Читать книгу Butler Parker Staffel 12 – Kriminalroman - Günter Dönges - Страница 6
ОглавлениеSie lag in dekorativer Schönheit auf dem breiten Bett und wußte nicht, daß sie innerhalb der nächsten Minuten sterben sollte. Sie war fünfundzwanzig, groß, schlank und hatte langes, blondes Haar, das ihr schmales Gesicht umrahmte.
Die leichte Bettdecke hatte sich verschoben und gab den Blick frei auf das spitzengesäumte Nachthemd, das mehr als nur die Ansätze ihrer festen Brüste zeigte.
Der Tod kam in Gestalt einer unheimlichen Erscheinung. Diese war hager und trug einen schwarzen Umhang, der aus einem anderen Jahrhundert stammte. Das Gesicht flößte Grauen ein. Es war bleich und bestand aus Haut und Knochen und einem Augenpaar, von dem ein mörderisches Glühen ausging.
Die Erscheinung hatte das Fenster des Schlafzimmers hochgeschoben und verharrte einen Augenblick, als die junge Frau im Bett sich bewegte. Dann schlug der Tod den Umhang zur Seite und zeigte seine unwirklich langen Finger, die an die Beine einer Riesenspinne erinnerten. Auf leisen Sohlen näherte sich die graueneinflößende Gestalt dem Bett und beugte sich über ihr Opfer.
Die junge Frau schien instinktiv zu spüren, in welcher Gefahr sie sich befand. Sie wurde unruhig, fuhr mit der Hand übers Gesicht und … schrie plötzlich gellend. Dann starrte sie die Gestalt neben ihrem Bett an, streckte abwehrend die Arme aus, zog die Bettdecke hoch bis zum Hals, drückte sich mit den Füßen ab und schob sich gegen das Kopfende des Bettes zurück.
Die unheimliche Erscheinung blieb völlig unbeeindruckt.
Sie schien das Schreien und das hastige, fast erstickte Keuchen der jungen Frau überhaupt nicht zu hören. Die Erscheinung öffnete die eben noch fest zusammengepreßten Lippen, doch sie lächelte nicht. Sie entblößte nur lange spitze Reißzähne, die Zähne eines Vampirs!
»Nein, nein«, wimmerte die junge Frau mit versagender Stimme, »nein!«
Der Vampir griff nach der Bettdecke und riß sie vom Körper der jungen Frau, beugte sich weiter vor und streckte seine schrecklichen Hände nach ihr aus. Dann packte er ihre Schultern brutal und gierig, fand keinen Widerstand mehr und schlug seine Zähne in ihren Hals.
Genau in diesem Moment vernahm man eine sehr sachliche Stimme, laut und auch ein wenig verärgert.
»Stopp, ihr Lieben, das ist doch ausgemachter Käse! Das geht doch gar nicht unter die Haut. Von mir aus kannst du so dein Bier trinken, Rob aber als Vampir mußt du schon ’ne Portion mehr Blutdurst zeigen. Und du, May, könntest ruhig mehr Brust und Beine einsetzen, du weißt doch wie die Leute darauf reagieren!«
»Recht amüsant«, sagte Agatha Simpson und wandte sich an ihrer Butler. »Ich hoffe, Sie sind meiner Meinung, Mister Parker.«
»Wenn Mylady gestatten, möchte ich mir die Kühnheit herausnehmen und ein wenig anderer Ansicht sein«, gab Josuah Parker in seiner gemessenen Art zurück und deutete eine knappe, höfliche Verbeugung an.
»Natürlich, Sie müssen ja mal wie der opponieren«, raunzte die stets streitbare Dame, »aber dennoch, ich glaube, ich werde mich mal mit einem Drehbuch für einen Horrorfilm befassen. Ich fühle, daß mir solche Themen liegen.«
Lady Agatha und ihr Butler befanden sich in einer Ecke des großen Ateliers und hatten bisher den Aufnahmen zugesehen. Inzwischen war es Zeit für den Tee, und die Aufnahmen wurden unterbrochen. Die Schauspieler und das gesamte technische Personal beeilten sich, zu den bereits gefüllten Tassen zu kommen, die auf einem überdimensional großen Teewagen hereingerollt worden waren.
Der Vampir und sein Opfer standen einträchtig nebeneinander und unterhielten sich gerade über die Vorzüge und Nachteile eines neuen Automodells. Sie schienen sich, zumindest nach außen hin, recht gut zu verstehen und alberten miteinander. Der Biß des Vampirs war am Hals des attraktiven Opfers noch deutlich zu sehen, was aber niemand störte und unsicher machte. Schein und Sein gingen hier im Atelier nahtlos ineinander über.
Butler Parker hatte schweigend zur Kenntnis genommen, daß Lady Agatha gewillt war, einem neuen Hobby zu frönen. Sie arbeitete schon seit Monaten an ihrem ersten Krimi, mit dem sie eine gewisse Agatha Christie ausstechen und vom Markt fegen wollte. Sie war fest davon überzeugt, einen internationalen Bestseller zu fabrizieren, obwohl sie bisher über die erste Manuskriptseite noch nicht hinaus war.
»Ich bin froh, daß Sie endlich hier sind«, sagte der Vampir, der wie zufällig vor Lady Simpson und Butler Parker erschien.
»Sind Sie wieder belästigt worden?« erkundigte sich Agatha Simpson ungeniert laut.
»Bitte, etwas gedämpft«, bat der Vampir nervös. »Man könnte uns belauschen, Lady Simpson.«
»Wer?« fragte die streitbare Dame.
»Der Vampir«, erwiderte der Vampir, was irgendwie komisch wirkte.
»Darf ich davon ausgehen, daß Sie keiner Sinnestäuschung erlegen sind?« schaltete sich Butler Parker gemessen ein.
»Ich habe doch Augen im Kopf«, sagte der Vampir, »ich habe den Vampir deutlich gesehen. Er stand neben meinem Bett. Und als ich hochfuhr, streckte er seine Krallen nach mir aus.«
»Sie hätten ihm gegen das Schienbein treten sollen«, bemerkte die ältere Dame grimmig, »aber Sie werden es wahrscheinlich nicht getan haben.«
»Ich war wie versteinert«, gestand der Vampir, »ich war nicht fähig, auch nur einen Finger zu rühren, obwohl ich es wirklich wollte. Ich war wie gelähmt.«
»Und dennoch leben Sie erfreulicherweise«, warf Parker höflich ein.
»Reiner Zufall«, behauptete der Vampir, »als er mein Blut saugen wollte, erschien meine Haushälterin. Sie war durch das Klirren der Fensterscheibe geweckt worden. Als sie gegen die verschlossene Schlafzimmertür klopfte, ließ das grauenvolle Wesen von mir ab und verschwand«.
»Sie sind gebissen worden?« stellte der Butler die entscheidende Frage.
»Am Hals«, erwiderte der Vampir, mit versagender Stimme, »die Bißstelle ist noch genau zu sehen. Ich weiß, daß der Vampir in der kommenden Nacht wieder erscheint. Ich fühle es.«
»Ist es möglich und gestattet, sich die Bißstelle mal aus der Nähe anzusehen?« erkundigte sich Josuah Parker, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich muß gestehen, daß ich eine solche Wunde nur aus einschlägigen Filmen kenne.«
»Gleich in meiner Garderobe«, sagte der Vampir. »Werden Sie mich vor diesem Untier überhaupt schützen können?«
»Wir werden dem Vampir schon die Zähne ziehen«, versprach Lady Agatha gutmütig. »Sie sind sich doch hoffentlich klar darüber, daß man Sie auf den Arm nehmen will, oder?«
»Sie glauben nicht an Vampire?« staunte der Vampir sichtlich und sah Lady Simpson irritiert an.
»Nicht die Bohne«, versicherte die passionierte Detektivin ihm offen. »Das ist doch dummer Schnickschnack, mein Bester! So etwas gibt es nur in Horrorromanen.«
»Dann wissen Sie nicht, daß es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, von denen wir noch nicht mal etwas ahnen«, widersprach der Vampir. »Früher dachte ich kaum anders, doch seit einigen Tagen weiß ich genau, daß sie existieren!«
Agatha Simpson hatte keine Lust mehr, weiterhin im großen Atelier zu bleiben. Es zog sie zurück in die bequeme Kantine des Filmstudios, um bei einer Tasse Tee und einem doppelten Kognak den Aufriß einer Filmidee niederzuschreiben. Sie hatte diesen Stoff genau im Kopf und konnte es kaum erwarten, ihn in die passenden Worte umzusetzen.
Auf die Begleitung ihres Butlers hatte die exzentrische Dame verzichtet. Er solle im Atelier bleiben und sich die Leute unauffällig ansehen, die möglicherweise mit diesem Fall zu tun hatten. Zudem wollte Lady Simpson sich nicht ablenken lassen. Sie war sicher, daß sie die Idee diesmal packen konnte.
Die Detektivin erregte Aufsehen, als sie die Kantine betrat.
Obwohl in dem großen, düsteren Raum weibliche und männliche Filmkomparsen waren, die durchweg abenteuerlich gekleidet waren, obwohl diese Menschen kaum zu beeindrucken waren, schauten sie doch fast ohne Ausnahme und wie auf ein geheimes Kommando zur Tür.
Agatha Simpson erinnerte an eine Walküre aus einer Wagneroper. Sie war eine majestätische Erscheinung und kein Durchschnittsmensch, trug eines ihrer leicht ausgebeulten Chanel-Kostüme und dazu derbe Straßenschuhe. An ihrem linken Handgelenk baumelte der unvermeidliche Pompadour, in dem sich Myladys Glücksbringer befand, ein echtes Hufeisen, das sie allerdings aus Gründen der Humanität mit dünnem Schaumstoff umgeben hatte.
Auf großen Füßen und mit strammen Waden marschierte die kriegerische Dame zu einer Nische und schien sich jetzt eher einen Oberfeldwebel eines englischen Traditionsregiments zum Vorbild zu nehmen. Sie ließ sich am Tisch nieder, bestellte einen Tee und einen dreifachen Kognak. Nachdem sie ihren Kreislauf in Schwung gebracht hatte, zog sie ein ansehnliches Notizbuch aus der Tasche ihrer Kostümjacke und notierte sich den ersten Einfall. Das schwarze Buch enthielt ihre künstlerischen Einfälle, die sie stets niederschrieb, wenn ihr danach war, mochte es in ihrer näheren Umgebung auch noch so turbulent zugehen.
»Noch einen Wunsch, Madam?« erkundigte sich der Kellner, der sie beobachtet hatte.
»Stören Sie mich nicht, junger Mann«, fuhr sie ihn an, »sehen Sie nicht, daß ich arbeite?«
»Entschuldigung, Madam«, sagte der Kellner, der sich ängstlich zurückziehen wollte.
»Haben Sie sich gefälligst nicht so, ich beiße nicht«, raunzte die resolute Dame. »Bringen Sie mir noch einen kleinen Kognak, aber dann möchte ich nicht mehr gestört werden!«
Mylady trank auch diesen »Kreislaufbeschleuniger« und machte sich an die Arbeit, die ihr aber, wie gewohnt, nicht so recht von der Hand gehen wollte. Sie vermißte natürlich wieder mal ihren Butler, auf den sie eben noch verzichten weilte. Sie fand ihre Idee plötzlich nicht mehr so bestechend, trank den Kognak und entschied sich, zurück ins Atelier zu gehen. Agatha Simpson war der Ansicht, daß sie noch mehr Atmosphäre in sich aufnehmen sollte.
Bekam ihr der Kognak nicht? Hatte sie vielleicht zuviel getrunken?
Als sie in dem langen Korridor war, befiel sie ein leichter Schwindel. Sie war plötzlich nicht mehr sicher auf den Beinen, schwankte, riß sich wieder zusammen, stemmte sich mit der rechten Handfläche gegen die Korridorwand und atmete schnell.
Die Detektivin war froh, daß sie sich allein in diesem langen Korridor befand. Sie war nicht erpicht darauf, daß man sie gerade jetzt beobachtete. Sie ärgerte sich über ihre leichte Schwäche und … sah sich plötzlich einer seltsamen Erscheinung gegenüber.
Ein Vampir!
Er war plötzlich, da, schien sich aus dem Nichts heraus materialisiert zu haben, versperrte ihr den Weg und streckte gierig seine überlangen Arme und Hände nach ihr aus. Der Vampir trug einen wallenden Mantel, der aus dem Mittelalter stammte und bis zu den Füßen reichte. Sein Gesicht war kalkweiß, nur in den dunklen Augen war blutgieriges Leben, zu erkennen. Als die schmalen Lippen sich öffneten, blitzten spitze Reißzähne, dolchartig geformt und grauenerregend lang.
Agatha Simpson war ehrlich beeindruckt.
»Was soll denn das?« fragte sie mit reichlich schwerer Zunge.
Der Vampir gab keine Antwort und kam näher. Aus seinen Mundwinkeln quoll Speichel, die Augen wurden zu glühenden Kohlen.
»Lassen Sie die dummen Späße!« warnte die Sechzigjährige, allerdings ohne den gewohnten Nachdruck. Sie fühlte sich schwach und wehrlos, schon gar nicht in der Lage, ihren Glücksbringer einzusetzen, wie sie es normalerweise bestimmt getan hätte.
»Blut«, preßte der Vampir mit hohler Stimme hervor und warf sich dann auf die Frau, um ihr seine Zähne in den Hals zu schlagen, worauf Lady Simpson verständlicherweise gellend schrie. Sie produzierte dabei eine derart ungewöhnlich hohe Frequenz, daß zwei mittelgroße Fensterscheiben in der Nähe klirrend zersprangen.
*
»Fühlen Mylady sich inzwischen ein wenig besser?« erkundigte sich Josuah Parker besorgt.
»Was … Was ist passiert?« fragte seine Herrin und richtete sich unvermittelt auf.
»Zwei Fensterscheiben gingen zu Bruch, Mylady«, antwortete der Butler wahrheitsgemäß. »Mylady müssen wahrscheinlich mit einem ungewöhnlichen Phänomen konfrontiert worden sein.«
»Der Vampir«, sagte Agatha Simpson und erinnerte sich. »Wo bin ich, Mister Parker?«
»In der Garderobe des Mister Rob Penwood«, erklärte Parker, »sie war am schnellsten zu erreichen, um Mylady behandeln zu können.«
»Wie lange war ich ohnmächtig? Ich war doch ohnmächtig, oder?«
»Nur indirekt, Mylady«, antwortete Parker. »Mylady wurden von einem, leichten Unwohlsein befallen, was wohl mit dem erwähnten Vampir zusammenhängen muß.«
»Ich verbitte mir Ihre Impertinenz«, fuhr die ältere Dame ihren Butler an. »Dieser Vampir existierte nicht nur in meiner Einbildung, ich wurde tatsächlich von ihm angefallen.«
»Gewiß, Mylady«, erwiderte Parker gemessen.
»Dieses Untier hat mir seine Zähne in den Hals geschlagen«, versicherte Agatha Simpson, der man ihre sechzig Jahre nicht ansah.
»Sind Mylady sicher?« erkundigte sich Parker und reichte ihr einen Handspiegel. Sie nahm ihn ärgerlich aus seiner Hand und untersuchte ihren Hals, der zu ihrer Überraschung nicht die Spur einer Bißwunde aufwies.
»Ich … Ich begreife das nicht«, meinte Agatha Simpson irritiert und schüttelte ratlos den Kopf.
»Haben Sie den Kreislauf vielleicht zu sehr angeregt?« fragte Parker höflich und vorsichtig.
»Ich habe tatsächlich einen kleinen Kognak getrunken«, gestand die kriegerische Dame. »Es können auch zwei gewesen sein. Aber ich war auf keinen Fall betrunken.«
Sie hatte sich inzwischen in einen Sessel gesetzt und ordnete ihr Haar. Dann strich sie sich das Kostüm glatt und schien in sich hinein zu hören. Agatha Simpson war immer noch ein wenig verwirrt.
»Um Myladys Frage zuvorzukommen«, schickte Parker voraus, »zu der Zeit, als Mylady den kleinen Schwächeanfall erlitten, befand Mister Penwood sich im Atelier, daran besteht kein Zweifel.«
»Ja. Diese Frage wollte ich gerade stellen.« Lady Simpson nickte grimmig.
»Dann hatte ich es also mit einem zweiten Vampir zu tun!«
»Gewiß, Mylady.« Parker ließ nicht erkennen, was er von dieser Aussage hielt, dazu war er zu höflich und zu geschult. Er war das Urbild eines hochherrschaftlichen englischen Butlers, wie er eigentlich nur noch in Komödien zu sehen ist.
»Ich verlange von Ihnen, daß Sie diesen Lümmel finden«, forderte Lady Simpson. »Er hat mich fast zu Tode erschreckt.«
»Bemerkenswert, Mylady.«
»Der Vampir stand plötzlich vor mir, wie durch Zauberei aus dem Boden gewachsen«, erklärte Agatha Simpson, »er erinnerte mich flüchtig an diesen Rob Penwood.«
»Der, das darf ich noch mal wiederholen, Mylady, es auf keinen Fall gewesen sein kann. Mister Penwood verließ die Dreharbeiten im Atelier nicht für eine einzige Minute.«
»Dann muß hier noch ein zweiter Vampir sein«, stellte die ältere Dame energisch fest. Sie hatte ihren kleinen Schwächezustand wieder überwunden und sprühte vor Tatendrang. »Das wird ein interessanter Kriminalfall, Mister Parker. Mit einem Vampir wollte ich mich schon immer mal befassen.«
Lady Simpson kam, was das anbetraf, voll auf ihre Kosten, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür, ohne daß vorher angeklopft worden war.
Ein Vampir torkelte ins Zimmer, fiel auf die Knie und blieb, nach Luft ringend, liegen. An seinem Hals war eine gräßliche Bißwunde, aus der im Takt des Herzschlags das Blut sprudelte.
»Was sollen diese Mätzchen?« fragte Lady Simpson unwillig. »Mister Penwood, ich hätte Ihnen etwas mehr Geschmack zugetraut.«
Nun, der Schauspieler Rob Penwood hätte vielleicht liebend gern geantwortet, doch er schaffte es nicht mehr, weil er in dieser Sekunde starb!
*
»Es gibt durchaus Vampire«, sagte William P. Petters mit einer Selbstverständlichkeit, als würde er vom Wetter reden. »Diese Wesen gab es, gibt es und wird es immer geben, verstehen Sie? Die Wissenschaft streitet die Existenz von Vampiren zwar ab, doch die Wissenschaft irrt ja unentwegt, nicht wahr? Sie wirft heute über den Haufen, was sie gestern noch als Tatsache behauptet hat. Gehen Sie mir weg mit den Wissenschaftlern! Alles Leute, die eigentlich wissen sollten, daß sie nichts wissen können!«
William P. Petters war ein bemerkenswerter Mann, rund fünfundfünfzig Jahre alt, groß, hager, und mit ausgeprägter Glatze. Er hatte seine beiden Gäste im Arbeitszimmer empfangen, das einem kleinen Museum glich. An zwei Wänden standen Regale, die bis zur Decke reichten und mit alten Büchern und erstaunlicherweise auch mit Aktenordnern vollgestopft waren.
Zur optischen Auflockerung hatte er große, fest verschlossene Glasgefäße untergebracht, in denen seltsames Gewürm in Formaldehyd oder Spiritus schwamm: Eidechsen, Spinnen und Schlangen, von einigen Skorpionen, Taranteln und Kröten ganz zu schweigen.
»Mylady möchte nicht mißverstanden werden«, ließ der Butler sich vernehmen. »Sie denken nicht an die Spezies Fledermäuse.«
»Das möchte ich auch sehr hoffen«, antwortete William P. Petters, »sonst wären Sie nämlich bei mir an der falschen Adresse. Ich befasse mich ausschließlich mit Urphänomenen, verstehen Sie?«
»Nicht die Spur«, warf Lady Simpson trocken ein. »Könnten Sie mir das näher erklären?«
»Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, Mylady, die unerklärbar sind und bleiben werden«, schickte William P. Petters voraus und massierte sich sein spitzes Kinn. »Nehmen wir zum Beispiel die Vampire, die mein Spezialgebiet sind, also Verstorbene, die aus ihren Gräbern steigen und das Blut lebender Menschen brauchen, um weiter existieren zu können.«
»Das ist doch ein Widerspruch«, bemerkte Agatha Simpson und schüttelte den Kopf. »Wieso kann ein Verstorbener weiterleben?«
»Das gehört bereits mit zu den unerklärbaren Geheimnissen«, dozierte William P. Petters und hüstelte nervös. »Im menschlichen Sinn sind diese Bedauernswerten natürlich tot, im übertragenen Sinn allerdings nicht.«
»Schön, sie erheben sich also aus ihren Gräbern und fallen harmlose Mitmenschen an, deren Blut sie brauchen. Warum tun sie das?«
»Um bis zu ihrer Erlösung aus ihrem Zustand durchhalten zu können, lassen Sie mich das mal so banal ausdrücken.«
»Seit wann gibt es Vampire, Mister Petters?« mischte sich Josuah Parker ein.
»Sie haben schon immer existiert, vom Beginn aller Zeiten an«, behauptete der Vampirkenner mit ernster Miene. »Seit dem Mittelalter aber werden sie genau beobachtet und bekämpft. Sie traten vor allen Dingen in den Balkanländern auf, aber warum das so war, weiß ich nicht, daran arbeite ich noch.«
»Es sind also Verfluchte?« Lady Simpson funkelte den Vampirkenner an, hütete sich aber, aggressiv zu werden. Sie wollte schließlich aus erster Hand erfahren, was es mit den Vampiren auf sich hatte.
»Wenn man so will, Mylady«, räumte Petters ein und nickte nachdrücklich. »Sie können das Tor zur ewigen Ruhe nicht finden oder durchschreiten, verstehen Sie?«
»Ich werde mich bemühen«, sagte die ältere Dame trocken, während der Butler sich jeder Äußerung enthielt.
»Diese Vampire steigen also nachts aus ihren Gräbern und suchen nach geeigneten Opfern«, redete William P. Petters weiter. »Und jetzt kommt das eigentliche Verhältnis, wie ich es nennen möchte. Die Gebissenen werden quasi geimpft und ihrerseits wieder zu Vampiren, eine Kette ohne Ende, ein grausiger Kreislauf.«
»Und wann, Mister Petters, kommen die Vampire endlich zur Ruhe?« erkundigte sich Agatha Simpson ungeduldig, »selbst Vampire möchten doch mal ausruhen, könnte ich mir vorstellen.«
»Sie müssen aufgespürt und dann gepfählt werden«, nannte William P. Petters die Lösung. »Es ist noch heute so wie damals im Mittelalter. Den Vampiren muß man einen geweihten Holzpflock ins Herz treiben, erst dann ist der Kreislauf unterbrochen.«
»Danach tauchen sie dann nie wieder auf?«
»Sehr richtig, Mylady. Die Körper lösen sich in Sekundenschnelle auf und werden zu Staub.«
»Wie schön für die Vampire«, murmelte Agatha Simpson und warf ihrem Butler einen leicht ironischen Blick zu. »Und wie erkennt man nun Vampire? Tragen Sie grundsätzlich wehende Mäntel, sehen sie zum Beispiel mittelalterlich aus? Haben sie Fledermausohren, kalkweiße Gesichter und Reißzähne wie ein Wolf?«
»Das ist ja gerade der grundlegende und entscheidende Irrtum des Laien«, erregte sich William P. Petters. »Vampire, wenn sie unterwegs sind, sehen für gewöhnlich völlig normal aus, sie tragen die Kleidung der Zeit, in der sie sich bewegen. Sie sind von unseren Mitmenschen nicht zu unterscheiden, aber sie nähern sich ihren Opfern nur um Mitternacht.«
»Sehr eigenwillige Wesen.«
»Daran arbeite ich noch«, warf William P. Petters ein, »auch diese Frage werde ich noch klären, mein Wort darauf. Generell ist zu sagen, daß Nachtstunden die Zeit der Geister, Werwölfe, Dämonen und Vampire ist, was wohl mit dem Mond zusammenhängt.«
»Angenommen, sie erscheinen um Mitternacht am Piccadilly Circus«, schickte Lady Simpson voraus und blieb nur mühsam ernst. »Ich würde diese Vampire also für völlig normale Menschen halten?«
»Mit Sicherheit, Mylady, mein Wort darauf, meine Statistiken beweisen das eindeutig. Es sind nur die dolchartigen Reißzähne, die sie verraten würden.«
»Und was geschieht nun, wenn sie ein Opfer gefunden und Blut getrunken haben?«
»Satt und zufrieden begeben die Vampire sich dann zurück in ihre Gräber, denn sollten sie vom Tageslicht überrascht werden, ist es aus mit ihnen, sie würden zufallen und niemals die überirdische Welt des Friedens erreichen. Darum sind sie stets pünktlich.«
»Bemerkenswert«, ließ Josuah Parker sich lakonisch vernehmen. »Sie sind in der Tat ein Spezialist, Mister Petters.«
»Ich leite schließlich die ›Vereinigung der intermedialen Gesellschaft‹, Mister Parker«, erinnerte William P. Petters. »Ich möchte nicht unbescheiden wirken, aber ich denke, daß man mich als Kapazität anerkennt. Ich habe über dieses Thema bereits einige Sach- und Fachbücher geschrieben, die die Wissenschaft natürlich völlig ignoriert, wie Sie sich denken können.«
»Natürlich«, meinte Agatha Simpson, »nun zu meinem Problem, Mister Petters, ich wurde von einem Vampir angefallen.«
»Ich ahnte es, Mylady, sehr schön.« William P. Petters freute sich sichtlich.
»Ich war eigentlich nicht sehr begeistert«, gestand die Detektivin, »aber dieser Überfall geschah morgens, etwa gegen 10.30 Uhr.«
»Donnerwetter«, wunderte sich William P. Petters.
»Es war hell, die Sonne schien«, führte die Sechzigjährige weiter aus, »demnach kann es also kein Vampir gewesen sein, nicht wahr?«
»Das möchte ich nicht sagen«, schränkte der Fachmann sofort wieder ein, wobei seine Augen vor Begeisterung glühten. »An welchem Ort fand dieser Kontakt statt?«
»Der Überfall geschah in einem langen Korridor.«
»Der bestimmt dunkel war, nicht wahr?«
»Düster«, präzisierte die ältere Dame.
»Daran arbeite ich ebenfalls noch«, verkündete William P. Petters, »es muß ein Vampir gewesen sein, der während der vorausgegangenen Nacht nicht rechtzeitig in sein Grab zurückkehren konnte. Solche Vampire überdauern den Tag dann in Kellern oder an dunklen Stellen. Es sind echte Ausnahmen, Mylady. Sie müssen mir mehr darüber erzählen, ich muß das erfassen. Sie gehören zu den Glücklichen, die nur sehr selten zu finden sind.«
»Ein schwacher Trost«, empfand Lady Simpson und schüttelte sich, »das Ungeheuer hätte mich um ein Haar umgebracht.«
»Es muß nicht ganz in Form gewesen sein«, bedauerte William P. Petters.
»Es war in Form«, sagte die resolute Dame nachdrücklich, »anschließend tötete es einen Schauspieler durch einen Biß in die Halsschlagader.«
»Ja, diese Wesen sind sehr zäh«, freute sich William P. Petters sichtlich. »Man kann sich auf sie verlassen. Aber keine Sorge, Mylady, der Vampir, der Sie angefallen hat, wird bestimmt wiederkommen. Wenn Vampire sich mal für ein Opfer entschieden haben, stecken sie nie auf. Meine Statistik beweist das! Sie sollten sich ab sofort sehr in acht nehmen. Der Vampir wird zurückkommen.«
»Und was kann man dagegen tun, Mister Petters?« wollte Parker wissen.
»Oh, das ist eine besondere Spezialität von mir«, antwortete William P. Petters und blühte noch mehr auf, als es ohnehin bereits der Fall war, »ich sage nur Knoblauch, Mylady. Das ist die Wunderwaffe gegen Vampire. Sie werden beeindruckt sein.«
»Wahrscheinlich nicht nur ich«, stellte Agatha Simpson trocken fest, »mehr wohl noch meine Mitmenschen, die mir über den Weg laufen werden!«
*
»Ich habe natürlich überhaupt nichts dagegen, daß Sie sich mit diesem Fall befassen«, sagte Superintendent Needle, ein vergrämt aussehender, großer und hagerer Polizeioffizier, der aber über flinke und schlaue Augen verfügte. »Ich nehme jede Mitarbeit herzlich an, zumal ich von meinen Kollegen weiß, daß Sie hin und wieder sogar Erfolg hatten.«
»Sie Schäker«, raunzte die ältere Dame. Sie hatte Needle in ihrer Stadtwohnung in Sheperd’s Market empfangen und wußte nicht so recht, was sie mit dem Kriminalbeamten anfangen sollte. »Es gibt keinen Fall, den ich nicht gelöst hätte, wenn Mister Parker mir auch ein wenig dabei geholfen hat.«
Parker, der die Drinks servierte, ließ sich natürlich wieder mal nichts anmerken. Das, was Lady Simpson da gerade von sich gab, war eine schamlose Untertreibung. Ohne ihren Butler hätte sie sicher keinen einzigen Fall gelöst. Sie wußte es, Parker wußte es, und auch Superintendent Needle schien es zu wissen, doch Widerspruch erhob sich von keinem der beiden Männer.
»Man hatte Sie, Mylady, in das Westwood-Atelier gebeten, um einen neuen Fall zu lösen?« erkundigte sich Needle fast beiläufig.
»Mister Penwood«, bestätigte Lady Simpson und nickte, »das heißt, er selbst war es nicht, sondern sein Manager.«
»Ein gewisser Morgan Patch«, schaltete der Butler sich gemessen ein und reichte die Drinks. »Mister Penwood wurde vor seinem bedauerlichen Tod von einem Vampir belästigt, was ihn gestört haben muß.«
»Kann man mehr darüber hören?« Superintendent Needle nippte an seinem Drink und schien sich für diesen Fall überhaupt nicht zu interessieren. Man sah ihm deutlich an, daß er am liebsten gegähnt hätte.
»Dieses Scheusal war seit einigen Wochen hinter ihm her«, berichtete die ältere Dame und kippte ihren Kreislaufbeschleuniger hinunter. »Penwood wollte schon vor lauter Angst London den Rücken kehren und die Dreharbeiten platzen lassen.«
»Mylady und meine bescheidene Wenigkeit sollten Mister Penwood vor diesem Vampir beschützen«, sagte Parker.
»Er hätte sich wohl besser an die Polizei gewendet«, meinte Needle wieder beiläufig und sanft. »Vielleicht würde er dann noch leben.«
»Wollen Sie damit etwa sagen, daß Mister Parker und ich …« Lady Simpson legte eine kleine Pause ein, um tief Luft zu holen. Butler Parker fürchtete eine solide Beleidigung und schaltete sich ein.
»Vielleicht können Sie sich jetzt einer gewissen Miß May Purgess annehmen«, sagte er schnell und schob sich vor Lady Simpson. »Besagte junge Dame wird ebenfalls von einem Vampir belästigt, wie wir heute erfuhren.«
»Miß May Purgess?« Needle schien grundsätzlich nicht ins Kino zu gehen, sonst hätte er mit diesem Namen etwas anfangen können.
»Eine überaus reizende Schauspielerin«, erläuterte der Butler.
»Ich begreife nicht, warum die Menschen sich nicht an uns wenden«, beschwerte sich Needle.
»Das wird mit der enormen Tüchtigkeit der Polizei Zusammenhängen«, stichelte die resolute Dame.
»Wenn Sie erlauben, Superintendent, so möchte ich noch hinzufügen, daß Lady Simpson von dem Geldgeber der Westwood-Ateliers um Hilfe gebeten wurde«, lenkte Parker erneut ab, bevor der Polizeioffizier beleidigt sein konnte. »Mylady ist mit diesem Herrn ein wenig bekannt.«
»Und seit wann wird Miß Purgess von einem Vampir belästigt?« fragte Needle.
»Warum begnügen Sie sich mit Informationen aus zweiter Hand?« fuhr die Detektivin den Superintendent an. »Warum fragen Sie nicht Miß Purgess?«
»Das werde ich selbstverständlich noch tun, Mylady.« Needle ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Die Westwood-Ateliers haben sich auf die Herstellung von Horrorfilmen spezialisiert, nicht wahr?«
»Damit ist im Moment das große Geld zu verdienen«, antwortete Agatha Simpson. »Die einzelnen Gesellschaften produzieren am laufenden Band und versuchen, sich gegenseitig auszustechen.«
»Welche Rolle spielen die Westwood-Ateliers in diesem Wettlauf?«
»Sie sind einsame Spitze, haben die besten Schauspieler und die besten Gruseleffekte.« Lady Simpson nickte nachdrücklich. »Nun kommen Sie nur ja nicht auf den Gedanken, Superintendent, hier habe irgendeine konkurrierende Gesellschaft die Hand im Spiel und versuche, die Westwood-Ateliers aus dem Feld zu schlagen.«
»Wäre das wirklich so ausgeschlossen?« Needle sah Agatha Simpson neugierig an.
»Schnickschnack, Superintendent«, fuhr die Gesprächspartnerin ihm prompt über den Schnabel. »Ich würde nicht wagen, das als Romanstoff zu verwenden.«
»Ich verstehe nicht recht, Mylady.«
»Natürlich nicht, das würde mich auch sehr wundern.«
Sie sah ihn verächtlich an. »Ich bin Künstlerin und habe ein Gespür für Zusammenhänge. Vor allen Dingen habe ich den Vampir gesehen, der mein Blut saugen wollte. Nein, nein, Superintendent, ob Sie es nun glauben oder nicht, hier mordet tatsächlich ein Vampir.«
»Natürlich, Mylady«, antwortete Needle bedächtig wie zu einer Irren.
»Unterlassen Sie diesen herablassenden Tonfall«, fauchte die streitbare Dame sofort. »Sie haben es nicht mit einer Schwachsinnigen zu tun.«
»Ganz sicher nicht, Mylady.«
»Ich bin auch nicht verschroben!«
»Bestimmt nicht, Lady Simpson.«
»Ich werde Ihnen diesen Vampir auf einem silbernen Tablett liefern, Superintendent«, versprach Lady Simpson grimmig, »und Mister Parker wird mir dabei helfen.«
»Wie Mylady befehlen«, ließ Parker sich vernehmen.
»Dann möchte ich nicht länger stören«, sagte Needle hastig. Er schien jetzt fest davon überzeugt, daß die Lady tatsächlich alt, verschroben und leicht schwachsinnig sei. Er ließ sich von Parker schnell aus dem großen Salon in die Wohnhalle des Stadthauses bringen.
»Sie sind nicht gerade zu beneiden«, meinte er zu Parker, der ihm die Tür öffnete.
»Wie darf ich diesen Satz interpretieren?« erkundigte sich der Butler.
»Sie muß sehr anstrengend sein, wie?«
»Außerordentlich, Sir«, antwortete Parker, ohne eine Miene zu verziehen. »Myladys Anforderungen an meine bescheidene Wenigkeit sind erstaunlich hoch und auch recht strapaziös.«
»Ich werde Sie auf keinen Fall mehr belästigen«, versprach Needle in völliger Verkennung der Situation. »Soll sie ruhig ihr Steckenpferd reiten, sie wird bestimmt keinen Schaden anrichten.«
»Wie Sie meinen, Sir.«
»Unsinn, daß hier ein echter Vampir mordet!« Needle schmunzelte überlegen.
»Sie gestatten, Sir, daß ich anderer Ansicht bin«, gab der Butler zurück. »Es ist noch nicht lange her, daß Mylady und meine bescheidene Wenigkeit Frankenstein stellten und der Gerechtigkeit überlieferten.«
»Hm!« Needle war davon überzeugt, daß auch Parker ein wenig skurril sein mußte.
»Ganz zu schweigen von dem Werwolf, den Mylady in der Heide von Sussex stellte«, redete Parker weiter. »Mir hingegen gelang es, Sir, einen Marsmenschen zu überführen, der in der Maske eines Liliputaners in einem Vergnügungspark arbeitete.«
Needle sah den Butler fassungslos und entgeistert an, um dann schleunigst die Flucht zu ergreifen. Er war jetzt fest davon überzeugt, auf zwei relativ harmlose Irre gestoßen zu sein.
»Haben Sie nicht etwas zu stark aufgetragen, Mister Parker?« fragte Lady Simpson wenig später, als ihr Butler das Gespräch wiedergegeben hatte.
»Möglicherweise, Mylady«, antwortete der Butler steif und gemessen. »Es dürfte aber sicher sein, daß der Superintendent einen weiten Bogen um Mylady und um meine bescheidene Person machen wird. Das wird die Ermittlungsarbeiten ungemein erleichtern, wie ich vermute!«
*
Sie wohnte in einer kleinen, reizend eingerichteten Wohnung im Westen der Stadt und hatte sich förmlich verbarrikadiert. Sie hatte Angst vor dem Vampir, zitterte um ihr Leben und dachte immer wieder an den schrecklichen Tod ihres Kollegen Penwood.
May Purgess hatte die Tür verschlossen und zusätzlich verriegelt. Sicherheitshalber hatte sie noch eine Kommode vor die Tür geschoben und sich vergewissert, daß die beiden Fenster zur Gasse fest verschlossen waren.
Ein Telefonat mit Josuah Parker war nicht zustande gekommen. May war deshalb versucht, die Polizei zu verständigen, doch sie genierte sich davor. Die attraktive Schauspielerin dachte an die spöttischen Blicke der vernehmenden Beamten, die ihr wahrscheinlich kein Wort von dem abnahmen, was sie aussagte. Sie konnte die Kriminalbeamten sogar verstehen. Man lebte schließlich im 20. Jahrhundert, Vampire gab es nur in Schauerromanen und in entsprechenden Horrorfilmen. In Wirklichkeit existierten sie natürlich nicht.
Bisher hatte die junge Schauspielerin kaum anders gedacht. Sie galt in Fachkreisen als die schönste Leiche vom Dienst und wurde immer wieder engagiert, in Horrorfilmen das unschuldige Opfer zu spielen. Ihre spitzen, gellenden Schreie der Angst und Panik waren Musik in den Ohren der späteren Zuschauer.
May Purgess amüsierte sich darüber, doch inzwischen sah manches anders aus. Vielleicht gab es doch die schauerlichen Wesen, die aus ihren Gräbern stiegen und nach warmem Menschenblut lechzten? Waren diese unheimliche Wesen gerade durch die Horrorfilme erst wieder aktiviert worden? Sie wußte keine Antwort darauf, aber sie hatte Angst.
Wie Rob Penwood hatte May Purgess sich über ihren gemeinsamen Manager und den Geldgeber an Lady Simpson und Josuah Parker gewandt, doch das seltsame Zweigespann schien in diesem Fall überhaupt nichts auszurichten. Gegen Vampire war wohl kein Kraut gewachsen.
May Purgess zuckte wie unter einem Peitschenschlag zusammen, als das Telefon klingelte.
Dann riß sie fast dankbar den Hörer aus der Gabel und meldete sich. Genau das brauchte sie jetzt, nämlich eine menschliche Stimme, die sie von ihren Ängsten ablenkte.
»Ich werde kommen«, sagte jemand heiser und undeutlich, ein wenig außer Atem. »Ich komme bestimmt, meine Liebe, ich giere nach deinem Blut, nach deinem Leben. Erwarte mich, May Purgess erwarte mich!«
May Purgess schnappte nach Luft, ließ den Hörer sinken und zu Boden fallen.
Sie rang nach Fassung, schluchzte, rannte zur Tür, überprüfte, ob sie immer noch fest verschlossen war, eilte zu den Fenstern, kontrollierte die Riegel, lief zurück zum Telefon und hörte ein ersticktes, röchelndes Lachen, das aus einer Gruft zu kommen schien. Dann knackte es in der Leitung, die daraufhin tot war.
May drückte den Kontakthebel und wählte in fliegender Hast die Nummer Butler Parkers. Auf der Gegenseite meldete sich nichts. Die Schauspielerin wollte die nächste Nummer wählen und merkte erst jetzt, daß die Leitung tot war. Die Leitung mußte vor ein paar Sekunden unterbrochen worden sein.
Panische Angst überflutete sie. Was sollte sie tun? Die Wohnung verlassen und zur Polizei laufen? Oder wenigstens vor die Wohnungstür eines Nachbarn, um dann von dort aus zu telefonieren oder Schutz zu suchen? Aber dann verließ sie die schützende Wohnung und lief dem mörderischen Vampir vielleicht direkt in die Arme. Nein, dieses Risiko wollte sie auf keinen Fall eingehen. Da war es schon besser, hier in der Wohnung zu bleiben.
Um ihre vibrierenden Nerven ein wenig zu beruhigen, mixte May sich einen Drink und nahm etwas mehr Whisky als sonst. Dann setzte sie sich so in einen Sessel, daß sie die Wohnungstür genau im Blickfeld hatte und auch die beiden Fenster kontrollieren konnte.
Sie merkte nicht, daß der Vampir bereits in ihrer Wohnung war. Er kam aus der kleinen Pantry und blieb abwartend in der Tür zum Wohnraum stehen, bleckte seine Reißzähne und beobachtete gierig sein Opfer, das noch ahnungslos war. Plötzlich kam der Vampir mit seltsam schleichenden und roboterhaften Schritten auf May Purgess zu …
*
Sie drehte sich abrupt um, riß entsetzt die Augen auf und stieß einen Schrei aus. May blieb dabei wie festgeschmiedet im Sessel sitzen und war nicht fähig, sich in Sicherheit zu bringen.
Der Vampir streckte seine langen, spinnenartigen Finger nach ihr aus und öffnete hungrig den Mund. Seine überlangen Eckzähne waren deutlich zu sehen. Er wurde schneller und war nur noch knapp einen Meter von May Purgess entfernt, stutzte dann aber sichtlich und zögerte.
May Purgess hingegen zögerte nicht weiter.
Wie eine gespannte Stahlfeder, deren Halterung gelöst war, schnellte sie aus dem Sessel und warf sich auf den Vampir, der seinerseits erstickt gurgelte und hilflos wirkte. Der Vampir schloß den Mund, allerdings nicht auf eigenen Wunsch. May Purgess hatte ihm eine deftige Ohrfeige verabreicht und landete danach ihre linke Handkante auf dem Hals des Ungeheuers, dessen kalkweißes Gesicht noch mehr erblaßte.
Erst jetzt begann der Vampir sich zu wehren.
Er war groß, schlank und gewiß in Form, doch gegen May Purgess hatte er einfach keine Chance, zumal ihm die Luft etwas knapp wurde, was mit dem Handkantenschlag zusammenhing. Er verbeugte sich tief vor der jungen Frau, ging sogar in die Knie und handelte sich eine harten Nasenstüber ein, da die Schauspielerin ihr rechtes Knie hatte vorschnellen lassen. Nun war der Vampir vollkommen beeindruckt, machte es sich auf dem Teppich notgedrungen bequem, weinte und wollte nicht weiter mitspielen.
»Stehen Sie auf«, herrschte May Purgess den Unbekannten an. »Los, ich weiß, daß Sie’s können.«
Sie hatte die Lage richtig eingeschätzt.
Der Vampir hatte ihr etwas vorgespielt und suchte seine Chance. Er schnellte hoch und wollte seinen Kopf in den Leib der jungen Frau rammen. Da May Purgess damit gerechnet hatte, wurde nichts daraus. Der Vampir zischte knapp an ihr vorbei und bohrte seinen Kopf in die Wand, die natürlich wesentlich härter war als sein Schädel. Ein leichtes Knirschen war zu hören, dann rutschte der Vampir kraft- und saftlos an der Wand herunter und blieb regungslos liegen. Die junge Schauspielerin untersuchte den Vampir flüchtig, ging dann zur Tür und rückte die Kommode zur Seite. Anschließend schloß sie auf, zog den Sicherheitsriegel zur Seite und lächelte den konservativ aussehenden Mann an, der grüßend seine schwarze Melone lüftete.
»Es muß, wenn ich mich nicht sehr täusche, recht munter zugegangen sein«, sagte Josuah Parker und betrat die Wohnung. »Hat der Vampir irgendwelche Schwierigkeiten gemacht, Miß Porter?«
»Überhaupt nicht«, erwiderte die junge Frau, die Kathy Porter hieß und als Sekretärin und Gesellschafterin bei Lady Simpson arbeitete. Sie war schon vor ein paar Stunden in die Maske der jungen Schauspielerin geschlüpft und hatte May Purgess vertreten. Ehrlicherweise muß hier gesagt werden, daß Agatha Simpson diese Idee hatte, die sich als recht erfolgreich erwies.
Parker stand inzwischen neben dem Vampir und schaute interessiert auf das Wesen, das sich leicht rührte. Kathy Porter zog ihre Perücke ab und zeigte ihr rotbraunes Haar. Sie glich einer gefährlichen Pantherkatze und war bereit, sich noch weiter zu betätigen. Die ganze Sache schien ihr Spaß bereitet zu haben.
»Wissen Sie schon, wie der Vampir in die Wohnung gelangte?« fragte Parker.
»Er muß durch die Küche gekommen sein«, gab Kathy Porter zurück. »Dort gibt es einen kleinen Balkon.«
»Der wie ein Schwalbennest an der Hausfassade klebt«, meinte der Butler und nickte. »Darf ich mich für eine Moment entschuldigen, Miß Porter?«
Parker betrat die Pantry, zog die schmale Balkontür auf und besichtigte den winzigen Balkon, der tatsächlich an ein Schwalbennest erinnerte. Vom Innenhof des Apartmenthauses aus konnte der Vampir ihn unmöglich erreicht haben. Die glatte Hauswand bot keine Möglichkeit, den Balkon zu ersteigen. Erst als Parker sich für die Hauswand oberhalb des Balkons interessierte, entdeckte er den Trick des Vampirs. Er hatte sich an einem Seil vom nahen Dach herabgelassen. Das Seil war mit ausgestreckter Hand leicht zu erreichen und enthielt einige dicke Knoten, damit die Hände besser greifen konnten.
Hatte der Vampir über Helfershelfer verfügt?
Instinktiv trat Parker zurück in die Pantry und … entging nur so dem Geschoß, das ihm zugedacht war. Der Schuß war schallgedämpft abgefeuert worden, pfiff dicht an ihm vorbei und landete irgendwo in der Dunkelheit. Er war kaum zu hören, nicht mehr als ein schwaches »Plopp« hatte die Ruhe der Nacht gestört.
In diesem Moment war in der Wohnung der Schauspielerin ein leiser, überraschter Aufschrei zu hören.
Josuah Parker verzichtete auf seine gewohnte Gemessenheit und beeilte sich, zurück zu Kathy Porter zu kommen. Sie erhob sich gerade vom Teppich, rieb sich das Schienbein und sah den Butler dabei unglücklich und ärgerlich zugleich an.
»Er ist mir entwischt«, sagte sie wütend. »Ich hätte besser aufpassen müssen.«
»Nach einer bekannten Spruchweisheit soll man nie über verschüttete Milch klagen«, sagte Josuah Parker, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen. »Sie dürfen versichert sein, Miß Porter, daß der Vampir früher oder später erneut unseren Weg kreuzt.«
»Was wird Lady Simpson sagen?« fragte Kathy unglücklich. »Ich könnte mich ohrfeigen, Mister Parker.«
»Bauen wir auf Mylady«, erwiderte der Butler höflich. »Falls der Vampir das Treppenhaus benutzt, wird er Mylady passieren müssen. Unter Umständen könnte ihm das nicht gut bekommen!«
*
Agatha Simpson stand in der Dunkelheit des Treppenhauses und wartete freudig auf ihren Einsatz.
Sie hatte die Geräusche oben in der Wohnung richtig gedeutet und wollte ihren Pompadour in Aktion treten lassen. Dabei dachte sie vor allem an den darin befindlichen »Glücksbringer«, der schon manchen Flüchtling gestoppt hatte.
Die Detektivin hörte mit großem Wohlgefallen die hastigen Schritte, die ihrerseits die Treppe strapazierten, und hielt ihren Pompadour schleuderbereit in der Hand. Lady Simpson, obwohl schon ein wenig in den Jahren, wie sie es gern ausdrückte, war in ihrer Jugendzeit eine bekannte Sportlerin gewesen, die man um ein Haar sogar fürs britische Empire zur Olympiade geschickt hätte. Sie wußte also gut mit sportlichen Geräten umzugehen und freute sich ehrlich darauf, die Effektivität ihres Glücksbringers zu beweisen.
Die Lichtverhältnisse im Korridor waren nicht besonders gut.
Lady Simpson sah einen Schatten im Gang und zögerte nicht länger. Der Pompadour, der so harmlos aussah, wirbelte durch die Luft und landete mit dumpfem Aufprall auf dem Hinterkopf des Flüchtenden.
Daß es sich jedoch keineswegs um den Hinterkopf handelte, schon gar nicht um den Flüchtenden, das bemerkte Agatha Simpson erst später, als sie ihre Beute besichtigte. Der Mann, der auf dem Boden lag, kam ihr bekannt vor. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es sich um einen gewissen Superintendenten Needle handelte, dessen Stirn sie getroffen hatte.
Die Detektivin hatte keine Zeit, ihr Bedauern in irgendeiner Form auszudrücken, da sie schnelle Schritte hörte. Sie war aber zu dem Schluß gekommen, daß sie sich geirrt haben mußte. Hastig nahm sie ihren Pompadour hoch und tat sehr besorgt, als sie eine Polizeiuniform erkannte, die samt Träger durch die Haustür eilte.
»Sie lassen sich aber viel Zeit«, rief sie dem Sergeant gespielt grimmig zu. »Haben Sie den Täter wenigstens erwischt?«
»Nicht direkt, Madam«, entschuldigte sich der verwirrte Sergeant nervös und sah bestürzt auf seinen Vorgesetzten, der die ersten Wehlaute von sich gab. »Eigentlich habe ich überhaupt nichts gesehen. Glaube ich wenigstens.«
»Und für so was zahle ich meine Steuern«, beschwerte sich Lady Simpson kopfschüttelnd. »Der Täter ist doch aus dem Haus gekommen.«
Kaum hatte die streitbare Dame diese Behauptung aufgestellt, als man aus dem Stock über ihr einen entsetzten Aufschrei hörte. Der Sergeant verzichtete darauf, sich näher mit seinem Vorgesetzten zu befassen und stürmte nach oben. Needle richtet sich inzwischen auf – endgültig aufgeweckt durch den spitzen Schrei – und massierte sich die schmerzende Stirn.
»Haben Sie sich nicht so«, raunzte Lady Simpson.
»Mein Kopf«, ächzte der Superintendent und stand mühsam auf. »Ich muß von einem auskeilenden Pferd erwischt worden sein.«
»Sie können froh sein, Mister Needle, daß dieses Pferd keine edlen Teile getroffen hat«, stellte Lady Simpson fest. »Nun reißen Sie sich mal zusammen, junger Mann, Sie sind doch kein wehleidiges Kind mehr!«
»Ich bin niedergeschlagen worden«, erinnerte sich der Superintendent und musterte seine Kontrahentin mißtrauisch.
»Haben Sie wenigstens den Täter erkannt?« wollte Lady Simpson verständlicherweise wissen.
»Nichts«, sagte Needle und schüttelte vorsichtig den Kopf. »Es traf mich ohne jede Vorbereitung.«
»Das muß der Vampir gewesen sein.«
»Sind Sie sicher, Mylady?«
»Wer sonst?« fragte Agatha Simpson zurück, »oder wollen Sie etwa mich verdächtigen? Mich, eine arme, alte und äußerst schwache Frau?«
»Natürlich nicht, Mylady«, gab Needle zurück. »Wo sind Sie denn gewesen? Wie kommen Sie überhaupt hierher?«
»Haben Sie vergessen, daß Mister Parker und ich mich um die kleine May Purgess kümmern?«
»Richtig, sie hat geschrien, das konnte man bis auf die Straße hören.«
»Ihr ist nichts passiert«, beruhigte sie Needle, der automatisch zur Treppe wanken wollte, was ihm wegen seiner unsicheren Beine nicht so recht gelang. »Mister Parker und Miß Porter haben sich der Schauspielerin bereits angenommen.«
»Wenn ich nur wüßte, wer mich niedergeschlagen hat«, sinnierte Needle halblaut und warf der älteren Dame erneut einen prüfenden und zugleich mißtrauischen Blick zu.
»Der Vampir, an den Sie nicht glauben«, wiederholte Lady Simpson. »Hoffentlich sind Sie jetzt überzeugt, Superintendent. Fassen Sie nach der Stirnbeule, das beseitigt jeden Zweifel!«
»So groß wie ein Taubenei«, stellte Needle fest, nachdem er auf den Vorschlag der resoluten Dame eingegangen war. »Dieser Vampir muß einen Hammer benutzt haben!«
»Nun übertreiben Sie nicht schamlos«, entgegnete Agatha Simpson. »Sehen Sie sich in Zukunft etwas besser vor, Superintendent. Sie scheinen von Natur aus ein wenig leichtsinnig zu sein.«
»Und Sie scheinen sich über mein Mißgeschick zu freuen, oder?«
»Ich bedaure es nicht gerade übermäßig«, erwiderte Lady Simpson, »machen Sie sich nichts daraus!«
»Wie geht es Miß Purgess?« fragte Needle, als Parker auf der Treppe erschien. Da das Licht im Treppenhaus eingeschaltet war, kam es zu keinen weiteren Mißdeutungen.
»Ausgezeichnet, Sir«, antwortete der Butler und lüftete seine schwarze Melone. »Sie können völlig beruhigt sein.«
»Ich möchte sie sofort sprechen.« Needle fingerte nach der dicken Beule auf seiner Stirn, war ansonsten aber wieder fit.
»Das wird sich nicht umgehend machen lassen«, erklärte der Butler, »Miß May Purgess befindet sich in Lady Simpsons Stadthaus und dürfte schlafen.«
»Ich – ich verstehe kein Wort. Mister Parker! Was soll das heißen?«
»Das Pferd scheint sie doch recht empfindlich erwischt zu haben«, schickte Agatha Simpson voraus. »Natürlich haben wir das verfolgte Mädchen sicher untergebracht und dem Vampir ein Double vorgesetzt. Was halten Sie davon, wenn Sie bei uns ein paar Nachhilfestunden nehmen? Den Behörden sind wir immer gern gefällig, nicht wahr, Mister Parker?«
*
»Wenn Mylady gestatten, möchte ich mir die Freiheit nehmen, einige Fakten zu bündeln«, sagte der Butler eine Stunde später, als man sich wieder im Stadthaus seiner Herrin befand. Zusätzlich zu Kathy Porter, Agatha Simpson und Parker war noch die Schauspielerin May Purgess anwesend, die sich ängstlich zurückhielt. Sie hatte schließlich erfahren, daß der Vampir tatsächlich sie ins Jenseits befördern wollte.
»Dann fassen Sie sich aber möglichst kurz«, fuhr Lady Simpson ihren Butler an. »Ich möchte schließlich noch ein paar Stunden schlafen.«
»Mylady können sich voll und ganz darauf verlassen, daß ich mich bemühen werde, die Dinge möglichst konzentriert zu umreißen.«
»Dann tun Sie’s doch endlich!« Sie sah ihn grimmig an, denn sie wußte um Parkers barocke Ausdruckweise.
»Der Vampir, wenn ich bei diesem Ausdruck bleiben darf, hat sich konkretisiert«, führte der Butler nun gemessen aus, »es handelte sich, wie Miß Porter feststellen konnte, um ein Wesen aus Fleisch und Blut, das über offensichtlich bemerkenswerte Geschicklichkeit verfügt. Ich verweise in diesem Zusammenhang darauf, daß dieser Vampir sich vom Dach des Apartmenthauses auf den Balkon von Miß Purgess’ Wohnung abseilte.«
»In meinem Drehbuch wäre das ein stellungsloser Artist, der sich rächen will«, meinte die ältere Dame verträumt. »Finden Sie nicht auch, Mister Parker, daß das eine gute Grundidee wäre?«
»In der Tat, Mylady«, gab der Butler ungemein höflich zurück. »Ich werde nicht versäumen, eine entsprechende Aktennotiz für Mylady vorzubereiten.«
»Ein Wesen aus Fleisch und Blut also«, schaltete sich Kathy Porter ein. Sie war aus der Maske der May Purgess geschlüpft und nun wieder sie selbst. »Welches Motiv könnte der Mann haben, der als Vampir und Mörder erscheint? So etwas macht doch kein Mensch aus Spaß.«
»Ich habe schon wieder einen neuen Einfall«, ließ Lady Simpson sich zufrieden vernehmen. »Vielleicht wird in meinem Drehbuch der stellungslose Artist ein Geisteskranker. Oder noch besser, er ist ein geisteskranker, stellungsloser Artist. Wie finden Sie das, Mister Parker?«
»Ungemein bemerkenswert, Mylady«, antwortete Josuah Parker, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, »auch das werde ich notieren. Miß Purgess, ist es erlaubt, einige Fragen an sie zu richten?«
»Natürlich«, erwiderte die attraktive Schauspielerin, »ich sage Ihnen gleich, daß ich nie an einen echten Vampir geglaubt habe.«
»Hatte Mister Penwood Feinde?« erkundigte sich Parker.
»Keine, die ihn umbringen wollten«, gab sie entschieden zurück, »und das trifft bestimmt auch für mich zu, Mister Parker.«
»Wurden außer Mister Penwood und Ihnen noch weitere Kollegen von diesem Vampir belästigt und mit dem Tod bedroht?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete May Purgess und hob ratlos die Schultern. »Außer Rob hat kein Kollege mit mir über solche Dinge gesprochen.«
»Ich habe schon wieder eine neue Idee«, ließ Agatha Simpson sich eifrig vernehmen, »gibt es da vielleicht Kolleginnen und Kollegen, die Mister Pendwoods und Ihre Rolle haben wollen?«
»Das ist nicht auszuschließen, Lady Simpson«, erwiderte May Purgess. »Um Rollen dieser Art gibt es immer ein Gerangel unter den Kollegen. Sie werden gut bezahlt und haben große Publicity. Aber deshalb bringt man sich ja nicht gegenseitig um.«
»Sagen Sie das nicht, Kindchen«, bemerkte die ältere Dame. »Konkurrenzneid ist ein gutes Motiv für einen Mord. Mister Parker, vergessen sie nicht, auch das in einer Aktennotiz festzuhalten!«
»Gewiß, Mylady«, antwortete Parker, der einfach nicht aus der Ruhe zu bringen war. »Darf ich, wenn es gestattet ist, noch mal auf den Vampir zurückkommen?«
»Kein Mensch unterbricht Sie«, schnarrte die Detektivin. »Sie selbst lenken ja immer wieder vom Thema ab.«
Kathy Porter verbiß sich ein Schmunzeln. Sie amüsierte sich immer wieder um dieses skurrile Zweigespann Lady Simpson – Butler Parker. Sie war glücklich, diese beiden Menschen aus nächster Nähe beobachten zu können.
»Der besagte Vampir dürfte kein Einzelgänger sein«, schickte Parker voraus, »und diese Tatsache beunruhigt mich ein wenig, wie ich eingestehen muß.«
»Sie meinen den Mann, der sie angerufen hat?« Lady Simpson deutete auf Kathy Porter.
»In der Tat«, entgegnete Parker, »der Zeitraum zwischen dem bewußten Drohanruf und dem Erscheinen des Vampirs war recht kurz, wie Miß Porter bestätigen wird. Der Vampir muß einen Helfershelfer haben, zumal ich ja auch noch auf den Schuß hinweisen möchte, der meiner bescheidenen Wenigkeit galt.«
»Eigentlich sehr schade, daß es sich um einen Menschen aus Fleisch und Blut handelt«, bedauerte die ältere Dame. »Ein echter Vampir wäre mir natürlich lieber gewesen.«
»Laut Mister William P. Petters soll es sie tatsächlich geben«, beruhigte Parker seine Herrin.
»Schnickschnack«, gab sie resignierend zurück, »machen wir uns keine falschen Hoffnungen! Wir haben es mit normalen Mördern zu tun, leider!«
»Und was soll ich jetzt tun?« ließ Miß Purgess sich vernehmen.
»Sie bleiben selbstverständlich mein Gast, liebes Kind«, sagte Agatha Simpson.
»Und was ist während der Dreharbeiten?« wollte May Purgess weiter wissen. »Hob Penwood ist schließlich im Atelier ermordet worden. Am liebsten würde ich England sofort verlassen.«
»Hatte auch Penwood mit diesem Gedanken gespielt?« fragte Lady Agatha.
»Natürlich, Mylady«, entgegnete die junge Schauspielerin, »wer möchte schon gern sterben? Vielleicht sollte man die Dreharbeiten unterbrechen, bis der Vampir gefunden wird.«
»Diese Frage werde ich gern mit der Produktion besprechen«, erbot sich Lady Agatha eifrig. »Dann wird sich ja erweisen, ob meine Theorie stimmt oder nicht.«
»Welche Theorie?« erkundigte sich May Purgess.
»Ob eine konkurrierende Gesellschaft versucht, die Dreharbeiten unmöglich zu machen oder nicht«, erwiderte die ältere Dame. »Ein gewisser Superintendent Needle glaubt nämlich daran, ich hingegen nicht!«
»Bestehen Mylady auch in dieser Hinsicht auf eine Aktennotiz?« schaltete der Butler sich gemessen ein.
»Unsinn«, hauchte sie ihn leicht gereizt an. »Sie wissen doch, daß ich diese Theorie verneine.«
»Darf ich mal etwas sagen, Mylady?« erkundigte sich May Purgess vorsichtig. Lady Simpson schüchterte sie ungewollt ein.
»Aber gern, liebes Kind«, gestattete die Resolute wohlwollend.
»Hinter vorgehaltener Hand tuschelt man in unserer Branche, daß die Steinway-Pictures ruiniert sein werden, wenn sie mit ihrem Film nicht vor uns auf dem Markt sind.«
»Ich verstehe«, behauptete die Detektivin, »aber können Sie das dennoch etwas ausführlicher bringen?«
»Die Steinway-Pictures und wir haben im Grund denselben Filmstoff, Mylady«, sagte May Purgess. »Der Streifen, der zuerst in den Kinos sein wird, macht klar das Rennen, darüber gibt es keinen Zweifel.«
»Das klingt allerdings interessant«, entschied Lady Simpson und sah ihren Butler auffordernd an. »Machen Sie doch eine Aktennotiz, Mister Parker. Ich glaube, daß ich jetzt meinen Stoff gefunden habe, aber das sagte ich ja wohl schon!«
*
Der Vampir ließ sein Opfer nicht aus den Augen.
Er saß in einem, neutral aussehenden Ford und beobachtete May Purgess, die aus dem altehrwürdigen Stadthaus der Agatha Simpson kam und in einem Wagen Platz nahm, dessen hintere Tür von Butler Parker höflich und dienstbereit geöffnet wurde.
Dieser Wagen paßte zum Haus, das noch ganz aus Fachwerk bestand, wie übrigens auch die benachbarten Häuser an diesem kleinen Platz. Inmitten von London war das hier eine Insel, die aus dem Mittelalter stammte. Die Häuser gingen nämlich auf jene Zeit zurück und hatten sich gegen die monströsen Riesen aus Glas und Beton durchgesetzt. Agatha Simpson war die Besitzerin und dachte nicht im Traum daran, ihr Eigentum etwa an Spekulanten zu verkaufen.
Parkers Wagen paßte in diese Umgebung, obwohl er natürlich weit jünger war. Es handelte sich um ein ehemaliges Londoner Taxi, das nach Parkers Vorstellungen und Wünschen umgestaltet worden war. Rein äußerlich war an diesem Vehikel nichts verändert worden, doch unter dem eckigen Blechkleid schlug ein modernes Motorherz mit acht Zylindern, das dem Wagen eine phantastische Geschwindigkeit verlieh. Obwohl der Aufbau nach wie vor eckig war, obwohl der Wagen schrecklich hochbeinig wirkte, verfügte er dank eingebauter Stabilisatoren über eine sagenhafte Straßenlage.
Die junge, attraktive Schauspielerin hatte sicher keine Ahnung, daß sie sich in einer überdimensional großen Trickkiste auf Rädern befand. Parker hatte eine Menge Überraschungen einbauen lassen, um etwaige Gegner in Verlegenheit zu bringen.
Der Vampir war sich nicht ganz sicher, ob er es mit der richtigen May Purgess zu tun hatte.
Schon mal war er auf ein Double hereingefallen und beinahe gefaßt worden. Eine Wiederholung sollte ihm nicht passieren. Unbewußt faßte deshalb der Vampir nach seiner immer noch schmerzenden Schulter und Nase. Die falsche May Purgess hatte ihn ganz schön zugerichtet. Dafür wollte er sich bei nächstbester Gelegenheit blutig rächen.
Der Vampir wußte, daß er jetzt keinen weiteren Fehler mehr begehen durfte. Um ein Haar hätte man ihn bereits erwischt und demaskiert.
Wollte man ihn in eine Falle locken? Erwartete man von ihm, daß er dem Wagen folgte? Unterstellte man, daß er Lady Simpsons Haus beobachtete? Wurde er seinerseits vielleicht schon beobachtet, ohne es bisher bemerkt zu haben?
Der Vampir geriet bei diesem Gedanken in eine gelinde Panik. Er drehte sich abrupt um und beobachtete die Durchgangsstraße, an deren Rand er parkte. Er stand in einer langen Reihe abgestellter Wagen und konnte eigentlich kaum auffallen. Und doch hatte er plötzlich ein kaltes Gefühl im Nacken. Am liebsten hätte er den Wagen verlassen und das Weite gesucht. Zum Henker mit der fetten Prämie, die auf ihn wartete!
Der Vampir wurde abgelenkt, denn der hochbeinige Wagen war nicht weitergefahren. Er schien eine Panne zu haben, stand am Straßenrand und wurde von dem skurril aussehenden Butler inspiziert. Parker war ausgestiegen, hatte die Motorhaube geöffnet und beugte sich weiter nach vorn.
War das die Chance, die sich dem Vampir überraschend bot? Er brauchte doch nur auszusteigen und die Sache hinter sich zu bringen. Es war erfreulich dunkel, man würde ihn überhaupt nicht bemerken …
Der Vampir, der völlig normal gekleidet war und überhaupt nicht dämonisch aussah, dachte wieder an seine Prämie, stieg aus dem Wagen und fingerte dabei nach seiner Waffe, die in der Innentasche seines Jacketts steckte. Es handelte sich um eine Automatik, auf der saß ein moderner Schalldämpfer. Damit konnte man fast geräuschlos seine Opfer erledigen.
Der Vampir blieb in Deckung der parkenden Wagen, arbeitete sich schnell nach vorn, bis er die Höhe des hochbeinigen Wagens erreicht hatte. Dann zog er seine Schußwaffe, visierte den Rücken des Butlers an und erhielt genau in diesem Augenblick einen fürchterlichen Schlag auf den Hinterkopf.
Wie von einem unsichtbaren Blitz getroffen sackte der Vampir sofort in sich zusammen und trat geistig ab von der Mordbühne.
*
»Du lieber Himmel, ist das eine Jugend«, sagte Lady Simpson und sah kopfschüttelnd auf den jungen Mann hinunter, den sie gerade mit ihrem Pompadour gefällt hatte. »Kein Durchstehvermögen!«
»Vielleicht haben Mylady etwas zu nachdrücklich agiert«, gab Josuah Parker zu bedenken und sah betont auf den Pompadour in der Hand seiner streitlustigen Herrin.
»Papperlapapp, Mister Parker.« Sie maß ihn mit strengem Blick. »Richtig betrachtet, habe ich diesen Jüngling ja fast nur liebevoll gestreichelt.«
Der junge Mann litt noch sichtlich darunter und war nicht vernehmungsfähig. Er war von Parker und Kathy Porter in Myladys Stadthaus verbracht worden und hing nun schlaff in einem durchaus bequemen Sessel.
»Eine recht aufschlußreiche und interessante Bekanntschaft«, sagte Parker, der die Taschen des jungen Mannes durchsuchte und einige seltsam aussehende Gegenstände auf den kleinen Beistelltisch legte. Es handelte sich um eine Zahnprothese mit überlangen und dolchartigen Reißzähnen, wie man sie bei Vampiren vermutete, um eine verschraubbare Dose mit kalkweißem Puder und um zwei Handschuhe, deren Fingerlinge in spitzen Krallen ausliefen.
»Die Requisiten eines Vampirs«, sagte Lady Simpson erfreut, »die sollte Mister William P. Petters sich mal gründlich ansehen. Vielleicht schwört er dann von seinem Glauben an Vampire ab.«
»Hinweise auf die Person dieses Vampirs sind leider nicht zu entdecken«, meldete Parker sich zu Wort, »aber möglicherweise wird der junge Mann mit entsprechenden Auskünften dienen, Mylady.«
»Er wird, Mister Parker, er wird! Und wenn er nicht will, so werde ich ihm Beine machen«, schwor Agatha Simpson grimmig. »Ich bin sicher, daß es dieser Lümmel war, der mich im Korridor des Ateliers erschreckt hat.«
»Ich kenne den Mann«, ließ sich die echte May Purgess in diesem Augenblick vernehmen. Sie musterte das Gesicht des jungen Mannes aufmerksam. »Aber ich weiß nicht, wo ich ihn hintun soll. Ich bin sicher, ihn schon oft gesehen zu haben.«
»Erinnern Sie sich, meine Liebe«, ermunterte Lady Simpson die Schauspielerin, »gehört er zum Atelierpersonal?«
»Jetzt weiß ich es!« May Purgess nickte nachdrücklich. »Er ist Kellner in der Kantine, ich weiß es ganz genau.«
»Richtig, meine Liebe!« Lady Simpson erinnerte sich ebenfalls. »Er servierte mir eine kleine Erfrischung, bevor er mich dann als Vampir anfiel.«
»Falls besagter junger Mann es war«, schränkte der Butler die Aussage ein. »Mylady gingen, wenn ich daran erinnern darf, von der Existenz mindestens zweier Vampire aus.«
»Ich würde diesen Flegel liebend gern erschrecken«, gestand die resolute Dame und wandte sich an Parker. »Haben Sie entsprechende Vorschläge zu machen, Mister Parker?«
»Wenn Mylady darauf bestehen, könnte man den Gast in einen der Souterrainräume bringen.«
»Was gibt es denn dort?« fragte die junge Schauspielerin.
»Sehen Sie es sich an«, lud Lady Simpson ihren jungen Gast zum Mitkommen ein. »Sie sind ja Spezialistin für Horroreffekte, nicht wahr? Es könnte sein, daß Sie noch etwas dazulernen.«
Das altehrwürdige Haus hatte es in sich!
May Purgess staunte nicht schlecht, wie groß und gut ausgebaut die Souterrainräume waren. Aber sie wußte nicht alles und bekam auch die eigentlichen Geheimnisse nicht gezeigt. Unter diesen Räumen erst befanden sich die eigentlichen Kellerräume, die man nur über einen geheimen Zugang erreichte. Im Mittelalter hatte sich hier, wo das Haus jetzt stand, mal eine Abtei befunden. Entsprechend waren die gewaltigen Gewölbe.
May Purgess sah diese Kellerräume nicht, doch sie fuhr auch so entsetzt zurück, als Parker eine Tür öffnete und Licht einschaltete.
Eine magische Beleuchtung glomm auf, die den Raum in unheimliches Licht tauchte. An einer Wand standen Terrarien, die indirekt beleuchtet wurden. In diesen Terrarien krochen Schlangen, giftig und bunt schillernd, ekelerregend und aggressiv zugleich.
Das Zischeln war deutlich zu hören.
Zu May Purgess’ Entsetzen schickten sich zwei meterlange Reptilien gerade an, über den Rand eines Terrariums zu kriechen.
»Was halten Sie von diesem Schreckenskabinett?« erkundigte sich Lady Simpson freundlich. »Keine Sorge, meine Liebe, diese Viecher sind relativ harmlos, wenn man sie nur richtig behandelt.«
Während sie redete, ging sie auf das bewußte Terrarium zu und griff wie selbstverständlich nach einer Schlange.
May Purgess stieß einen Angstschrei aus und wollte den kleinen Keller fluchtartig verlassen.
*
Der Vampir war zu sich gekommen, rieb den Hinterkopf und brauchte einige Sekunden, bis seine Erinnerung wieder intakt war. Er schaute sich nervös um, entdeckte die Terrarien und zog instinktiv seine Beine an. Dann schob er sich gegen die Wand und stierte auf das wogende Gewimmel in den großen Glasbehältern. Der Vampir sah die beiden überlangen Schlangen, die aus dem Terrarium krochen und stieß einen äußerst grellen Schrei aus. Er kroch zur Tür, richtete sich hier auf, lehnte gegen das Türblatt und hämmerte mit beiden Fäusten verzweifelt gegen das Holz.
»Rauslassen«, schrie er entsetzt. »Laßt mich raus! Hört mich denn keiner? Ich will raus! Hilfe! Hilfe!«
Hinter der Tür rührte sich nichts.
Der Vampir schielte hinüber zu den Terrarien, speziell zu den beiden überlangen Vipern, die sich immer weiter und ausgesprochen zielstrebig aus dem Terrarium schlängelten. Erst jetzt merkte der Vampir, wie stickig heiß es im Keller war, wie sehr es nach abgestandenem, warmen Wasser und nach verfaultem Fleisch roch. Eine Schlangengrube konnte nicht unheimlicher und angsteinflößender sein.
»Hilfe!« brüllte der Vampir und war nur noch ein Häufchen Elend, hämmerte gegen die Tür und schwitzte Blut und Wasser.
»Was kann ich bitte für Sie tun?« hörte er dann zu seiner grenzenlosen Erleichterung eine höfliche Stimme. Eine kleine Klappe in der soliden Tür hatte sich geöffnet, ein Teil von Parkers Gesicht war zu sehen.
»Die Schlangen«, keuchte der Vampir, »sie brechen aus. Lassen Sie mich raus, bitte!«
»Das würde meine Kompetenzen überschreiten«, antwortete der Butler bedauernd. »Mylady hat strikte Anweisung gegeben, Sie in diesem Raum zu belassen.«
»Aber warum denn?« heulte der Vampir.
»Mylady sind, im Vertrauen gesagt, ein wenig rachsüchtig«, erklärte Josuah Parker. »Mylady kann nicht so leicht vergessen, daß sie im Korridor des Filmateliers erschreckt wurde.«
»Aber das bin ich doch überhaupt nicht gewesen! Mein Ehrenwort, das war ich nicht! Lassen Sie mich endlich raus, bitte! Die Biester sind frei.«
»Sie waren nicht der Vampir, der Mylady erschreckt hat?« wunderte sich Parker sichtlich. »Darf ich auf die Requisiten verweisen, die sich in Ihren Taschen fanden?«
»Ich war es nicht!«
»Dann müssen Sie aber identisch sein mit jenem Vampir, der Miß Purgess’ Wohnung einen Besuch abstattete, nicht wahr?«
»Das bin ich gewesen!« Der junge Mann nickte heftig.
»Sie wollten Miß Purgess ermorden?«
»Niemals! Ich sollte sie ja nur erschrecken.«
»In wessen Auftrag?«
»Die Schlangen«, erinnerte der junge Vampir und schielte nach den beiden Reptilien, die sich immer weiter aus dem Terrarium herausschoben.
»Die Wahrheit«, erinnerte Josuah Parker höflich.
»Ich kenne unseren Auftraggeber überhaupt nicht«, keuchte der ängstliche Vampir, der sich vor Schlangen fürchtete. »Wir haben die Aufträge immer postlagernd abgeholt.«
»Wer außer Ihnen betätigt sich noch als Vampir?« stellte der Butler seine nächste Frage.
»Zwei Freunde«, gestand der Vampir und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht, wobei er wieder nach den beiden armdicken Schlangen schielte.
»Die Namen, wenn Sie so freundlich sein wollen …«
»Les Witman und Peter Lormers.«
»Vergessen Sie Ihren Namen nicht, falls sich das einrichten läßt!«
»Ich heiße Paul Stream«, gestand der Vampir.
»Und wer von Ihnen ermordete nun den Schauspieler Rob Penwood?«
»Keiner von uns, Ehrenwort, Sir! So was würden wir nie machen! Wir sind ja selbst überrascht, daß es überhaupt zu einem Mord gekommen ist. Das war nämlich nicht ausgemacht.«
»Und wer beging den Fehler, Lady Simpson zu erschrecken?«
»Das ist Les Witman gewesen. Auch er wollte sie nicht morden, so glauben Sie mir doch!«
»Ich fürchte, ich werde mich schelten lassen müssen«, sagte Josuah Parker, »aber ich werde dieses Risiko auf mich nehmen. Ich denke, ich werde Sie herauslassen. Wenn Sie sich einen Moment gedulden wollen.«
Der junge Vampir brach fast zusammen, als sich die Tür öffnete. Er drängte nach draußen, zitterte am ganzen Leib und atmete erst auf, als die Tür sich wieder schloß.
»Wenn Sie es wünschen, werde ich Ihnen eine kleine Erfrischung anbieten«, sagte Parker. »Mylady ist im Augenblick nicht anwesend. Sie sollten mir jetzt Ihre Geschichte erzählen, die sicher recht aufschlußreich sein wird.«
Der Vampir hatte sich überraschend schnell von seinem Schock erholt und wollte dem Butler an den Kragen. Es zeigte sich, daß der Vampir ein erstklassig durchtrainierter Sportler war, was der Butler aber bereits im vorhinein vermutet hatte.
Der Vampir schlug mit aller Kraft zu und landete seine Rechte in Höhe von Parkers Magen.
Daraufhin stöhnte der Angreifer beeindruckt auf und starrte in einer Mischung aus Verblüfftsein und rasendem Schmerz auf seine leicht deformierten Fingerknöchel, während der Butler überhaupt keine Reaktion zeigte.
Josuah Parker hatte den harten, fast grausamen Schlag wie selbstverständlich hingenommen, was aber wohl in erster Linie mit der gebogenen Stahlplatte zusammenhing, die sich unter seiner Weste befand. Sie hatte die Wucht des Schlages völlig abgebremst und die Fingerknöchel des Vampirs in echte Verlegenheit gebracht.
»Neben der angebotenen Erfrischung kann ich auch mit einer gut sortierten Hausapotheke dienen«, sagte der Butler gemessen. »Wenn Sie mir jetzt bitte folgen wollen!«
*
Wie Vampire sahen sie nicht aus.
Sie wirkten eingeschüchtert und duckten sich unter dem strengen Blick der resoluten Dame. Die beiden jungen Männer namens Les Witman und Peter Lormers befanden sich seit einer Viertelstunde in der Stadtwohnung von Lady Simpson. Sie waren sofort gekommen, nachdem sie von ihrem Freund Paul Stream angerufen worden waren.
»Wenn es gestattet ist, fasse ich die Tatsachen noch mal zusammen«, sagte Josuah Parker. »Sie sind also Kaskadeure, die ihre Kunst vermieten.«
»Das ist richtig, Mister Parker«, erwiderte Peter Lormers, der Wortführer der drei jungen Männer. »Wir übernehmen in Filmen die Schlägereien und gefährlichen Aufnahmen.«
»Und Sie betätigten sich auch als Vampire?«
»Mit dem Mord an Rob Penwood haben wir nichts zu tun«, schickte Lormers schnell voraus. »Wir sollten nur als Vampire erscheinen und ein paar Leute erschrecken.«
»Was Ihnen um ein Haar gelungen wäre«, schaltete Agatha Simpson sich gereizt ein und maß Les Witman mit grimmigem Blick.
»Ich war auch ganz schön durcheinander, Lady«, sagte Les Witman. »Ihr Schrei hatte sich gewaschen. Ich hör’ ihn jetzt noch.«
»Das war alles sehr ungezogen von Ihnen«, stellte Agatha Simpson fest.
»Wir waren pleite und froh, daß wir diesen Job bekamen«, gestand Paul Stream und massierte sich die Hand, die immer noch schmerzte. »Und ehrlich, wir wollten ohnehin aussteigen, die ganze Sache war uns zu gefährlich geworden.«
»Wegen des Mordes an Mister Penwood?« erkundigte sich Parker, um ihnen eine Brücke zu bauen. Er hatte als guter Menschenkenner längst eingesehen, daß die drei jungen Männer als Mörder nie in Betracht kamen. Sie waren in diesem Fall nur Statisten.
»Genau, Mister Parker«, bestätigte Peter Lormers, »mit Mord wollen wir nichts zu tun haben.«
»Und auch nicht mit Ihnen«, räumte Les Witman ein und warf Lady Simpson einen leicht scheuen Blick zu. »Die ganze Sache war uns bereits über den Kopf gewachsen.«
»Wie konnten Sie in Miß Purgess’ Wohnung überhaupt entwischen?« wollte die ältere Dame von Paul Stream wissen.
»Ich rannte durch eine andere Wohnung«, bekannte der unechte Vampir verlegen. »Sie haben ja vielleicht den Schrei der Bewohnerin gehört, als ich durchbrannte.«
»Er war recht beachtlich«, bestätigte Lady Simpson und lächelte schadenfroh. »Es war Ihr Glück, junger Mann, daß Sie diesen Fluchtweg wählten.«
»Was werden Sie jetzt mit uns machen?« erkundigte sich Peter Lormers nervös. »Zugegeben, wir haben Unsinn gemacht, aber müssen Sie uns unbedingt der Polizei übergeben? Wir sind schließlich freiwillig gekommen.«
»Was schlagen Sie vor, Mister Parker?« wollte die Detektivin von ihrem Butler wissen.
»Diese drei Vampire sollten wir zurück in ihr Privatleben schicken, wenn ich diesen Rat geben darf, Mylady.«
»Für uns ist der Ofen aus«, schwor Les Witman und hätte um ein Haar sogar die Hand gehoben, »als Vampir treten wir bestimmt nicht mehr auf.«
»Bleibt immer noch der Mord an Mister Penwood und der Schuß auf Mister Parker«, erinnerte Lady Simpson hartnäckig. »Wer könnte Ihrer Ansicht nach dieser Mörder sein? Sie müssen sich darüber doch Gedanken gemacht haben.«
»Wir haben wirklich keine Ahnung, Mylady«, antwortete Peter Lormers und schüttelte ratlos den Kopf. »Wir haben unsere Einsätze ja immer nur postlagernd bekommen.«
»Darüber werden Sie das Denken nicht vergessen haben.«
»Es muß einer sein, der sich in den Ateliers auskennt«, räumte Paul Stream ein, »es muß einer sein, der die Schauspieler kennt.«
»Wissen Sie mit dem Begriff Steinway-Pictures etwas anzufangen?« erkundigte sich Josuah Parker.
»Die stehen dicht vor der Pleite«, antwortete Lormers. »Wir prozessieren mit Hermann Briggs, weil er unser Honorar nicht ausgezahlt hat.«
»Briggs ist ein mieser Typ«, stellte Paul Stream fest. »Der verspricht das Blaue vom Himmel herunter, aber wenn er zahlen soll, hat er plötzlich Gedächtnislücken.«
»Wie Sie, junger Mann«, sagte Agatha Simpson streng. »Bisher haben wir noch gar nicht über die Automatik gesprochen, die wir bei Ihnen fanden.«
»Dazu möchte ich ebenfalls gern eine Erklärung hören«, warf der Butler ein, und hielt die Waffe demonstrativ hoch.
»Ich hoffe, daß Sie mit einer guten Geschichte dienen können.«
»Ich – ich sollte Sie mit ein paar Schüssen einschüchtern«, sagte Paul Stream verlegen und stotterte. »Aber ich hätte nie genau gezielt, Mylady, Ehrenwort!«
»Noch schlimmer«, raunzte die alte Dame. »Wie leicht kann gerade dann etwas passieren!«
»Sie können gehen«, ließ der Butler sich vernehmen, »möglicherweise finden Sie auf den sprichwörtlichen Pfad der Tugend zurück. Falls nicht, könnte sich das früher oder später als recht ungünstig für Sie erweisen.«
»Sie lassen uns wirklich laufen?« hoffte Peter Lormers.
»Mylady ist nicht weiter an Ihnen interessiert«, sagte Parker.
»Das werden wir nie vergessen«, schwor Les Witman erleichtert.
»Keine unnötigen Versprechungen«, herrschte die resolute Dame die drei unechten Vampire an. »Beeilen Sie sich, ich könnte meine Großzügigkeit sonst noch bereuen!«
Paul Stream, Les Witman und Peter Lormers verwandelten sich in gut geölte Blitze. Josuah Parker folgte ihnen nachdenklich und gemessen, um die Wohnungstür zu öffnen. Er fragte sich insgeheim, ob es richtig war, die drei Kaskadeure gehen zu lassen. Zumindest ein gewisser Mister Needle mochte erheblich anders darüber denken!
*
Kathy Porter saß in ihrem kleinen Mini und verfolgte die drei Kaskadeure.
Butler Parker hatte die langbeinige attraktive, Sekretärin Lady Simpsons auf sie angesetzt. Er wollte liebend gern wissen, wohin die drei jungen Männer jetzt fuhren, was sie planten und mit wem sie sich vielleicht unterhielten. Er traute ihnen nicht recht über den Weg. Ihre Geständnisfreudigkeit konnte ein ausgekochter Trick sein.
Kathy Porter freute sich, endlich wieder mal allein arbeiten zu können. Sie war eine begabte Schülerin des Butlers, der sie in eine Reihe raffinierter Tricks eingewiesen hatte. Kathy Porter erinnerte auf den ersten und zweiten Blick an ein unschuldiges und scheues Reh, doch der äußere Schein trog auf der ganzen Linie. Sie war sehr sportlich und wußte sich ihrer Haut zu wehren. Sie setzte diese Haut allerdings auch manchmal als eine Art Geheimwaffe ein, denn sie war sich ihrer Wirkung auf die Mehrzahl der Männer durchaus bewußt und konnte ihre Hilflosigkeit ganz nach Bedarf ausspielen. Wer sich allerdings mit ihr anlegte, der erlebte mit Sicherheit böse Überraschungen. In Karate zum Beispiel war Kathy eine wahre Meisterin. Zudem war sie von Parker mit einigen Geheimwaffen ausgestattet worden, die aus der Bastelstube des Butlers stammten.
Das Glanzstück dieser Geheimwaffe war Kathys Perlenkette.
Sie sah harmlos und durchschnittlich aus und wirkte noch nicht mal echt. Sie mochte aus einem Laden für Pop-Schmuck stammen, aber sie hatte es in sich. Die verschieden großen Perlen ließen sich je nach Zweck abpflücken und speziell verwenden. Weiter verfügte Lady Simpsons Sekretärin über einige Ringe, die eine Art doppelten Boden besaßen und schließlich über Ohrclips, die von Parker selbstverständlich ebenfalls präpariert worden waren. Schußwaffen benutzte Kathy fast nie, sie hätten zu ihrem äußeren Erscheinungsbild nicht gepaßt.
Von Josuah Parker hatte sie gelernt, wie man unauffällig einen Wagen verfolgt. Kathy sorgte für den richtigen Abstand, riskierte auch hin und wieder Abkürzungen, wenn sie sicher sein durfte, daß sie nicht abgeschüttelt werden konnte, und fiel mit ihrem Mini kaum auf. So auch jetzt, als sie die drei Kaskadeure im Visier hatte, die wohl nicht damit rechneten, verfolgt zu werden.
Schon nach zehn Minuten wußte Kathy, daß die jungen Männer offensichtlich zurück in ihre gemeinsame Wohnung fuhren, die im Osten der Stadt lag. Trotz der schon späten Nachtstunde war der Verkehr in den Straßen der City beachtlich. Kathy fand immer wieder eine Möglichkeit, sich durch harmlose Fahrzeuge abdecken zu lassen. Nach weiteren fünfzehn Minuten war sie sich ihrer Sache sicher. Die drei Männer planten auf keinen Fall einen Umweg und sehnten sich nach Ruhe.
Sie parkten ihren Wagen vor einem dreistöckigen, schäbig aussehenden Haus und stiegen aus. Gemeinsam verschwanden sie im Eingang, ohne sich auch nur andeutungsweise nach etwaigen Verfolgern umzuwenden.
Kathy Porter verließ ebenfalls den Wagen, sah an der Hausfront hoch und wartete darauf, hinter welchem Fenster das Licht eingeschaltet wurde.
Es dauerte nur knapp zwei Minuten, bis es aufflammte. Mit dem Licht wurde bedauerlicherweise aber auch eine Sprengladung gezündet. Es entstand eine. Detonation. Ein greller Lichtschein zuckte in die Dunkelheit hinaus und blies die Fensterscheiben samt Rahmen auf die Straße und hüllte anschließend die dritte Etage in eine dichte, grauschwarze Staubwolke.
*
Kathy Porter starrte entsetzt auf die Verwüstung und wußte sofort, daß keiner der drei Kaskadeure mit dem Leben davongekommen sein konnte. Dazu war die Sprengladung in der gemeinsamen Wohnung der jungen Männer zu stark gewesen.
Ihr Auftraggeber hatte sie umgebracht, um jeder Entdeckung seiner Person aus dem Weg zu gehen. Daraus ließ sich schließen, daß die drei Kaskadeure wohl doch mehr gewußt hatten, als sie Parker gegenüber zugegeben hatten.
Kathy hörte bereits eine Polizeisirene und ging zu ihrem Mini zurück. Hier konnte sie mit Sicherheit nicht mehr helfen, wollte allerdings auch vermeiden, daß ihr Name in der Liste der Zeugen erschien. Superintendent Needle würde ihren Namen sofort entdecken und unangenehme Fragen stellen.
Als Kathy ihren Mini erreichte und die Wagentür öffnen wollte, verspürte sie plötzlich einen festen Gegenstand im Rückgrat. Sie wußte sofort, daß es sich nur um den Lauf einer Schußwaffe handeln konnte, blieb also mitten in der Bewegung stehen und rührte sich nicht.
»Sehr schön«, hörte sie eine gelassene, fast sympathische Stimme, »da weiß man doch wenigstens, daß man es mit einem Insider zu tun hat.«
»Darf ich mich umdrehen?« fragte Kathy.
»Sehr schön«, hörte sie eine gelassene Stimme hinter ihr. »Tun Sie’s lieber nicht, ein Schuß würde hier überhaupt nicht weiter auffallen.«
Die Stimme, die zu einem Mann gehörte, war sich ihrer Sache sicher. Die ersten beiden Streifenwagen der Polizei waren angekommen, Uniformierte stiegen aus, drängten die neugierigen Nachtschwärmer zurück, die Sirenen von einigen Feuerlöschwagen dröhnten durch die Straßenschlucht und Motoren heulten. Ein schallgedämpfter Schuß fiel absolut nicht auf.
Kathy überschätzte sich keineswegs und wußte, daß sie im Augenblick nichts ausrichten konnte. Sie war im richtigen Moment überrascht worden und hatte es mit einem Profi zu tun, der sicher gnadenlos schoß, falls sie eine falsche Bewegung machte.
Sie zuckte zusammen, als sie einen Nadelstich unterhalb der rechten Hüfte verspürte.
»Nicht aufregen«, sagte die sympathische Stimme, »nur ’ne kleine Betäubungsspritze, damit ich unterwegs keinen Ärger habe. Bleiben Sie ’nen Augenblick stehen!«
Was sollte sie schon machen? Kathy gehorchte und spürte bald, wie wirkungsvoll diese Injektion war. Eine lähmende Müdigkeit breitete sich in ihr aus, eine Gleichgültigkeit, die wohl tat. Sie rutschte in sich zusammen und wurde von einer starken Hand abgefangen, bevor sie restlos zu Boden glitt.
»Einsteigen«, sagte die gelassene Stimme, »durchrutschen auf den Nebensitz.«
Das schaffte Kathy gerade noch, doch dann war es mit ihrer Kraft vorbei. Haltlos fiel sie und schloß die Augen. Sie hörte, daß der Wagen sich in Bewegung setzte, aber sie spürte es nicht. Kathy hatte erstaunlicherweise keine Angst. Eine wohlige Wärme durchlief ihren Körper, sie hörte ein leises Auflachen, dann war sie bereits fest eingeschlafen.
Sie erwachte völlig übergangslos und wußte natürlich nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Sie hob vorsichtig den Kopf an, wartete darauf, daß sich die Schmerzen meldeten, und wurde angenehm enttäuscht. Kathy Porter fühlte sich frisch und ausgeruht und schaute sich erstaunt in dem großen Raum um, in dem sie sich befand.
Ihr kam es so vor, als habe man sie zurück ins Mittelalter versetzt. Sie sah in dem großen Raum romanische Rundbogenfenster und lag auf einem breiten Baldachinbett. Kathy Porter stand auf, prüfte sicherheitshalber ihre Glieder und stellte bei dieser Gelegenheit fest, daß sie ein tief ausgeschnittenes Nachthemd trug, unter dem sie völlig nackt war.
Sie fragte sich natürlich, ob der Mann, der sie vor ihrem Mini überrumpelt hatte, in diese spärliche Bekleidung gesteckt hatte. Falls das stimmte, ließ es sich auch nicht ändern. Kathy war nicht prüde, es machte ihr nichts aus, daß man ihren Körper mit Blicken abgetastet hatte. Sie wunderte sich nur, warum man diesen Aufwand trieb.
Wer war der Entführer? Handelte es sich um den geheimnisvollen Auftraggeber der drei Kaskadeure, die man in die Luft gesprengt hatte?
Agatha Simpsons Sekretärin lief auf nackten Füßen zum Fenster und versuchte es zu öffnen. Es war fest verschlossen und gestattete keinen Blick nach draußen. In dem schweren Eisenrahmen befanden sich gewölbte und bunt bemalte Butzenscheiben, hinter denen schwaches Licht zu erkennen war.
Kathy ging den Dingen stets auf den Grund. Das hatte sie wiederum von einem gewissen Josuah Parker gelernt. Kurz entschlossen sah sie sich nach einem geeigneten Gegenstand um, entschied sich für einen schweren Sitzhocker, nahm ihn hoch und wollte ihn gegen die Butzenscheiben schmettern, als sie plötzlich das häßliche Quietschen einer schlecht geölten Tür hörte.
Kathy Porter fuhr herum und erstarrte.
Ein satanisch aussehender Vampir hatte den großen Raum betreten. Er war übergroß, hager und schwarz gekleidet. Er trug eine Art Trikot und darüber einen wadenlangen Umhang. Der Vampir, dessen Gesicht kalkweiß war, streckte seine Arme wie in Trance vor und kam direkt auf sie zu.
Sein Mund öffnete sich und gab den Blick frei auf überlange, dolchartige Stoßzähne.
*
»Das sieht aber gar nicht gut aus«, stellte Lady Simpson beeindruckt fest, als Parker den hochbeinigen Wagen stoppte. Die ältere Dame konnte von ihrem Sitz aus das im Obergeschoß verwüstete Haus gut überblicken. Auf der Straße waren noch immer die Fahrzeuge der Polizei und der Feuerwehr zu sehen. Zwei Spitalwagen fuhren gerade langsam an und verschwanden in einer Seitenstraße.
»Leider muß ich Mylady beipflichten«, ließ Parker sich am Steuer seines Wagens vernehmen. »Es scheint sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um die Wohnung der drei Kaskadeure zu handeln.«
»Stimmt die Adresse wirklich?« wollte seine Herrin ohne Nachdruck wissen.
»Ich ließ sie mir von Mister Morgan Patch geben«, sagte Parker. »Ihm waren die Namen der drei Kaskadeure bekannt. Sie arbeiteten schon verschiedentlich für die Westwood-Ateliers.«
»Ich möchte bloß wissen, wo Kathy steckt«, sorgte sich die Detektivin. »Sie müßte uns doch längst entdeckt haben.«
»Mister Needle ist auf Mylady aufmerksam geworden«, antwortete der Butler und deutete diskret mit der Hand auf den Superintendent, der bereits vergrämt und offensichtlich müde heranmarschierte und Lady Simpson zunickte.
»Was für ein Zufall«, stellte er fest.
»Unsinn«, fauchte Lady Simpson sofort gereizt. »Lassen Sie dieses dumme Vorspiel, Superintendent! Sie wissen genau, daß wir nicht zufällig vorbeigekommen sind.«
»Dann muß ich mich getäuscht haben«, entschuldigte sich Needle, ohne aus der Fassung zu geraten. »Sie sind wegen der drei Kaskadeure gekommen?«
»Stream, Witman und Lormers«, bestätigte Agatha Simpson ohne jede Umschweife. »Was ist mit ihnen passiert?«
»Sie sind beim Betreten ihrer gemeinsamen Wohnung offensichtlich in die Luft gesprengt worden.«
»Alle drei Männer tot?«
»Mister Stream dürfte noch geringe Chancen haben«, berichtete Needle weiter. »Sie kannten diese drei Männer, Mylady?«
»Wären Mister Parker und ich sonst hier?«
»Sie werden verstehen, Mylady, daß ich ein paar Fragen an Sie richten muß.«
»Was versprechen Sie sich davon, Superintendent?«
»Eine schnelle Aufklärung des Verbrechens, Mylady.«
»Die wünschen wir ebenfalls. Hat sich bei Ihnen eine gewisse Kathy Porter gemeldet? Oder ist ihr Name irgendwie genannt worden?«
»Ihre Sekretärin?«
»Mehr, fast meine Tochter! Also, die Antwort!« Sie sah ihn grimmig an, denn sie sorgte sich wirklich um Kathy.
»Die Fragen, Mylady, wollte eigentlich ich stellen«, bekannte der Superintendent sanft.
»Hat sie sich nun gemeldet oder nicht?«
»Nein«, erwiderte der Detektivoffizier. »War Miß Porter mit den drei Kaskadeuren zusammen?«
»Mister Parker, geben Sie Mr. Needle die Einzelheiten«, wandte Lady Simpson sich an ihren Butler und stieg schneller aus, als Needle erwartet hatte. »Ich muß mir die Beine vertreten, Superintendent. Zudem habe ich keine Lust, mich mit Ihnen zu streiten.«
Parker schüttelte unmerklich den Kopf, als Needle prompt und verständlicherweise auffahren wollte.
Needle, der das mitbekommen hatte, verstand sofort und sah der älteren Dame nach, die langsam auf das ramponierte Haus zuging. Dann stieg er zu Parker in den Wagen und ließ sich Informationen geben.
Agatha Simpson marschierte inzwischen die Straße entlang und suchte nach einer Spür, die vielleicht auf Kathy wies. Sie war überzeugt, daß ihre Gesellschafterin in der Nähe des Hauses gewesen sein mußte.
Warum, so fragte sich Lady Simpson nervös, warum meldete Kathy sich nicht? Hatte sie eine neue Spur aufgenommen? Oder war sie in Schwierigkeiten geraten?
»Vorsicht, Madam«, redete sie ein junger Mann an, der Zivil trug und dennoch einen dienstlichen Eindruck machte. »Es besteht Einsturzgefahr.«
»Papperlapapp, junger Mann«, herrschte sie den Sprecher an. »Ich kann selbst auf mich aufpassen.«
»Sind Sie sicher?« erwiderte der junge Mann und ließ sie in die Mündung einer schallgedämpften Waffe blicken. »Ich schieße, wenn Sie Dummheiten machen!«
»Sie sind ein Flegel«, brauste Lady Simpson auf, ohne sonderlich beeindruckt zu sein. Dann aber zuckte sie leicht zusammen, denn in Höhe ihrer linken Hüfte bohrte sich ein spitzer Gegenstand in ihre Muskulatur.
Sie fuhr wütend herum und sah sich einem zweiten Mann gegenüber, der wesentlich älter war. Er grinste ausgesprochen frech, was Agatha Simpson überhaupt nicht gefiel.
Ohne sich um die schallgedämpfte Waffe des jungen Mannes zu kümmern, trat sie ihm energisch gegen das rechte Schienbein, worauf der Mann aufheulte wie ein Hund und auf eine Bein einen balkanesischen Nationaltanz improvisierte.
Dabei rutschte ihm eine Injektionsspritze aus der Hand.
*
Kathy Porter wich entsetzt zurück, starrte auf den Vampir und öffnete den Mund zu einem erstickten Aufschrei. Sie berührte mit dem fast nackten Rücken die kalte Mauer, wirkte wie ein in die Enge getriebenes Tier, sah sich verzweifelt nach einem Fluchtweg um und erlitt einen leichten Schwächeanfall.
Der Vampir kam näher, hatte sein kalkweißes Gesicht zu einem häßlichen und triumphierenden Grinsen verzogen, schloß und öffnete die Hände und zeigte feine, blutige Speichelbläschen in den Mundwinkeln.
»Nein, nein«, stöhnte Kathy Porter mit heiserer Stimme, die durch die Angst fast gelähmt war. »Bitte, nicht!«
Der Vampir schien nichts gehört zu haben. Mit starrem Blick sah er auf sein Opfer und hatte es fast erreicht. Aus seinen Mundwinkeln rannen fadendünne Blutfäden über das Kinn. Die langen, dolchartigen Zähne waren rot eingefärbt. Der Vampir gierte danach, sie in den Hals der jungen Frau zu schlagen und ihr Blut zu trinken.
Kathy schnellte sich verzweifelt vor und wollte diesen Zähnen und diesem Tod entgehen. Doch sie hatte nicht mit der Schnelligkeit des Vampirs gerechnet. Seine linke Hand schoß klauenartig vor und erwischte ihr Gewand. Mit häßlichem Reißen teilte sich der Stoff und blieb in Fetzen in den Klauen des Vampirs hängen. Kathy stolperte, fiel zu Boden, raffte sich wieder auf und wollte ihre Flucht fortsetzen. Sie sah zur Tür hinüber, durch die der Vampir gekommen war und … schrie entsetzt auf.
Ein zweiter Vampir erschien!
Er war untersetzt, dicklich, trug Kniehosen und ein mittelalterlich aussehendes Wams. Seine Füße steckten in spitz auslaufenden Schuhen, deren Bänder um die Waden gewickelt waren. Sein Gesicht war blutverschmiert, er schien gerade eine Zwischenmahlzeit zu sich genommen zu haben, war auf den Geschmack gekommen und wollte sich nun mit dem Hauptgang befassen.
Er war schnell auf den kurzen Beinen und hinderte Kathy daran, die Tür zu gewinnen. Er schnitt ihr den Weg ab, stieß hechelnde Laute der Gier aus und trieb die junge, langbeinige Frau zurück in Richtung Bett.
Der lange, dürre Vampir hatte inzwischen ebenfalls sein Tempo gesteigert und holte auf. Er hielt den Kleiderfetzen wie eine Fahne in der Hand und brabbelte unverständliche Laute, die Kathy nicht verstand.
Kathy hatte das riesige Bett mit dem schweren Baldachin erreicht. Für sie gab es jetzt keinen Ausweg mehr. Die beiden Vampire hatten sie in die Enge getrieben. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis sie in Aktion traten. Nein, sie hatte keine Chance mehr, diesen Bestien noch zu entkommen.
Sie spürten es, wurden langsamer in ihren Bewegungen, kosteten die Angst ihres Opfers voll aus, geiferten, produzierten blutigen Schaum in ihren Mundwinkeln und zeigten ihre dolchartigen Zähne.
Kathy zog sich auf das breite Bett zurück und bot einen wundervollen Anblick. Ihre irrsinnige Angst war deutlich zu sehen, wie das Ebenmaß ihrer Formen. Der Fetzen Stoff, der noch vorhanden war, reichte nicht aus, ihre Brüste zu bedecken. Selbst die beiden Vampire zeigten sich für einen Moment beeindruckt und vergaßen, ihre Stoßzähne in die gebräunte Haut der jungen Frau zu schlagen.
Einige Sekunden später konnten sie es bereits nicht mehr.
Kathys linke Ferse landete auf den Lippen des kleinen dicklichen Vampirs, dessen Gebiß sich daraufhin verformte. Seine Zähne brachen ab und landeten auf dem Boden. Der Vampir brüllte, hielt sich den Mund und fiel wie ein gefällter Baum der Länge nach zurück. Er landete neben seinen furchterregenden Beißern und stöhnte.
Der lange, dürre Vampir war schnell, doch nicht schnell genug. Er merkte wohl erst jetzt, daß er die ganze Zeit über von der jungen, scheinbar hilflosen Frau an der Nase herumgeführt worden war. Er wollte zwischen sich und sein Opfer eine gewisse Distanz bringen, aber seine Beine verfingen sich in dem Kopfkissen, das Kathy ihm nachgeworfen hatte. Der Vampir stolperte, geriet aus dem Gleichgewicht und keuchte überrascht auf, als Kathy sich gekonnt auf ihn hechtete und ihm einen Handkantenschlag versetzte, der ihm weiteres Keuchen unmöglich machte. Wie erstickt japste der Mann noch mal auf, bevor er sein Bewußtsein verlor.
Kathy Porter interessierte sich für die Requisiten der beide Vampire und betrachtete sich die enganliegenden Handschuhe, deren Fingerlinge in Krallen übergingen. Ähnliches kannte sie bereits von einer anderen Gelegenheit her.
Sie rührte sich nicht, als sie plötzlich eine etwas ironische Stimme hörte, die ihr bekannt vorkam.
»Ausgezeichnet, Miß Porter«, sagte diese Männerstimme. »Sie haben sich tapfer geschlagen. Sie machen mir Spaß. Ich bin gespannt, wie lange Sie durchhalten.«
»Warum lassen Sie sich nicht selbst blicken?« fragte Kathy in den Raum hinein. Sie wußte jetzt, daß sie die ganze Zeit über heimlich beobachtet worden war, ferner, daß die Stimme über einen Lautsprecher in den Raum getragen wurde. Wahrscheinlich verstand der heimliche Beobachter jedes hier noch so leise gesprochenes Wort.
»Ich liebe mein Inkognito«, sagte jemand mit sympathischer, gelassener Stimme, dessen Alter kaum zu erraten war. »Lassen Sie mir mein Vergnügen!«
»Sie müssen ganz schön pervers sein«, provozierte Kathy.
»Durchaus möglich, Miß Porter.« Die Stimme ließ keinen Ärger erkennen.
»Was versprechen Sie sich eigentlich von diesem ganzen Theater?« wollte Kathy wissen.
»Etwas Abwechslung«, war die Erwiderung, die wohl eindeutig von jenem Mann kam, der sie vor ihrem Mini überrascht hatte. Wie er ausgesehen hatte, wußte sie nicht mehr. Wahrscheinlich hatte sie sein Gesicht überhaupt nicht gesehen. Die Droge, die er ihr gespritzt hatte, war immerhin sehr stark gewesen.
»Was soll mit den beiden Vampiren geschehen?«
»Das ist Ihre Sache, Miß Porter. Sie werden wieder zu sich kommen und wahrscheinlich wütend sein.«
»Ich werde sie schon besänftigen.«
»Natürlich, für eine gewisse Zeit werden Sie das bestimmt schaffen, Miß Porter.«
»Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte Kathy, »wahrscheinlich sind Sie seelisch und körperlich verkrüppelt und trauen sich nicht an eine Frau heran, Sie Miesling!«
Sie provozierte schon nicht mehr, sie beleidigte den unsichtbaren Mann. Die junge Frau hoffte, ihn so aus seiner Reserve hervorzulocken. Sie wartete auf eine Antwort, doch sie blieb aus. Noch nicht mal ein feines Klicken zeigte an, ob er sich ausgeschaltet hatte oder nicht.
Kathy wußte sich zu helfen, doch sie verzichtete aus guten Gründen darauf, ihre Geheimwaffen einzusetzen. Voller Freude nahm sie nämlich zur Kenntnis, daß man ihr die Halskette und auch die Schmuckringe beließ. Damit konnte sie zu einem späteren Zeitpunkt gewiß noch einiges ausrichten. Im Augenblick kam sie auch so zurecht.
Kathy bot dem heimlichen Beobachter etwas und legte es darauf an, ihn zu reizen. Sie bewegte sich absichtlich so, daß er sich, wenn auch rein optisch, mit ihrem Körper befassen mußte. Kathy Porter sorgte dafür, daß seine Blicke ihn in Wallung brachten. Sie zerriß den Fetzen Stoff, den der lange Vampir noch in Händen hielt, verdrillte ihn und fesselte ihren Gegner damit. Dann kam der kleine, rundliche Vampir an die Reihe. Dazu benutzte Kathy das Bettlaken, das sie geschickt in Streifen riß. Es dauerte nur wenige Minuten, bis die beiden Vampire wehrlos waren.
Anschließend ging Kathy zurück zu den Fenstern, hob den Hocker und schmetterte ihn gegen die Butzscheiben, die klirrend barsten. Es war so, wie sie es sich fast schon gedacht hatte: Die Fenster waren nur Staffage. Hinter ihnen befand sich in einem Abstand von etwa einem Meter nichts als eine nackte Ziegelwand. Die mittelalterliche Atmosphäre war nur nachgeäfft worden und erinnerte an die Dekoration in einem Filmatelier.
Kathy Porter befaßte sich mit den Wänden und merkte schnell, daß sie aus Kunststoff bestanden, die die dicken Quader nur vortäuschten. Es war klar, daß sie es mit einem Mann zu tun hatte, der sich in solchen Dingen schon rein berufsmäßig auskannte. Sollte sie in die Hand eines verrückten Mannes geraten sein, der direkte Beziehungen zum Film hatte? Eines stand für sie fest, dieser Mann mußte über reichlich Geld verfügen, sonst hätte er sich diese Ausstattung niemals leisten können.
Zur Tür ging Kathy erst gar nicht. Sie wußte genau, daß sie bereits wieder verschlossen war. Der Mann, der sie hier festhielt, ging kein Risiko ein.
Kathy zertrümmerte auch das nächste Fenster und damit auch die Beleuchtung dahinter. Im großen Zimmer war es bereits erheblich dunkler geworden. Störend wirkte jetzt nur noch der solide aussehende Leuchter an der Decke.
Die junge Gesellschafterin schaffte es mit drei Würfen.
Nachdem der Hocker polternd in der Dunkelheit gelandet war, fühlte Kathy sich bereits erheblich sicherer. Ihr war auch klar, daß sie gewisse Absichten des Geheimnisvollen erst mal durchkreuzt hatte. Sie hatte ihn um sein Schauspiel betrogen.
*
Butler Parker war peinlich berührt.
Agatha Simpson war einfach nicht mehr aufzufinden, sie mußte praktisch unter seinen Augen entführt worden sein. Parker fand das unverzeihlich und hörte nicht weiter auf Superintendent Needle, der ihm und seiner Herrin juristische Konsequenzen ankündigte, da man der Polizei wertvolle Hinweise verschwiegen und sogar gegen die Ermittlungen gearbeitet habe.
»Meine mir angeborene Höflichkeit hindert mich daran, so zu antworten, Sir, wie ich es gern möchte«, stoppte er den Redefluß von Needle, der ihm nicht von der Seite wich. »Können Sie sich möglicherweise vorstellen, daß meine bescheidene Wenigkeit im Augenblick ganz andere Sorgen hat?«
»Diese Sorgen hat Lady Simpson sich selbst zuzuschreiben«, stellte Needle sanft fest. »Sie hätte die Ermittlungen den zuständigen Behörden überlassen sollen.«
»Ich möchte mir erlauben, Sir, mich zu verabschieden«, sagte Parker gemessen.
»Ausgeschlossen, Mister Parker! Sie werden mich in mein Büro begleiten«, entschied Needle, dessen Stimme nun etwas härter wurde. »Ich bin sicher, daß Sie mir nicht die ganze Wahrheit gesagt haben.«
»In der Tat, Sir«, räumte der Butler ehrlicherweise ein. »Ich muß gestehen, gewisse Retuschen vorgenommen zu haben.«
»Auch dafür wird man Sie unter Umständen zur Verantwortung ziehen«, erklärte Needle, nun überhaupt nicht mehr sanft. »Kommen Sie jetzt, ich fürchte, unsere Unterhaltung wird recht lange dauern!«
»Das, Sir, befürchte ich ebenfalls«, sagte Parker. »Darüber könnte man versäumen, Mylady zu Hilfe zu kommen.«
»Das wird jetzt von Fachleuten übernommen«, meinte der Superintendent.
»Und wo, Sir, wenn die Frage erlaubt ist, wollen Sie den sprichwörtlichen Hebel ansetzen?«
»Das wird sich finden.«
»Könnten Sie das in Anbetracht der Umstände ein wenig genauer definieren, Sir?«
»Schluß jetzt, Mister Parker! Kommen Sie!« Needle wußte keine Antwort auf Parkers Frage, gab sich aber knapp und überlegen und deutete hinüber auf seinen Dienstwagen, der in der Nähe stand.
Der Butler bedauerte es ungemein, dieser Einladung nicht Folge leisten zu können. Ihm ging es einzig und allein um Lady Simpson, deren wildes Temperament er nur zu gut kannte. Er durfte die ältere Dame auf keinen Fall zu lange allein wirken lassen, sonst waren weitere Verwicklungen mit Sicherheit zu befürchten.
Josuah Parker setzte sich also ab und verging sich damit eindeutig gegen das Gesetz. Der Butler ließ einen seiner Patentkugelschreiber diskret und unauffällig zu Boden fallen, worauf eine ungemein dichte Nebelwolke hochschoß und Needle prompt die Sicht nahm. Da diese Nebelwolke noch zusätzlich angereichert war mit einem Reizstoffquantum, nieste Needle derart, daß es ihm fast die Schuhe auszog. Parker, der diesen Reizstoff natürlich kannte, hatte vorher tief Luft geholt und suchte nach dem Superintendent, den er wegen der schlechten Sichtverhältnisse aber nicht fand. Überraschenderweise landete Parker neben seinem hochbeinigen Monstrum, setzte sich ans Steuer und machte sich auf den Weg. Er wollte nicht unhöflich erscheinen.
Needle versuchte Parker zu rufen, doch der schreckliche Niesreiz hinderte ihn daran. Aus seinen Augen quollen Tränen, die ihm zusätzlich die Sicht nahmen. Der Superintendent war ein wenig außer Form gekommen und tappte hilflos in der Nebelwolke herum. Als er endlich von zwei informierten Polizisten geborgen wurde, war der Butler bereits unterwegs und steuerte sein erstes Ziel an. Im Gegensatz zu Needle hatte er nämlich gewisse Vorstellungen darüber, wer ihm weiterhelfen konnte. Er kam allerdings um den Genuß, den sanften und sonst so beherrscht wirkenden Needle fluchen zu hören. Es zeigte sich bei dieser Gelegenheit, daß der Superintendent recht ordinär sein konnte.
*
Agatha Simpson war entrüstet, doch sie zeigte es nicht.
Die resolute Dame war schnell wieder zu sich gekommen und stellte fest, daß sie auf einem Bett lag. Im Gegensatz zu Kathy Porter aber richtete sie sich nicht auf, weil sie instinktiv fühlte, daß sie beobachtet wurde. Sie hielt die Augen geschlossen, atmete tief durch, als schlafe sie, und wartete im übrigen darauf, ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen.
Sie brauchte ihre Geduld nicht unnötig lange zu strapazieren, denn sie hörte bereits schnelle, aber dennoch vorsichtige Schritte, öffnete das rechte Auge und beobachtete durch den Vorhang ihrer Wimpern den Vampir, der sich ihrem Bett näherte.
Die ältere Dame hatte Nerven wie Drahtseile.
Sie rührte sich nach wie vor um keinen Millimeter, obwohl sie innerlich doch überrascht war. Mit solch einem Ungeheuer hatte sie nicht gerechnet. Der Vampir bewegte sich auf Zehenspitzen und streckte seine rechte Hand nach ihr aus. Wahrscheinlich wollte er sich nur vergewissern, ob sein Opfer noch schlief.
Lady Simpson verfügte leider nicht über ihren Pompadour. Man hatte ihn ihr weggenommen und dabei wohl auch den darin befindlichen Glücksbringer entdeckt. Doch das machte der Detektivin nichts aus, sie war auch ohne Waffe resolut.
Der Vampir beugte sich über sie und handelte sich im gleichen Moment eine ungemein harte Maulschelle ein. Das Gebiß rutschte ihm dabei aus dem Mund, die langen Zähne blieben auf der Bettdecke liegen. Da Mylady mit dem Handrücken zugelangt hatte, blieb im wahrsten Sinne des Wortes kein Auge trocken. Der Vampir gurgelte, fiel zur Seite und hielt sich an der Bettkante fest. Der Schlag überraschte ihn vollkommen.
Agatha Simpson begnügte sich nicht mit einem Teilerfolg. Was sie tat, erledigte sie stets ganz und konsequent. Sie richtete sich erstaunlich schnell auf, hatte fast ohne Übergang einen ihrer derben Schuhe in der Hand und klopfte mit dem Absatz auf den Hinterkopf des Vampirs, der sich prompt entspannte und erstmal nicht mehr mitspielte.
Lady Simpson nahm die Beine vom Bett und sah sich den Vampir aus der Nähe an. Sein Gesicht war kalkweiß gepudert, das struppige Haar nur eine Perücke. Die Handschuhe des Untiers liefen in spitzen Krallen aus.
Erst jetzt entdeckte die ältere Dame die drei fetten Ratten, die sich vorsichtig aus einer Plastiktragetüte hervortrauten. Der Vampir hatte diesen sehr realistischen Tragebeutel mitgebracht, um darin die Nager zu transportieren. Sie sollten Lady Simpson wohl zu Tode erschrecken.
Es kam genau umgekehrt …
Lady Simpson war Nagern gegenüber immun. Sie hob den Schuh auf und warf ihn auf die dickste der drei Ratten. Die Detektivin hatte genau gezielt und traf. Die fette Ratte quiekte beleidigt und rannte unter das Bett, wo sie erst mal in Deckung ging.
Die zweite Ratte erwies sich als aggressiv. Sie beging den Fehler, sich mit Mylady anzulegen und besaß sogar die Frechheit, nach ihrem dicken Zeh zu schnappen. Das hätte sie wohl besser nicht getan.
Agatha Simpson hatte bereits zielsicher zugelangt und hielt die Ratte am langen, schuppigen Schwanz fest, drehte sie daran wie einen kleinen Wurfhammer und schickte sie dann auf eine längere Luftreise. Das ekelhafte Tier quiekte, während es durchs Zimmer segelte und krallte sich verzweifelt fest, als es auf dem Querband des Kronleuchters landete. Die zweite Ratte verlor daraufhin alle Aggressionsgelüste und duckte sich. Dann kroch sie hinter einen gewundenen Eisenstab und bemühte sich angestrengt, sich unsichtbar zu machen. Sie ahnte mit letzter Gewißheit, daß die Frau neben dem Bett nicht zu erschrecken war.
Die dritte Ratte ließ sich auf keinen Zweikampf ein. Wahrscheinlich war sie Realistin und hatte längst eingesehen, daß hier nichts zu machen war. Sie wetzte auf schnellen Beinen quer durch das Zimmer und visierte dabei einen Schrank an, unter den sie sich verstecken wollte.
Sie schaffte es nicht!
Myladys zweiter Schuh war wesentlich schneller.
Die Ratte hatte plötzlich das Gefühl, von der Zimmerdecke erschlagen zu werden. Sie schrie förmlich, kam aus dem Kurs, tat einen mächtigen Luftsprung und … humpelte dann auf drei Beinen mühsam weiter, wobei sie sich entsetzt nach der kriegerischen Dame umschaute. Aufatmend kroch sie dann unter den Schrank und blieb hier keuchend und nervös liegen.
So etwas hatte sie noch nicht erlebt. Sie war es gewohnt, daß Frauen vor Panik aufschrien. Und nun das! Da konnte man schon leicht verzweifeln. Die Ratte kroch ängstlich weiter unter den Schrank, als die Lady ihre beiden Schuhe zurückholte.
»Dummes Viehzeug«, sagte Agatha Simpson, als sie die Schuhe wieder überstreifte. »Ihr habt es doch nicht mit einem Teenager zu tun!«
Die Detektivin stapfte auf ihren großen Füßen zurück zu dem Vampir und blieb abwartend vor ihm stehen. Der Blutsauger hatte seine Konditionsschwäche überwunden und rührte sich leicht. Dann öffnete er die Augen, faßte stöhnend nach seinem Unterkiefer und starrte die ältere Dame fassungslos an.
»Flegel«, schnarrte Lady Simpson im Ton eines Oberfeldwebels der Königlichen Garde. »Was soll dieser Schnickschnack? Bringen Sie mich gefälligst zum Hausherrn, aber ein bißchen dalli, wenn ich bitten darf!«
»Was haben Sie mir zu sagen?« ertönte in diesem Augenblick eine sympathische Stimme.
»Sie Lümmel!« rief Lady Simpson in das relativ kleine und niedrige Zimmer. »Was soll dieser Nonsens? Sagen Sie schon, was Sie von mir wollen!«
»Sie sind sehr energisch, Mylady!«
»Hoffentlich haben Sie Miß Porter in Ruhe gelassen«, sagte Agatha Simpson, sofort zum Thema kommend.
»Es geht ihr gut«, tönte die Stimme zurück, »und es wird auch so bleiben, falls Sie auf meine Bedingungen eingehen.«
»Kommen Sie endlich zur Sache!«
»Ich verlange hunderttausend Pfund von Ihnen.«
»Sie sind ja beschämend bescheiden.« Woher die Stimme kam, wußte Agatha Simpson nicht zu sagen.
»Ich verlange die Summe in kleinen Banknoten«, redete die Stimme weiter. »Ihr Butler könnte sie bis zehn Uhr beschafft haben.«
»Sie hirnloser Phantast«, rief die ältere Dame in den Raum und lachte ungeniert laut. »Falls ich nicht neben ihm stehe, wird er keinen Penny bekommen.«
»Sie werden neben Ihrem Butler stehen, Lady Simpson.«
»Und wohin soll das Geld anschließend geschafft werden? Ich soll damit doch wohl meine Gesellschafterin freikaufen, nicht wahr?«
»Wie gut, daß Sie es bereits wissen, das spart Zeit«, reagierte die Stimme höflich. »Falls Sie planen, gegen mich aktiv zu werden, wird das Miß Porter nicht überleben. Sie wird dann einem Vampir zum Opfer fallen.«
»Reden Sie nicht so lange herum«, raunzte die alte Dame ungeduldig. »Schaffen Sie mich endlich weg! Ihre Stimme allein geht mir schon auf die Nerven.«
*
»Ich hab’ sie ganz deutlich gesehen«, sagte Morgan Patch und faßte unwillkürlich nach seinem Hals. »Plötzlich wachte ich auf und sah sie.«
»Einen weiblichen Vampir, wie ich vermuten darf?« Josuah Parker befand sich im Haus des Managers, bei dem unter anderen auch die beiden Horror-Filmstars Rob Penwood und May Purgess unter Vertrag gestanden hatten, beziehungsweise noch standen. Parker hatte diesen Mann aufgesucht, nachdem er sich von Superintendent Needle etwas abrupt verabschiedet hatte. Morgan Patch hatte ihm bereits den Hinweis auf die Adresse der drei Kaskadeure geliefert. Parker ging von der Annahme aus, hier noch weiter fündig werden zu können.
Der rundliche Mann mit ausgeprägter Glatze und schnellen, wachen Augen war im Augenblick aber kaum ansprechbar. Er war von einem Vampir besucht worden und stand noch ganz unter dem Eindruck dieser schrecklichen Begegnung.
»Es war ein weiblicher Vampir«, sagte Patch. »Sie hätten mal die Zähne sehen sollen, Mister Parker, einfach schrecklich.«
»Können Sie sich möglicherweise auf die Kleidung dieses weiblichen Vampirs besinnen?«
»Sie hatte blondes Haar, ich glaube sogar, es waren Locken. Sie sah gut aus, bis ich dann die Zähne sah und das Glühen in den Augen. Ich bin sicher, sie wollte mich umbringen.«
»Wogegen Sie verständlicherweise Einwände hatten, Mister Patch.«
»Sie brauchen das gar nicht so ironisch zu betonen, Mister Parker. Dieser Vampir sah fürchterlich aus. Schlimmer als in den Horrorfilmen. Ich muß es schließlich wissen.«
»Aber es gelang Ihnen, diesen Vampir samt seine blonden Locken zu vertreiben?«
»Ich hab’ die Lampe dort auf den Vampir geschleudert, daraufhin löste sich das Wesen in Luft auf. Vor meinen Augen! Es war plötzlich nicht mehr vorhanden.«
Morgan Patch nahm einen Schluck aus seinem Glas und schüttelte sich. Der energisch wirkende Mann sah mitgenommen aus. Diese Begegnung schien sein seelisches Gleichgewicht erschüttert zu haben.
»An das Gesicht des Vampir mit den blonden Locken können Sie sich nicht erinnern?«
»Ich sah eigentlich nur die Augen und den grausamen Mund mit den spitzen Eckzähnen.« Patch nahm schnell einen weiteren Schluck.
»Sind Sie in den vergangenen Tagen irgendwie vorgewarnt worden, Mister Patch?« erkundigte sich Josuah Parker höflich. »Hat der Vampir sich möglicherweise telefonisch angekündigt?«
»Ich höre schon, daß Sie mir nicht glauben«, gab Patch resigniert zurück, »Und ich kann’s Ihnen noch nicht mal verdenken. Vampire in unserem Jahrhundert! So was gibt’s doch gar nicht – aber sie gibt es! Ich weiß es jetzt!«
»Drei Vampire plauderten vor einigen Stunden mit meiner bescheidenen Wenigkeit, Mister Patch.«
»Drei Vampire?« Der Manager sah den Butler erstaunt an.
»Die Herren Stream, Witman und Lormers«, redete der Butler weiter. »Es handelt sich um die drei Kaskadeure, um deren Adresse ich Sie bat. Sie traten in der Maske von Vampiren auf und belästigten ihre Mitmenschen.«
»Warum sollen Sie es bei mir getan haben! Ganz abgesehen davon, daß keiner von ihnen eine blonde Frau ist.« Patch versuchte sich endlich in einiger Ironie.
»Die Herren Witman und Lormers haben inzwischen das gesegnet, was man gemeinhin das Zeitliche nennt«, erläuterte Josuah Parker gemessen. »Sie kamen bei einem Bombenattentat um. Nur Mister Stream versucht noch seine Überlebenschancen zu nutzen, doch die Ärzte stehen diesen Bemühungen skeptisch gegenüber.«
»Ein Bombenattentat auf die drei Jungens?« erregte sich Patch. »Wer hat das getan?«
»Vermutlich der Auftraggeber der drei Kaskadeure, der um sein Inkognito fürchtete.«
»Daß sie sich auf solch einen mörderischen Unsinn überhaupt eingelassen haben.« Patch schüttelte verwundert und nachdenklich den Kopf. »Sie verdienten doch sehr gut in ihrer Branche.«
»Vielleicht nicht gut genug«, schränkte Parker ein. »Ich möchte mehr über diese Bedauernswerten erfahren, wie Sie verstehen werden.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, antwortete Morgan Patch, der sich wieder fest unter Kontrolle hatte. »Sie verlegten sich auf Filmspezialitäten und arbeiteten zusätzlich noch als Stuntmen. Sie inszenierten die gefährlich aussehenden Prügeleien in Krimis und Horrorfilmen und übernahmen für die Hauptdarsteller die Szenen, die besonders schwierig waren. Nein, sie haben gut verdient.«
»Waren es nur die Herren Stream, Witman und Lormers?«
»Früher bildeten sie ein Fünferteam, doch dann kam es zu Streitigkeiten, und sie trennten sich.«
»Wer sind die beiden übrigen Kaskadeure?«
»Lena und Will Conders.«
»Eine Frau?« wunderte Parker sich.
»Sie ist Spitzenklasse und übernimmt in Sensationsfilmen den Part der Hauptdarstellerinnen. Zur Zeit arbeiten sie, glaube ich, in Paris.«
»Sie wissen selbstverständlich, warum es zu den erwähnten Streitigkeiten kam?«
»Eifersüchteleien untereinander, weil die Conders besonders gut bezahlt wurden und nicht mehr in die gemeinsame Teamkasse einzahlen wollten.«
»Ich bin Ihnen bereits jetzt sehr verbunden, wenn ich die Adresse der Conders bekommen könnte.«
»Jetzt geht mir ein Licht auf«, stellte Patch fest und schüttelte energisch den Kopf. »Sie denken an Lena Conders, die den weiblichen Vampir gespielt haben könnte? Ausgeschlossen, sie hätte ich sofort erkannt!«
»Die Adresse wäre dennoch recht nützlich, Mister Patch.«
»Ich werde sie Ihnen aufschreiben. Mister Parker, aber damit kommen Sie nicht weiter. Nein, ich glaube, diesen Vampir müssen Sie ganz woanders suchen.«
»Womit das Stichwort Steinway-Pictures gefallen sein dürfte, nicht wahr?«
»Briggs ist zu allem fähig«, bekannte Morgan Patch nachdrücklich. »Dieser Bursche scheut vor keinem noch so schäbigen Trick zurück um seine Konkurrenten auszuspielen.«
»Es soll ihm dem Vernehmen nach wirtschaftlich nicht besonders gutgehen.«
»Er steht vor seiner Pleite«, meinte Morgan Patch sehr zufrieden. »Wenn er mit seinem Horrorfilm nicht rechtzeitig in den Kinos ist, kann er einpacken. Und ich wette, daß die ganze Branche ihm das wünscht.«
»Mister Briggs kennt natürlich die Kaskadeure, ja?«
»Sie haben auch schon für ihn gearbeitet, doch es hat immer wieder Ärger gegeben. Er drückte sich um die Zahlungen herum, schloß keine zugesagten Unfallversicherungen ab, wie sich später herausstellte, und vernachlässigte einfachste Unfallvorschriften. Ein mieser Bursche, wenn Sie mich fragen.«
»Sie bewohnen ein recht interessantes Haus«, stellte Parker fest, das Thema wechselnd.
»Eine zugige, alte Bruchbude, die ich möglichst bald wieder abstoßen werde«, korrigierte Patch und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. »Die Räume sind einfach nicht warm zu kriegen, wie das bei diesen alten Bauten eben so ist. Ich hätte vorher an diesen Punkt denken sollen, es war meine Schuld.«
»Das Haus dürfte einige hundert Jahre alt sein, Mister Patch.«
»Mit Sicherheit, Mister Parker! Sie sollten sich allein mal die Kellergewölbe ansehen. Finsteres Mittelalter, richtig unheimlich. Ich war mal dort unten, danach nie wieder. Man hat den Eindruck, daß jeden Augenblick Gespenster erscheinen, die ihren Kopf unter dem Arm tragen. Für mich ist das nichts.«
Unheimlich war der Landsitz durchaus, wie Josuah Parker feststellte, als er wieder in seinem hochbeinigen Monstrum saß und durch den kleinen Park hinunter zu Landstraße fuhr. Das Haus hätte von einem phantasievollen Filmarchitekten stammen können, der den Auftrag, eine Art Hauptquartier für Geister, Dämonen und Vampire zu bauen, sehr ernst nahm.
Das Gebäude wirkte düster und unheimlich, was durch die vielen Türmchen und Erker noch zusätzlich unterstrichen wurde. Von diesem Haus ging ein kalter Hauch aus, der nach dem Herzen des Betrachters griff. Josuah Parker beschleunigte unwillkürlich seinen Privatwagen, um die Stätte der Ungastlichkeit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Wegen der schlechten Lichtverhältnisse sah er natürlich nicht den Vampir mit den blonden Locken, der hinter dichtem Strauchwerk hervortrat und dem Wagen aus glühenden Augen nachstarrte …
*
Die beiden von Kathy gefesselten Vampire hatten schlechte Nerven.
Die Dunkelheit machte ihnen sichtlich zu schaffen. Zuerst tuschelten sie nur leise miteinander und versuchten, sich ihrer Fesseln zu entledigen. Doch das gelang ihnen nicht so, wie sie es sich vielleicht wünschten. Kathy Porter hatte sie ausgezeichnet verschnürt und ein paar Knoten verwendet, die sie von Josuah Parker gelernt hatte.
Die Dunkelheit ging den beiden Vampiren schnell auf die Nerven, denn mit dieser Wendung hatten sie bestimmt nicht gerechnet. Hinzu kam, daß Kathy sich überhaupt nicht rührte. Sie brauchte es auch nicht, denn sie lag sicher und bequem auf dem Baldachin des Bettes und harrte der Dinge, die da mit einiger Sicherheit kamen. Sie ging davon aus, daß der Mann mit der sympathischen Stimme sich früher oder später regen würde.
»Miß Porter«, hörte sie auch prompt die Stimme des Unsichtbaren, »ich werde Ihnen gleich ein paar fette Ratten schicken, die allerdings ziemlich ausgehungert sind.«
Kathy schmunzelte, doch sie antwortete nicht.
»Hören Sie mich, Miß Porter?«
Natürlich hörte sie ihn. Sie wußte, was er plante. Er wollte sie ängstlich und nervös machen, wollte sie verunsichern. Er hatte wohl keine Möglichkeit, den Raum durch ein zusätzliches Licht zu erhellen und traute sich selbst nicht herein. Daraus ließen sich Schlüsse ziehen.
»Sie kommen jetzt, Miß Porter. Viel Vergnügen!«
Irgendwo quietschte eine Tür in den Angeln, dann war tatsächlich das Pfeifen und Rascheln von Ratten zu vernehmen. Kathy Porter kannte diese Geräusche von den Docks her. Nun, hier oben auf dem Baldachin hatte sie nichts zu befürchten, doch auch unten auf dem Boden hätte sie sich bestimmt nicht in eine Panik hineingesteigert, dazu war sie einfach zu kaltblütig.
Dafür protestierten allerdings die beiden Vampire unten neben dem Bett.
Kathy hatte eine Zierkordel vom Bettpfosten abgerissen und ließ sie über die beiden gefesselten Vampire gleiten. Die Vampire mußten den Eindruck gewinnen, daß die Ratten über sie hinweghuschten. Dementsprechend brüllten sie.
Kathy lächelte unwillkürlich. Wie schnell hatte sich das Blatt gewendet! Sie war gespannt, zu welchen Mitteln der Unsichtbare noch griff. Bis jetzt hatte sie ihm das Konzept gründlich verdorben und fragte sich wieder mal, wer er wohl sein mochte. Er mußte auf jeden Fall über Geld verfügen und über Mitarbeiter, die ihm treu ergeben waren, um als Vampire tätig zu werden.
Kathy Porter dachte in diesem Zusammenhang an Mr. Briggs, den Besitzer der Steinway-Pictures, dessen Name als möglicher Täter ins Gespräch gekommen war.
»Miß Porter?« Da war wieder die Stimme des Unsichtbaren. »Miß Porter, melden Sie sich! Ich habe eine frohe Botschaft für Sie: Lady Simpson befindet sich inzwischen ebenfalls in meiner Gewalt.«
Das konnte nur ein Bluff sein. Kathy antwortete nicht.
Als er ihr jedoch kurz darauf ein Band über den Lautsprecher vorspielte, auf dem Kathy die Unterhaltung des Unsichtbaren mit Lady Simpson Wort für Wort verfolgen konnte, mußte sie einsehen, daß der Mann diesmal nicht geblufft hatte.
»Sie sollten Ihr Spiel aufgeben, Miß Porter«, sagte die Stimme, als das Band abgelaufen war, »oder muß ich Lady Simpson erst in echte Schwierigkeiten bringen? Noch habe ich sie aus der Haft nicht entlassen.«
Kathy begriff.
Schon im Interesse von Mylady mußte sie nachgeben. Sie konnte es nicht verantworten, daß der älteren Dame etwas passierte. Die resolute Frau neigte ohnehin zu Handlungen, die nicht immer kontrolliert waren.
»Sie haben gewonnen«, sagte sie in die Dunkelheit hinein. »Ich gebe auf. Was soll ich tun?«
»Schnüren Sie die beiden Helden auf und lassen Sie sich zur Tür bringen«, befahl die Stimme, die nun nicht mehr sympathisch klang, »aber beeilen Sie sich! Ich verliere langsam die Geduld!«
*
Parker wurde von dem unheimlichen Haus magisch angezogen.
Gewiß, er hatte es verlassen und war ein gutes Stück gefahren um in eine Seitenstraße einzubiegen. Von hier war er aber dann zu Fuß zurückgegangen. Er hoffte nämlich, den Vampir mit den blonden Locken zu sehen, weil er sich vorstellen konnte, daß dieser Ungeist noch mal zurück zu Morgan Patch kam.
Parker dachte natürlich nicht daran, etwa über die hohe Steinmauer zu steigen, die das weite Grundstück umgab. Ein Mann wie er hielt in allen Lebenslagen auf Würde. Der Butler benutzte sein Privatbesteck, um das Schloß der schmalen, vergitterten Seitenpforte zu öffnen. Für ihn war das eine Kleinigkeit. Sein Tempo hätte einen berufsmäßigen Einbrecher verblüfft und ihn an seinem Können zweifeln lassen. Das Schloß beeilte sich förmlich dem Butler dienlich zu sein. Wie durch Zauberei öffnete es sich.
Parker schritt durch den Park dem Haus zu und war froh, daß es noch dunkel war. Dank seiner schwarzen Kleidung war er überhaupt nicht auszumachen. Zudem bewegte er sich fast geräuschlos. Wahrscheinlich hätte er einem Indianer in der Beziehung noch Nachhilfeunterricht geben können.
Dennoch wurde der Butler belauert.
Der Vampir mit den blonden Locken schien mit seiner Rückkehr gerechnet zu haben. Er stand hinter einem mächtigen Baum und wartete auf sein Opfer. Als Parker am Rand der Rasenfläche erschien, brach der Vampir den dürren, kleinen Ast, den er in Händen hielt.
Parker reagierte augenblicklich.
Er blieb stehen, lauschte und schritt dann auf den Vampir zu. Den altväterlich gebunden Regenschirm hielt er angewinkelt hoch, die Spitze wies genau in die Richtung, aus der das Brechen des dürren Astes gekommen war.
Diesmal wurde Parker überlistet.
Er passierte bedenkenlos einen Baum, hörte hinter sich plötzlich ein feines Scharren, wollte sich noch umwenden und … erhielt einen Schlag auf die schwarze Melone, der die Kopfbedeckung tief in seine Stirn trieb. Bevor Parker seine leichte Benommenheit abschütteln konnte, zuckte er unter der Einwirkung eines feinen Stichs zusammen.
Natürlich wußte er, was dieser Stich zu bedeuten hatte. Als Realist, der er erfreulicherweise war, verzichtete er auf jede Abwehrmaßnahme. Parker ging von der Voraussetzung aus, daß man ihn noch nicht umzubringen gedachte, sonst wäre wohl auf ihn geschossen worden. Und gegen die Droge, die man ihm gerade verabreicht hatte, war im Augenblick ohnehin nichts auszurichten. Parker machte es sich also auf dem weichen Boden relativ bequem und überließ sich dem Schlafbedürfnis, das ihn prompt überfiel. Er schloß die Augen und entspannte sich.
Das verabreichte Gift tat schnell seine Wirkung. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Parker eingeschlafen war. Als er wieder zu sich kam, fühlte er sich recht wohl und wußte auf Anhieb nachzuvollziehen, was mit ihm passiert war.
Er richtete sich auf und orientierte sich.
Josuah Parker befand sich in einem großen, freundlich eingerichteten Zimmer, lag auf einem Bett und entdeckte wenig später eine fette, aber leicht verstörte Ratte, die auf dem Sims eines Kleiderschrankes hockte und sich nicht entschließen konnte, zurück auf den Boden zu steigen.
Parker, der solchen Nagern gegenüber nur neutrale Gefühle hegte, weil sie für ihn nur ein Bestandteil der Natur waren, beobachtete das verschreckte und sichtlich verängstigte Tier. Der Butler kam zu dem Schluß, daß die Ratte ein schreckliches Erlebnis hatte, das noch in dem Nager deutlich nachwirkte.
*
Der lange und der dicke Vampir wirkten recht verlegen, als sie von Kathy aufgescheucht wurden.
Kathy Porter rechnete damit, daß die beiden Männer zumindest versuchen würden, sich an ihr zu rächen. Genau das Gegenteil war der Fall. Wie zwei geprügelte Hunde schlichen sie zur Tür und sahen sich scheu und immer noch beeindruckt nach Kathy um. Einmal gewiß, weil sie in ihrer Kleidung ungemein sexy aussah, zum anderen, weil sie wahrscheinlich großen Respekt vor ihr hatten.
Kathy versuchte nicht, sich ihnen anzuschließen.
Für sie stand es fest, daß Lady Simpson sich in der Gewalt jenes »Obervampirs« befand, dessen Stimme eine Weile sympathisch geklungen hatte. Sie wollte die Detektivin auf keinen Fall in weitere Schwierigkeiten bringen. Von der Tonbandwiedergabe her wußte sie, daß es um hunderttausend Pfund ging, die für ihre Freigabe gedacht waren.
Daß Agatha Simpson keinen Augenblick zögern würde, dieses Lösegeld auszugeben, stand für Kathy fest. Die Summe bedeutete für Lady Simpson nicht sonderlich viel, da sie das war, was man eine sehr reiche Frau nannte. Hunderttausend Pfund waren wirklich nicht in der Lage, ihre Finanzen auch nur andeutungsweise in Unordnung zu bringen. Deswegen brauchte Kathy nichts zu befürchten. Sie ärgerte sich allerdings, daß man sie so ohne jede Schwierigkeit hatte abfangen können und der eigentliche Täter geschickt im Hintergrund blieb. Er schickte seine Kreaturen vor, um die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen. Kathy war nach wie vor entschlossen, es diesem Mann zu zeigen, der mit Angst und seelischem Terror sein Opfer gefügig machen wollte.
Sie baute nicht nur auf sich, sondern auch auf Josuah Parker. Der Butler würde wieder mal Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sie hier möglichst schnell wieder herauszuholen. Wie einfallsreich Parker war, hatte er in der Vergangenheit mehr als einmal bewiesen.
Kathy blieb also allein in dem dunklen Raum und hofft vorerst nur, daß ihr Entführer sich ärgerte. Sie hatte ihm da einige Dinge an den Kopf geworfen, die einen Mann in Harnisch brachten. Sie war sicher, ihn tief in seiner Männlichkeit verletzt zu haben.
Wann würde dieser Mann erscheinen, um ihr zu zeigen, wie sehr er ihr überlegen war?
»Hören Sie mich, Miß Porter?« fragte er auch schon prompt, als habe er ihre Gedanken erraten.
Kathy schaltete auf Naivität um, als sie sich meldete. Sie gab ihrer Stimme einen etwas ängstlichen Unterton.
»Was wollen Sie«, fragte sie. »Können Sie nicht für etwas Licht sorgen?«
»Haben Sie etwa Angst, Miß Porter?« In der Stimme des Unsichtbaren schwang bereits so etwas wie Überlegenheit und Triumph.
»Unsinn«, gab sie übertrieben abweisend zurück.
»Sie werden auch weiterhin ohne Licht bleiben müssen«, sagte er über den Lautsprecher. »Haben Sie sich mit den Ratten bereits etwas angefreundet?«
»Sie wollen mir nur Angst machen!« Kathy schaute sich ängstlich um, setzte sich auf die Bettkante und zog die Beine hoch. Sie spielte eine Frau, die eine panische Angst vor Mäusen und Ratten hat.
Er konnte sie sehen.
Sie hörte prompt sein leises Auflachen, das ihn verriet. Wahrscheinlich benutzte er ein Sichtgerät, das auf Infrarot-Basis arbeitete. Mit solch einem Gerät konnte er sie selbst bei vollkommener Dunkelheit genau sehen. Als Kathy Porter sich darüber klar war, setzte sie bewußt ihren Körper ein. Sie kannte ihre Linien und Vorzüge und sorgte dafür, daß dieser Mann Appetit bekam. Sie wollte ihn herauslocken, um ihn dann zu überrumpeln.
»Nun, immer noch so stark?« erkundigte sich der Unbekannte.
»Natürlich«, erwiderte Kathy und zog sich auf das Kopfende ihres Bettes zurück, um sich dort in die Bettdecke einzuwickeln. Dabei sah sie ängstlich nach allen Seiten, horchte angestrengt in die Dunkelheit und verzog lauschend das Gesicht.
»Ich lasse Ihnen gleich eine kleine Erfrischung reichen«, meldete der Unbekannte sich wieder. »Wahrscheinlich werden Sie es noch einige Stunden aushalten müssen. Übrigens, das Badezimmer befindet sich gleich rechts vom Bett. Sie werden den Türknauf schon finden, wenn Sie ein wenig suchen. Ich wünsche Ihnen gute Unterhaltung. Halt, noch etwas, im Badezimmer ist natürlich Licht, Miß Porter. Ich werde es einschalten. Man ist ja schließlich kein Unmensch!«
Myladys Gesellschafterin beugte sich weit aus dem Bett und tastete mit ihrer rechten Hand nach dem Türknopf, den sie aber nicht entdecken konnte. Sie war also gezwungen aufzustehen, was sie auch tat. Dabei zeigte sie dem unsichtbaren Beobachter erneut viel Angst und Ekel vor den vermeintlich vorhandenen Ratten.
Kathy fand endlich den Türknopf, riß die Tür auf und blinzelte in das grelle Licht einer eingeschalteten Leuchtstoffröhre. Scheinbar aufatmend flüchtete die junge Frau sich in dieses überraschend komfortabel und modern eingerichtete Badezimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Dann blieb sie aufatmend stehen und glich einem Menschen, der gerade einer großen Gefahr entronnen ist. Sie ahnte nämlich, daß sie gerade jetzt wieder genau beobachtet wurde. Solch eine Gelegenheit ließ der unsichtbare Beobachter sich bestimmt nicht entgehen!
*
Agatha Simpson war äußerst schlechter Laune.
Man hatte ihr die Augen verbunden und sie dann in einen kleinen Kastenlieferwagen geschafft. Nur zu gern hätte sie ihren »Glücksbringer« eingesetzt und die Flegel liebkost, die sie in diesen Wagen bugsiert hatten. Nur wegen Kathy hatte sie auf diese Freude verzichtet. Sie wollte ihre Gesellschafterin nicht unnötig in Gefahr bringen.
Wo man sie festgehalten hatte, wußte sie natürlich nicht. Ihr war auch unbekannt, wer sie durch die Stadt gefahren hatte. Der Wagen war inzwischen angehalten worden, doch der Motor lief noch. Wahrscheinlich hielt man vor einer Ampel.
In dem kleinen Kastenaufbau war es dunkel. Lady Simpson, die auf dem Boden der Ladenfläche stand, wartete geduldig auf die Weiterfahrt, die jedoch nicht erfolgte. Die Sekunden verrannen, doch die Fahrt ging immer noch nicht weiter. Die Detektivin erhob sich und tastete sich zur hinteren Tür durch. Verärgert trat sie mit ihrem derben Schuh gegen die Tür, die sofort aufsprang.
Lady Agatha blinzelte in das frühe Morgenlicht und sah sich dann leicht erstaunt um.
Von einer Ampel konnte keine Rede sein. Der Lieferwagen stand in einer ruhig wirkenden Straße, die von kleinen Einfamilienhäusern flankiert wurde. Am Ende der Straße war der Milchmann zu sehen, der seine Kunden versorgte.
»Darf ich Sie zu einer Tasse Tee einladen?« hörte sie eine bekannte Stimme. Sie sah ein wenig um den Wagen herum und bemerkte Superintendent Needle, der sie ungeniert ironisch anlächelte.
»Hauptsache, Sie haben Ihren Spaß«, grollte sie. »Warum helfen Sie mir nicht erst aus dem Wagen?«
»Ich wollte erst mal sehen, ob man mich geblufft hatte«, entschuldigte sich Needle, reichte ihr aber dann die Hand. »Hoffentlich hatten Sie eine gute Fahrt, Mylady.«
»Wo bin ich hier?«
»Direkt vor meinem Haus. Man verständigte mich vor ein paar Minuten per Telefon und kündigte Ihr Kommen an.«
»Sehr witzig«, ärgerte sich Lady Simpson.
»Ich sage die Wahrheit.«
»Ich meine diesen Obervampir«, raunzte Lady Agatha. »Der Mann amüsiert sich auf meine Kosten.«
»Warum freuen Sie sich nicht, daß Sie noch leben?«
»Diesem Flegel werde ich es noch zeigen«, schwor Lady Simpson grimmig. »Mich ausgerechnet vor Ihrem Haus abzusetzen!«
»Sie sind also entführt worden?«
»Nein, ich habe einen freiwilligen Ausflug unternommen«, fuhr sie ihn an. »Stellen Sie nicht solch’ dumme Fragen, Superintendent, lassen Sie mich lieber Ihren Tee versuchen! Ich weiß aber schon jetzt, daß er mir bestimmt nicht schmecken wird.«
»Sie sind verärgert, Mylady?« Needle genoß die Situation, wirkte aber nicht vergrämt und verdrossen wie sonst.
»Verärgert? Ich könnte vor Freude jauchzen«, grollte die ältere Dame. »Miß Porter steckt nämlich in Schwierigkeiten. Sie befindet sich in der Hand der Vampire.«
»Wie Ihr Butler«, entgegnete Needle trocken. »Ich erfuhr es eben durch einen Telefonanruf.«
»Wortbrüchig ist dieser Oberflegel also auch noch!« Agatha Simpson nickte grimmig. »Ich hätte es mir denken können.«
»Ich verstehe kein Wort, Mylady.«
»Man hatte mir versprochen, daß er mir bei gewissen Besorgungen behilflich sein würde«, sagte Lady Simpson, »aber nun soll man mich gründlich kennenlernen. Ich glaube, daß ich sehr verärgert bin.«
*
Kathy ahnte, daß der große Spiegel neben der Dusche präpariert war.
Auf der anderen Seite stand gewiß der geheimnisvolle Obervampir und verschlang sie mit seinen Augen. Sie ließ sich selbstverständlich nichts anmerken, doch sie produzierte sich bewußt, streifte die restlichen Fetzen des Kleides von ihrem Körper und trat dann unter die Dusche. Prüde war Kathy nicht, Nacktheit war für sie die natürlichste Sache der Welt.
Nach der Dusche frottierte sie sich ab und benutzte ein zweites Badetuch, um ihren Körper zu bedecken. Da dieses Handtuch nicht gerade groß war, konnte der heimliche Beobachter immer noch viel sehen.
Kathy tat so, als fürchte sie sich immer noch vor den Ratten. Sie ging zur Tür, öffnete sie spaltbreit und schaute hinaus. Sie wunderte sich kaum, daß praktisch vor der Tür ein kleiner Teewagen stand, auf dem sich einige Sandwiches und eine Thermoskanne befanden. Der Obervampir hatte Wort gehalten und für eine Erfrischung gesorgt.
Kathy zog den Teewagen hastig ins Badezimmer und schraubte den Verschluß der Thermoskanne auf. Sie füllte sich den Becher mit Tee und drehte sich so, daß sie vom Spiegel aus nicht beobachtet werden konnte, als sie scheinbar durstig trank.
In Wirklichkeit nahm sie nicht einen einzigen Schluck zu sich. Sie ging von der Tatsache aus, daß der Tee präpariert worden war. Als sie den Becher absetzte, stellte sie ihn so auf das Tablett, daß ein Beobachter hinter dem Trickspiegel nicht sah, wieviel sie getrunken hatte.
Parker hätte seine helle Freude an ihrer Schauspielkunst gehabt.
Kathy tat so, als sei der Tee wirklich präpariert gewesen. Sie knabberte lustlos an einem Sandwich, faßte zwischendurch immer wieder an ihre Schläfen, gähnte in immer kürzer werdenden Abständen und schien schließlich mit dem Schlaf zu kämpfen. Plötzlich legte sie das Sandwich aus der Hand, rieb sich die Augen und taumelte zur Badezimmertür. Dabei ließ sie gekonnt das Badetuch wegrutschen, zeigte sich dem Obervampir noch mal in ihrer attraktiven Nacktheit und betrat das Zimmer, in dem das große Baldachinbett stand. Kathy warf sich auf das Laken, zog kraftlos die Decke hoch und schlief ein.
Selbstverständlich war und blieb sie hellwach. Sie rechnete mit dem Erscheinen des geheimnisvollen Beobachters. Der Mann hatte den Tee ja nicht aus Langeweile präpariert, wenn dem wirklich so war. Er wollte gewiß für eine Möglichkeit sorgen, sich ihr ungeniert zu nähern.
Kathys Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Entweder war der Tee nicht »versetzt« worden, oder aber der Obervampir war ein äußerst mißtrauischer und vorsichtiger Mensch. Licht brannte im Schlafraum immer noch nicht.
Dann hörte sie endlich das vorsichtige öffnen einer Tür.
Der Obervampir.
Schnelle, leise Schritte näherten sich dem Bett. Kathy hatte die Augen geschlossen, doch durch ihre Lider bemerkte sie den Lichtschein einer Taschenlampe, der über ihr Gesicht glitt. Der Geheimnisvolle vergewisserte sich also noch mal, ob sie auch wirklich schlief. Er erschien neben ihrem Bett und beugte sich über sie. Kathy spannte vorsichtig ihre Muskeln. Sie hatte vor, den Burschen zu überrumpeln, um ihn dann ins Badezimmer zu schleifen. Sie wollte endlich wissen wer die todbringenden Vampire beschäftigte.
Kathy erlebte eine mehr als peinliche Überraschung!
Bevor sie aktiv werden konnte, preßte sich ein dickes Handtuch auf Mund und Nase. Sie schnappte nach Luft, atmete Chloroform ein, wehrte sich, strampelte und wollte sich aufrichten, doch sie schaffte es nur unvollkommen, zumal andere Hände sie festhielten und immer wieder auf das Laken drückten.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie schon benommen war. Ihr Widerstand wurde schwächer. Mit jedem Atemzug inhalierte sie eine kräftige Dosis des Betäubungsmittels. Sie hörte wie durch Watte ein amüsiertes Auflachen und verlor dann ihr Bewußtsein.
*
Josuah Parker war nicht weniger verärgert als Lady Simpson.
Man hatte ihn während seiner Bewußtlosigkeit gründlich durchsucht und ihm alles weggenommen, was irgendwie den Verdacht der Vampire erregt hatte. Parker besaß keinen einzigen Patent-Kugelschreiber mehr keine unförmige Taschenuhr, keine Krawattennadel und auch nicht mehr seinen Universal-Regenschirm. Selbst seine schwarze Melone hatte man ihm entführt. Diejenigen, die ihn hier eingesperrt hatten, wußten wohl um den Trickreichtum des Butlers und hatten alle Risiken ausgeschaltet.
Parker war also, wenn auch nach wie vor bekleidet, seinem Gegner wehrlos ausgeliefert. Er konnte nach menschlichem Ermessen nichts mehr bei sich haben, womit er sich hätte befreien können. So gründlich wie jetzt hatte man ihn noch nie seiner Hilfsmittel beraubt.
Parker brauchte dennoch nicht zu verzagen.
Man war nicht gründlich genug gewesen, denn die Gegner hatten seine schwarzen Schuhe übersehen. Es waren Schuhe solidester Handarbeit, schwarz, von gutem Leder, versehen mit Schnürriemen, die es in sich hatten. Parker setzte sich in den Stuhl, der neben dem Schrank stand, und legte die Beine übereinander. So konnte er vorsichtig nach dem Absatz seines linken Schuhs fingern. Er zog ihn ein wenig vor und drehte den Absatz dann zur Seite.
Der Absatz war hohl.
Parker hatte sich dieses Geheimversteck angelegt. Es enthielt Plastik-Sprengstoff, der sich in einer Blechdose befand. Den Zünder und die dazu passende Zündschnur waren im Absatz seines rechten Schuhs deponiert.
Mit diesen Dingen ließ sich eine Menge machen, zum Beispiel das Schloß einer Tür knacken. Und genau das plante der Butler, der keine Lust hatte, sich noch länger festhalten zu lassen.
Er fühlte sich für die beiden Damen verantwortlich, machte sich sofort an die Arbeit, ging zur Tür und verformte den plastischen Sprengstoff zu einer Art Stift, den er ins Schlüsselloch schob. Anschließend drückte er die Sprengkapsel in die Masse und befestigte die kleine Zündschnur, die eine Brenndauer von dreißig Sekunden hatte.
Der Butler nahm hinter dem soliden Bett Deckung. Er kannte die außerordentliche Sprengkraft des Plastiks und hatte keine Lust, sich mit der Zimmerwand zu vermählen.
Die Wirkung war frappierend.
Nachdem die Zündkapsel den Sprengstoff freigesetzt hatte, dröhnte es durch das Zimmer. Als der Rauch sich verzog, war ein gutes Drittel der Tür nicht mehr zu sehen. Sie war von der Gewalt der Sprengung weggerissen worden. Parker blieb hingegen unversehrt. Die Trümmer der zersplitterten Tür waren vom Bett aufgefangen worden.
Josuah Parker, ein stets korrekter Mensch, schnipste sich einige Stäubchen vom Revers seines schwarzen Zweireiher und schritt würdevoll aus dem Zimmer. Die Sachbeschädigung konnte er nicht bedauern, sie war schließlich von den Vampiren provoziert worden.
Er erreichte einen großen Vorraum, von dem aus eine Steintreppe hinauf ins Haus führte. Auf einer umgestülpten Kiste entdeckte der Butler zu seiner Freude die Habseligkeiten, die man ihm während seiner Ohnmacht abgenommen hatte. Er barg sie und brachte sie erneut zurück an jene Stellen, die dafür vorgesehen waren. Als er dann erneut zur Treppe gehen wollte, hörte er oben aufgeregte Stimmen.
Die Vampire!
Parker nahm seinen Universal-Regenschirm in die Hand und wartete auf das Erscheinen der Untoten. Er hatte sich vorgenommen, sie ausgiebig mit dem bleigefütterten Bambusgriff des Schirms zu behandeln. Sie brauchten sehr wahrscheinlich einige Aufmunterung.
Leider ließen sie sich nicht sehen.
Sie scheuten sich, herunterzukommen. Die Stimmen verloren sich und waren nicht mehr zu hören. Parker stieg nach oben, nahm die Melone ab und stülpte sie über die Spitze seines Regenschirms. Dann schob er seine Kopfbedeckung vorsichtig um die Ecke.
Zwei Schüsse – schallgedämpft natürlich – »ploppten« auf und verfehlten die Melone nur um Haaresbreite. Parker zog die Melone zurück und bediente sich eines der Patent-Kugelschreiber, über die er nun wieder verfügte. Er warf diesen Kugelschreiber durch die geöffnete Tür und nickte andeutungsweise, als ein kleiner Knall zu hören war. Sekunden später waren die ersten Nebelwolken zu sehen, die durch die Tür zogen.
Josuah Parker entnahm seinem mit Leder überzogenen Etui eine schwarze Zigarre und hielt sich die Nase zu. Durch diese Zigarre, die nichts anderes war als ein Atem- und Luftfilter, konnte er sich unbesorgt mit reizloser Frischluft versorgen. Schleimhautreizungen waren so ausgeschlossen.
Nach einer angemessenen Frist begab der Butler sich von der Treppe. Er konnte sicher sein, daß seinen Gegnern sowohl die Sicht als auch die Luft genommen war. Der Reiz- und Nebelstoff im Kugelschreiber stammte schließlich aus einem führenden Chemielabor des Landes.
Josuah Parker tastete sich durch die dichten Nebelschwaden und benutzte dazu seinen vorgestreckten Universal-Regenschirm. Dennoch stolperte er über eine am Boden liegende Gestalt, die einen toten Eindruck machte.
Der Butler bückte sich und untersuchte diesen Mann, der auf keinen Fall von einem hungrigen Vampir angeknabbert worden war. Ein Schuß in den Rücken hatte den Tod verursacht, ein Schuß, der schon vor ein paar Tagen abgefeuert worden sein mußte, wie sich leicht feststellen ließ.
*
»Die Leiche konnte einwandfrei identifiziert werden«, sagte Superintendent Needle, als er vom Telefon zurückkehrte. »Es handelt sich tatsächlich um Herman Briggs.«
»Und wann wurde er erschossen?« wollte Josuah Parker wissen. Er befand sich zusammen mit Needle und Agatha Simpson in der Stadtwohnung von Mylady und reichte gerade einige Kreislaufbeschleuniger. Nachdem der Butler sich befreit hatte, war Needle von ihm informiert worden. Zu seinem Leidwesen hatte der Butler Kathy Porter im Haus nicht gefunden. Nach Lage der Dinge war sie kurz nach der Sprengung der Tür aus dem Haus geschafft worden. Ihr jetziger Aufenthaltsort war nicht mal zu erahnen.
»Mister Briggs wurde vor etwa zwei Tagen erschossen«, beantwortete Needle die Frage des Butlers. »Diese Vampire dürften sich danach in seinem Haus eingenistet haben.«
»Sie müssen von der Ausstattung der Kellerräume gewußt haben«, meinte der Butler. »So etwas entdeckt man nicht rein zufällig.«
»Natürlich«, pflichtete Needle dem Butler bei, »der oder die Mörder müssen das Haus genau kennen. Leider ist dieser Personenkreis, der um die Keller weiß, recht groß, wie ich gerade hörte.«
»Dieser Mister Briggs muß ja einen recht eigenartigen Geschmack gehabt haben«, warf Lady Simpson ein, »seine Horrorfilme dürften auf ihn abgefärbt haben.«
»Nach ersten Auskünften fanden in diesen nachgestalteten Gewölben recht ungewöhnliche Partys statt«, sagte Needle. »Es steht bereits fest, daß Ausstatter und Dekorateure seiner Filmgesellschaft die Kellerräume hergerichtet haben.«
»Das ist für mich bereits Vergangenheit«, stellte Lady Agatha grimmig fest. »Wie stellen Sie sich die Zukunft vor, Superintendent? Was werden Sie unternehmen?«
»Unsere Ermittlungen laufen auf Hochtouren, Mylady.«
»Sie sind also keinen Schritt weitergekommen«, präzisierte die kriegerische Dame. »Demnach bleibt wieder mal alles an Mister Parker und mir hängen.«
»Ich bin mir nicht sicher, Mylady, ob Sie einen wesentlichen Schritt vorangekommen sind«, wagte Needle einzuwerfen.
»Wem verdanken Sie denn das Aufspüren dieser nachgemachten Gewölbe, Superintendent?« fauchte Lady Agatha ihn daraufhin gereizt an. »Sie würden doch noch immer danach suchen, nicht wahr? Wem verdanken Sie das Aufspüren der Leiche von Mister Briggs? Ohne Eigenhilfe säße Mister Parker doch noch immer fest.«
»Mister Briggs ist tatsächlich von der Liste der verdächtigen Personen zu streichen«, meinte Needle ein wenig kleinlaut.
»Und was ist mit Mister Morgan Patch, auf dessen Grundstück Mister Parker niedergeschlagen wurde?«
»Er steht unter Beobachtung, Mylady. Er gestattete uns übrigens eine intensive Hausdurchsuchung. In seinem Haus konnte Miß Porter nicht gefunden werden, leider!«
»Na also!« Lady Simpson nickte nachdrücklich. »Was haben Sie erreicht, Superintendent? Nichts! Diese mörderischen Vampire laufen immer noch frei herum und halten meine Gesellschafterin fest.«
»Die Täter dürften sich recht bald melden, Mylady.«
»Um von mir die hunderttausend Pfund zu erpressen.« Agatha Simpson griff nach dem Glas und nahm eine kleinen Schluck von jenem belebenden Trank, den Parker ihr serviert hatte. »Es geht mir nicht um das Geld, damit wir uns nicht mißverstehen, Superintendent. Ich habe Angst, daß man mir selbst nach der Zahlung dieser läppischen Summe Miß Porter nicht zurückgibt. Das ist es! Ich mache mir Sorgen.«
»Ich bin selbstverständlich für jede Anregung dankbar«, rang Needle sich ab. Sein Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck angenommen. Leicht schien ihm der Satz nicht gefallen zu sein.
»Man sollte möglicherweise geduldig auf eine Nachricht der Vampire warten«, schaltete der Butler sich ein. »Es dürfte inzwischen klar sein, daß es in diesem Fall nicht um die Auseinandersetzung zweier miteinander verfeindeter Filmgesellschaften geht.«
»Sie haben es mit ganz normalen Mördern und Erpressern zu tun«, fügte Lady Simpson hinzu und musterte den Superintendent mit kritischem Blick.
»Es empfiehlt sich vielleicht, Sir«, wandte Parker sich an Needle, »Ermittlungen in der Richtung anzustellen, ob über Lady Simpson hinaus auch noch andere Personen erpreßt werden. Der Mord an dem Schauspieler könnte eventuell nur als Einschüchterung gedacht gewesen sein, um die Zahlungsbereitschaft zu erhöhen.«
»Die Täter müssen in der Filmbranche zu suchen sein«, erlaubte sich Needle zu sagen, was sich als recht leichtsinnig erweisen sollte. Agatha Simpson produzierte einen ironisch-abfälligen Blick.
»Innerhalb der Königlichen Familie werden sie zu suchen sein«, meinte sie dann amüsiert. »Ihre Einsichten, Mister Needle, sind ja direkt beklemmend gut. England darf beruhigt sein, solange es Kriminalbeamte wie Sie gibt.«
*
»Ich kann diesen Needle nicht ausstehen«, stellte die Detektivin fest, nachdem der Superintendent das Feld geräumt hatte. »Was halten Sie von ihm, Mister Parker?«
»Er dürfte Myladys Spott nicht ganz verdient haben.«
»Und warum nicht? Was hat er denn schon erreicht?«
»Nicht mehr und nicht weniger als meine bescheidene Person, Mylady um der Wahrheit die verdiente Ehre zu geben.«
»Papperlapapp! Sie haben schließlich Briggs Leiche gefunden. Und dann diese Kellergewölbe.«
»Ein erfreulicher Umstand, Mylady.«
»Er reizt mich eben«, sagte die ältere Dame. »Widersprechen Sie nicht dauernd, Mister Parker! Vergeuden Sie nicht Ihre Energien!«
»Wie Mylady befehlen.«
»Was können wir für Kathy tun?«, wollte Agatha Simpson wissen. »Ich hoffe, Sie lassen sich recht bald etwas einfallen.«
»Ich werde mich wie immer bemühen, Mylady.«
»Zum Teufel mit Ihrer Höflichkeit. Ich möchte Vorschläge hören! Wer weiß, wie es dem armen Kind inzwischen geht. Sie befindet sich in der Hand von mörderischen Vampiren. Wo können wir sie finden?«
»Mylady waren so frei, den Kreis der möglichen Täter abzugrenzen.«
»Ich tippe auf Morgan Patch«, erklärte Parkers Herrin rund heraus. »Dieser Manager scheint mir nicht ganz sauber zu sein.«
»Mylady denken an bestimmte Verdachtsmomente?«
»Ich verlasse mich auf mein Gefühl«, redete Agatha Simpson weiter. »Dieser Mann kennt sich in der gesamten Filmbranche aus. Er dürfte wissen, wo Geld zu holen ist.«
»Würde Mister Patch einen seiner besten Klienten umbringen? Der Schauspieler Rob Penwood dürfte einen ansehnlichen Prozentsatz seiner Gage an Mister Patch bezahlt haben.«
»Patch will eben mehr. Sehen Sie, wenn ich dieses Thema abzuhandeln hätte, Mister Parker, würde ich an die Geldgier denken. Morgan Patch ist der Agent von Künstlern, die durch die Bank recht gut verdienen. Er hingegen bekommt nur Prozente dieser Gagen. Die hackte Gier muß sich doch in solch einer Kreatur regen. Sie will mehr und mehr, engagiert die Vampire und schickt sie auf den Hals der verängstigten Künstler. Als Penwood nicht zahlen wollte, ließ er ihn umbringen, um seine übrigen Opfer, zu warnen.«
»Eine interessante Hypothese, Mylady.«
»Die Ihnen natürlich wieder mal nicht gefällt. Ich sehe es Ihnen doch an der Nasenspitze an, Mister Parker.«
»Ich halte Mister Patch für zu intelligent, um Erpressungen zu inszenieren«, antwortete Parker wahrheitsgemäß.
»Dann nennen Sie mir einen anderen Namen.«
»Im Augenblick, Mylady, kann ich damit nicht dienen«, entschuldigte sich der Butler gemessen. »Wenn Sie mir gestatten, suche ich nach einer Verbindung zwischen Mister Morgan Patch und dem Haus des ermordeten Mister Briggs. Der oder die Täter, an die zu glauben ich mir erlaube, müssen beide Personen und Häuser gekannt haben und kennen.«
»Worauf wollen Sie raus, Mister Parker? Sie drücken sich wieder mal verdammt kompliziert aus.« Agatha Simpson konnte sich sehr ungeniert äußern.
»Ich möchte Mylady daran erinnern, daß meine bescheidene Wenigkeit auf dem Grundstück des Mister Patch außer Gefecht gesetzt wurde. Daraufhin brachte man mich in die Keller des Briggs’schen Hauses. Man wollte offensichtlich falsche Spuren legen.«
»Eine tiefe Einsicht«, spottete die resolute Dame.
»In ein Haus also, Mylady, dessen Besitzer vorher ermordet wurde, damit man seine Kellereinrichtung nutzen konnte. Das scheint mir der Grund der Ermordung zu sein.«
»Nennen Sie doch endlich Pferd und Reiter«, fuhr die Detektivin ihn unwillig an. »Sie reden mal wieder um den heißen Brei herum.«
»Ich möchte mir die Kühnheit nehmen, Mylady, noch mal auf die Kaskadeure zu verweisen.«
»Die bis auf Paul Stream tot sind.«
»Es waren, wenn ich das sagen darf, ursprünglich fünf Kaskadeure, Mylady.«
»Ach so, das stimmt. Und wo stecken die beiden anderen Personen?«
»Es handelt sich um das Ehepaar Lena und Will Conders«, präzisierte der Butler. »Nach Mitteilung des Misters Patch arbeitet das Ehepaar zur Zeit in Paris. Ob das den Tatsachen entspricht, müßte sich feststellen lassen.«
»Wie kommen Sie ausgerechnet auf dieses Ehepaar, Mister Parker? Speisen Sie mich nur nicht mit Vermutungen ab!«
»Ich denke an das Sprengstoffattentat auf die drei Kaskadeure Stream, Witman und Lormers«, antwortete der Butler höflich, wie es seiner Art entsprach. »Nur intime Freunde konnten diese Sprengladung derart wirkungsvoll installieren.«
»Das ist ja völlig neu für mich, Mister Parker. Wie war diese Sprengladung denn angebracht worden?«
»Laut Superintendent Needle an der Innenseite der verschlossenen Tür zur Wohnung«, schloß Parker. »Der oder die Mörder müssen logischerweise in der Wohnung gewesen sein und sie auf einem ziemlich waghalsigen Weg wieder verlassen haben.«
»Natürlich, das klingt plausibel«, freute sich Agatha Simpson. »Wieso ist der Weg aus der Wohnung waghalsig?«
»Sie konnte nur auf dem Umweg über das Dach verlassen worden sein«, fügte Parker hinzu, »und das deutete auf Kaskadeure hin, wenn ich mir diese Schlußfolgerung erlauben darf.«
*
Diesmal hatte man ihr keinen Spielraum gelassen.
Kathy Porter war an Händen und Füßen gefesselt worden. Sie lag auf einer schmalen Pritsche und fühlte sich hundeelend. Man hatte eine zerschlissene Decke über sie geworfen, die ihre Blöße nur notdürftig bedeckte.
Sie schaute sich neugierig in ihrem Gefängnis um und stellte zu ihrer Überraschung fest, daß sie sich diesmal auf einem Dachboden befand, der mit Gerümpel aller Art vollgestopft war. Ausrangierte Möbel, Kisten, Schließkörbe, und verschnürte Zeitungsbündel schufen ein wildes Chaos. Die Lichtverhältnisse unter dem Dach waren nicht besonders gut. Durch einige fast blinde Fenster fiel Sonne ein, die aber nicht ausreichte, um Einzelheiten zu erkennen.
Kathy hatte Durst, hielt es aber für sinnlos, sich durch Rufe bemerkbar zu machen. Warum man sie aus dem Keller geschafft hatte, wußte sie nicht. Sie vermutete nur, daß Parker den Entführern bereits dicht auf den Fersen war. Kathy überlegte, wer diese Leute sein konnten. Sie fragte sich, ob Lady Simpson inzwischen schon das verlangte Lösegeld gezahlt hatte, und weiter, ob man sie nach dieser Zahlung freilassen würde.
Sie hörte von irgendwoher ein Geräusch, das aus der Dunkelheit des Dachbodens kam und sich langsam näherte. Die junge Frau hob den Kopf, um besser sehen zu können.
Es war ein Vampir!
Er stand plötzlich neben dem alten Schrank, dessen Tür quietschend aufging. Der Vampir war fast nur zu erahnen, und sah unheimlich und unwirklich aus. Er trat jetzt weiter vor und ließ sich in ganzer Größe sehen.
Es war ein Vampir mit blonden Locken, wie Kathy überrascht zur Kenntnis nahm.
Der weibliche Vampir war etwas über mittelgroß, schlank und sah in dem schwarzen, eng anliegenden Trikot sportlich trainiert aus. In dem fast weißen Gesicht glühten dunkle Augen. Die schmalen Lippen waren leicht geöffnet und gaben de Blick frei auf überlange dolchartige Stoßzähne. Das lange, bis auf die Schultern reichende Haar war weißblond und gelockt. Die Finger liefen in spitzen Krallen aus.
Das alles war es nicht, was Kathy nervös machte und erschreckte. In den Händen des blonden Vampirs befand sich ein verdrillter Damenstrumpf, der immer wieder gestrammt wurde. Die Absicht der Besucherin war eindeutig. Sie schien sich darauf versteift zu haben, Kathy Porter zu erwürgen.
»Hätten Sie nicht einen Schluck Wasser für mich?« frage Kathy und ignorierte den Damenstrumpf in den Händen des blonden Vampirs.
»Du braucht kein Wasser mehr«, war die Antwort. »Ich werde dich umbringen!«
»Und warum, wenn ich fragen darf?« Kathy zwang sich zur Ruhe. Sie hatte den Eindruck, es mit einer Verrückten zu tun zu haben.
»Du bist schamlos«, erwiderte der blonde Vampir.
»Das müssen Sie mir erst mal erklären«, gab Kathy schnell zurück. »Wessen Gefühle habe ich beleidigt?«
»Du bist Gift für die Männer«, antwortete der blonde Vampir ein wenig pauschal. »Flittchen wie dich muß man umbringen!«
»Sie müssen mich verwechseln«, gab Kathy zurück. »Zudem eine offene Frage: Warum benutzen Sie nicht Ihr Gebiß? Das würde zu Ihrer Maskerade viel besser passen.«
Der blonde Vampir war an einer weiteren Diskussion nicht mehr interessiert. Mord war seine Absicht. Das eigenartige Wesen warf sich auf Kathy und hatte tatsächlich vor, die junge Dame zu strangulieren.
Kathy hatte diesen Angriff aber erwartet und setzte sich energisch zur Wehr. Sie ließ ihre angezogenen Beine vorschnellen und traf den Leib des Vampirs, der aufschrie, zurückgeschleudert wurde und dann in der geöffneten Schranktür landete. Der Spiegel nahm dies übel und ging in Scherben.
Bevor der blonde Vampir sich aufraffen konnte, beobachtete Kathy einen zweiten und dann einen dritten Vampir. Es handelte sich um zwei Wesen, die ihr nicht ganz unbekannt waren. Ein Vampir war groß und dürr, der zweite rundlich und untersetzt. Sie warfen sich auf den blonden, rissen ihn zurück und schleiften ihn in die Dunkelheit und Tiefe des Dachbodens.
Der weibliche Vampir war mit dieser Behandlung nicht einverstanden und stieß gellende, fast hysterische Schreie aus. Die beiden männlichen Vampire hatten ihre liebe Mühe und Not, den weiblichen Vampir zu bändigen. Es dauerte einige Zeit, bis Kathy Porter nichts mehr hören konnte. Das abrupte Schweigen hing mit einem dumpfen Schlag zusammen.
Kathys erster Eindruck verstärkte sich noch. Der weibliche Vampir mußte verrückt sein. Er war im letzten Augenblick wieder eingefangen worden. Wer mochte diese Frau sein? Warum hatte sie sie umbringen wollen?
Die Gefahr war zwar vorerst gebannt, doch mit der Rückkehr dieser rachedurstigen Frau war jederzeit zu rechnen. Da Kathy verständlicherweise keine Lust hatte, sich von dem blonden Vampir umbringen zu lassen, verstärkte sie ihre Anstrengungen, um sich ihrer Fesseln zu entledigen.
Durch die ruckartige Bewegung ihrer Beine hatte sich der Strick gelockert, mit dem sie auf dem Bett festgezurrt war. Kathy machte sich sofort daran, diesen kleinen Vorteil weiter auszubauen. Es spielte jetzt keine Rolle mehr, ob sie beobachtet wurde oder nicht. Sie mußte dieses Risiko einfach eingehen …
*
Parker saß am Steuer seines hochbeinigen Monstrums, das er vor dem Haus des Managers Morgan Patch abgeholt hatte. Bei dieser Gelegenheit hatte er ein paar aufschlußreiche Sätze mit Patch gewechselt und wußte jetzt, wo das Kaskadeur-Ehepaar Conders normalerweise wohnte, wenn es sich in London aufhielt.
Im Fond seines Wagens saß Agatha Simpson und machte einen entschlossenen Eindruck. Dank ihrer Verbindung zum Außenamt wußten sie und Josuah Parker, daß das Kaskadeur-Ehepaar keineswegs in Paris arbeitete. Es mußte sich noch in England aufhalten. Nun war das skurrile Zweigespann Butler Parker-Lady Simpson auf dem Weg, der Wohnung der beiden miteinander verheirateten Kaskadeure einen Besuch abzustatten.
»Eine fußlahme Schnecke würde Sie mit Sicherheit überholen«, raunzte die ältere Dame. »Falls Sie sich nicht trauen, ein wenig schneller zu fahren, werde ich das Steuer übernehmen.«
»Mylady werden ab sofort mit meiner Wenigkeit zufrieden sein«, versprach Parker, dem ein heftiger Schrecken durch Mark und Bein fuhr. Er kannte den verwegenen Fahrstil seiner Herrin, der stets ein wenig an Selbstmordabsichten erinnerte. Parker gab also Gas und überschlug in Gedanken die Anzahl der Strafmandate, die auf ihn zukamen. Aber das war immer noch leichter zu ertragen als eine Lady Simpson in Aktion!
Sie erreichten den südlichen Stadtteil Lambeth und ließen den hochbeinigen Wagen in einer Seitenstraße stehen. Den Rest des Weges legten sie zu Fuß zurück. Lady Simpson glich dabei einer kriegsbereiten Fregatte vor dem Wind. Ihr Tempo war beeindruckend. Das fanden auch einige harmlose Passanten, die von ihr gnadenlos gerammt wurden, als sie leichtsinnigerweise den Kurs der Dame kreuzten.
Laut Auskunft des Managers Morgan Patch wohnte das Kaskadeur-Ehepaar in der Rindon Street, einer Straße, die einen zurückhaltenden Eindruck machte. Es gab hier nur Einfamilienhäuser, die selbst bis auf den Außenstrich genormt waren. Die Eier einer Henne konnten sich nicht ähnlicher sehen.
Parker steuerte die Nummer 214 an und legte seinen behandschuhten Zeigefinger nachdrücklich auf die Klingel. Dann trat er zurück und wartete auf das Öffnen der Tür.
»Die Geier sind ausgeflogen«, mokierte sich Lady Simpson, als sich im Haus nichts rührte. »Sehen Sie nach, Mister Parker, ob die Tür überhaupt verschlossen ist!«
Parker verstand.
Er holte sein kleines Spezialbesteck aus der Hosentasche und sperrte sehr ungeniert das Schloß auf. Das geschah innerhalb weniger Sekunden. Parkers Geschicklichkeit hätte einen berufsmäßigen Einbrecher verblüfft und ihn veranlaßt, sich als Versager zu betrachten.
»Wenn Mylady gestatten, werde ich die Führung übernehmen«, meinte Parker, drückte die Tür mit der Spitze seines Universal-Regenschirms auf und betrat den kleinen Korridor.
»Ihr Leichtsinn kennt keine Grenzen«, fuhr die Detektivin ihn grimmig an. »Haben Sie vergessen, wie man die drei jungen Männer Stream, Whitman und Lormers überrascht hat?«
»In der Tat, Mylady, ein unverzeihlicher Fehler«, entschuldigte sich der Butler betroffen. »Wiederholungen sollen möglichst nicht mehr vorkommen.«
»Worum ich auch gebeten haben möchte!« Sie rauschte an ihm vorbei und untersuchte die Wohnung, die leider einen sehr verlassenen und angestaubten Eindruck machte. Es war offensichtlich, daß sie seit geraumer Zeit nicht mehr benutzt worden war. Mochten Lena und Will Conders auch in England sein, in ihrer Wohnung waren sie ganz sicher nicht gewesen.
»Ein Schlag ins Wasser«, stellte Lady Simpson verärgert fest. »Ich hoffe, Mister Parker, daß Sie Ihr Pulver nicht schon verschossen haben. Das würde mich sehr wundern.«
»Wenn Mylady gestatten, möchte ich mir die Freiheit nehmen, eine kleine Nachlese zu halten.«
»Drücken Sie sich gefälligst deutlicher aus!«
»Wenn es erlaubt ist, werde ich mir das Haus noch mal etwas gründlicher ansehen.«
»Sie werden zwar nichts finden, aber bitte schön!« Agatha Simpson ließ sich beleidigt in einem Strohsessel nieder, der im Wohnzimmer stand. Bevor sie es sich aber richtig bequem machen konnte, fiel ihr Blick auf die Bilder, die auf dem Kaminsims standen. Sie hatte ihnen bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt. Lady Simpson stand auf und sah sie sich etwas genauer an.
Ein Gruppenfoto erregte ihr Interesse.
Es zeigte die drei jungen Kaskadeure Stream, Whitman und Lormers zusammen mit einer Frau und einem Mann. Die Männer trugen abenteuerlich aussehende Piratentracht, die blondhaarige Frau das Kostüm einer spanischen Dame aus dem Mittelalter. Sie sah, was ihre Kleidung anbetraf, ein wenig mitgenommen aus und schien gerade eine böse Attacke überstanden zu haben.
Lady Simpson drehte das Foto um und fand eine Widmung, die von einem namhaften internationalen Star stammte. Er bedankte sich darin mit freundlichen Worten für die erstklassige Arbeit der Conders-Kaskadeure, die Kopf und Kragen riskiert hätten, um den Film spannend zu gestalten.
Die übrigen Fotos waren von ähnlicher Qualität. Die Kaskadeure waren in der verschiedensten Aufmachung zu sehen. In fast allen Fällen waren auf der Rückseite dieser Aufnahmen freundliche Widmungen zu lesen. Agatha Simpson war nicht überrascht, auf den Widmungen auch die Namen von Herman Briggs und Morgan Patch zu finden. Dann – sie wollte sich bereits abwenden – entdeckte sie auf einem der Gruppenfotos ein bekanntes Gesicht.
»Ein Vampir?« fragte der Butler in seiner höflich-diskreten Art.
»Unser Vampir!« Lady Simpson deutete auf den Chef der »Vereinigung der intermedialen Gesellschaft«, und nickte sehr nachdrücklich. »Das hier müßte der Lümmel sein, den wir suchen, Mr. Parker!«
*
William P. Petters war leider nicht mehr in der Lage, zu den Anschuldigungen von Lady Simpson Stellung zu nehmen.
Er war ganz eindeutig von einem Vampir besucht worden, der seine Stoßzähne benutzt hatte. Die Halswunde des Toten sah grauenhaft aus. William P. Petters lag auf dem Fußboden vor seinem Bett und war nach Auskunft des Polizeiarztes erst seit knapp einer Stunde tot.
»Ich möchte jeden Streit mit Ihnen vermeiden, Lady Simpson«, schickte Superintendent Needle vorsichtig voraus, »aber dürfte ich wissen, warum Sie zu Mister Petters gefahren sind?«
»Diese Frage ist bereits eine Unterstellung«, gab die resolute Dame gereizt zurück.
»Unter den Widmungsbildern in der Wohnung des Kaskadeur-Ehepaares Conders fand sich eine Aufnahme, auf der Mister Petters zu sehen ist«, schaltete der Butler sich schnell ein, um die Dinge nicht unnötig auf die Spitze treiben zu lassen. »Ich war daraufhin so frei, Mylady einen Besuch bei Mister Petters vorzuschlagen, um einige Informationen über das Ehepaar zu bekommen.«
»Auf diesen Gedanken hätten ja auch Sie kommen müssen«, fuhr Lady Simpson den Superintendent an.
»Die Conders halten sich in England auf«, sagte Needle. »Ich teile Ihnen das mit, obwohl ich darüber eigentlich nicht sprechen dürfte.«
»Messen Sie sich nie mit der Schnelligkeit einer Schnecke«, empfahl Lady Simpson ironisch. »Sie würden stets zweiter Sieger werden. Was Sie uns da erzählen, ist für mich und Mister Parker bereits ein alter Hut.«
»Tatsächlich?« zweifelte Needle, unsicher geworden.
»Es entspricht den Tatsachen«, erklärte Parker. »Mylady nutzte ihre privaten Verbindungen zum Außenamt Ihrer Majestät.«
»Sie müssen ja sagenhaft gute Verbindungen haben«, wunderte sich Needle beeindruckt.
»Man ist eben untereinander verschwistert und verschwägert«, gab Agatha Simpson leichthin zurück. »Halten wir uns nicht mit diesen verwandtschaftlichen Dingen auf. Mir geht es um meine Gesellschafterin.«
»Sie wurde hier im Haus ganz eindeutig festgehalten. Und zwar auf dem Dachboden, Mylady.« Needle sah die ältere Dame respektvoll an. Ihm war endlich aufgegangen, mit wem er es zu tun hatte.
»Sie ist also wieder verschleppt worden«, meinte Lady Agatha grimmig. »Sie muß sich wie ein Postpaket Vorkommen, das arme kleine Ding.«
»Hat man sich inzwischen mit Ihnen in Verbindung gesetzt, Mylady?« wagte Needle zu fragen. »Ich denke an das Lösegeld. Auf diese Summe werden die Entführer bestimmt nicht verzichten.«
»Wie denken Sie darüber, Mister Parker?« fragte Lady Agatha, sich an ihren Butler wendend.
»Wenn es gestattet ist, Mylady, würde ich gern meine Theorie entwickeln.«
»Sie haben drei Minuten«, antwortete Agatha Simpson. »Ich wünsche nur Stichworte zu hören.«
»Mister William P. Petters ist entweder der Initiator der Vampirmorde, Mylady, oder aber er wurde von dem Ehepaar Conders ausgenutzt und mißbraucht, falls dieser Ausdruck erlaubt ist.«
»Ist das alles?« fragte Lady Simpson verdutzt.
»Ich hoffe, Mylady, nur dreißig Sekunden für meine bescheidene Theorie gebraucht zu haben.«
»Wollte er nun die hunderttausend Pfund, Mister Parker?« fragte Superintendent Needle.
»Falls meine Menschenkenntnis mich nicht trügt, Sir, dürfte Mister Petters kein Erpresser gewesen sein.«
»Dieser Mann hat mir überhaupt nicht gefallen«, behauptete die Detektivin. »Er machte auf mich einen verbohrten Eindruck. Ich bin durchaus der Meinung, daß man auch über Tote etwas Böses sagen darf und soll.«
»Er dürfte mißbraucht worden sein, Mylady«, wiederholte Parker. »Seine Ermordung läßt darauf schließen.«
»Dieses saubere Ehepaar Conders wird antworten müssen«, entschied Lady Simpson unternehmungslustig. »Warum glauben Sie eigentlich, Mister Parker, daß die Conders die Leute sind, die wir suchen?«
»Darf ich noch mal an die Wohnung der drei Kaskadeure erinnern, Mylady? Sie konnte nur auf einem recht ungewöhnlichen Weg verlassen werden.«
»Wärmen Sie gefälligst keine alten Geschichten auf«, reagierte sie prompt. »Ziemlich dünnes Eis, auf dem Sie sich da bewegen, Mister Parker. Haben Sie vergessen, daß Mister Morgan Patch den Vampir mit den blonden Locken nicht erkannt hat? Und er müßte Lena Conders doch kennen, oder?«
»Muß er die Wahrheit gesagt haben?« fragte Superintendent Needle.
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder«, freute sich Lady Simpson übertrieben und sah Needle gespielt überrascht an. »Sie entwickeln ja Gedanken, die man sich direkt anhören kann!«
*
Kathy Porter saß zwischen zwei Vampiren, doch sie hatte keine Angst.
Sie wurde flankiert von einem großen und von einem rundlich-dicken Mann, die ihr vor Antritt dieser Ausfahrt einen Regenmantel über die nackten Schultern gelegt hatten. Die beiden Vampire saßen zusammen mit auf der Ladefläche eines Kleinbusses, dessen Fenster verhängt waren. Die beiden Vampire machten einen recht sorgenvollen Eindruck.
Was passiert war und warum man sie Hals über Kopf vom Dachboden geschafft hatte, wußte Kathy nicht. Sie war leider nicht mehr dazu gekommen, sich zu befreien. Die beiden Vampire waren schneller gewesen. Sie trugen jetzt übrigens wieder Zivilkleidung und sahen vollkommen normal aus.
Wer den Kleinbus steuerte, wußte sie nicht. Hin und wieder hörte sie jedoch Stimmen vorn im Fahrerhaus, die miteinander stritten. Sie unterschied bereits eine männliche und eine weibliche Stimme.
»Warum steigen Sie nicht aus?« fragte Kathy, sich an den rundlich-dicken Mann rechts von sich wendend. »Noch können Sie es! Warum spielen Sie den Handlanger eines Erpressers?«
»Halten Sie mal lieber den Rand, Mädchen«, antwortete der Dickliche gereizt. »Wir stecken schon zu tief in der ganzen Geschichte.«
»Ohne uns wären Sie bereits längst hin«, ließ der Große sich vernehmen.
»Ich bin doch hunderttausend Pfund wert«, gab Kathy zurück.
»Für uns vielleicht, aber nicht für eine bestimmte Person.« Der Dickliche, der das gesagt hatte, schnaufte. Ihm schien die ganze Richtung nicht zu passen.
»Und wer ist diese Person?« fragte Kathy weiter. Sie nutzte eine enge Kurve aus, um sich gegen den Dicklichen fallen zu lassen. Dabei rutschte der Mantel von ihrer Schulter.
»Lassen Sie den Quatsch«, brummte der Dickliche und rückte ihr den Mantel wieder zurecht. »Die Sexmasche zieht bei mir nicht. Ich habe ganz andere Sorgen.«
»Und ich ebenfalls«, sagte der Große. »Wenn einer scharf auf dich ist, dann bestimmt nicht wir!«
»Wer ist dieser Mann?«
»Kein Kommentar, Mädchen«, gab der Dickliche zurück.
»So fragt man Dumme aus«, stellte der Große fest.
»Wollen Sie sterben wie Stream, Witman und Lormers?« Kathy kannte den wunden Punkt der beiden Männer, die auf ihren Sex tatsächlich nicht eingingen.
»Halten Sie doch endlich mal den Mund«, gab der Dickliche gereizt zurück. »Man kann ja überhaupt nicht richtig nachdenken.«
»Nachdenken hat überhaupt keinen Sinn«, sagte der Große. »Wir können nicht mehr aussteigen.«
»Ich würde in jedem Fall für Sie aussagen«, tippte Kathy an.
»Mord bleibt Mord«, sagte der Dickliche düster.
»Haben Sie etwa Rob Penwood umgebracht?« erkundigte sich Kathy.
»Blödsinn«, schnaufte der Dicke empört. »Wir sind doch keine Mörder! Aber wie wollen wir das der Polizei gegenüber beweisen, he?«
»Sie brauchen nur den wirklichen Mörder der Polizei auszuliefern.«
»Und dann wird der von Mittäterschaft reden, Mädchen! Nee, nee, wir sitzen in der Patsche. Und er weiß das!«
»Wohin bringt man mich jetzt?«
»Irgendwohin, wo Sie kein Aas findet«, schaltete der Große sich ein. »Statt der hunderttausend Pfund geht’s jetzt um fünfhunderttausend Pfund! Mit unserem Anteil können wir uns absetzen und irgendwo, ein neues Leben anfangen. Das ist unsere einzige Chance.«
»Glauben Sie wirklich, je Ihren Anteil zu bekommen?« Kathy Porter gelang ein ungläubiges, amüsiertes Auflachen. Sie konnte nur hoffen, daß es echt wirkte.
*
»Natürlich habe ich verstanden«, antwortete Josuah Parker, der den Telefonanruf entgegennahm. Seine Stimme ließ keine Gefühlsregung erkennen. Er stand stocksteif, als habe er einen Ladestock verschluckt, in der Diele der Stadtwohnung von Lady Simpson und sprach gerade mit Kathys Entführer.
Sie selbst hatte sich für ein paar Worte gemeldet und ihn um Zahlung gebeten. Nun war der Entführer und Erpresser wieder an der Reihe. Seine Stimme klang sympathisch-überlegen. Es war auf keinen Fall die Stimme eines Bösewichts, wie er in Filmen nur zu gern dargestellt wird.
Am liebsten hätte Parker diesen Mann mit dem Namen Will Conders angeredet, diesen Wunsch aber mußte er sich verkneifen. Damit hätte er Kathy Porter in akute Lebensgefahr gebracht. Der Erpresser durfte nicht wissen, daß man seine Person bereits kannte.
»Es bleibt bei den kleinen gebrauchten Scheinen«, redete der Entführer weiter. »Packen Sie sie in zwei Reisetaschen und stellen Sie die auf das Dach des Ateliers Nr. 4 der Steinway-Pictures! Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt!«
»Überzeugend und klar«, versicherte der Butler höflich. »Wann darf ich die besagten beiden Taschen deponieren?«
»Den genauen Zeitpunkt werden Sie noch erfahren. Falls Sie die Polizei verständigen, wird Miß Porter nicht mehr lange leben. Und Sie, Parker, bleiben ab sofort dort, wo Sie jetzt sind! Falls Sie an weiteren Nachrichten überhaupt interessiert sind.«
»Sie erreichen mich jederzeit unter der Ihnen bekannten Nummer«, versicherte der Butler dem Entführer. »Eine Frage, die Ihnen vielleicht nicht besonders wichtig erscheint: Warum mußte Mister William P. Petters sterben? Sollte er sich Ihren Unmut zugezogen haben?«
»Dieser Kindskopf roch Lunte, Parker, aber ich wette, dahinter sind Sie bereits von allein gekommen. So, und jetzt ist Schluß der Sendung, ich möchte nicht von einer Fangschaltung erwischt werden.«
Es knackte in der Leitung, worauf der Butler den Hörer behutsam auflegte und zurück zu Agatha Simpson ging, die sich in ihrem großen Wohnraum entspannte.
»Der Entführer, nicht wahr?« fragte sie.
»In der Tat, Mylady«, gab der Butler zurück. »Der Herr verfügt über eine äußerst sympathisch klingende Stimme.«
»Ich kenne sie«, sagte Lady Simpson und verzog angewidert ihr Gesicht. »Er hat das Lösegeld erhöht, nicht wahr?«
Parker nickte und berichtete, was er am Telefon gehört hatte. Als er die Summe von fünfhunderttausend Pfund nannte, spitzte Mylady die Lippen und hatte die feste Absicht, einen leisen Pfiff auszustoßen, was ihr aber nicht recht gelang.
»Eine Unverschämtheit«, sagte sie dann, »aber es geht um Kathy. Wir werden sie selbstverständlich auslösen.«
»Man dürfte die feste Absicht haben, Miß Porter umzubringen«, sagte Butler. »Ich möchte nicht den Teufel an die Wand malen, Mylady, doch man sollte den Tatsachen stets fest ins Auge schauen.«
»Dann tun Sie gefälligst etwas dagegen.« Sie funkelte ihn kriegerisch an.
»Man hat meine bescheidene Person, wenn ich es so ausdrücken darf, hier im Haus festgenagelt, Mylady. Ich fürchte, der Entführer wird sich vor Zeit zu Zeit vergewissern, ob ich tatsächlich noch zu Hause bin.«
»Dann werde ich eben die weiteren Nachforschungen in die Hand nehmen«, entschied Parkers Herrin. »Auf mich scheint dieser Flegel ja keinen Wert zu legen.«
»Mylady bringen sich vielleicht in Gefahr.«
»Diese Aussicht animiert mich nur«, freute sich die ältere Dame und erhob sich. »Machen Sie sich nur keine Sorgen, ich bin kein Kind mehr!«
»Und wo, wenn ich bescheiden frage darf, wollen Mylady den sprichwörtlichen Hebel ansetzen?«
»Ja, wo eigentlich?« gab Agatha Simpson verdutzt zurück und setzte sich wieder. »Ich hoffe, Sie helfen mir da weiter, Mister Parker. Oh, ich weiß! Ich werde die Atelierhalle bewachen. Wann soll das Geld abgestellt werden? Doch bestimmt noch heute, im Laufe des Tages, nicht wahr?«
»Damit ist allerdings fest zu rechnen, Mylady«, antwortete der Butler gemessen. »Auf fünfhunderttausend Pfund wird kein Mensch unnötig lange warten wollen.«
»Warum ausgerechnet auf dem Dach einer Atelierhalle?« sinnierte die Detektivin laut. »Wie will der Entführer denn an das Geld herankommen? Umständlicher geht es wohl kaum.«
»Wenn Mylady gestatten, möchte ich mir die Kühnheit nehmen, ein wenig zu widersprechen«, sagte Parker. »Ich darf darauf verweisen, daß man es mit gelernten und hochkarätigen Kaskadeuren zu tun haben dürfte. Sie werden sich ihre Möglichkeiten sehr genau überlegt haben.«
*
Der Große und der Dickliche führten Kathy in das Farmhaus, dem Ziel ihrer langen Autofahrt. Der Mann und die Frau im Fahrerhaus des Kleinbusses ließen sich auch jetzt nicht sehen. Sie waren an der Wahrung ihres Inkognitos sehr interessiert.
Kathy schaute sich neugierig um.
Das Farmhaus mußte sich ihrer Schätzung nach im Nordosten von London befinden. Sanfte, grüne Hügel und kleine Waldstücke säumten das Tal, in dem das Haus lag. Nachbarn schien es hier nicht zu geben.
Kathy sah kein weiteres Haus.
Die beiden Vampire in Zivil brachten sie diesmal in einen kühlen Keller, der wohl als Vorratsraum diente. Auf Regalen standen Gläser mit Eingemachtem. Die beiden Vampire banden Lady Simpsons Gesellschafterin an einem Regal fest, und Kathy merkte schon nach wenigen Sekunden, daß sie recht unordentlich arbeiteten. Sie verschnürten sie nicht nach allen Regeln der Kunst und gingen, als ein dritter Mann den Raum betrat.
Dieser Mann mußte der eigentliche Entführer sein.
Er hatte sich als Vampir hergerichtet, um sein Gesicht unkenntlich zu machen, und trug einen weiten, dunklen Umhang, der seine Figur verbarg. Sein Gesicht war hinter einer Plastikmaske, die eine wirkungsvolle Kreuzung aus Frankenstein und Vampir darstellte. Dieses Vorgesicht war derart häßlich, daß es schon nicht mehr unheimlich wirkte. Es war geeignet, die Lachmuskeln ein wenig zu reizen.
»In ein, zwei Stunden sind Sie frei«, sagte er mit undeutlicher Stimme, was durch die eng anliegende Maske bedingt war. »Lady Simpson wird Sie auslösen.«
»Daran habe ich keinen Augenblick gezweifelt«, gab Kathy zurück. »Wer sind Sie nun eigentlich? Morgan Patch, Herman Briggs oder vielleicht Mister Petters?«
»Das ist doch unwichtig«, antwortete der Vampir. Er trat vor sie und zog den locker liegenden Regenmantel langsam von ihrer Schultern. »Sie sehen sehr gut aus, Miß Porter.«
»Wollen Sie meine Hilflosigkeit ausnutzen?«
»Warum nicht?« gab er zurück und lachte dazu leise. »So etwas wie sie läuft einem nicht alle Tage über den Weg.«
»Sie müssen sehr verklemmt sein«, forderte Kathy ihn bewußt heraus, »aber bitte, bedienen Sie sich! Ich kann mich ja doch nicht wehren.«
Sie setzte alles auf eine Karte, schüttelte den Mantel endgültig von ihren Schultern und präsentierte sich in ihrer Nacktheit. Der Vampir schnaufte ein wenig, trat zurück und schien sein Opfer anzustarren. Leider war von einer Regung nichts zu erkennen, die Maske verbarg das Gesicht zu gut.
Er ging jetzt vor und berührte ihre Brust. Kathy lachte spöttisch. Diese widerliche Geste durfte ihr nach außen hin nichts ausmachen. Nur wenn sie willig erschien, konnte sie ihn vielleicht abschrecken.
Es gelang!
Er ohrfeigte sie und trat wieder zurück. Er stierte sie an und schien zu überlegen, was er tun sollte.
»Sind Sie wirklich so kaltschnäuzig, wie Sie tun?« frage er dann zweifelnd.
»Irgendwie tun Sie mir fast leid«, erwiderte Kathy gelassen. »Normalerweise scheinen sie bei Frauen kein Glück zu haben. Werden Sie von Ihrer Partnerin eigentlich sehr gegängelt?«
»Ich könnte Sie auspeitschen!«
»Natürlich, ich kann mich ja nicht wehren.«
»Ich könnte Sie töten!«
»Sie können alles, was Sie sich nur wünschen«, steigerte Kathy noch zusätzlich. »Genießen Sie doch endlich Ihre Überlegenheit! Sie haben sie bestimmt nötig.!«
Er wollte sie erneut schlagen, doch er bremste sich im letzten Moment.
»Sie widern mich an«, stellte er dann ärgerlich fest.
»Ich empfinde auch nicht gerade Sympathie für Sie!«
»Sie werden noch um Gnade wimmern, darauf können Sie sich verlassen!«
»Sie komischer Supermann«, höhnte Kathy. »Ihre Partnerin scheint Sie ja vollkommen zu beherrschen.«
Er wollte antworten, doch da hörte er auf der Kellertreppe ein Geräusch. Er wandte sich hastig ab und lauschte. Dann nahm er schnell den Regenmantel und legte ihn behelfsmäßig um Kathys Schultern. Wenig später erschien der Vampir mit den blonden Locken. Es war die Frau, die sich bereits auf dem Dachboden sehen ließ.
»Es ist soweit«, sagte sie. »Das Geld liegt in einer halben Stunde auf dem Atelierdach. Wir brauchen es nur abzuholen.«
»Können Sie zaubern?« erkundigte sich Kathy und musterte den weiblichen Vampir.
»Wir können fliegen«, gab der Vampir mit den blonden Locken zurück. »Damit wird Ihr komischer Beschützer bestimmt nicht rechnen.«
»Sie sind Kaskadeure, nicht wahr?«
»Haben Sie es endlich herausgefunden!« Der weibliche Vampir lächelte.
»Sie arbeiten für Mister Petters?« tippte Kathy an.
»Er arbeitete für uns«, lautete die prompte Antwort. »Doch jetzt lebt er nicht mehr. Wie Herman Briggs! Auch ihn haben wir erledigt.«
»Sie haben Mister Rob Penwood vergessen«, erinnerte Kathy, der jetzt ein wenig unwohl wurde. Sie zweifelte keinen Augenblick an der Wahrheit dessen, was sie gehört hatte.
»Wie Penwood«, bestätigte der weibliche Vampir, während der Vampir mit der Plastikmaske schwieg.
»Vergessen wir nicht die drei Kaskadeure Stream, Witman und Lormers«, stichelte Kathy weiter.
»Sie hätten uns früher oder später doch nur verraten«, sagte der weibliche Vampir.
»Es geht Ihnen also nur ums Geld?«
»Natürlich, glauben Sie, wir würden nur so zum Spaß als Vampire herumlaufen.«
»Wollten Sie Penwood und Miß Purgess erpressen?«
»Nicht nur sie. Wir besitzen eine lange Liste von Personen, die noch liebend gern zahlen werden. Penwoods Tod ist das Signal gewesen. Jetzt wissen unsere Opfer, was sie erwartet, falls sie nicht pünktlich zahlen.«
»Und was wird mit mir geschehen?«
»Ich lade Sie zu einem interessanten Rundflug über London ein«, erwiderte der weibliche Vampir. »Sie werden zusammen mit uns das Lösegeld abholen.«
»Sie wollen einen Hubschrauber benutzen. Jetzt habe ich begriffen.«
»Wir werden einen Hubschrauber benutzen«, bestätigte der weibliche Vampir, während ihr Partner noch immer schwieg. »Damit picken wir die Geldtaschen vom Dach des Ateliers. Und Sie werden dabei eine wichtige Rolle spielen.«
»Ich soll wohl dafür sorgen, daß Sie nicht verfolgt werden, oder irre ich mich?«
»Begriffen!« Der weibliche Vampir nickte. »Hoffentlich sind Sie schwindelfrei. Wir werden Sie außenbords festschnallen, damit man Sie deutlich erkennt. Den möchte ich sehen, der uns dann noch verfolgt.«
»Die beiden Vampire, die wohl hier auf den Farm Zurückbleiben werden«, meinte Kathy berechnend. »Ich kann mir kaum vorstellen, daß die an dem Lösegeld beteiligt werden.«
Die Antwort bestand in einem spöttischen Auflachen.
Kathy konnte nur hoffen, daß der Große und der Dicke Zeugen dieser Unterhaltung waren, sonst war sie tatsächlich verloren …
*
Kathy Porter hatte keine Lust, eine zweifelhafte Luftreise zu unternehmen.
Da man sie nur nachlässig am Regal festgebunden hatte, besaß sie einen für ihre Begriffe erfreulichen Spielraum, den sie sofort nutzte.
Der Vampir mit den blonden Locken geriet aus der Fassung, als Kathy sich plötzlich vom Regal löste und Beine und Füße als Waffe einsetzte. Da sie sich in Karate auskannte, dauerte es nur eine Sekunde, bis der Vampir an der Wand klebte, um dann an ihr herunterzurutschen.
Der männliche Vampir starrte zuerst fassungslos auf seine Partnerin, dann auf Kathy.
Und das hätte er besser nicht getan!
Bevor er zum Gegenangriff übergehen konnte, streichelte Kathys nackter Fuß seinen Hals.
Diese Liebkosung war derart intensiv, daß der Mann wie ein gefällter Baum zu Boden ging und sich nicht mehr rührte. Kathy konnte, wenn es sein mußte, äußerst nachdrücklich sein. Sie hielt sich nach dieser Aktion nicht mit langen Überlegungen auf, sondern nutzte das Eingemachte. Sie fegte mit dem Fuß Brombeermarmelade vom Regal und hielt dann einige Scherben des zersplitterten Glases für geeignet, ihre Handfesseln zu durchschneiden. Sie beeilte sich sehr, denn sie rechnete jederzeit mit dem Erscheinen der beiden anderen Vampire.
Dann horchte Kathy Porter auf.
Sie hörte das typische Knattern der Rotoren eines Hubschraubers.
Der Große und der Dicke mußten gerade starten. Sie wollten sich die Geldtaschen wahrscheinlich auf eigene Rechnung vom Dach der Atelierhalle holen. Sie mußten also doch Zeugen der aufschlußreichen Unterhaltung geworden sein.
Kathy streifte sich die zerschnittenen Stricke ab und benutzte sie anschließend, um die beiden Vampire zu verschnüren. Erst danach streifte sie dem Mann die Plastikmaske vom Gesicht. Sie kannte den Mann nicht, doch das spielte keine Rolle. Sie »demaskierte« auch den Vampir mit den blonden Locken, der eine Perücke trug und darunter braunes Haar zeigte. Das Gesicht der Frau unter der dicken, weißen Schminkschicht sah schlaff und verwüstet aus.
Sie kamen zu sich und starrten Kathy wütend an.
»Ihre Rechnung hat ein paar kleine Schönheitsfehler«, reagierte Kathy gelassen. »Ihre beiden Mitarbeiter sind unterwegs, um sich das Lösegeld zu holen. Ich wette, daß auch sie nicht teilen werden.«
Der Mann fluchte, die Frau schwieg.
»Darf man jetzt endlich wissen, wer Sie sind?« erkundigte sich Lady Simpsons Gesellschafterin.
»Irgendwann werde ich Sie umbringen«, fauchte nun die Frau wütend, um sich dann an ihren Partner zu wenden. »Ich hab’ dir ja gleich gesagt, daß sie uns Schwierigkeiten macht. Wir hätten sie sofort umlegen sollen!«
Kathy vergewisserte sich noch mal, daß die Fesseln in Ordnung waren. Dann verließ sie den Keller, eilte nach oben und sah aus einem Fenster.
Sie erkannte gerade noch den Hubschrauber, der wie ein riesiges Insekt tief über die Baumspitzen davonstrich und Kurs auf London nahm. Die beiden Vampire waren auf dem Weg, sich fünfhunderttausend Pfund abzuholen!
Das Telefon im Farmhaus funktionierte.
Kathy rief Lady Simpsons Stadtwohnung an, bekam jedoch keinen Anschluß. Agatha Simpson und Butler Parker waren sicher unterwegs, um die Übergabe des Lösegeldes zu kontrollieren. Kathy konnte sich vorstellen, daß Josuah Parker dazu einiges eingefallen war …
*
»Dort kommt er«, sagte Parker und deutete auf den Hubschrauber, der plötzlich über dem Ateliergelände erschien. Parker und Lady Simpson standen gut getarnt hinter dem Aufbau eines Lastenaufzugs und konnten die Gegend überblicken. Parker hob das Fernglas und nickte zufrieden.
»Keine Miß Kathy«, sagte er dann. »Die Vampire scheinen sich die Sache doch noch mal überlegt zu haben, damit könnte ich zum Teil zwei des Plans übergehen, wenn Sie erlauben, Mylady!«
Sie erlaubte es durch ein knappes Kopfnicken.
Parker trat aus der Deckung hervor und trug die beiden großen Reisetaschen auf die Mitte des flachen Daches, er stellte sie genauso ab, wie die Vampire es gewünscht hatten. Sie konnten vom Hubschrauber aus unmöglich erkennen, daß Parker ein paar zusätzliche Handgriffe ausführte.
Er ging zurück in Deckung, wie die Vampire es nach einem weiteren Anruf verlangt hatten und harrte dann der Dinge, die da mit größter Wahrscheinlichkeit kamen.
Er hatte sich nicht getäuscht!
Während der Hubschrauber heranflatterte, fiel aus ihm eine lange Strickleiter, auf der ein großer, schlanker Mann erschien und erstaunlich schnell nach unten stieg. Er schien sich wie auf einer normalen und sicheren Leiter zu befinden.
Der Hubschrauber schwirrte heran, nahm Maß und wurde vom Piloten geschickt an die beiden großen Taschen dirigiert. Der Mann auf der Strickleiter stand auf der untersten Sprosse und hielt ein Stahlseil in der linken Hand, dessen Haken er unter die Tragegriffe der beiden Taschen schob. Dann stieg er hastig wieder nach oben, während der Hubschrauber gleichzeitig hochzog. Doch es gelang ihm nicht so recht, denn die beiden Handtaschen lösten sich nicht vom Dach. Sie standen wie festgeschmiedet auf ihrem Platz und … rissen den Hubschrauber höchst abrupt zurück. Das Luftgefährt kam dadurch in ein gefährliches Schaukeln und Pendeln.
Der Pilot, der den Widerstand natürlich bemerkte, gab Vollgas und zog den Hubschrauber erneut und noch energischer nach oben. Doch die beiden Handtaschen rührten sich nicht, denn sie hingen ihrerseits an einem starken Haken, für den der Butler natürlich gesorgt hatte.
Der Mann auf der schwankenden Strickleiter merkte, daß die Sache nicht klappte.
Er sprang ab und landete ein wenig unglücklich auf dem Flachdach, robbte aber dennoch mit größter Geschwindigkeit zur Seite, um von dem abstürzenden Helikopter nicht getroffen zu werden.
Der kippte nämlich unaufhaltsam ab, legte sich auf die Seite und dann anschließend auf das Dach.
Das entstehende Feuer wurde von Superintendent Needles Leuten erfolgreich mit Handschaumlöschern bekämpft. Parker war ein Mann, der schließlich an alles dachte …
*
»Ziehen Sie sich gefälligst was über, Kindchen«, sagte Lady Simpson grimmig zu Kathy Porter. Die resolute Dame, Parker und Needle befanden sich zusammen mit einigen Polizeidetektiven auf der Farm, denn die beiden Ersatzvampire hatten unter dem Eindruck ihrer Bruchpanne ausgiebig geredet.
Kathy lächelte und hüllte sich noch fester in den Regenmantel, um Needle nicht unnötig abzulenken.
»Ich wußte, daß Sie kommen würden«, sagte sie lächelnd, »darum bin ich auch hier auf der Farm geblieben, Mylady.«
»Sie leichtsinniges, dummes Ding«, stellte Lady Simpson fest. »Hoffentlich haben Sie die Zeit genutzt und die beiden Vampire zum Reden gebracht.«
»Sie heißen Lena und Will Conders«, antwortete Kathy, »aber das wissen Sie wohl bereits?«
»Natürlich, Kindchen«, antwortete Lady Agatha leutselig. »Ich wußte es bereits die ganze Zeit!«
Parker verzichtete wie üblich auf eine Korrektur. Er wollte sich den Zorn der Detektivin nicht zuziehen.
»Die Conders kannten Mister Petters von ihrer früheren Arbeit her«, berichtete Kathy weiter. »Sie wußten, daß er sich in Geldnot befand und seine wissenschaftliche Arbeit nicht fortsetzen konnte. Sie überredeten ihn zu dem Coup, Schauspieler der Horror- und Vampirfilme anzuzapfen. Petters machte zuerst mit, doch als der erste Mord passierte, wollte er aussteigen. Dafür mußte er dann sterben.«
»Und warum ermordete man Briggs?« schaltete sich Needle ein.
»Man brauchte seine umgebauten Kellerräume«, erzählte Kathy weiter. »Die Einzelheiten werden Sie von den Conders erfahren, Sir. Die Morde an den drei Kaskadeuren hingen ebenfalls damit zusammen. Zuerst arbeiteten sie für die Conders, ohne es zu wissen, als sie dann aber von Lady Simpson und Mister Parker gestellt wurden, befürchtete Will Conders, daß man Zusammenhänge herausbekam. Darum dann die Sprengladung an der Wohnungstür der drei Männer.«
»Darf ich fragen, Miß Porter, wer die beiden verunglückten Hubschrauberpiloten sind?« erkundigte sich Josuah Parker gemessen.
»Es sind ebenfalls Kaskadeure, die von den Conders engagiert wurden«, konnte Kathy Auskunft geben. »Man sollte mit ihnen nicht zu hart ins Gericht gehen, ich glaube, sie haben mir überhaupt die Gelegenheit verschafft, daß ich mich befreien konnte.«
»Wer hätte das von diesem skurrilen William P. Petters gedacht?« Lady Simpson schüttelte nachdenklich den Kopf. »Wieso hat er sich nur mit diesen ausgekochten Gangstern zusammentun können!«
»Abgesehen davon, Mylady, daß er dafür mit seinem Leben bezahlt hat«, schickte Parker voraus. »Mister Petters sah, daß mit seinen Ideen erfolgreiche Filme gedreht wurden. Man brauchte ihn wohl nicht lange zu überreden. Ihm dürfte es allein um seine weiteren Forschungen gegangen sein. Eine tragische Figur, wenn ich es so ausdrücken darf.«
»Die Hauptfigur in meinem ersten Filmstoff«, erklärte Agatha Simpson und sah sehr animiert aus. »Mister Parker, notieren Sie sich alle Einzelheiten, sobald wir zu Hause sind. Von mir aus können Sie auch bereits die ersten Szenen schreiben. Ich weiß schon jetzt, daß mein Film ein … was werden wird, Mister Parker? Wie heißt dieser Fachausdruck noch?«
»Ein Hit, Mylady!«
»Jawohl, ein Hit«, wiederholte die vielseitige Dame. »Ich werde mich sofort an die Arbeit machen und in Klausur gehen. Ab sofort möchte ich nicht mehr gestört werden, Mister Parker.«
»Sehr wohl, Mylady. Auch dann nicht, wenn einer neuer Fall sich abzeichnet?«
»Das wäre die einzige Ausnahme«, räumte Agatha Simpson ein, »dann haben Sie mich auf jeden Fall zu stören! Die Themen liegen auf der Straße, ich kann sie doch nicht ungenutzt lassen.«