus seines Vaters liess. Seine Gedanken gingen zu einer zarten Berührung an seinem Arm zurück. Er schloss seine Lider und sah grüne Augen, die einem, wie zwei Smaragde, entgegen funkelten. Schwarzes lockiges Haar und eine kleine gerade Nase. Nicht zu verachten war auch ihr Busen, so üppig und weich, der sich an ihn geschmiegt hatte, als er sie gegen die Holztür gedrückt hatte. Und wie sie sich geziert hatte, als er sie begutachtete. Er kannte ja diese Frauenwelt. Gott verfluchte er sie!
„Ahh da bist du ja mein lieber Bruder, ich hab gerade an dich gedacht“ sagte Rickard verschmitzt. Sein Bruder schlenderte gerade die Haupttreppe hinunter. Er war sein totales Gegenstück, von der Sohle bis zum Scheitel. Sein Haar war dunkelblond, seine Augen hatten eine satte Meeresfarbe und seine Züge waren weichromantisch. Ebenso seine Einstellung gegenüber Frauen. Er hatte bisher keine Dame kennengelernt, die sein Bruder nicht für sich gewonnen hätte. Das ging über verheiratete Ladies, bis hin zur normalen Dirne. Er war sich sicher, dass Rickard noch nie eine nicht um den Finger gewickelt hatte. Die, die sich zierten, hatte er innerhalb weniger Wochen in seinen Bann gezogen und dann legten sie sich zu seinen Füssen und taten alles für ihn. Ausserdem war Alec noch nie einer Frau begegnet, die nicht gleich Rickards Charme erlegen wäre. Sein Bruder tat das seinige, er konnte der süssen Verführung einer Frau nie standhalten. Jetzt hatte er jedoch keine Zeit für ihn
„Rickard, ich bin im Moment sehr beschäftigt. Wir können uns später unterhalten“
„Geschätzter Bruder, sei nicht immer so verstockt... Ich könnte dir einige Geschäfte abnehmen, damit auch ich mich in die Gesellschaft einfüge, wie unsere Stiefmutter es wünscht“. Er lachte seinen Bruder schelmisch an „Ach komm schon, was kann ich tun?“ Alexander erwiderte den Blick seines Bruders und sagte dann
„Von mir aus, die Gebiete im Nordosten von Surrey müsste man abreiten und sich bei den Bauern erkunden. Wir müssen auch den Stand der in soldatenfähigem Alter stehenden Männer überprüfen“
„Bruderherz ich werd mein Bestes geben“ sagte er mit einer ausholenden Verbeugung und ging an Alexander vorbei in Richtung Tür „Ich werde mich unverzüglich auf den Weg machen“
„Ach ja und wir haben wieder hundswütiges Vieh“
„Wird ebenfalls erledigt“ und Rickard verschwand mit Schalk auf dem Gesicht durch die Tür. Alec schüttelte resigniert den Kopf. Wie im Aussehen, so war sein Bruder ebenfalls im Charakter die andere Seite einer Münze. Die schön Glänzende wohl gemerkt. Manchmal fragte er sich, ob sie wirklich verwandt waren. Rickard schlängelte sich durch das Leben, beglückte reiche Witwen und kümmerte sich kaum um die Auswirkungen seiner Handlungen. Er hatte sich nie übermässig für den Wehrdienst interessiert und die Tatsache ein de Warenne zu sein, schützte ihn vor Repressalien. Natürlich verstärkte Alecs Engagement diesen Umstand noch. Er sah sich um. Er stand alleine in der Haupthalle. Die Stille dröhnte beinahe in seinen Ohren, doch das war in der letzten Zeit nicht ungewöhnlich. Einmal mehr übermannte ihn die Bitterkeit dieser Situation. Wie sehr er diesen Ort auch verfluchte, es war sein Zuhause und nichts würde ihn davon abhalten seine Pflicht, bis zum letzten Atemzug seines Vaters, zu erfüllen. Er schnaubte, jetzt hatte er dringenderes zu erledigen, nämlich diesen unwillkommenen Gast, der noch Draussen auf ihn wartete. Zu all seinem Überdruss wollte sie auch noch hier arbeiten. War sie wirklich aufgrund der Stelle gekommen oder wollte sie die Familie auskundschaften, so wie es etliche Dienstboten in der Vergangenheit versucht hatten? Er konnte sie allerdings nicht abweisen. Sie brauchten dringend Dienstboten, da sie kaum genügend hatten. Sie waren für das Haus eines Peers deutlich unterbesetzt. Es gab nur eine Möglichkeit. Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand Richtung Garten. Als er auf den Stufen stand, die in den Garten führten, konnte er keine Gestalt ausmachen. War sie gegangen, obwohl er sie gewarnt hatte?
„Wo seid ihr? Ich habe euch doch gesagt, dass ihr hier warten sollt!“ meinte er energisch. Hinter ihm kam jemand aus dem Schatten. Alexander drehte sich um und sah ihr in die Augen. Sie hatte also auf ihn gehört. „Ich konnte das Pavillon“ er zeigte auf ein Häuschen in der hinteren Ecke der grossangelegten Gartenanlage „für euch herrichten lassen. Benutzt es“. Sie sah ihn an und musterte ihn skeptisch. Abgesehen von seiner Sprache, würde sie ihn wohl kaum als Herren des Hauses erkennen. Seine Kleidung war heute zu einfach.
„Aber werden die Herrschaften nichts dagegen einzuwenden haben?“ Er wusste nicht warum, aber er wollte den Irrtum noch nicht aufklären und antwortete
„Nein. Sie werden nichts dergleichen ahnen. Stellt euch einfach morgen vor“. Sie sah ihn an und fragte
„Habt ihr für mich die Gartentür geöffnet?“ Er blickte sie an, drehte sich um, ging und blieb ihr eine Antwort schuldig
„Schlaft euch gut aus“ waren lediglich seine Worte.
Er stand schon eine Weile in der Tür, aber er bewegte sich nicht. Sie lag da, nur mit dem Tuch bedeckt und schlief tief und fest. Er hatte sich eingeredet, dass sie vielleicht Hilfe oder noch irgendetwas anderes benötigte. Obwohl er eigentlich keine Zeit für solche Sperenzien hatte, zog es ihn in den Pavillon zu diesem Geschöpf. Es beschäftigten ihn so viele Dinge, die er noch gar nicht zu ordnen vermochte. Sein Vater war schon lange unerklärlich Krank und gleichzeitig hatte er sich störrisch geweigert seinen Söhnen irgendwelche Aufgaben abzugeben. Dann gab es Momente in denen er beinahe so war, wie er seinen Vater nie mehr geglaubt hatte zu sehen. Seine Anfälle wurden jedoch stärker, so dass er kaum noch seine Gemächer verliess und sein tyrannischer Ruf bereits weit über London hinausging. Da hatte Alexander keine andere Wahl mehr gehabt. Er hätte es sich nie verziehen, wenn Surrey durch das Zutun seines Vaters untergegangen wäre. Er hatte richtig entschieden. Die Finanzen seines Vaters waren eine reine Katastrophe gewesen und es hatte ihn Wochen gekostet, um die Rechnungsbücher zu prüfen, zu korrigieren und die angehäuften Schulden zu tilgen. Leider hatte Rickard selbst noch nicht die Reife, diese Dinge zu übernehmen. Sie beide hatten vor nicht allzu langer Zeit noch keinen engen Kontakt gepflegt, doch Alexander hatte das eine oder andere Geflüster über seinen Bruder vernommen. Sie beide hatten wohl ihre missratene Kindheit auf zwei völlig verschiedene Arten gelernt zu vergessen. Alexander war dem Wehrdienst des Königs unterstellt. Er konnte und wollte nicht die Böden seines Vaters für alle Zeit übernehmen. Er hatte seine eigenen Ländereien und seinen eigenen Titel errungen. Er wollte damals eigentlich nichts mehr mit seinem Vater zu tun haben. Jetzt jedoch schien es mit seinem alten Herrn dem Ende zu zugehen. Trotz seiner Abneigung und dem Groll den er für seinen Vater empfand, hatte er es nicht fertig gebracht Surrey und seinem Vater endgültig den Rücken zu zukehren. Es war immerhin das Erbe einer sehr alten Familie. Deswegen, und nur deswegen, war er schon ein halbes Jahr hier. Er hatte alle Hundreds Surreys besucht und versucht den Agrarhandel anzutreiben. Soweit hatte auch alles funktioniert und er gewann das Vertrauen der Dörfler und der tüchtigen Bauern. Er seufzte resigniert. Genug der schweren Gedanken für heute, befahl er sich und schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. Er ging auf das Bett zu und blieb davorstehen. Sie hatte die Augen geschlossen und machte feine Atemzüge. Was hatte sie nur an sich? Irgendetwas… er war sich nicht sicher. Er lehnte sich zu ihr hinunter und schob sie sanft unter die Decken, bedeckte sie und zog dann das nasse Tuch weg. Sie musste nach dem Bad sofort eingeschlafen sein. Der Duft von Jasmin und Rose umhüllte ihn. Er sog diesen Duft tief in seine Brust. Es erinnerte ihn an glücklichere Tage hier in Surrey. Er sah zu ihr hinab. Die Decken umhüllten sie vollends und doch verharrte sein Blick auf ihren weiblichen Rundungen. In dem schwachen Schein des Mondes, der durch die Fenster brach, wirkte ihre Haut zerbrechlich. Ohne aktiv darüber nachgedacht zu haben, hatte er seine Hand ausgestreckt und berührte mit einer Fingerspitze ihre alabasterweisse Haut. Sie war so weich. Er fuhr mit dem Finger weiter über ihre zarten Lippen. Sie bewegte sich kurz und sagte etwas, was er nicht verstehen konnte. Eilig zog er seinen Finger weg, als hätte er sich verbrannt, drehte sich um und verliess den Pavillon. Er hätte nicht hierherkommen sollen! Welcher Teufel hatte ihn nur geritten?! War er den gar nicht mehr bei Sinnen! Wieso stand er nachts alleine hier im Pavillon bei diesem Mädchen?! Schon beim ersten Blick in ihre satt grünen Smaragde hatte er gespürt, wie sich tief in seinem Inneren etwas regte. Und das beunruhigte ihn zu tiefst. Er schüttelte seine Grübelei hastig ab, machte noch einen Kontrollgang durch den Garten und ging dann in den dritten Stock, wo sich sein Gemach befand. Er sollte sich nicht mit solchen Nebensächlichkeiten abgeben. In seinem Gemach lehnte er sich gegen die dicke Ahorntür und versuchte das Chaos in seinem Kopf zu ordnen. Das Feuer prasselte angenehm. Er stiess sich von der Tür ab und setzte sich auf seine Chaiselongue. Er nahm die Whisky Flasche von dem kleinen Tisch, goss sich ein Glas ein und trank es pur. Wann würde er jemals wieder eine Nacht ruhig und ohne Albträume verbringen können? Schoss es ihm bitter durch den Kopf. Seine Vergangenheit hier bei seinem Vater, dann jahrelang Krieg um seine Pflicht als Brite zu erfüllen. Die Jahre auf dem Schlachtfeld hatten ihre Narben auf seinem Körper, wie auch auf seiner Seele hinterlassen. Er konnte sich selten an einen einzelnen Mann erinnern, der vor seine Klinge gekommen war. Aber Gott behüte, es waren verdammt viele gewesen! Er goss sich ein weiteres Glas ein. Er lehnte sich zurück und schloss seine Augen. Im Krieg war alles erlaubt... Dieser Mann, zu dem er geworden war, zog ohne Zweifel für den König in den Krieg und würde den eigenen Tod in Kauf nehmen. Dieser Umstand machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, er sehnte ihn schon fast flehentlich herbei und wartete nur auf die Stunde und den Mann, der ihn in die Arme des Todes trieb. Zeit wäre es, dachte er bitter. Er trank das Glas mit kräftigen Schlucken aus und füllte es erneut. Was hatte er schon zu verlieren? Nichts… nicht mal einen Hund. Tief in sich verspürte er das Bedürfnis immer und jederzeit an vorderster Front zu stehen. Die Ruhe bevor die Schlacht losging, die vermisste er. Dieses Gefühl war unbeschreiblich und es schien ihm, als gäbe es ihn manchmal nur genau für diesen Moment und doch war da noch Carlisle. Je länger er hier zu verweilen schien, desto mehr formte sich in seinem Kopf ein anderes Ziel, als ausschliesslich Krieg. Er lehnte sich zurück und liess die Flüssigkeit in seinem Glas kreisen. Sein Blick wanderte im düsteren Raum umher. Bisher hatte er es nicht bemerkt, aber nun errang es seine Aufmerksamkeit. Links neben der Chaiselongue lagen ein Leinensack und ein kleines Paket auf dem Boden. Neugierig was dieses kleine Biest wohl mit sich rum trug, öffnete er den Leinensack. Ein Gewand aus brauner Wolle und ein etwas vornehmeres Kleid aus rosa Leinen und Spitze kamen zum Vorschein. Natürlich war dies kein Vergleich mit den feinen und äusserst vornehmen Kleidern der Damen in seiner Klasse. Sie trugen nur das Beste und Teuerste. Aber das rosa Leinenkleid hatte etwas persönlicheres. In diesem Kleid musste die Besitzerin strahlen und verlieh so dem Gewand das gewisse Etwas. Er hängte die Kleider über einen Stuhl und nahm dann einen kleinen Lederbeutel in die Hand. Darin waren nur Brot und etwas Silber. Nicht gerade viele Dinge, die das Mädchen mit sich herum trug. Auch wenn sie nicht viel besass, so hätte er doch erwartet einige persönlichere Dinge zwischen ihren Sachen zu entdecken. Alec legte den Lederbeutel weg und stutzte. Die meisten Personen, die mit so wenig unterwegs reisten, waren entweder Verbrecher oder auf der Flucht, was zugegebenermassen oft auf das gleiche hinauslief. Er griff nach dem kleinen Paket, welches am Boden lag. Es war mit einer Hanfschnur verschnürt worden. Alexander entschnürte es und öffnete die Verpackung. Darin kam etwas in Leder gewickeltes zum Vorschein. Er entfaltete es sachte. Ihm fiel eine juwelenbesetzte Halskette und eine Rolle Pergament in den Schoss. Ihm war sofort klar, wer dieses Paket geschickt haben musste. Er beachtete die Halskette kaum und entrollte das Pergament. Er hielt es näher an die Kerze bei seinem Nachttisch. Die Schrift war zierlich und schwungvoll auf das Pergament gebracht worden. Es waren nicht viele Zeilen, die geschrieben worden waren und so konnte er die Nachricht mit einem Blick überfliegen. Die Handschrift, erkannte er auf Anhieb.
My Lord,
Diese juwelenbesetzte Halskette ist in tadellosem Zustand und kann ohne weiteres noch etliche Jahre getragen werden. Die Exklusivität dieses Einzelstückes ist ihnen bereits bekannt. Ich rate ihnen dringlichst zu diesem Stück noch weitere einzelne Schmuckstücke zu erwerben, denn wie ich aus sicherer Quelle erfahren habe, sind weitere namhafte Lords des Nordens an solch exquisiten Kunstfertigkeiten interessiert. Ganz genau so, wie sie es vorausgesehen haben.
Von ihrem tiefsten und treuest ergebenen J
Auch wenn es ihm schon klar gewesen war, als er das Paket geöffnet hatte, so war er nun doch überrascht Jacksons Brief hier vorzufinden. Jackson war sein Oberster Offizier. Er schrieb immer in Rätseln zum Teil, weil es ihn belustigte, zum anderen, weil niemand ausser den Betroffenen eine Ahnung hatte, was damit gemeint sein könnte. Jeder Aussenstehende würde glauben, der Brief wäre an einen Lord gerichtet, der sich für kostbare Schätze interessierte und die unverschämt teure Kette trug das Ihrige zum Schwindel bei. Er liess das Pergament sinken und setzte sich auf seine Chaiselongue zurück. Er hatte also mit seiner Vermutung richtig gelegen… König Henry VIII wollte nun auch über den Thron von Schottland herrschen. Für ihn gab es praktisch nie ein anderes Thema. Der provisorische Frieden mit Schottland war nur dazu da, dass der König seine Heere neu aufrüsten konnte, um dann mit neuer Wucht zu versuchen in Richtung Schottland zu ziehen. Er wollte die Auld Alliance zwischen Frankreich und Schottland vernichten und so die Clans in die Knie zwingen. Die kleinen Kriege gegen Frankreich hatten nicht wirklich Erfolg gebracht. Ein paar kleine Landgewinne, aber nichts von grossem Wert. Aber woher zum Teufel hatte dieses Mädchen dieses Paket?! Hatte sie es gestohlen? War sie vielleicht eine Spionin? Er runzelte die Stirn, sie wirkte auf ihn allerdings nicht so als könnte sie einen ausgewachsenen Mann bezwingen und ihm ein Paket entwenden… Er würde die Augen offenhalten müssen. Das würde ihm gerade noch fehlen, ein Spion mitten im Haus seiner Familie! Er lehnte sich zurück und leerte ein weiteres Glas. Langsam setzte die vernebelnde Wirkung des Whiskys ein. Die Flasche stand fast leer auf dem Tischchen.