Читать книгу Butler Parker Staffel 21 – Kriminalroman - Günter Dönges - Страница 6
ОглавлениеJosuah Parker war erleichtert, als er dem japanischen Geländewagen entstieg, den seine Herrin, Lady Agatha Simpson, gesteuert hatte.
Autofahrer hatten erbost hinter ihnen gebrüllt, und an der Southwark-Bridge hatte ein total entnervter Radfahrer sich nur mit einem verzweifelten Sprung in die Themse retten können. Seine derben Flüche klangen Josuah Parker immer noch in den Ohren.
»Diese Leute«, klagte Lady Agatha, während Parker ihr aus dem Wagen half, »benehmen sich wie üble Rowdys. Aber das erlebe ich ja nicht zum ersten Mal. Was sagen Sie dazu, Mister Parker?«
»In der Tat, Mylady«, erwiderte der Butler diplomatisch. »Es ist wahrhaftig nicht das erste Mal.«
Die passionierte Detektivin setzte ihre beachtliche Leibesfülle in Bewegung und ging zielstrebig auf eine Passage zu.
Parker folgte gemessen seiner Herrin, die den heutigen Tag mit einem Einkaufsbummel zu verbringen gedachte.
Einige Leute drehten sich neugierig nach ihm um. Parker war ein mehr als mittelgroßer, alterslos wirkender Mann: das Urbild eines hochherrschaftlichen Butlers mit schwarzem Zweireiher, Eckkragen und schwarzem Binder. Unverwechselbare Zeichen an ihm waren die schwarze Melone, der Covercoat und der Regenschirm, der allerdings von ganz besonderer Art war. Dazu war der Butler die Würde in Person.
Agatha Simpson hingegen strahlte unbändige Energie aus. Sie war seit Jahren verwitwet und eine immens reiche Frau, die sich dafür entschieden hatte, als Amateur-Detektivin zu arbeiten. Sie hielt sich in ihrem Beruf für unübertrefflich und einmalig und verbuchte auch viele Erfolge, weil Josuah Parker geschickt im Hintergrund agierte und die jeweiligen Fälle diskret zu lösen pflegte.
In der Passage blieb Lady Agatha abrupt stehen und sah sich erstaunt nach allen Seiten um.
»Was höre ich da, Mister Parker?« fragte sie stirnrunzelnd.
»Mylady dürften Ohrenzeugin einer erregt geführten Diskussion sein«, antwortete der Butler gemessen.
»Genau das wollte ich sagen«, behauptete die ältere Dame. »Kann es sein, daß diese Diskussion in der Wäscherei da drüben stattfindet?«
»Mylady verfügen über ein unübertreffliches Gehör.«
Agatha Simpson wandte sich um und blickte auf ein Schild in der Passage.
»Tom Peacock – Reinigung und Wäscherei«, stand da in schmalen Lettern.
Die Tür bestand aus Milchglas. Weder die neugierige Agatha Simpson noch Butler Parker konnten hindurchsehen.
Dafür aber waren die Geräusche aus dem Innern eindeutig zu identifizieren.
In der Wäscherei brüllten ein paar Kerle durcheinander. Die angeregte Diskussion setzte sich offenbar auf höherer Ebene fort – mit Faustschlägen und Ohrfeigen.
Für die kampflustige ältere Dame bedeutete das die ernstgemeinte Aufforderung zum Eintreten. Sie schlitterte sozusagen wieder mal in einen Fall hinein.
Entschlossen öffnete sie die Tür und trat ein – und fand sich übergangslos in einer anderen Welt wieder.
Dichter Nebel hing in dem Raum wie in einem Inhalatorium. Die Luft war schwer und feucht.
»Wo bleiben Sie denn, Mister Parker?« fragte Agatha Simpson ungehalten. »Man sieht hier ja kaum die Hand vor Augen.«
»Stets an Ihrer Seite, Mylady«, versicherte der Butler, der eingetreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Die vier Kerle ignorierten ihre Besucher. Sie waren so mit sich selbst beschäftigt, daß sie alles um sich her vergessen hatten.
Sie waren in dem zähen Nebel nur als vage Schatten zu erkennen. Aber diese Schatten hieben brüllend um sich, verteilten Ohrfeigen, schlugen mit den Fäusten und begleiteten alles mit saftigen Flüchen.
Aus einer Waschmaschine strömte Dampf. Aus einem Rohr tropfte Wasser auf den Boden. Ein Karton mit Seifenpulver flog quer durch den Raum und zerplatzte dicht neben der Tür.
»Habe ich das etwa als Angriff aufzufassen, Mister Parker?« verlangte Lady Agatha empört zu wissen. »Diese tobsüchtigen Lümmel ahnen wohl nicht, wen sie vor sich haben.«
»Meine Wenigkeit möchte behaupten, es schiene sich eher um ein Versehen gehandelt zu haben. Gezielte Angriffe dürften bei diesem Smog keinen großen Erfolg versprechen.«
In dem großen Raum roch es nach Seifenpulver, Chemikalien aller Art, ätzenden Dämpfen, kochendem Wasser und Knochenöl, dessen talgartige Konsistenz sich in diversen Flaschen auf den Regalen befand. Das entsetzlich stinkende Zeug wurde als Schmiermittel, zur Seifen- und Schuhcremeherstellung benutzt.
Parker wußte immer noch nicht, was hier los war. Er sah nur undeutlich vier Kerle, die sich wie wild prügelten. Aber der Grund dafür blieb vorerst unerfindlich.
Einer der Kerle sauste jetzt gerade mit einem Affenzahn quer durch die Wäscherei. Ein kräftiger Fußtritt hatte ihm den erforderlichen Schub verliehen, und das Waschpulver tat ein übriges, um ihn schneller flitzen zu lassen.
Er knallte mit dem Schädel an eine Wäschetrommel und heulte auf. Völlig verschmiert versuchte er auf die Beine zu kommen, doch der Untergrund war zu glatt, und so landete er zum zweiten Mal knallhart an der Wäschetrommel.
Josuah Parker hielt es für angemessen, den Schauplatz der Schlägerei diskret zu verlassen, doch seine kriegerische Herrin war damit keineswegs einverstanden. Sie hielt das Schauspiel für ergötzlich.
»Sehen Sie nur, wie die sich balgen, Mister Parker«, rief sie erfreut.
Der Butler hüstelte dezent und bot seiner Herrin den Arm.
»Wenn Mylady gestatten, wird meine Wenigkeit Mylady vom Schauplatz des Geschehens begleiten«, bot er an, aber damit stieß er auf taube Ohren. Agatha Simpson dachte nicht im Traum daran, den Schauplatz des Geschehens zu verlassen.
Sie suchte nach einer Möglichkeit, hilfreich in den Kampf einzugreifen, konnte sich aber noch nicht für eine Seite entscheiden, weil alles im wahrsten Sinn des Wortes noch undurchsichtig war.
Der Rattengesichtige ließ immer noch den Revolverlauf kreisen.
Agatha Simpson hatte inzwischen ihren perlenbestickten Pompadour in leichte Schwingung versetzt und bewies jetzt ihre Gefährlichkeit.
Sie holte einmal kurz aus und setzte den Pompadour zielsicher auf den Schädel des Mannes.
Die Wirkung war erstaunlich. Der Rattengesichtige zuckte zusammen, stöhnte dann, verdrehte die Augen und sackte schwerfällig in die Knie. Der leise Nachhall eines hohlen, dumpfen Geräuschs war noch zu hören, außerdem das Poltern, mit dem der Revolver auf den Boden fiel.
Der Glücksbringer im Handbeutel hatte voll sein Ziel erreicht. Bei diesem sogenannten Glücksbringer handelte es sich um ein einfaches Pferdehufeisen, das einst ein Brauereigaul getragen hatte. Dementsprechend Stark war auch die Wirkung. Der Glücksbringer war nur oberflächlich in dünnen Schaumstoff verpackt. Agatha Simpson handhabte den perlenbestickten Pompadour mit außerordentlicher Kraft und Geschicklichkeit, und da sie dem Hobby des Golfs und des Sportbogenschießens huldigte, war ihre Muskulatur auch entsprechend gut ausgebildet.
Einen Augenblick war die Schlägerei unterbrochen. Der zweite Kerl zog ebenfalls einen Revolver und kam näher. Er kniff die Augen zusammen, um in dem Dunst besser sehen zu können. Noch während er näherkam, bediente sich Parker aus dem reichhaltigen Angebot in den Regalen.
Er nahm eine Flasche Knochenöl und warf sie auf den Boden. Das schmierige Zeug lief aus und vermischte sich mit dem feuchten Seifenpulver zu einem aalglatten Bodenbelag. Parker warf noch eine zweite Flasche zu Boden und schickte einen Karton himmelblauen Waschpulvers hinterher, der detonationsartig barst.
Agatha Simpson stand mit höchst zufriedenem Gesichtsausdruck nahe der Tür und sah erstaunt auf den Effekt, den ihr Butler mit den Wurfgeschossen ausgelöst hatte.
Der Mann mit dem Revolver lief rückwärts, konnte sich aber nicht auf den Beinen halten und fiel der Länge nach hin. Der Rattengesichtige erhob sich, allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann schlitterte er wie besessen durch die Schmiere, griff haltlos in der Luft herum und beendete seine Reise vor einer Waschmaschine, die er heftig umarmte.
Auch die drei anderen blieben nicht verschont. Einer ging zu Boden, der andere klammerte sich an ihn und folgte ihm. Der dritte flitzte wie vom Affen gebissen durch den Raum, flog an die Wand, fiel hin und versuchte aufzustehen. Vergeblich – in der Schmiere kriegte er kein Bein mehr auf den Boden.
Heulen und Zähneklappern war zu hören. Immer wieder versuchten die Männer, sich auf den Beinen zu halten, doch jeder Ansatz wurde im Keim erstickt.
Agatha Simpson war von diesem Effekt so begeistert, daß sie nun ihrerseits in die Regale griff und die brüllenden Kerle mit allem bombardierte, was ihr in die Hände fiel.
Der eine grapschte nach seinem Revolver und fiel prompt und schmerzhaft auf die Nase. Zu aller Pein knallte ihm ein weiterer Karton Waschpulver auf den Schädel. Eine zartblaue Wolke breitete sich aus, und der Kerl gab einen erstickten Schrei von sich.
Die anderen gerieten inzwischen in Panik, niesten, husteten und fluchten um die Wette. Sobald einer auch nur die Hände aufstützte, endete der Versuch mit einem kläglichen Fall.
»Herrlich ist das«, rief Lady Agatha und klatschte in die Hände. »Die Subjekte kommen überhaupt nicht mehr hoch. Wie finde ich das, Mister Parker?«
»Mylady dürften das höchst ergötzlich finden. Wie Mylady sicher wissen, handelt es sich hierbei um den sogenannten Reibungskoeffizienten. Mylady wissen ferner, daß es sich dabei um jene Kraft handelt, die aufgewendet werden muß, um die Geschwindigkeit eines reibenden Körpers konstant zu halten, im Verhältnis zum Körpergewicht. Mylady dürfen versichert sein, daß der. Reibungskoeffizient in diesem Fall gleich Null ist.«
»Selbstverständlich ist mir das bekannt«, schwindelte die Lady bedenkenlos, die vom Reibungskoeffizienten noch nie etwas gehört hatte. Sie sah nur den Erfolg, und der war mehr als erstaunlich, als die brüllenden Männer immer wieder vergeblich versuchten, auf die Beine zu kommen.
In wilder Wut, Beklemmung und Angst hieben sie nach allen Seiten um sich. Doch jede Bewegung setzte sich in der Schmiere sofort um und ließ sie hilflos von einer Seite zur anderen rutschen.
Selbst als einer versuchte, sich an der Waschmaschine hochzuziehen, gelang ihm das nicht. Er strampelte mit den Beinen, hielt das Gerät umklammert und kam nicht mehr davon los.
Ein anderer kroch mit einem Gesicht wie ein kranker Hund auf Agatha Simpson zu und versuchte ihre Beine zu fassen.
Für die streitbare ältere Dame war das einwandfrei ein tätlicher Angriff, oder zumindest der Versuch dazu.
Wieder trat ihr perlenbestickter Pompadour in Aktion, den sie an einer langen Lederschlaufe trug.
Der Glücksbringer traf wie gewohnt sein Ziel. Diesmal landete er auf einem mit Waschpulver und Knochenöl zweckentfremdeten Hinterkopf.
Da auch hier der Reibungskoeffizient aufgehoben war, hatte Agatha Simpson alle Mühe, den Glücksbringer rechtzeitig abzufangen, weil er wie ein Bumerang zurückkehrte.
Der kräftig geführte Hieb aber versetzte den Mann in rotierende Bewegung. Er drehte sich wie ein Kreisel auf dem glitschigen Boden und kam erst nach einer Weile unter einem Regal zum Stillstand. Der Aufprall war so gewaltig, daß dieses Regal umfiel. Knallend barsten Kartons und Flaschen. Himmelblaue und weiße Wolken wurden durch den Raum geblasen, weiteres Knochenöl lief aus. Der Geruch wurde schließlich so penetrant, daß selbst Parker leicht angewidert die Nase rümpfte.
»Was gedenke ich nun zu tun, Mister Parker?« fragte die Lady, die mißbilligend auf die rudernden Kerle sah.
»Mylady gedachten den Nachmittag mit einem Einkaufsbummel zu verbringen.«
»Richtig, das hatte ich vor. Hier gibt es für mich nichts mehr zu tun. Den Rüpeln habe ich es gründlich besorgt. Finden Sie nicht auch, Mister Parker?«
Josuah Parker verneigte sich leicht.
»Mylady verstehen es ausgezeichnet, immer die rechten Umgangsformen zu wahren«, sagte er höflich.
»Dann gehen wir jetzt«, entschied die resolute Dame bestimmt.
Aus dem himmelblauen Nebel ertönte wildes Zetern. Die Kerle brüllten immer noch ihre hilflose Wut hinaus.
»Das wird Folgen haben«, keifte eine bitterböse Stimme. »Das wird euch noch verdammt leid tun.«
»Tut es mir wirklich leid, Mister Parker?« fragte die Lady lächelnd.
»Meine Wenigkeit möchte sich dem Glauben hingeben, daß Mylady nicht unbedingt von dieser Gefühlsregung betroffen sind.«
Butler Parker lüftete höflich seine Melone in Richtung der undefinierbaren Nebelwolke und geleitete seine Herrin dann zur Tür hinaus.
Hinter ihnen blieb das totale Chaos zurück. Fünf restlos entnervte Männer schrien sich die Kehlen heiser.
*
Lady Agatha bewohnte in Shepherd’s Market, in der Nähe des Hyde Park, ein Fachwerkhaus, das auf den Grundmauern und Gewölben einer alten Abtei stand. Das Haus lag an der Stirnseite eines kleinen Platzes, der von weiteren Fachwerkhäusern eingerahmt wurde. Diese Häuser gehörten Lady Agatha ebenfalls.
An diesen Abend hatte es sich Lady Agatha gemütlich gemacht. Sie saß in dem großen Sessel vor dem Kamin, blätterte in einer Zeitschrift und trank abwechselnd Tee und Kognak. Immer wieder griff ihre Hand nach der Kristallschale mit den diversen Leckereien.
Josuah Parker legte gerade ein Scheit in den knisternden Kamin.
»Schrecklich, diese Süßigkeiten, Mister Parker«, meinte sie, »aber ich habe gerade in dieser Zeitschrift gelesen, daß der menschliche Körper unbedingt hin und wieder Zucker zu sich nehmen muß, damit er gesund und kräftig bleibt.«
Das klang fast wie eine Entschuldigung, denn in der Zeitschrift stand nichts davon, daß man diesen Zucker in Form von Keksen und Leckereien gleich pfundweise vertilgen mußte.
»Da kann ich Mylady nur beipflichten«, sagte Parker höflich. Sein Gesicht war glatt und ausdruckslos auf die jetzt leere Kristallschale gerichtet. »Mylady dürfen ihren Körper keineswegs vernachlässigen.«
»Dann bringen Sie mir noch ein paar kandierte Früchte, Mister Parker.«
Als der Butler das Gewünschte in einer weiteren Schale hereinbrachte, läutete die Türglocke.
Agatha Simpson sah unwillig hoch. Sie liebte es nicht sonderlich, in ihren Musestunden gestört zu werden.
»Sehen Sie bitte mal nach, wer mich jetzt noch belästigt, Mister Parker.«
Der Butler verbeugte sich knapp und ging zum verglasten Vorflur. Auf der rechten Seite öffnete er einen in die Wand eingebauten Schrank und schaltete die Fernsehkamera ein, die sich draußen unauffällig unter dem Vordach der Tür befand.
»Chief-Superintendent McWarden«, meldete Parker.
»Was will der Mensch denn nun schon wieder?« fragte sie seufzend. »Braucht er mich, um wieder einen Fall aufzuklären? Wie hat er es nur jemals zu seinem Posten gebracht? Lassen Sie ihn eintreten«, entschied sie dann.
McWarden, etwa fünfundfünfzig Jahre alt, untersetzt und mit einem deutlichen Bauchansatz ausgestattet, ähnelte einer leicht gereizten Bulldogge, was sein Aussehen betraf. Der Blick aus seinen Basedowaugen trug noch ein übriges dazu bei.
McWarden leitete im Yard ein Sonderdezernat, das dem Innenministerium unterstellt war und sich hauptsächlich mit dem organisierten Bandenwesen befaßte.
Da er unter Erfolgszwang stand und oft Probleme hatte, stellte er sich oft im Haus der Lady Simpson ein und bat hin und wieder um Mithilfe bei einem verzwickten Fall. Er suchte dabei vor allem Parkers Rat, schätzte aber auch die unkonventionelle und ungewöhnliche Art der Lady Agatha und nahm es sogar in Kauf, von der älteren Dame mehr oder weniger zynisch bespöttelt zu werden. Manchmal platzte McWarden dann aber doch der Kragen, und er reagierte giftig.
McWarden nahm nach der etwas kühlen Begrüßung umständlich im Besuchersessel Platz. Sein Gesicht sah unglücklich aus, und er blickte ein wenig ratlos von einem zum anderen. Er trug etwas mit sich herum, das ihm anscheinend selbst sehr zu schaffen machte.
»Was darf ich anbieten, Sir?« fragte der Butler.
Lady Agatha wedelte unwillig mit der Hand.
»Vorerst gar nichts«, entschied sie. »Ich weiß ja noch nicht mal, was McWarden überhaupt will.«
Als der Superintendent sehnsüchtig nach der Schale mit den kandierten Früchten schielte, brachte Lady Agatha sie mit einem schnellen Griff außer Reichweite und damit in Sicherheit.
»Sie sollten nicht nach Süßigkeiten schielen, mein Lieber« tadelte sie, »sehen Sie sich mal Ihren Bauch an. Süßigkeiten sind höchst ungesund.«
McWarden blickte schluckend auf seinen gewölbten Leib. Er hätte sich gern ein Gläschen Brandy anbieten lassen, aber bei dem sprichwörtlichen Geiz der Hausherrin war damit wohl kaum zu rechnen.
»Na, dann packen Sie mal aus, McWarden«, sagte Agatha Simpson jovial. »Sicher haben Sie einen Fall am Hals, mit dem Sie wieder mal nicht fertig werden und brauchen meine Hilfe. Sind Sie um diese Zeit überhaupt noch im Dienst?«
In McWardens Augen erschien ein kleines, boshaftes Licht. Er gestattete sich ein dünnes Grinsen, das Lady Agatha irgendwie hinterhältig erschien.
»Nein, ich bin heute nicht mehr im Dienst«, antwortete er. »Es handelt sich um einen rein privaten Besuch.«
»Was ja wirklich sehr selten ist«, meinte die passionierte Detektivin spöttisch. »Sie sind also gekommen, um bei mir Tee und Gebäck abzustauben?«
Agatha Simpson war immer sehr direkt und pfiff auf die Regeln der Höflichkeit. Aber das war McWarden gewöhnt.
»Ich komme aus einem anderen, nicht gerade angenehmen Anlaß. Ein Kollege von der Kripo gab mir den dezenten Hinweis, daß ...«
»Also doch ein Fall, den Sie nicht allein lösen können«, unterbrach die Lady zufrieden und überlegen.
McWarden ging nicht darauf ein. Er sprach den begonnenen Satz mit fast stoischer Ruhe zu Ende.
»... gegen Sie, Mylady, eine Anzeige wegen Körperverletzung vorliegt.«
Agatha Simpson verschluckte sich prompt an ihrem Tee.
»Was?« rief sie empört. »Wer hat diese wahnsinnige Idee gehabt? Ich höre wohl nicht recht, McWarden. Was sagen Sie dazu, Mister Parker?«
Josuah Parker hatte die Worte erstaunt zur Kenntnis genommen, und er wußte auch schon, wer die Anzeige erstattet hatte. Sein Gesicht blieb jedoch ausdruckslos und glatt.
»Mylady empören sich zu Recht. Meiner Wenigkeit ist nicht bekannt, daß Mylady sich zu einer Körperverletzung hinreißen ließen.«
»Na also! Was soll dann dieser Unsinn? Sie haben ja gehört, McWarden, daß ich keine Körperverletzung begangen habe. Wie sollte ich auch – ich, eine schwächliche, zarte Frau?«
McWarden sah sinnend auf die »schwächliche, zarte Frau«, die schon so manchen harten Gangster verprügelt hatte.
»Die Anzeige stammt von einem gewissen Tom Peacock, Mylady, der eine Wäscherei und Reinigung betreibt. Er und sein Bruder, denen das Geschäft gemeinsam gehört, behaupten, Sie hätten mit einem Hammer zugeschlagen.«
»Hatte ich einen Hammer dabei, Mister Parker?« fragte die Lady sanft.
»Meine Wenigkeit kann bestätigen, daß Mylady keinen Hammer bei sich trug«, versicherte der Butler. »Offenbar dürfte hier ein Irrtum vorliegen.«
»Vielleicht war’s ein perlenbestickter Pompadour«, meinte McWarden ein wenig boshaft. »Und vielleicht befand sich jener als Hammer bezeichnete Gegenstand darin.«
Josuah Parker räusperte sich leicht. Seine Herrin schien in Schwierigkeiten zu geraten, denn die Anzeige wegen Körperverletzung war keinesfalls als Witz aufzufassen. Die Kerle hatten ja gedroht, daß es noch Folgen haben würde.
»Vermutlich liegt hier ein bedauerlicher Irrtum vor«, wandte er sich an McWarden. Dann berichtete er in knappen Sätzen, was sich in der Wäscherei und Reinigung zugetragen hatte.
»Mylady handelte einwandfrei in Notwehr«, schloß er.
»Empörend, daß dieser Kniebock es wagt, eine Lady Simpson anzuzeigen«, sagte die Hausherrin. »Was bildet sich dieser Lümmel ein! Ich werde ihn mir ernsthaft vorknöpfen.«
»Peacock heißen die beiden Männer«, verbesserte McWarden, denn Lady Agatha war dafür bekannt, daß sie sich keine Namen merken konnte.
»Wenn der Fall so liegt«, meinte McWarden nachdenklich, »dann halte ich es für besser, wenn Sie mal mit ihm reden. Vermutlich zieht Mister Peacock dann die Anzeige zurück.«
»Mylady werden sehr diskret Vorgehen«, sagte Parker. »Meine Wenigkeit ist überzeugt davon, daß sich’ alles zum Guten wenden wird.«
»Das will ich aber auch hoffen, sonst lernen die Kerle mich von meiner unangenehmen Seite kennen.« Dabei musterte sie McWarden kühl und frostig.
Der Chief-Superintendent erhob sich aus dem Besuchersessel.
»Dann werde ich nicht länger stören«, sagte er.
»Das finde ich sehr taktvoll«, erwiderte die Lady. »Morgen früh werde ich diesem Plierstock einen Besuch abstatten. Sie können die Angelegenheit dann als erledigt betrachten, McWarden.«
Das war sie aber keinesfalls, denn damit fing alles erst richtig an.
*
Am anderen Morgen fuhren sie in Parkers hochbeinigem Monstrum, wie seine Trickkiste auf vier Rädern von Freund und Feind genannt wurde.
Das Monstrum war ein ehemaliges Londoner Taxi, aber die Technik des Wagens befand sich auf dem neuesten Stand. Parker hatte den Wagen nach seinen Vorstellungen umgestalten lassen und dabei seine eigenwillige Phantasie unter Beweis gestellt.
Die Detektivin saß im Fond des Wagens und dachte darüber nach, was sie den beiden unverschämten Kerlen sagen würde, die es gewagt hatten, eine Lady Agatha Simpson wegen vorsätzlicher Körperverletzung anzuzeigen. Dabei beobachtete sie auch gleich etwas mißmutig den zähen Verkehr auf den Straßen.
»Können Sie nicht schneller fahren, Mister Parker? Geben Sie doch einfach mehr Gas und verscheuchen Sie diese Rowdies.«
»Mit Verlaub, Mylady, meine Wenigkeit versucht nur, sich dem zähen Verkehrsfluß anzupassen.«
»Papperlapapp«, meinte sie wegwerfend, »manchmal glaube ich, daß Sie einfach nicht das richtige Durchsetzungsvermögen haben. Ich wäre schon längst an Ort und Stelle.«
»Mylady beherrschen einen vorzüglichen Fahrstil.«
»Das will ich meinen«, sagte sie zufrieden. »Und jetzt werde ich Ihnen gleich mal demonstrieren, wie man es anstellt, daß eine Anzeige sang- und klanglos zurückgenommen wird. Natürlich geht das nur, wenn man über psychologisches Einfühlungsvermögen verfügt, Mister Parker.«
»Darin sind Mylady unübertrefflich«, versicherte der Butler.
Das hochbeinige Monstrum hielt in der Nähe der Passage. Als Parker seiner Herrin aus dem Fond half, blieben wiederum einige neugierige Leute stehen und starrten abwechselnd den Butler und das Auto an.
Josuah Parker kümmerten diese neugierigen Blicke jedoch herzlich wenig.
Er schritt hinter der Lady her, die es furchtbar eilig hatte und holte sie ein.
Tom Peacock erkannte die streitsüchtige Dame auf Anhieb und zuckte ein wenig zusammen. Mißtrauisch äugte er nach einem hammerähnlichen Gegenstand, konnte aber nur den Pompadour an der langen Lederschlaufe entdecken.
»Sind Sie Mister Kniebock?« herrschte Agatha Simpson ihn an.
»Nein, nein«, sagte Peacock hastig. »Vermutlich eine Verwechslung. Mein Name ist Peacock, Mylady, Tom Peacock.«
Aus der Schädeldecke des Mannes wuchs ein ansehnliches Horn, das in allen Farben des Spektrums schillerte. Dort hatte ihn das Souvenir eines ehemaligen Brauereigauls voll erwischt.
»Also doch«, meinte die Detektivin triumphierend. »Das habe ich ja gleich gewußt.«
Josuah Parker sah sich inzwischen um und registrierte, daß ein paar der Waschautomaten den Dienst eingestellt hatten, weil ihre Verglasung total zertrümmert war. In der Wäscherei sah es immer noch so aus, als hätten die Vandalen gehaust. Ein Teil des Bodens war mit zäher Schmiere bedeckt, obwohl Peacock sich alle Mühe gegeben hatte, die Spuren zu beseitigen.
Ein weiterer Mann kam durch die Tür hinter den Maschinen herein. Er war klein und drahtig und hatte schütteres Blondhaar.
Auch auf seinem Schädel prangte ein Horn, doch durch die wenigen Haare kam es bei ihm besonders ausgeprägt zur Geltung. Der sogenannte Glücksbringer hatte hier ganze Arbeit geleistet.
Wenn die beiden Männer die Anzeige nicht Zurücknahmen, überlegte Agatha Simpson, dann werden ihnen nochmals zwei weitere großzügig ausgestattete Hörner wachsen, damit sich die Sache auch lohnte.
Der mit den schütteren Haaren stellte sich ebenfalls als Peacock vor. Beide kannten Lady Agatha, hatten mit ihr aber noch nicht geschäftlich zu tun gehabt.
»Sie haben Anzeige gegen mich erstattet, meine Herren«, sagte sie verärgert. »Und Sie haben weiterhin behauptet, ich hätte Sie mit einem Hammer geschlagen. Sehe ich so aus, als trüge ich ständig ein solches Schlaginstrument mit mir herum, um Geschäftsleute zu verprügeln?«
»Das nicht«, gab der eine Peacock eingeschüchtert zu. »Aber Sie haben mir und meinem Bruder etwas Hartes auf den Schädel gehauen, als wir uns in einer mißlichen Lage befanden. Ich suchte nur Halt an Ihnen, Lady, aber Sie schlugen gleich zu. Wir hätten Sie auch noch wegen Sachbeschädigung belangen können, besonders jenen Herrn dort.«
Peacock zeigte anklagend auf Parker, der so steif dastand, als habe er einen Ladestock verschluckt.
»Mylady fühlte sich angegriffen«, äußerte Parker. »Den Umständen nach zu urteilen, schien es sich um eine Auseinandersetzung größeren Stils zu handeln. Vielleicht haben Sie die Güte, meiner Wenigkeit mitzuteilen, worum es sich handelte.«
Die beiden Brüder sahen sich an und schwiegen verbissen.
»Sie haben sich jedenfalls geprügelt«, sagte die ältere Dame, »und dabei sind ganz schön die Fetzen geflogen. Haben Sie gegen die anderen Kerle auch Anzeige wegen Körperverletzung erstattet? Die haben doch sehr kraftvoll auf Sie eingeschlagen.«
»Die Herren beliebten auch, diverse Schießeisen mit sich herumzutragen und damit zu drohen«, warf Parker ein. »Gehe ich fehl in der Annahme, daß es sich bei den revolverschwingenden Gentlemen vielleicht um das handelt, was man allgemein nicht als feine Herren zu bezeichnen pflegt?«
Tom Peacock kratzte an der Beule auf dem Schädel und dachte nach. Eine sehr große Leuchte schien er nicht zu sein.
»Können Sie das vielleicht etwas klarer ausdrücken, Mister... äh ...«
»Parker, Josuah Parker, in Diensten der Lady Agatha Simpson.« Er deutete eine höfliche Verbeugung in Richtung seiner Herrin an.
»Mister Parker meint, ob das Gangster waren«, sagte Agatha Simpson.
Wieder warfen sich die beiden einen schnellen Blick zu.
»Gangster?« dehnte Tom Peacock, »was haben wir denn mit Gangstern zu tun«, entrüstete er sich.
»Wir doch nicht, Lady«, sagte sein Bruder eifrig. »Tom und ich haben uns entschlossen, die Anzeige zurückzuziehen. Stimmt’s, Tom?«
Der ältere Peacock nickte erleichtert.
»Natürlich. Das war nur in der ersten Aufregung«, versicherte er. »Ich werde nachher gleich anrufen und das erledigen. Sind Sie nun zufrieden, Lady?«
»Einigermaßen. Da bliebe nur noch meine Frage zu beantworten.«
»Welche Frage, Lady?«
Agatha Simpson trommelte mit den Fingern der rechten Hand auf der Ladentheke. Es hörte sich sehr ungeduldig an.
»Meine Frage ist, ob Sie gegen die anderen ehrenwerten Herren ebenfalls Anzeige erstattet haben.«
»Nein, das nicht«, sagte Peacock verunsichert, weil die ältere Dame immer noch ungeduldig mit den Fingern trommelte.
»Aha! Und warum nicht?« hakte sie sofort nach.
»Wir ... wir haben es den Burschen ordentlich zurückgegeben, und damit sind wir quitt. Sonst wäre das mit den Anzeigen ständig hin und her gegangen.«
Wieder sahen sich die beiden Brüder verunsichert an.
Parker hegte ernstliche Zweifel an den Worten. Die beiden Peacocks erweckten den Eindruck, als hätten sie Angst. Besonders Tom Peacock sah sich immer wieder in der lauernden Haltung eines Verfolgten um.
»Sie sprachen vorhin von Sachbeschädigung«, schaltete sich der Butler wieder ein. »Meine Wenigkeit möchte dazu bemerken, daß der angerichtete Sachschaden wohl erheblich größeren Ausmaßes sein dürfte als jener, der sich lediglich auf ein paar Kartons Waschpulver sowie diverse Flaschen Knochenöl beschränkte.« Er zeigte auf die zertrümmerten Vorderseiten der Waschmaschinen, die vorerst absolut unbrauchbar waren.
»Richtig, Mister Parker«, sagte die Detektivin, »genau darauf wollte ich auch gerade zurückkommen. Haben Sie das etwa angezeigt, Mister Bierbock?«
»Peacock«, verbesserte der Wäschereibesitzer hilflos. »Nein, wir ... äh ... wollen das noch nachholen.«
»Sie belügen mich, junger Mann«, erwiderte die Lady streng. »Sie belügen eine Lady Simpson fortlaufend. Ich mag aber nicht angelogen werden, mein Lieber.«
Sie hielt ihren Fächer in der Hand und gab Tom Peacock einen spielerisch anmutenden Klaps auf die rechte Schulter.
Die Wirkung war erstaunlich und übertraf Peacocks Erwartungen erheblich.
Ächzend verzog er das Gesicht, dann schoß ihm das Wasser sturzbachähnlich in die Augen. Seine rechte Schulter war für einige Zeit taub und gelähmt.
Er empfand plötzlich riesigen Respekt vor der schlagkräftigen Dame. Sein feuchter Blick fiel auf den Fächer, den die Lady spielerisch zusammenklappte. Er wußte nicht, daß dieser so harmlos aussehende Fächer mit Stahlseiten durchsetzt war und recht herzhaft eingesetzt zu werden pflegte. Dabei erweckte die Lady den Eindruck, als wäre das mehr eine freundschaftliche Geste.
Verdammt, dachte er, sie trägt auch noch irgendwo einen Hammer mit sich herum, und wenn sie zehnmal das Gegenteil behauptete.
»Nun, junger Mann, ich höre«, sagte sie. Der Fächer wurde wieder auseinandergeklappt, doch Peacock brachte sich mit zwei schnellen Schritten vorsichtshalber außer Reichweite.
»Ich will ja alles sagen«, jammerte er, wobei er sich mit der linken Hand über die schmerzende Schulter strich.
»Habe ich nicht gesagt, Mister Parker, daß man psychologisches Einfühlungsvermögen braucht, um einen Erfolg zu erzielen?«
»Das haben Mylady in der Tat«, erwiderte Parker höflich. »Der Erfolg ist im wahrsten Sinn des Wortes überwältigend.«
»Nun reden Sie endlich, junger Mann!« herrschte die Detektivin Tom Peacock an. Mit ihrem Fächer wedelte sie lässig durch die Luft. »Was ist hier wirklich passiert?«
»Wir werden erpreßt«, gab Peacock widerwillig zu. »Wir sollen eine Art Schutzgebühr bezahlen, oder aber eine Versicherung abschließen, damit unserem Geschäft nichts passiert – oder uns«, fügte er etwas leiser hinzu. »Als wir nicht zahlten, haben uns diese Kerle einen Besuch abgestattet. Sie haben es gestern ja selbst erlebt.«
»In der Tat«, sagte Parker, »ein sehr aufschlußreicher Besuch. Darf man fragen, von wem Sie erpreßt werden?«
»Wir kennen die Kerle nicht. Wir haben nur gehört, daß man allgemein von der Ratten-Gang spricht. Sie tauchen auf, verlangen ihre Schutzgebühr und verschwinden wieder. Sie erscheinen alle vierzehn Tage, um zu kassieren.«
»Dem Besuch und seinen Folgen nach zu urteilen, sind Sie der Zahlungsaufforderung offenbar nicht nachgekommen?«
»So ist es, Mister Parker. Ich denke nicht im Traum daran, mein sauer verdientes Geld den Ratten zum Fraß vorzuwerfen. Wir haben lange genug zu kämpfen gehabt, bis die Wäscherei einigermaßen etwas abwarf. Mit uns kann man das nicht machen.«
Bevor Parker etwas erwidern konnte, sagte Agatha Simpson entschieden: »Den Fall übernehme ich, Mister Parker. Immerhin sind wir von diesen Kerlen mit dem Revolver bedroht worden. Ich werde die Ratten schon aus ihren. Löchern jagen. Oder sehe ich das anders, Mister Parker?«
»Mylady werden unter Hinzuziehung Mister McWardens mit Sicherheit wie immer die richtigen Entscheidungen treffen.«
»Es genügt völlig, wenn ich McWarden kurz unterrichte. Sie werden dann im Hintergrund unauffällig agieren, Mister Parker.«
»Wie Mylady wünschen.« Parker deutete eine Verbeugung an.
Agatha Simpson hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie den Hebel ansetzen sollte, aber sie gab sich schon siegreich auf der ganzen Linie.
Parker stellte noch ein paar gezielte Fragen, brachte aber nicht viel in Erfahrung, was ihm weiterhalf. Die Gesichter der Gangster hatten auch nicht viel hergegeben, weil sie durch Knochenöl und Waschpulver völlig entstellt wirkten.
*
»Die Anzeige wegen Körperverletzung ist tatsächlich eingestellt worden«, sagte McWarden verwundert.
Er wurde von Agatha Simpson etwas mißtrauisch beobachtet, weil er sich auf die Minute genau zum Tee eingefunden hatte.
»Haben Sie etwas anderes erwartet?« fragte die Detektivin schnippisch. Ihr Blick war mißbilligend auf Parker gerichtet, der dem Yard-Mann eine Tasse Tee kredenzte. »Dieser Bierbock hat die Anzeige ganz von selbst zurückgenommen.«
»Und was steckt dahinter, Mylady?«
McWarden zwinkerte der älteren Dame leutselig zu, schlürfte behaglich den Tee und bediente sich großzügig des Gebäcks.
»Es ist total übersüßt«, stellte die Lady erst mal fest. »Sie sollten sich zurückhalten, McWarden. Ich kenne einige Leute, die davon zuckerkrank geworden sind. Sie werden sich später mit Insulinspritzen herumplagen müssen.«
»Mag sein, aber das werde ich in Kauf nehmen müssen. Was haben Sie denn nun in Erfahrung gebracht?«
»Mister Parker?«
»Mylady haben in Erfahrung gebracht, daß die Brüder Peacock durch eine Gang, die sich die Ratten nennt, erpreßt werden, woraus Mylady den Schluß zogen, daß hier eine Bande am Werk ist, die sich nicht allein auf diese Brüder beschränkt. Mylady vermuten ferner, daß die Ratten-Gang Erpressungen größeren Stils begeht, und daß sie ihren Forderungen tatkräftig Nachdruck verleiht.«
»Sie haben mir das Wort aus dem Mund genommen«, sagte Agatha Simpson zufrieden. »Zu genau diesen Schlußfolgerungen bin ich gekommen.«
»Die Ratten-Gang«, überlegte McWarden nachdenklich. »Sie treibt tatsächlich seit einiger Zeit ihr Unwesen, aber wir haben keinerlei Beweise gegen sie, weil sich die Betroffenen aus Angst vor schwerwiegenden Folgen nachhaltig ausschweigen.«
Scheinbar in Gedanken vertieft griff McWarden erneut nach dem herrlich duftenden Gebäck und hielt Parker auffordernd die Teetasse hin.
»Wie können Sie nur solche Unmengen in sich hineinstopfen«, tadelte die Lady. »Ich sehe es noch kommen, daß Sie wegen Fettleibigkeit vorzeitig Ihren Dienst im Yard quittieren müssen, McWarden. Dazu der viele Tee, das muß ja eine scheußliche Pampe geben.«
McWarden blieb von der Mahnung völlig unbeeindruckt. Er lächelte freundlich, weil es Lady Agatha wieder mal gegen den Strich ging, wenn ihr Gebäck so rapide abnahm. Sie bemühte sich zwar nach besten Kräften mitzuhalten, doch McWarden schien heute seinen unersättlichen Tag zu haben.
»Kennt man denn den Drahtzieher dieser Ratten-Gang?« erkundigte sie sich. Dabei schob sie die Teekanne unauffällig zur Seite.
»Nein, leider nicht. Die Ratten-Gang ist uns nur dem Namen nach bekannt. Vor zwei Wochen wollte ein Opfer dieser Bande bei der Polizei auspacken, verschwand aber spurlos und wurde seither nie wieder gesehen. Der Fall wurde bis heute nicht aufgeklärt, und alle Spuren verliefen im Sand.«
»Der Mann ist ermordet worden«, behauptete die Detektivin sofort. »Daran besteht nicht der geringste Zweifel. Oder sind Sie da anderer Ansicht, Mister Parker?«
»Mylady dürften mit dieser Vermutung durchaus recht haben.«
»Sehen Sie – da haben wir schon den ersten Mordfall«, wandte sie sich an McWarden. »Wie werde ich jetzt Vorgehen, Mister Parker?«
»Mylady werden die Wäscherei unauffällig observieren lassen, bis sich einer der Gangster zeigt.«
»Das hatte ich allerdings vor. Nur auf diesem Weg kommt man zum Ziel und damit zum Erfolg. Die Ratten werden sich schon bald in meiner Falle wiederfinden.«
»Es freut mich aufrichtig, daß ich dabei nichts zu tun habe«, sagte McWarden grimmig. »Bandenunwesen fällt ja auch absolut nicht in meinen Zuständigkeitsbereich. Lady Simpson übernimmt das, und der Yard hat keine Mühe mehr.«
»Mylady beabsichtigt natürlich, mit dem Yard aufs engste zusammenzuarbeiten«, sagte Parker schnell, damit es keinen Ärger gab. »Das geruhte Mylady mir schon vor Ihrer Ankunft mitzuteilen, Sir.«
»So, na ja«, McWarden gab sich wieder etwas versöhnlicher. »Dann bin ich ja beruhigt.«
»Wann habe ich das gesagt, Mister Parker?« fragte sie stirnrunzelnd.
»Mylady geruhten das meiner Wenigkeit vor etwa einer halben Stunde mitzuteilen.«
»Ja, natürlich«, rief sie aus. »Genau das waren meine Worte. Wir werden also Zusammenarbeiten, McWarden.«
»Wie tröstlich«, erwiderte der Yard-Mann seufzend. »Es gibt doch noch Liebe zwischen den Menschen.«
Lady Agatha überhörte den ironischen Unterton geflissentlich. Sie hatte mal wieder etwas, das sie aufklären konnte, und daher war sie höchst zufrieden. McWarden war jedoch sehr erstaunt und verwundert, weil die Hausherrin ihm die Schale mit Gebäck hinüberschob und ihm sogar noch eine Tasse Tee aufnötigte. Vor lauter Verblüffung hätte er fast daneben gegriffen.
»Darf ich feststellen«, sagte Parker, »daß es bisher nicht gelungen ist, auch nur einen einzigen Namen eines Mitglieds dieser Gang herauszufinden?«
»Keinen einzigen«, bestätigte McWarden. »Diese Bande scheint unsichtbar zu sein. Man weiß auch nicht, wie groß sie ist. Glauben Sie, Mister Parker, daß die Peacock-Brüder vor der Polizei aussagen würden?«
»Vor mir haben sie jedenfalls ausgesagt«, brüstete sich die Detektivin. »Man muß nur psychologisch Vorgehen, mein Lieber.«
»Ich bin verpflichtet, mich an eine gewisse konventionelle Arbeitsweise zu halten, Mylady. Ich kann nicht so vorgehen wie Sie, aber ich werde bei den Peacocks mal nachhaken.«
»Es dürfte schwer sein, Sir, von den beiden Gentlemen etwas zu erfahren«, sagte Parker. »Sie kennen keinen Namen, aber sie könnten eine Beschreibung liefern.«
»Sie haben die Gangster doch auch gesehen. Erinnern Sie sich nicht mehr an die Gesichter?«
»Der eine sah wie eine Ratte aus«, meinte Agatha Simpson, »aber wir konnten sie wirklich nicht erkennen. Sie waren durch Waschpulver und Öl völlig entstellt.«
»In der Tat«, bestätigte Parker, »auch meine Wenigkeit ist nicht in der Lage, eine detaillierte Beschreibung zu geben.«
»Das dachte ich mir«, brummte McWarden. »Diese Kerle sind nicht zu fassen. Wenn wir jemand, der erpreßt wird, darauf ansprechen, hüllt sich alles in Schweigen. Ich glaube, ich werde das gleich veranlassen«, murmelte er vor sich hin. »Darf ich mal Ihr Telefon benutzen, Mylady?«
»Was wollen Sie gleich veranlassen?« fragte die Detektivin mißtrauisch.
»Ich schicke einen Mann zu den Peacocks. Vielleicht hat er Erfolg. Einen Versuch ist es immerhin wert.«
»Dann telefonieren Sie«, erlaubte die Detektivin. »Sie kennen ja die kleine Sammelbüchse neben dem Apparat. Heutzutage ist ja alles sehr teuer.«
»Ja, die kenne ich zur Genüge«, seufzte McWarden, »ich fürchte nur, ich habe kein Kleingeld.«
»Eine Pfundnote tut’s auch. Dann haben Sie für später noch ein Telefonat gut.«
McWarden telefonierte nicht lange. Er sprach nur kurz in den Hörer und legte dann auf. Als er wieder zum Tisch zurückkehrte, stutzte er. Von Tee oder Gebäck fand sich nicht die geringste Spur. Lady Simpson hatte bereits alles in verdächtiger Eile durch ihren Butler abräumen lassen, damit McWarden nicht wieder in Versuchung geriet.
»Ein Mann vom Yard wird hier anrufen«, sagte McWarden, als er Platz genommen hatte. »Es wird nicht sehr lange dauern.«
Josuah Parker glaubte nicht daran, daß die Peacocks etwas aus sagen würden, dazu hatten sie viel zu viel Angst vor den Gangstern. Er enthielt sich jedoch der Stimme und äußerte nichts.
Nach einer halben Stunde bestätigte sich das, als das Telefon läutete.
McWarden hörte eine Weile zu, bis sein Gesicht immer länger und mißmutiger wurde. Ziemlich verärgert kehrte er an den Tisch zurück und glich jetzt noch mehr einer gereizten Bulldogge.
»Natürlich werden die Peacocks nicht erpreßt«, sagte er. »keine Spur, sie hätten mit Gangstern absolut nichts zu tun. Und die gestrige Auseinandersetzung war nichts anderes als ein kleiner Familienstreit. So etwas muß ich mir anhören. Der Mann vom Yard hat nichts herausgefunden, was uns weiterhelfen kann. Mich erstaunt wahrhaftig, daß die Brüder Ihnen gegenüber alles offen zugegeben haben.«
»Ich habe eben das erforderliche psychologische Einfühlungsvermögen«, behauptete Lady Agatha stolz. »Das ist der Unterschied zwischen mir und Ihnen, McWarden. Sie gehen mit der Brechstange vor und bedienen sich rüder und ruppiger Methoden. Auf diese Weise erfährt man nichts. Man muß sich in die Geschädigten hineindenken können! Ist es nicht so, Mister Parker?«
»Myladys Erfolg war in der Tat durchschlagend und verblüffend«, gab der Butler zu. Er hatte noch deutlich das Bild vor Augen, als Agatha Simpson Tom Peacock den freundschaftlich wirkenden Klaps mit dem Fächer gab.
»Sie hören wieder von mir«, sagte McWarden. Er war immer noch verärgert, versuchte es aber zu verbergen.
Dann verabschiedete er sich ziemlich eilig.
*
Harry Peacock, der kleine drahtige Mann mit den schütteren Haaren, bastelte in seiner knapp bemessenen Freizeit gern an seinem Boot. Es war sieben Yards lang, mit Fock- und Großmast geriggt und lag an einem Themse-Steg etwas außerhalb von London.
Noch weitere Boote lagen hier, teilweise vergammelt und verrottet, weil sich kein Mensch darum kümmerte.
Harry Peacock beschäftigte sich leidenschaftlich gern mit dem Segelboot und pflegte es liebevoll. Am nächsten Tag wollten er und sein Bruder Tom eine kleine Fahrt unternehmen.
Er war so hingebungsvoll mit dem Streichen beschäftigt, daß er die Schritte erst vernahm, als sie abrupt endeten.
»Hallo, Sportsfreund«, sagte eine kalte Stimme.
Peacock fuhr herum und sah zwei Männer auf dem Bootssteg. Er erschrak, als er den Rattengesichtigen und seinen Kumpan erkannte, mit denen sie so unangenehm zusammengestoßen waren.
»Feines Boot, nicht?« meinte der Rattengesichtige. »Hat doch sicher ’ne Stange Geld gekostet, eh?«
»Wir... wir haben es als halbes Wrack gekauft und selbst hergerichtet«, antwortete Peacock mit krächzender Stimme. Ihm entging nicht, daß der andere sich immer wieder verstohlen nach allen Seiten umsah.
Peacock empfand plötzlich eine entsetzliche Angst. Weit und breit war außer den beiden Gangstern kein Mensch zu sehen.
Die beiden grinsten sich an, aber kalt und gemein und nichts Gutes versprechend.
»Geld, um das Boot zu unterhalten, haben sie jedenfalls«, sagte der Kerl mit dem spitz zulaufenden Rattengesicht. »Aber Versicherungen schließen sie nicht ab. Da geizen sie an jedem lausigen Copper.«
»Ja, wirklich schade. Jetzt hat der gute Tom noch eine Beerdigung am Hals, was ja auch nicht gerade billig ist. Aber ich bin ganz sicher, daß er danach zahlen wird.«
»Glaube ich auch«, versicherte der andere im Brustton der Überzeugung, »er kann ja an den Kränzen schon ‚ne Menge Geld sparen. Brüderchen muß bei seiner letzten Reise ja nicht so teuer ausstaffiert werden.«
Auf Peacocks Stirn erschienen feine Schweißperlen. Die immer stärker aufkommende Angst ließ sein Herz schneller schlagen. Seine Zunge lag wie ein dicker Kloß in seinem Hals.
»Was soll das heißen?« fragte er heiser. Er kannte seine eigene Stimme nicht mehr.
»Wir pflegen mit Leuten, die nicht zahlen wollen, kurzen Prozeß zu machen«, erklärte der Hagere. »Anders läuft unser Geschäft nicht. Wenn es sich weiter herumspricht, daß ihr nicht zahlt, werden die anderen aufmüpfig und zahlen auch nicht. Wenn du aber tot bist, dann werden die anderen sehr gern zahlen, denn schließlich möchten sie dein Schicksal nicht unbedingt teilen.«
»Wir zahlen ja«, keuchte Harry, dem der Schweiß jetzt in dicken Tropfen auf der Stirn stand. »Ich werde mit meinem Bruder reden, und dann ist alles in Ordnung.«
»Zu spät, Kleiner. Wir lassen uns von euch keine Eselsmützen aufsetzen. Ihr habt Zeit genug gehabt, aber jetzt ist unsere Geduld zu Ende, wie du wohl begreifen wirst. Es wird allen anderen eine ernste Warnung sein.«
»Ihr könnt mich nicht umbringen«, schrie Harry wild. Er sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, doch das Boot erwies sich als nicht geeignet. Er konnte nur in die kleine Kajüte hinunter, doch da unten saß er erst recht in der Falle.
Voller Entsetzen sah er, wie der Rattengesichtige unter di Jacke griff und wie seine Hand wieder auftauchte. Sie hielt eine schwere Waffe mit Schalldämpfer.
»Nicht schießen«, schrie Harry wild.
Der verdickte Lauf hob sich ein wenig. Die beiden Kerle waren nur drei Meter von ihm entfernt.
Harry Peacock war zwar kein Draufgänger, aber so einfach abknallen lassen wollte er sich auch nicht. Die Kerle würden ihn eiskalt umlegen, daran hegte er nicht den geringsten Zweifel.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er den Hammer auf den Planken, mit dem er zwei von ihnen kalfatert hatte. Daneben lag noch das Kalfateisen und ein weiterer kleiner Hammer.
»Du wirst den Hammer nicht mehr erreichen«, warnte der Gangster, der Harrys Absicht durchschaute. »Aber du kannst uns noch eine Frage beantworten.«
In Harry keimte erneut die Hoffnung auf, daß er Zeit gewinnen konnte. Vielleicht ließen die beiden doch noch mit sich reden ...
»Fragen Sie«, keuchte er.
»Als wir euch ein bißchen überreden wollten, erschienen zwei Leute in der Wäscherei. Eine dicke Lady und ein Kerl, der ein wenig an einen Geistlichen erinnerte. Wer war das? Sie kamen uns ganz unvermittelt ins Gehege?«
»Ich kenne sie nicht«, log Harry.
»So, du kennst sie also nicht. Sie kamen aber noch mal wieder, das haben wir beobachtet. Sie haben weder etwas gebracht, noch etwas abgeholt. Also haben sie euch ausgefragt. Wenn du jetzt immer noch nicht weißt, wer das ist, wirst du bald keine Erinnerung mehr haben.«
Der Mann mit dem Revolver trat einen weiteren Schritt vor und zielte wieder auf Harry. Sein Gesicht war eine unverhüllte Drohung.
»Spuck’s aus«, sagte er scharf.
»Die Dicke war Lady Simpson, und der Mann ihr Angestellter. Josuah Parker nannte er sich.«
»Na, fein. Und sie haben euch ausgefragt?«
»Ja«, gab Harry kläglich zu.
Die beiden Gangster wechselten einen schnellen Blick. Das kalte Grinsen war aus ihren Gesichtern verschwunden. Zwei Augenpaare blickten Harry eisig an.
Der andere hielt jetzt ebenfalls einen Revolver in der Faust, während er sich wieder nach allen Seiten umsah.
»Und was habt ihr den beiden erzählt?«
Harry druckste noch eine Weile herum, aber angesichts der auf ihn gerichteten Waffen und der entschlossenen Mienen der beiden, rückte er mit der Wahrheit heraus und erzählte es ihnen.
Wieder warfen sich beide einen Blick zu.
»Verdammt«, sagte der Hagere. Dann nickte er dem anderen zu.
Als der Rattengesichtige die Waffe noch etwas hob, stürzte Harry sich mit heiserem Schrei auf den Hammer. Er hatte ihn auch fast erreicht, als er es zweimal hintereinander in der Faust des Gangsters aufblitzen sah.
Dann spürte er es wie zwei feine Nadelstiche im Körper. Er griff sich an die Brust, sah Blut an seinen Fingern und faßte haltsuchend an die niedere Reling, wo er sich verkrampfte.
Er glaubte noch einen weiteren Blitz zu bemerken, aber er verspürte keinen Einschlag.
Seine Hände lösten sich von der Reling. Er taumelte zwei Schritte nach vorn und fiel auf Deck.
»Damit dürfte der Boß zufrieden sein, John«, sagte der Hagere. »Aber wir können ihn hier nicht liegen lassen.«
»Natürlich nicht. Dann faß mit an. Später werden wir uns mal um diese dicke Lady und den Melonenkerl kümmern. Hoffentlich haben sie nichts herausgefunden.«
»Eigentlich sahen die ganz harmlos aus.«
»Trotzdem werden wir nachhaken. Mir gefällt das nicht, daß sich da ein paar Schnüffler auf unsere Spur setzen. Gerade solche Amateure finden manchmal mehr heraus als die Bullen.«
Ihre Pistolen hatten sie wieder eingesteckt. Niemand beobachtete sie bei ihrem Tun, als sie Harry von Bord schleiften. Ungesehen schleppten sie den Toten fast fünfzig Yard weiter zu einem brüchigen Steg, der nicht mehr benutzt wurde.
Dort banden sie Harry den Hammer ans Bein und warfen ihn ins Wasser.
So unauffällig, wie sie gekommen waren, verschwanden sie auch wieder.
*
»Spreche ich mit Lady Agatha Simpson?« erkundigte sich eine höfliche Stimme am Telefon.
Die ältere Dame war selbst am Apparat, denn Butler Parker bereitete einen kleinen Imbiß vor.
»Ja, das tun Sie. Und wer sind Sie?«
Die Höflichkeit aus der Stimme verschwand schlagartig.
»Dann hör’ jetzt zu, du dicke Fregatte:« Noch ehe Agatha Simpson sich vor Schreck verschlucken konnte, erschien Parker. Sie bedeutete ihm mit der Hand, den zweiten Hörer zu nehmen. Der Butler hob würdevoll ab und beugte sich etwas vor.
»Laß deine Finger aus diesem Spiel, Mädchen, sonst wirst du nicht mehr viel Spaß am Leben haben, klar!«
»Gar nichts ist klar«, empörte sich die ältere Dame. »Wer sind Sie Flegel, und was wollen Sie überhaupt?«
»Ich spreche von Peacock. Wenn ihr beide euch damit noch mal näher befaßt, dann gehen die Lichter aus, und ihr seid schneller tot, als ihr denken könnt. Merk’ dir das gut, Dickerchen.«
Noch bevor Agatha Simpson geharnischt antworten konnte, wurde der Hörer aufgelegt.
Die Detektivin holte erst mal tief Luft. Dann sah sie Parker aus blitzenden Augen an.
»Haben Sie das gehört, Mister Parker? Dieser ungehobelte Lümmel nannte mich dicke Fregatte und Dickerchen. Was habe ich dazu zu sagen, Mister Parker?«
»Es dürfte sich in der Tat um einen ausgeprägten und geschmacklosen Flegel handeln, Mylady.«
»Wie kommt dieses verkommene Subjekt dazu, mich zu beleidigen?«
Josuah Parker wußte bereits, wer hier am Werk war. Die ersten von der Ratten-Gang wurden bereits nervös.
»Man droht Mylady unverhüllt, was auch meine bescheidene Wenigkeit einschließt«, sagte Parker. »Die Aufforderung, sich nicht weiter mit den Brüdern Peacock zu befassen, war überdeutlich.«
»Richtig. Also war es einer von der Rattenbande«, kombinierte die Lady sofort. »Die Kerle kriegen offensichtlich Angst.«
»Mylady kombinieren vorzüglich. Auf der Gegenseite scheinen Ungeduld und Nervosität zu herrschen.«
»Nicht mehr lange«, versicherte die resolute Dame. »Dann nämlich wird Heulen und Zähneklappern herrschen. Wo werde ich jetzt den Hebel zuerst ansetzen, Mister Parker?«
Bevor Parker antworten konnte, ging erneut das Telefon.
»Nehmen Sie ab, Mister Parker, ich kann diese Beleidigungen nicht mitanhören, ohne aus der Haut zu fahren.«
»Sehr wohl, Mylady.«
Tom Peacock war am Apparat. Aufgeregt und hastig teilte er mit, daß sein Bruder Harry spurlos verschwunden wäre.
»Wissen Sie, wo er sich zuletzt aufgehalten hat?« fragte Parker.
Agatha Simpson nahm inzwischen den anderen Hörer und lauschte mit gerunzelter Stirn den Neuigkeiten.
»Wir wollten morgen eine Segeltour unternehmen, Mister Parker. Möglicherweise hat er noch mal nach dem Boot gesehen.«
Die Detektivin war ganz gespannte Aufmerksamkeit. Sie lauschte weiter, doch viel mehr erfuhr sie nicht. Peacock vermutete lediglich, daß seinem Bruder etwas zugestoßen sein könnte und spielte damit auf die vergangenen Ereignisse an.
»Wie, glauben Sie, werde ich jetzt vorgehen, Mister Parker?« fragte die resolute Dame erneut. Scheinbar zerstreut häufte sie sich von dem kleinen Imbiß den Teller voll.
»Da sich neue Perspektiven ergeben haben, vermutet meine Wenigkeit, daß Mylady zunächst dort nachforschen werden, wo sich das Boot des verschwundenen Mister Peacock befindet.«
»Sehr richtig«, sagte Lady Agatha zufrieden. »Genau das hatte ich vor. Mitunter ist es doch erstaunlich, daß Sie fast meine Gedanken erraten können. Ich werde mich dort Umsehen und gestatte Ihnen, daß Sie mich begleiten dürfen.«
»Zu gütig, Mylady.« Parker verneigte sich ein wenig.
»Die Drohung dieses ungehobelten Flegels werde ich natürlich total ignorieren, Mister Parker.«
Der Butler hatte nichts anderes erwartet. Lady Agatha scherte sich den Teufel um derartige Drohungen.
»Sehr wohl, Mylady.«
Der kleine Imbiß hatte sehr rasch sein Leben ausgehaucht. Die liebevoll zubereitete Platte zeigte nur noch ihre spiegelblanke Oberseite.
Etwas enttäuscht sah Lady Agatha darauf.
»Wir werden gleich gehen«, entschied sie dann spontan. »Noch sind die Spuren frisch. Werde ich eigentlich McWarden vorher noch anrufen und informieren?«
»Mylady werden vermutlich erst den vermeintlichen Tatort persönlich in Augenschein nehmen wollen.«
»Natürlich. Außerdem ist so ein Anruf nicht billig. McWarden kann es ja hinterher erfahren.«
Die ältere Dame hatte es jetzt auffallend eilig, zu dem Boot zu gelangen, wo sie mit der Spurensuche beginnen wollte. Sie hatte allerdings nicht die geringste Ahnung, wo das Boot lag, aber um solche Bagatellen hatte sich grundsätzlich ihr Butler zu kümmern.
»Mylady dachten sicher daran, Mister Peacock mitzunehmen«, sagte Parker dezent.
»Das hatte ich allerdings vor«, erwiderte sie, obwohl sie daran überhaupt nicht gedacht hatte. »Natürlich, er kennt das Boot ja vermutlich besser als ich.«
Zehn Minuten später saß Josuah Parker am Steuer seines hochbeinigen Monstrums und fuhr durch die City in Richtung Chelsea.
Peacock war unterwegs zugestiegen. Er sah recht unglücklich und eingeschüchtert aus und wandte sich alle Augenblicke um, als würde man sie verfolgen.
»Mit Harry muß etwas Schreckliches passiert sein«, jammerte er. »Das habe ich einfach im Gefühl.«
»Noch ist gar nichts bewiesen«, beruhigte ihn Lady Agatha. »Aber das werden wir bald herausfinden.«
Etwas später erreichten sie den Bootssteg. Kein Mensch war zu sehen. Einsam, verlassen und teilweise vergammelt lagen die Boote da.
»Dort drüben liegt unser schnittiger Kahn«, schluckte Tom. »Er heißt ›Whirlwind‹, aber von Harry ist nichts zu sehen.«
»Unter einem Wirbelwind habe ich mir eigentlich etwas anderes vorgestellt«, sagte Lady Agatha naserümpfend. »Das ist ja nicht mehr als ein halbes Wrack.«
»Es hat vorher noch viel schlimmer ausgesehen. Wir haben viel daran gearbeitet.«
Tom Peacock stürmte schon vor, trampelte auf dem Deck herum und brüllte laut nach seinem Bruder. Er erhielt jedoch keine Antwort. Dann raste er unter Deck und kehrte sofort wieder zurück.
»Er ist nicht da«, meinte er ratlos.
Parker sah sich zunächst um.
»Aber er war hier«, stellte er fest, »das beweisen der Farbtopf, der kleine Hammer und das Kalfateisen.«
»Eindeutige Beweise für sein Hiersein«, stellte die Detektivin fest. Sie sah sich gelegentlich um, entdeckte aber nichts Auffallendes.
Dafür entging Parkers scharfen Augen nichts. Er trat näher an die Reling heran und musterte sie, weil er an der grünen Farbe einen dunklen Fleck bemerkt hatte. Genau genommen waren es mehrere dunkle Flecken, zwar etwas verwischt, aber sie stammten eindeutig von Fingern, die sich in der Reling haltsuchend verkrampft hatten.
»Was starren Sie denn so, Mister Parker?« fragte die Detektivin ungeduldig. »Da steht ein Topf mit Farbe, mehr nicht.«
»Wenn Mylady geruhen, die Stelle näher in Augenschein zu nehmen, werden Mylady fraglos feststellen, daß es sich bei diesen dunklen Flecken um das handelt, was man gemeinhin als Lebenssaft bezeichnet«, sagte Parker.
Agatha Simpson nahm die dunkle Stelle ebenfalls in Augenschein. Dann nickte sie sehr bestimmt.
»Das ist mir natürlich nicht entgangen«, behauptete sie. »Es handelt sich zweifellos um Blutspuren, die etwas verwischt sind. Was werde ich daraus schließen, Mister Parker?«
»Mylady werden zu der Schlußfolgerung gelangen, daß Harry Peacock verletzt war und haltsuchend um sich griff.«
»Zu der Schlußfolgerung bin ich bereits gelangt«, erklärte sie trocken. »Man hat ihn angeschossen und dann über Bord geworfen. Oder sehe ich das anders?«
»Mylady dürften das durchaus richtig sehen. Die Möglichkeit besteht immerhin.«
Tom Peacock wurde blaß. Er stöhnte leise, wankte zur Reling und blickte ins Wasser.
»Ich habe es geahnt«, murmelte er. »Mein armer Bruder.«
Das Wasser war nicht sehr tief. Mit einiger Mühe konnte man bis auf den Grund sehen. Dort lagen jedoch nur ein verrosteter Eimer und ein paar Konservendosen.
Parker untersuchte das Wasser vom Bug bis zum Heck, wurde aber nicht fündig. Von einer Leiche war nichts zu sehen.
»Es ist nicht auszuschließen, daß man Ihren Bruder mitgenommen hat«, sagte Parker. »Über Bord ist er nicht gefallen.«
»Sie meinen – er lebt noch?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis, Mister Peacock.«
»Er liegt unter dem Schiff«, behauptete Lady Agatha. »Oder die Strömung hat ihn fortgetrieben.«
Die Möglichkeit, daß die Leiche sich unter dem Schiffsrumpf befand, konnte Parker nicht ausschließen. Aber eine Strömung gab es in diesem abgelegenen Nebenarm der Themse nicht. Es gab zwar Ebbe und Flut, doch keinerlei Strömungen.
»Ich werde nachsehen«, sagte Peacock hastig. »Wir haben eine Unterwasserlampe, um beim nächtlichen Angeln Fische anzulocken.«
Er ging unter Deck und holte die Lampe. Dann kletterte er in das seitlich angehängte kleine Beiboot.
Parker folgte ihm gemessen. Gemeinsam leuchteten sie dann den Grund unter dem Boot ab. Ein paar Steine lagen dort, weiter fand sich nichts.
Tom Peacock war sehr erleichtert. Sie stiegen wieder an Deck, wo Lady Agatha unruhig auf und ab ging.
»Sehr sonderbar«, meinte Peacock. »Er ist verletzt und spurlos verschwunden. Ob sie ihn entführt haben, um mich zu erpressen?«
Parker glaubte nicht an diese Möglichkeit. Die Gangster machten mit ihren zahlungsunwilligen Opfern kurzen Prozeß, wie die Vergangenheit bewiesen hatte. McWarden hatte erzählt, daß ein Opfer bei der Polizei aussagen wollte, dann aber spurlos verschwunden war. Die Gangster hatten sich auch nicht mehr gemeldet, um die Angehörigen zu erpressen. Folglich hatten sie den Mann umgebracht.
Parker enthielt sich jedoch der Stimme, um Peacock nicht weiter zu beunruhigen. Man hatte Harry mit Sicherheit von Bord gebracht, doch von da ab verlor sich seine Spur.
Lady Agatha stand vor einem Rätsel, und da sie nicht weiter wußte, wandte sie sich an ihren Butler.
»Wie werde ich den Fall weiter verfolgen, Mister Parker?«
»Mylady werden sich zunächst Gewißheit verschaffen, daß es sich tatsächlich um Blutspuren des Mister Peacock handelt, indem Mylady unter Hinzuziehung Mister McWardens eine Blutanalyse vornehmen lassen werden.«
»Sie können tatsächlich Gedanken lesen, Mister Parker«, sagte die Detektivin scheinbar erstaunt. »Das hatte ich wahrhaftig vor. Dann ist McWarden gleichzeitig unterrichtet und kann nicht behaupten, ich würde hier allein ermitteln.«
Sie war zufrieden und wandte sich dem Bootssteg zu.
»Gehen wir«, sagte sie.
Tom Peacock folgte niedergeschlagen. Die Ungewißheit über das Schicksal seines Bruders zermürbte ihn.
»Sie können mich gleich bei McWarden absetzen«, äußerte Agatha Simpson etwas später, als sie in Parkers hochbeinigem Monstrum zurückfuhren. »Warum soll ich nicht auch mal kostenlos bei ihm Tee trinken. Gleichzeitig werde ich ihn unterrichten. Setzen Sie Mister Peacock dann ab und erledigen Sie die Besorgungen, Mister Parker. Ich werde Sie von McWarden aus anrufen, wann Sie mich abholen können. Natürlich wird dieser Mensch keinen einzigen Shilling für das Telefonat erhalten.«
Sie schien sich schon diebisch darüber zu freuen, McWarden soviel Kosten wie möglich aufzubürden.
»Sehr wohl, Mylady.«
Parker setzte seine Brötchengeberin am gewünschten Ort ab. Etwas später hielt das hochbeinige Monstrum an der Passage, wo sich die Wäscherei befand.
Peacock bedankte sich. »Diese Ungewißheit bedrückt mich«, sagte er. »Es ist scheußlich, nicht zu wissen, was passiert ist.«
»Es gibt noch keinerlei konkrete Hinweise für den Tod Ihres Bruders«, sagte Parker. »Es besteht auch durchaus die Möglichkeit, daß es sich um Blutspuren eines anderen Mannes handelt, die bei einem Kampf entstanden sind.«
»Hoffen wir es«, murmelte Peacock.
Parker fuhr nach Shepherd’s Market, um die aufgetragenen Besorgungen für seine Herrin zu erledigen.
*
Eine knappe Stunde später befanden sich Agatha Simpson und der Superintendent am vermeintlichen Tatort.
»Ich werde eine Probe dieser Blutspuren mitnehmen und im Yard untersuchen lassen«, sagte McWarden.
Es war Samstag, und McWarden hatte dienstfrei.
»Ich habe die Blutspuren natürlich auf Anhieb entdeckt«, behauptete die passionierte Detektivin. »Außerdem habe ich alles so gelassen, wie es war, um keine Spuren zu verwischen.«
»Das war sehr überlegt gehandelt, Lady Agatha.« McWarden konnte sich schon denken, wer die Spuren entdeckt hatte.
Alle beide bemerkten nicht, daß sie von der Zufahrtsstraße aus einem Auto sehr aufmerksam beobachtet wurden. In dem Wagen saßen der Rattengesichtige und sein Kumpan John, der Hagere.
»Das geht ja hier zu wie in einem Tollhaus«, sagte John. »Erst die Dicke mit Peacock und dem Melonenkerl, jetzt die Dicke mit einem anderen Schnüffler. Ich fürchte, sie werden bald etwas herausfinden.«
»Das glaube ich nicht«, meinte der Rattengesichtige. »Brooks hat angeordnet, daß wir sie aus dem Verkehr ziehen, und das werden wir auch tun.«
»Schön und gut, aber er wollte die Dicke und den Kerl mit dem Regenschirm und der Melone.«
»Egal, die beiden sind genauso gut. Um den Melonenonkel werden wir uns später eingehend kümmern. Vorher werden wir ihn aber noch etwas nerven.«
»Brooks hat aber nicht gesagt, daß wir die Dicke umlegen sollen. Er will ja London schließlich nicht mit Leichen pflastern.«
»Weiß ich. Wir bringen sie zu den alten Docks, wo der Schiffsfriedhof ist. Da kommt kein Mensch hin, nicht mal die Penner. Wenn wir sie dort einsperren, haben wir sie ja auch nicht umgebracht.«
»Stimmt. Aber sie werden verhungern oder verdursten.«
»Dann hätten sie eben genügend Proviant mitnehmen sollen«, sagte der Hagere grinsend.
Der andere grinste auch, aber es war kalt und hinterhältig und versprach nichts Gutes.
Sie lehnten sich zurück und beobachteten weiter. Dazu benutzten sie ein Fernglas und konnten selbst nicht gesehen werden.
Unterdessen hatte McWarden eine Probe des angetrockneten Blutes genommen und sie in ein kleines Röhrchen getan.
»Das Ergebnis haben wir in einer Stunde«, sagte er, »beim Yard wird schließlich rund um die Uhr gearbeitet. Dann haben wir auch zumindest eine Gewißheit. Ich werde weiterhin zwei Kollegen von der daktyloskopischen Abteilung herbeibeordern, um eventuelle Fingerabdrücke zu sichern.«
»Und was werde ich dabei tun?« fragte Lady Agatha. »Dieser Fall ohne Spuren bereitet mir langsam Kopfzerbrechen.«
»Abwarten und Tee trinken«, meinte McWarden. »Sie heißen nicht umsonst die Ratten: Sie erscheinen schnell wie die Ratten und verschwinden auch so schnell wieder. Bis man sie richtig zu Gesicht bekommt, sind sie längst davongehuscht. Deshalb muß man ihnen mit großer Geduld auflauern und dann zuschlagen.«
»Geduld ist nicht meine Stärke. Ich will Erfolge sehen und mich nicht in Geduld üben. Oder bin ich etwa ein Chinese?«
McWarden sah die streitbare Dame völlig ernst an, wobei er in ihrem Gesicht forschte.
»Nein«, sagte er trocken. »Chinesen sehen ganz anders aus.«
Er registrierte mit innerer Schadenfreude, daß Lady Agatha seit langer Zeit völlig perplex war, als hätte sie die Sprache verloren.
»Es geht eben alles nicht so schnell«, redete McWarden weiter, als Lady Agatha ihn immer noch fassungslos ansah. »Ich bin jedoch sicher, daß wir schon sehr bald etwas herausfinden werden.«
Die Detektivin hatte ihre Sprache endlich wiedergefunden.
»Wenn ich nur einen dieser Lümmel zu fassen kriegte, dann wäre der Fall schon so gut wie gelöst«, meinte sie.
McWarden lächelte. Er kannte den Eifer der älteren Dame, ihr Ungestüm und ihre Ungeduld.
»Gehen wir«, sagte er. »Wir werden beim Yard vorbeifahren und die Probe zur Analyse abgeben. Vielleicht sind wir dann schon einen kleinen Schritt weiter.«
»Das bezweifle ich. Was haben wir denn gewonnen, wenn wir die Blutgruppe kennen?«
»Die Gewißheit, daß es sich um Harry Peacock handelt und nicht um einen anderen.«
Lady Agatha schien mit der Antwort jedoch nicht zufrieden zu sein. Sie wirkte verstimmt, als sie das Boot verließ und den Steg betrat.
Von da an ging alles sehr schnell.
Sie standen gerade auf den Bohlen, als wie aus dem Nichts zwei dunkel gekleidete Männer auftauchten. Sie hielten Schußwaffen in den Händen, die unmißverständlich und drohend auf Lady Agatha und McWarden gerichtet waren.
»Mitkommen!« befahl der eine hart. »Da drüben, zum Auto ... Wenn ihr Faxen macht, gehen die Bolzengeber los!«
Agatha Simpson verspürte jedoch nicht die geringste Lust, der unfreundlichen Einladung zu folgen. Scheinbar nervös und eingeschüchtert schwang sie ihren Pompadour – die Wunderwaffe.
Der eine wunderte sich auch sehr, als das perlenbestickte Ding durch die Luft flog und auf seinem Unterkiefer landete, der daraufhin ein wenig aus der Fassung geriet. Der Gangster fletschte vor Schmerz die Zähne, jedenfalls erweckte er ganz den Eindruck, als würde er einen wütenden Hund imitieren.
Der andere war reaktionsschneller. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, feuerte er zweimal.
Lady Agatha hatte ihren Schutzengel dabei, sonst wäre sie zweifellos getroffen worden. Der eine Schuß ging ins Blaue, während die zweite Kugel ihren Pompadour erwischte. Das Hufeisen hielt dem Beschuß jedoch stand. Nur die Kugel pfiff plattgedrückt und jaulend davon.
Dafür trat ein anderer Effekt ein. Durch die Wucht des Aufpralls wurde der Pompadour hart zurückgetrieben, wirbelte Lady Agatha um die Schulter und traf den Gangster, den es schon mal erwischt hatte.
Das im Pompadour versteckte Hufeisen von beachtlicher Brauereigaulgröße flog dem Mann vehement in die Magengegend. Der Treffer war so hart, daß es ihm die Tränen in die Augen trieb, die Luft aus den Lungen preßte und ihn bäuchlings über den Steg fegte. Nach zwei Yard war seine kinetische Bewegungsenergie verbraucht, und er blieb stöhnend und nach Luft ringend ein paar Sekunden liegen.
Sein Kumpan verfolgte die Rutschpartie fassungslos, behielt aber die Nerven und zielte erneut mit der Waffe auf die beiden.
»Noch so ein mieser Trick«, sagte er heiser, »dann seid ihr hier an Ort und Stelle geliefert.«
Vorsichtshalber trat er jedoch aus der Reichweite der älteren Dame, die grimmig dreinblickte.
»Nur die Ruhe«, meinte McWarden, der einsah, daß sie hier keine Chance hatten.
Der andere erhob sich wieder und grapschte nach seiner Waffe. Dabei erweckte er den Eindruck, als würde er jeden Augenblick schießen.
Lady Agatha war so außer sich, daß sie erneut ihren Pompadour auf Reisen schicken wollte. Aber ein warnender Blick McWardens hielt sie gerade noch davon ab.
»Einsteigen!« befahl der Hagere. »Und greift mal mit den Gichthaken zum Himmel!«
Kochend vor Wut stieg Agatha Simpson in das Auto, gefolgt von McWarden, der ebenso grimmig dreinblickte. Der Yard-Mann merkte sich sehr gut die Gesichter der beiden Gangster und prägte sie sich ein.
»Was habt ihr Lümmel von der Rattenbande mit uns vor?« verlangte die ältere Dame zu wissen.
»Maul halten, das werdet ihr schon sehen.« Die Waffe des einen Gangsters war immer noch auf sie gerichtet. »Was heißt hier überhaupt Rattenbande?«
»Na, ihr seht doch wie Ratten aus«, behauptete die Lady mit mokantem Lächeln.
Die beiden Kerle grinsten nur höhnisch. Eine Antwort gaben sie nicht. Ihr Grinsen war jedoch bösartig.
Während der Fahrt überlegte McWarden krampfhaft, was die beiden mit ihnen Vorhaben mochten. Umbringen wollte man sie vermutlich nicht, denn das hätten sie vorher ziemlich problemlos und ohne Zeugen tun können.
Lady Agatha hingegen bewegten ganz andere Gedankengänge. Sie sann auf Rache und überlegte, wie sie die beiden ungehobelten Flegel aufs Kreuz legen konnte. Ihren Glücksbringer vermochte sie wegen der Enge im Wagen nicht einzusetzen, denn sobald sie sich bewegte, wurde sie von dem Gangster mit der Waffe bedroht. Sie registrierte jedoch mit Erstaunen, daß die Fahrt offenbar zu den alten Docks ging, und bereute zutiefst, ihren Butler nicht mitgenommen zu haben, der aus jeder noch so vertrackten Situation einen Ausweg wußte.
»Wo geht es denn jetzt hin?« fragte die streitlustige Dame nach einer Weile des Schweigens.
Der Mann mit dem verschobenen Unterkiefer drehte sich kurz um. Beim Sprechen fletschte er immer noch die Zähne. Seine Antwort bestand aus einem Nuscheln.
»Karibik-Kreuzfahrt, erster Klasse, Luxuskabine.«
Alle beide lachten laut und ordinär und wollten sich ausschütten.
Auf der linken Seite tauchten die alten Docks auf. Hier befand sich der Abwrackplatz von Schiffen aller Art, ein Friedhof, der aus alten Wracks bestand, die vor sich hinrosteten. Weit und breit war kein Mensch zu entdecken.
Der Wagen hielt mit quietschenden Reifen vor einer drecküberladenen Pier, wo etliche rostige Pötte vertäut waren. Ein paar andere lagen im alten Hafenbecken vor Anker.
Lady Agatha und McWarden kamen kaum zur Besinnung, denn beide Gangster hatten es jetzt furchtbar eilig.
»Raus mit euch und auf den Kahn da«, rief der Hagere, wobei er wieder mit der Waffe herumfuchtelte. »Aber im Galopp, wenn ich bitten darf...«
Die Männer griffen zu, schleppten und zerrten Lady Agatha auf das große, rostige Schiff und folgten somit McWarden, der vor ihnen hergehen mußte. Die ältere Dame kriegte kaum etwas von ihrer Umwelt mit. Sie war fürchterlich in Wut. Ihre Augen funkelten. Ihre eigenwillige Hutschöpfung saß völlig schief auf ihrem grauweißen Haar, und ihr Tweedkostüm war zerknittert.
Ein schmaler, niedriger Gang tauchte vor ihnen auf. Es roch warm und stickig. Die Luft war abgestanden und schal. An den Wänden des Schiffes fraß der Rost, der in großen Blasen abblätterte.
Bis auf das Hallen der Schritte herrschte unheimliche, fast greifbare, beängstigende Stille ...
»Stehenbleiben!« befahl der Hagere. Seine Stimme klang wie ein Kanonenschuß durch die gespenstische Ruhe.
»Was soll das?« rief Lady Agatha, die sich immer wieder nach allen Seiten umsah, in dem herrschenden Dämmerlicht jedoch nicht viel entdecken konnte.
Die Gangster gaben keine Antwort. Der Hagere hielt die beiden weiterhin in Schach, während der Rattengesichtige ein mannshohes Eisenschott öffnete. Knarrend und quietschend ging es auf.
Der Raum dahinter lag ebenfalls in Halbdämmerung. Durch ein Bullauge schimmerte fahl das Tageslicht herein.
Ein Stoß beförderte Lady Agatha in den Raum. Ein zweiter Stoß ließ McWarden hereintaumeln.
Aber genau in diesem Augenblick brannten bei der streitsüchtigen älteren Dame die Sicherungen durch. Noch während der eine Gangster mit dem Schließen des Schotts beschäftigt war, traf ihn der Wunderbeutel, jener verhängnisvoll wirkende Glücksbringer, der schon so manchen von den Beinen geholt hatte.
Der Pompadour, mit aller Kraft blitzschnell geschleudert, traf erneut den Kiefer des Mannes, diesmal jedoch von der anderen Seite. Daraufhin stimmte die Gesichtspartie des Mannes wieder. Sein uriger und markerschütternder Schrei segnete die kosmetische Korrektur grandios ab. Aber es lag keinerlei Dankbarkeit in dem Schrei.
»Um Himmels willen«, äußerte der andere beeindruckt. »Die Alte schlägt ja eine Kelle wie ein Elch. Nur weg hier.«
Das Schott knallte mit dumpfem Dröhnen zu und wurde von außen zugemacht, noch bevor Lady Agatha ihren Glücksbringer erneut einsetzen konnte. Das Hufeisen traf nur noch die eiserne Tür, wobei ein sich fortsetzendes Geräusch entstand, das durch das ganze Schiff lief.
Dann hörten sie Schritte, die sich eilig entfernten, und ein Wimmern, das der Hagere ausstieß. Vermutlich war er mit der Gesichtskorrektur doch nicht ganz einverstanden.
Der Wagen wurde angelassen und verschwand. Danach herrschte wieder Grabesruhe.
Lady Agatha und McWarden hatten jetzt Zeit, sich umzusehen und eine erste Inspektion vorzunehmen.
Sehr beruhigend waren die Aussichten nicht, denn die beiden Gefangenen waren von allen Seiten von sehr rostigen, aber noch soliden Eisenwänden umgeben. Selbst Boden und Decke bestanden aus vernieteten Eisenplatten.
*
»Die Subjekte sind weg«, stellte Agatha Simpson fest. »Es droht also keine weitere Gefahr mehr. Weshalb öffnen Sie dann nicht augenblicklich die Tür, McWarden, damit wir verschwinden können?«
Der Mann vom Yard lächelte gequält, warf nur einen Blick auf das Schott und zuckte dann mit den Schultern.
»Lady Simpson«, sagte er belehrend. »Diese Tür ist ein eisernes Schott und sehr solide. Es wird von außen geschlossen und kann von innen nicht geöffnet werden, weil es zugereibert ist. Nicht mal mit Werkzeug würde ich hier etwas ausrichten können.«
»Sie haben es noch gar nicht versucht«, erwiderte die ältere Dame etwas schnippisch. »Lassen Sie mich mal ran. Schließlich habe ich keine Lust, längere Zeit in dieser Räuberhöhle zu verbringen.«
Sie mühte sich jedoch vergebens ab und gab ihre Bemühungen auch gleich wieder auf, als kein Erfolg eintrat. Das Schott war so dicht, als wäre es zugeschweißt worden.
Der Raum enthielt nichts außer einer eisernen Bank, die fest mit zwei Wänden vernietet war. Weiteres Mobiliar gab es nicht.
»Jetzt sitzen wir in der Patsche«, sagte McWarden bedrückt, nachdem er auch das kleine Bullauge untersucht hatte. Der Blick daraus war ebenfalls mehr als bescheiden. Man konnte nur ein gegenüberliegendes, restlos vergammeltes Schiff sehen, und davon nur einen Teil einer rostroten Bordwand.
Agatha Simpson glaubte wieder mal die rettende Idee zu haben.
»Gehen Sie mal zur Seite, McWarden, ich werde das Ding einschlagen.«
»Das ist sinnlos. Das Sicherheitsglas läßt sich bestenfalls mit einem Vorschlaghammer zerschlagen, und selbst dann hätten wir überhaupt nichts gewonnen. Da paßt kein Kopf durch, geschweige denn ein ... äh ... ziemlich kompakter Körper.«
»Meinen Sie etwa mich damit?« fragte sie gallig.
»Nein, nein, ich dachte an meinen beginnenden Bauchansatz.«
»Das will ich auch hoffen.«
Lady Agatha schwang entschlossen ihren Glücksbringer. McWarden konnte sich gerade noch an die Wand drücken, sonst hätte ihn das Ding am Schädel getroffen.
Wie ein Hammer knallte das Hufeisen auf das trübe Glas. Als der Glücksbringer dreimal hintereinander aufgeschlagen war, gab die resolute Dame auf, denn es zeigte sich kein Erfolg.
»Das werden diese Lümmel mir büßen«, sagte sie in totaler Verkennung der Sachlage. »Mich auf eine Karibik-Kreuzfahrt zu schicken, gegen meinen Willen, und dann noch Luxuskabine versprechen. In einen leeren Raum haben sie uns gesperrt. Wann, glauben Sie, legt dieser Dampfer ab, McWarden?«
»Mit Sicherheit gar nicht, Mylady. Er wird nie mehr in die Karibik fahren, das weiß ich genau.«
»Sehr ulkig. Ich denke, das ist ein Schiff. Wo bleibt denn der Kapitän?«
»Sie hätten sich vorher etwas genauer umsehen sollen, Lady Simpson. Dann wäre Ihnen sicher aufgefallen, daß dieses Schiff ein vergammeltes Wrack ist. Es gibt auch keinen Kapitän an Bord, denn das Schiff soll früher oder später ganz abgewrackt werden. Es wird in Einzelteile zerschnitten und verschrottet. Wir befinden uns auf dem Schiffsfriedhof bei den alten Docks.«
»Das habe ich gemerkt«, gab sie spitz zurück. »Aber nach meinem ersten flüchtigen Eindruck zeigte sich das Schiff noch in einer ganz soliden Verfassung. Schließlich ist es ja nicht meine erste Kreuzfahrt. Auf jedem Schiff ist aber zumindest ein Steward an Bord.«
»Aber hier nicht«, schrie McWarden. »Hier gibt es keine Heizer, keine Köche und keine Bedienung. Der Kahn ist ausgemustert für alle Zeiten.«
»Dann muß ich die Lage neu überdenken«, sagte die Detektivin unerschütterlich. »Ich bin in einer peinlichen Situation.«
»Ich zum Glück nicht«, knurrte McWarden bissig. »Ich bin es gewöhnt, auf alten, stinkenden Wracks zu hausen und auf Eisenplatten zu schlafen.«
»Mit Ihrem Gehalt beim Yard wundert mich das nicht. Wahrscheinlich haben Sie schon oft hier genächtigt. Man sieht es ja an Ihrem reichlich zerknitterten Anzug.«
Die beiden waren wieder mal in ihrem Element, aber nach einer Weile streckte McWarden die Waffen. Er war nicht scharf darauf, in dieser Situation Lady Simpsons Spitzfindigkeiten zu hören.
»Schließen wir vorläufig Frieden«, schlug er vor. »Wir sollten überlegen, wie wir hier herauskommen. Die Sonne heizt das Eisen allmählich auf, und damit wird auch die Atemluft knapp und stickig.«
»Daran dachte ich schon die ganze Zeit. Deshalb habe ich ja auch versucht, das runde Fenster zu zertrümmern. Vielleicht schaffen wir es noch mit Ausdauer und Geduld.«
»Geben Sie mir mal das Hufeisen, Mylady, sonst geht noch der schöne Pompadour kaputt.«
McWarden wickelte das Hufeisen aus seiner humanen Schaumstoffumwicklung. Es lag beachtlich schwer in der Hand, und es war auch von erstaunlicher Größe.
»Der Gaul, der das getragen hat, war vermutlich ein Dinosaurier«, sagte der Yard-Mann kopfschüttelnd.
»Es war ein ganz normaler zierlicher Brauereigaul«, widersprach Lady Agatha. »Und geben Sie acht, daß das schöne Ding nicht einfach kaputtgeht.«
»Eher geht das Schiff kaputt«, mutmaßte McWarden.
Agatha Simpson sah interessiert zu, wie McWarden mehrfach auf das Bullauge einschlug, um es zu zertrümmern. Er benutzte das Hufeisen wie einen Keil und stieß es immer wieder in das Glas.
Nach einem Dutzend Schlägen knirschte es. Das Glas splitterte, aber es ließ sich nicht ganz herausschlagen, so sehr McWarden sich auch bemühte.
Schwitzend und schnaufend ließ er von dem Bullauge ab.
»Na, viel ist das ja nicht«, sagte die Lady.
»Immerhin reicht es aus, daß wir hier drin nicht ersticken. Man kann wieder einigermaßen gut Luft holen,«
»Und wie lange werden wir hier drin bleiben müssen, McWarden? Doch wohl nicht eine Ewigkeit.«
Der Chief-Superintendent wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Ich weiß es wirklich nicht. Wir befinden uns an einem Ort, der trostlos und verlassen ist. Hier kommt nur ganz selten jemand vorbei. Ich sehe leider keine Möglichkeit, wie wir diesem Gefängnis jemals entfliehen können.«
»Wir werden verhungern und verdursten«, fürchtete Lady Simpson. »Diese Subjekte bringen uns auf eine Art und Weise um, bei der sie nicht mal dreckige Finger kriegen. Aber ich bin damit nicht einverstanden, daß wir hier in dieser ekelerregenden Umgebung so einfach sterben.«
»Ich auch nicht«, erwiderte McWarden, der sich dem Schott zugewendet hatte und wieder das Hufeisen ansetzte. Es brachte keinen Erfolg. Nicht mal ein Haar hätte sich durch die Tür schieben lassen.
Enttäuscht gab er das Hufeisen an Lady Agatha zurück.
»Wir werden in regelmäßigen Abständen Klopfzeichen geben«, sagte er. »Jeder Schlag mit dem Eisen pflanzt sich durch das gesamte Schiff fort. Vielleicht haben wir Glück und werden irgendwann mal gehört.«
Alle paar Minuten hämmerten sie abwechselnd gegen die Eisenwände. Es wurde wärmer in dem Raum, fast stickig-heiß. Die Luft ließ sich nur mühsam atmen.
Aber niemand hörte es. Sie waren weit und breit allein.
*
Josuah Parker war in großer Sorge, weil Lady Agatha sich immer noch nicht gemeldet hatte.
Er gab noch eine halbe Stunde des Wartens zu und rief dann bei McWarden an. Doch am anderen Ende hob niemand ab.
Parker war jetzt ernsthaft bekümmert. Er wußte zwar, daß seine Herrin bei McWarden war, aber trotzdem konnte etwas passiert sein.
Er ging im Souterrain auf und ab und überlegte. Lady Agatha selbst konnte sich zwar kaum vorstellen, daß ihr persönlich etwas passierte, aber Parker dachte da ganz anders. Möglicherweise hatte sich die ältere Dame wieder mal durch ihre ausgesprochene Aggressivität in größte Schwierigkeiten gebracht.
In seine Überlegungen hinein klingelte das Telefon.
Erleichtert nahm Parker ab. Vermutlich wollte die Detektivin abgeholt werden und war doch zu McWarden zurückgekehrt.
»Na, Parker«, sagte eine ölige Stimme gedehnt. »Suchen Sie etwa nach dem älteren Dickerchen?«
Parker gab nicht zu erkennen, daß er überrascht war.
»Mit wem habe ich das Vergnügen?« erkundigte er sich knapp.
»Oh, wir kennen uns doch. Wir haben schon mal angerufen, aber Sie haben sich nicht an die Spielregeln gehalten.« Die Stimme wurde schärfer und zynischer. »Jetzt werden Sie sich daran halten müssen, denn das Dickerchen ist fort.«
Seine Ahnung hatte ihn also nicht getrogen. Er blieb jedoch immer noch ruhig und gelassen.
»Ich neige zu der Annahme, daß Sie von Lady Simpson sprechen.«
»Genau um die geht es, Parker. Sie sind ja erstaunlich schnell von Begriff.«
»Darf man sich nach Myladys Befinden erkundigen?« fragte Parker.
»Man darf«, erlaubte der Anrufer. »Sagen wir mal, es geht ihr einigermaßen gut.«
»Darf man sich weiterhin nach Myladys Aufenthaltsort erkundigen?« stellte Parker die nächste Frage.
»Da wird es schon schwieriger«, wurde bedauert. »Die Dicke ist aber in guter Gesellschaft. Wir haben die beiden nur ein wenig aus dem Verkehr gezogen.«
Immer noch blieb Parkers Stimme kühl und wie unbeteiligt. Er ahnte bereits, in welcher Gesellschaft seine Herrin sich befand. Vermutlich hatte man McWarden auch gekidnappt.
»Ich darf mit Sicherheit annehmen, daß Sie ein paar Forderungen stellen werden. Ich könnte eventuell geneigt sein, auf gewisse Dinge einzugehen, wenn damit Myladys Freilassung garantiert wird.«
»Lieber nicht«, meinte der Anrufer. »Ihr habt uns schon zuviel Ärger bereitet, aber ich werde mir das noch überlegen. In den nächsten Tagen rufe ich noch mal an. Von jetzt an werden Sie sich aber aus allem heraushalten, Parker, sonst verschwinden Sie auch!«
»Einen Augenbück bitte«, sagte Parker schnell, bevor der andere auflegte. Doch er hörte nur das sattsam bekannte zynische Lachen. Dann erfolgte ein Knacken in der Leitung.
Der Butler ließ langsam den Hörer sinken. Für ihn stand endgültig fest, daß die Gegenseite Agatha Simpson und auch McWarden entführt hatte. Die Entführung des Yard-Mannes würde allerdings für riesengroßen Wirbel sorgen. Vielleicht waren sich die Gangster der Tatsache gar nicht bewußt, wen sie da erwischt hatten.
Josuah Parker dachte nicht daran, die Hände in den Schoß zu legen und tatenlos abzuwarten. Er griff erneut zum Hörer, sprach eine Weile und rief dann eine weitere Nummer an.
Eine Viertelstunde später erhielt er Besuch.
*
Der Gast erinnerte in seiner saloppen und lässigen Art stark an einen James-Bond-Darsteller. Er hieß Mike Rander, war um die Vierzig herum, groß, schlank und sportlich. Er und Josuah Parker kannten sich seit vielen Jahren und hatten früher ausschließlich allein gearbeitet. Später war Parker dann in Lady Simpsons Dienste getreten, während Mike Rander in den USA blieb. Nach der Rückkehr aus den Staaten verwaltete Rander das immense Vermögen der Lady Simpson. Dabei schlitterte er mal wieder von einem Kriminalfall in den anderen.
Der Anwalt hielt sich im altehrwürdigen Fachwerkhaus der Detektivin auf und befand sich zusammen mit Parker in der großen Wohnhalle.
Er unterbrach Parkers Erzählung mit keiner Silbe und hörte nur gespannt und kopfschüttelnd zu.
»Darf ich Ihnen einen Kognak anbieten, Sir?« fragte der Butler, nachdem er mit seinem Bericht fertig war.
»Einen doppelten, bitte, ich habe ihn nötig. Aber vorher sollten wir unbedingt Scotland Yard benachrichtigen.«
»Meine Wenigkeit erkühnte sich, dies bereits zu tun, Sir. Man war im Yard allerdings ein wenig skeptisch.«
»Ja, da geht immer alles erst den üblichen Dienstweg. Haben Sie inzwischen irgendwelche Erkenntnisse oder Anhaltspunkte gewinnen können, Parker?«
Mike Rander rauchte eine Zigarette, nippte an seinem Kognak und stand auf, um vor dem riesigen Kamin hin und her zu wandern.
»Leider nein, Sir«, bedauerte der Butler. »Bis auf die bereits erwähnten Blutspuren fand sich nichts von Bedeutung.«
»Wohin können Lady Agatha und McWarden gegangen sein?« fragte der Anwalt nachdenklich. »Man hat sie doch sicher nicht auf offener Straße gekidnappt.«
»Das ist kaum anzunehmen, obwohl es auch im Bereich des Möglichen liegt. Bekanntlich schreckt die sogenannte Ratten-Gang vor nichts zurück, Sir.«
»Und was vermuten Sie, Parker?«
»Die Vermutung meiner Wenigkeit beschränkt sich darauf, daß Mylady noch mal geruhte, in Begleitung des Chief-Superintendenten das Boot aufzusuchen.«
»Sie erwähnten vorhin, das sei eine einsame und abgelegene Stelle.«
»In der Tat, Sir, es handelt sich um einen in Richtung Chelsea liegenden Bereich, der kaum frequentiert wird.«
»Dann sollten wir da noch mal ansetzen«, überlegte Mike Rander. »Möglicherweise finden sich Spuren oder sonstige Hinweise.«
»Daran dachte meine Wenigkeit bereits, Sir. Es ist in der Tat angezeigt, dort ein weiteres Mal nachzuforschen. Es besteht auch die Möglichkeit, daß man uns dezent beschattet, Sir, um herauszufinden, wie wir reagieren.«
»Das wäre sehr gut. Wir haben dann etwas, wo wir energisch nachhaken können, denn bisher sind diese Gangster ja meistens unsichtbar geblieben.«
»Mit Verlaub, Sir – die Ratten werden sich diesmal etwas weiter aus den Löchern wagen, wenn dieser Vergleich gestattet ist.«
»Hoffentlich. Dann sollten wir keine Zeit verlieren.«
»Meine Wenigkeit ist bereit, Sir.«
Mike Rander trank seinen Kognak aus und zerdrückte die Zigarette im Aschenbecher.
»Miß Porter wird uns diesmal übrigens nicht begleiten«, sagte Rander. »Sie fuhr in Myladys Auftrag nach Bristol und wird erst in zwei oder drei Tagen wieder zurück sein.«
»Mylady geruhte, mich davon bereits in Kenntnis zu setzen, Sir.« Parker sicherte mit ein paar geschickten Handgriffen das altehrwürdige Fachwerkhaus, um unliebsame Besucher abzuschrecken. Danach fuhren sie in Parkers hochbeinigem Monstrum in Richtung Chelsea.
Als sie an dem Bootssteg hielten, war immer noch kein Mensch weit und breit zu sehen. Die Gegend machte einen verlassenen Eindruck.
»Eine unauffällige Ecke, um jemand beiseite zu schaffen«, sagte Mike Rander, nachdem er ausgestiegen war.
»Wenn Sie gestatten, Sir, möchte ich diskret darauf hinweisen, daß man uns aus einem Auto beobachtet. Der Wagen befindet sich jenseits der kleinen Allee.«
Mike Rander nickte nur. Er drehte sich auch nicht um, sondern tat so, als würde er nichts bemerken. Er sah den dunklen Wagen allerdings einige Sekunden später, als er das Boot betrat.
»Sie müssen uns in großem Abstand gefolgt sein«, sagte er. »Unterwegs habe ich nichts von einer Verfolgung bemerkt. Sie liegen mit Ihrer Annahme aber genau richtig, Parker, daß sich die Ratten jetzt weiter aus den Löchern wagen.«
Parker bewegte sich gemessenen Schrittes auf den Planken des Bootes. Er trug wieder seinen schwarzen Zweireiher, einen Eckkragen und einen schwarzen Binder unter dem Covercoat. Die schwarze Melone gehörte auch dazu, ebenso wie der Universal-Regenschirm, den er würdevoll über dem Arm trug. Ein wenig wirkte er wie der lebendige Anachronismus auf dem Boot.
»Hat sich etwas verändert?« fragte Mike Rander.
»Nur eine Kleinigkeit, Sir. Ein Teil der Blutspur, die sich an der Reling befand, ist verschwunden. Meine Wenigkeit neigt zu der Annahme, daß Mister McWarden hier eine Probe entnommen hat.«
»Wobei er und Mylady beobachtet und dann entführt wurden«, setzte der Anwalt hinzu.
»Das ist durchaus anzunehmen, Sir.«
Gemeinsam durchsuchten sie das Boot vom Heck bis zum Bug, aber es gab keine weiteren Hinweise.
Hinter der Allee stand immer noch das Auto, aus dem sie beobachtet wurden.
Mike Rander warf einen kurzen Blick in die Richtung.
»Vielleicht wäre es angebracht, sich die Kerle mal aus der Nähe anzuschauen«, sagte er. »Dann wissen wir wenigstens so ungefähr, mit wem wir es zu tun haben.«
»Eine vortreffliche Idee, Sir«, erwiderte Parker und ging auf sein hochbeiniges Monstrum zu. Als er jedoch einladend die Tür für Mike Rander aufhielt, erlebten sie eine Überraschung. Der dunkle Wagen brauste los und fuhr davon. Hinter der Allee bog er ab und fuhr in eine der zahlreichen Seitenstraßen.
»Zu spät«, sagte Mike Rander. »Die Kerle haben den Braten offenbar sofort gerochen.«
Es war zwecklos, dem Wagen nachzufahren. Er war längst im Gewirr der kleineren Straßen verschwunden.
»Bedauerlich, aber nicht zu ändern«, sagte Parker. Er fuhr ein paar Yard an den Bootsstegen entlang und bremste dann.
»Dort drüben steht ein Wagen, Sir«, sagte er. »Es dürfte nicht auszuschließen sein, daß es sich dabei um das Gefährt von Mister McWarden handelt.«
»McWarden fährt tatsächlich so einen Wagen«, stimmte der Anwalt zu. »Den sehen wir uns mal aus der Nähe an. Ich frage mich schon die ganze Zeit, wie Mylady und McWarden wohl hergekommen sein mögen. Sie sind ja sicher nicht zu Fuß gegangen.«
»Das ist durchaus nicht anzunehmen, Sir.«
Das Gefährt stand einsam und verlassen da. Parker erkannte den Wagen aus der Nähe sofort. Es gab keinen Zweifel, wem er gehörte.
Der Wagen war abgestellt, aber nicht verschlossen worden.
»Man hat sie offenbar in Empfang genommen, als sie im Begriff standen, das Boot zu verlassen«, sagte Parker.
»Richtig, sonst würde es hier Spuren geben. Agatha Simpson dürfte sich nicht sofort kampflos ergeben haben. Aber wohin hat man sie nur gebracht?«
Das war eine Frage, auf die Parker auch gern eine Antwort gewußt hätte. Er hatte aber nicht die geringste Ahnung und auch keinen Anhaltspunkt.
»Das entzieht sich leider meiner Kenntnis, Sir.«
Etwas ziel- und ratlos gingen sie an den Bootsstegen entlang bis zur fast gegenüberliegenden Seite. Hier lagen nur zwei kleine Ruderboote, die lange nicht mehr benutzt worden waren.
Josuah Parker blickte ins Wasser, weil ein heller Lichtreflex seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Es blitzte einmal kurz aui, dann war der Reflex wieder verschwunden, als der Einfallwinkel der Sonnenstrahlen sich leicht veränderte.
Als Parker einen Schritt zurücktrat, erschien der Reflex für einen Augenblick wieder. Irgendwo auf dem Grund des Wassers schien eine Münze zu liegen, die das Sonnenlicht widerspiegelte.
Rander war ebenfalls stehen geblieben und sah den Butler an, der einen Schritt vorging und dann wieder zurücktrat.
»Moment mal, Parker«, sagte er, »was ist denn?«
»Ein Reflex, Sir, hervorgerufen durch das Sonnenlicht, das sich offenbar in einer Münze spiegelt.«
Mike Rander sah es auch. Es gab auch noch einen zweiten Reflex wie ein kurzer Lichtblitz.
Parker trat näher an das niedrige Geländer heran. Der Steg war alt, brüchig und verfallen, und die meisten scheuten sich wohl, ihn zu betreten aus Angst davor, ins Wasser zu fallen.
Als er sich über das Geländer beugte, verschlug es ihm sekundenlang die Sprache.
In etwa zwei Yards Tiefe lag der Körper eines Mannes auf dem Grund.
Er trug ein Hemd mit goldfarbenen Knöpfen, und in diesen fing sich immer wieder das Sonnenlicht. Der Tote lag auf dem Rücken, die Arme waren ausgebreitet, und an seinem Bein befand sich ein Tau mit einem Gegenstand daran. Dieser Gegenstand am Bein des Mannes war allerdings nicht zu erkennen, weil er teilweise in dem schlammigen Untergrund eingebettet schien.
Sobald das Wasser auch nur ein wenig in Bewegung geriet, verzerrten sich die Konturen des Toten zu abstrakten Mustern und hauchten ihm scheinbar Bewegung und Leben ein.
»Was haben Sie denn, Parker?« Mike Randers Stimme riß Josuah Parker aus seinen stummen Betrachtungen. Er blickte hoch.
»Auf dem Grund liegt eine Leiche, Sir. Es dürfte sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei dem Toten um Mister Harry Peacock handeln.«
Der Anwalt blickte jetzt ebenfalls ins Wasser.
»Tatsächlich«, sagte er gedehnt. »Eine Leiche! Das Sonnenlicht hat sich in den goldenen Knöpfen gespiegelt. Wahrscheinlich hätten wir sie sonst nie entdeckt.«
Der Tote wirkte unheimlich, wenn winzige Wellen seine Gestalt verzerrten. Das Gesicht war nur ein undeutlich zu erkennender Fleck, über den ständig sich ändernde Muster liefen.
»Vorn auf dem Boot habe ich einen Haken gesehen«, sagte der Anwalt. »Würden Sie ihn bitte holen, Parker?«
»Darf meine Wenigkeit einen Gegenvorschlag unterbreiten, Sir?«
»Selbstverständlich, Parker.«
»Man sollte das lieber den Herren von der Mordkommission überlassen«, schlug der Butler vor. »Diese Herren können sehr unangenehm werden, falls ...«
»Schon gut, Parker, Sie haben ja recht. Dann werde ich die zuständigen Leute benachrichtigen. Warten Sie hier solange. Darf ich Ihr hochbeiniges Monstrum nehmen?«
»Es wäre mir eine große Ehre, Sir.«
Mike Rander fuhr zur nächsten Telefonzelle und unterrichtete jene Abteilung, die McWarden zustand und die für die Bekämpfung des Banditenunwesens zuständig war. Dann kehrte er zurück.
*
Eine knappe Viertelstunde später wimmelte es in der Nähe der Bootsstege nur so von Männern. Auch ein Polizeiarzt war dabei, sowie ein Fotograf.
Zwei Männer holten den Toten aus dem Wasser und zogen ihn an Land. Der Polizeiarzt untersuchte ihn flüchtig.
»Erschossen«, stellte er lakonisch fest. »Zwei Schüsse haben ihn ins Herz getroffen.«
Am Bein des Toten war ein Hammer mit einer Leine befestigt, damit die Leiche auf dem Grund liegen blieb.
»Das Werk von Profis«, sagte Frank Ellis, der zu McWardens Einsatzgruppe gehörte. »Ist er das, Mister Parker?«
»Mister Harry Peacock, Sir«, bestätigte Parker.
»Sind Sie auch ganz sicher?«
»Ein Zweifel ist ausgeschlossen, Sir.«
»Okay, dann werden wir seinen Bruder benachrichtigen.« Er wandte sich an einen anderen unscheinbar aussehenden Mann, der sich große Mühe gab, wichtig zu erscheinen. »Wenn die Fotos geschossen sind, lassen Sie die Leiche ins Gerichtsmedizinische Institut bringen. Wenn das geschehen ist, kommen Sie mit den Männern vom Spurensicherungsdienst zu mir. Wir sind da drüben beim Wagen.«
Das unscheinbar aussehende Männchen nickte wichtig und gab weitere Befehle, während Ellis, Mike Rander und Parker zu dem abgestellten Fahrzeug gingen.
Ellis betrachtete es von allen Seiten.
»Da sollen die Spezialisten ran«, entschied er. »Vielleicht haben die Glück und finden ein paar Prints. Und mit noch mehr Glück haben wir die Prints registriert. Dann werde ich auch mit Sicherheit herausfinden, wo der Chief-Superintendent steckt.«
»Es ist nicht anzunehmen, daß man Mister McWarden aus dem Auto heraus entführt hat, wenn der Hinweis gestattet ist«, sagte Parker. »Vielmehr ist davon auszugehen, daß man beide Personen beim Verlassen des Bootes überwältigt und weggebracht hat, Sir.«
Frank Ellis wirkte ein wenig hochnäsig und arrogant. Er sah Parker an und verzog leicht die Mundwinkel.
»Wovon auszugehen ist, das überlassen Sie ruhig mir, Mister Parker. Ich gehe jedenfalls von einer anderen Annahme aus.«
Parker lüftete höflich seine schwarze Melone und deutete eine leichte Verbeugung an.
»Dann ist es meiner bescheidenen Wenigkeit wohl gestattet, einen guten Erfolg wünschen zu dürfen.«
»Hm, ja, natürlich«, reagierte Ellis verunsichert. Er wunderte sich über Parkers ausgesuchte Höflichkeit und sah ihm nach, als er zusammen mit Mike Rander zu dem hochbeinigen Monstrum ging.
»Ein seltsamer Mensch«, sagte er zu dem Unscheinbaren. »Den kann wohl überhaupt nichts aus der Ruhe bringen.«
»So ist es, Sir«, bestätigte das graue Männchen überaus eifrig. »Ihn bringt wirklich nichts aus der Ruhe. Ich kenne ihn. Ohne ihn hätte der Yard ...«
»Jaja, ist schon gut. Wir verdienen uns unsere Sporen selbst und sind nicht auf andere angewiesen.«
Der Unscheinbare räusperte sich verärgert, verzichtete aber auf eine Antwort, weil sein unmittelbarer Vorgesetzter immer recht hatte.
Unterdessen fuhren Parker und der Anwalt wieder zurück.
»Was jetzt?« fragte Rander. »Wir sind immer noch nicht viel klüger als vorher. Wir haben eine Leiche, die von Ihnen einwandfrei identifiziert wurde, wir haben weiterhin die Gewißheit, daß Lady Agatha und McWarden verschwunden sind, und wir wissen, daß es diese Ratten-Gang gibt. Aber wir greifen immer wieder ins Leere. Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen.«
»In der Tat, Sir.«
Parker blickte immer wieder unauffällig in den Rückspiegel, ob sie verfolgt wurden, doch es gab kein Fahrzeug, das auffälliger wirkte als die anderen. Auch der Anwalt konnte nichts entdecken.
»Wahrhaftig wie die Ratten«, sagte Mike Rander, als sie das altehrwürdige Fachwerkhaus erreichten. »Man sieht sie für einen Augenblick aus der Ferne, und dann sind sie auch schon wieder wie vom Erdboden verschwunden. Ihre Theorie scheint doch nicht aufzugehen, daß sie sich jetzt weiter aus den Löchern hervorwagen.«
»Meine Wenigkeit ist davon überzeugt, Sir. Die Verfolgung und Überwachung beweist, daß sie bald zuschlagen werden, sobald sich eine günstige Gelegenheit bietet.«
»Die werden wir ihnen liefern müssen.«
»Das, Sir, sind auch meine bescheidenen Überlegungen.«
*
Am späten Nachmittag beobachtete Parker einen Mann, der sich in der Nähe des Hauses herumtrieb. Der Mann war von mittlerer Statur und trug einen Staubmantel. Er ging die Straße hinauf und hinunter, ließ das altehrwürdige Fachwerkhaus aber nicht aus den Augen. Er benahm sich dabei so unauffällig, daß er glatt auffiel.
»Man scheint uns bereits im Visier zu haben«, sagte Mike Rander, der sich die Gesichtszüge des Mannes ebenfalls einprägte. »Ich hätte nicht übel Lust, den Mann ein wenig in die Mangel zu nehmen.«
Er drehte sich nach Parker um und betrachtete verblüfft einen alten Mann, der gebeugt in der Halle stand. Der Alte hatte ein verwittertes Gesicht und trug abgewetzte Kleidung. Mike Rander brauchte zwei Sekunden, bis er sich von seiner Verblüffung erholt hatte.
»Ausgezeichnet, Parker«, lobte er, »die Verwandlung ging erstaunlich schnell vor sich. Haben Sie vor, dem Mann zu folgen?«
»In der Tat, Sir. Es ist davon auszugehen, daß der Beobachter früher oder später durch einen anderen abgelöst wird. Man wird dann herausfinden, wohin sich jener ehrenwerte Herr begibt.«
»Ich werde den unauffälligen Zuschauer spielen«, sagte der Anwalt. »Nur für den Fall der Fälle.«
»Darf ich vorschlagen, den hinteren Ausgang zu benutzen, Sir?«
»Selbstverständlich.«
Nacheinander verließen beide Männer das Haus durch den hinteren Ausgang. Parker erschien nach einem kleinen Umweg etwas später auf der anderen Straßenseite, etwa hundert Yards von dem Beobachter entfernt. Mike Rander hielt sich so, daß er nicht entdeckt werden konnte.
Parker ging in der gebückten Haltung eines alten, müden Mannes langsam weiter. Zwischen seinen Lippen hing eine halbgerauchte, erkaltete Zigarre. Einmal blieb er stehen und suchte in seiner abgewetzten Kleidung nach Zündhölzern, fand aber keine. Kopfschüttelnd setzte er etwas schwerfällig seinen Weg fort, bis er auf gleicher Höhe mit dem Beobachter war. Wieder kramte er in seinen Taschen nach Feuer.
»Verzeihen Sie bitte, Sir«, sagte er nach der vergeblichen Suche, »haben Sie vielleicht Feuer?«
Der Mann wandte ihm desinteressiert ein Gesicht zu, das mit seinen spitzen Zähnen an eine lauernde Ratte erinnerte. Er starrte weiterhin auf das Haus, nickte dann flüchtig und überreichte Parker ein kleines Streichholzheftchen.
»Kannst es behalten, Opa«, sagte der Mann großzügig.
»Zu liebenswürdig, Sir. Vielen Dank.«
Parker stellte sich so, daß er den Mann als Windfang benutzen konnte, dann riß er ein Streichholz an. Er mühte sich ziemlich ab, bis der Stummel endlich brannte. Dann wollte er das Briefchen zurückgeben, doch der andere winkte unwillig ab.
»Schon gut, Daddy, steck’ es nur ein.«
Der Butler bedankte sich höflich ein zweites Mal, aber der Mann beachtete ihn nicht weiter. Er begann wieder auf und ab zu schlendern.
Daß er inzwischen mehr als ein Kilo abgenommen hatte, war ihm noch gar nicht bewußt.
Parker kehrte ins Haus zurück und entledigte sich seiner Maskerade, als auch Mike Rander eintrat. Der Anwalt sah den Butler erstaunt an.
»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr, Parker«, sagte er verwundert. »War das alles? Ich dachte, Sie wollten dem Mann folgen, sobald er abgelöst wird. Sie haben aber nichts derartiges getan.«
»Meine Wenigkeit gestattete sich, die Waffe des ehrenwerten Herrn auszuleihen. Hier ist sie. Es handelt sich um eine einundvierziger Magnum, sechsschüssig, mit Quick-Draw-Balkenkornvisierung.«
Parker legte die Magnum vorsichtig auf den Tisch, nachdem er kurz an dem Lauf gerochen hatte.
»Erst kürzlich ist daraus geschossen worden.«
Mike Rander nickte anerkennend. Er kannte die Fähigkeiten Parkers, jemanden so geschickt zu erleichtern, daß der Betreffende überhaupt nichts merkte.
»Beachtlich, nicht mal ich habe es gesehen. Okay, wir haben also die Waffe, aber damit wissen wir immer noch nicht, wohin der Gangster gehört. Wenn er jetzt verschwindet, sind wir ihn los.«
»Man wird ihn im Auge behalten, Sir«, versicherte Parker. »Meine Wenigkeit war so frei, den Gentleman mit einer sogenannten Wanze unauffällig zu dekorieren. Anhand des kleinen Peilgerätes kann der Mann von nun an ständig überwacht und auch gleichzeitig abgehört werden. Der Radius beschränkt sich dabei auf annähernd sechshundert Yards, Sir.«
»Immer voll in die Trickkiste«, sagte Mike Rander lächelnd. »Was geschieht jetzt mit der Magnum?«
»Man sollte tunlichst den Yard in Kenntnis setzen, Sir. Mister Ellis wird das zu schätzen wissen.«
»Davon bin ich restlos überzeugt.«
Parker rief umgehend jene Abteilung an, die McWarden unterstand und ließ sich mit Frank Ellis verbinden.
»Parker, was wollen Sie?« Die Stimme klang leicht ungehalten. »Ich habe nicht viel Zeit, um Unterhaltungen zu führen.«
»Meine Wenigkeit dachte eher an eine Information, Sir«, sagte Parker höflich. »Hat man schon herausgefunden, mit welcher Waffe Mister Peacock erschossen wurde?«
»Es geht Sie zwar nichts an, aber offenbar handelt es sich um eine Magnum. Zufrieden?«
»Man bedankt sich, Sir. Meine Wenigkeit ist durch eine Fügung des Schicksals in den überraschenden Besitz einer einundvierziger Magnum, sechsschüssig, gelangt, eine Waffe mit Quick-Draw-Balkenkornvisierung mit roter Rampe, Mikrometervisier, weißer Rechteckkimme, Nußholzschalengriffen, extra breitem Hahn und Abzug, aus der erst kürzlich geschossen wurde. Dies nur zur bescheidenen Information, Sir.«
Durch den Draht war ein überraschter Atemzug zu hören. Ellis’ Hochnäsigkeit war wie weggeblasen. Er räusperte sich.
»Mann, ich denke, Sie sind Butler und kein Waffenexperte.«
»Man hält sich in bescheidenem Rahmen auf dem laufenden, Sir«, versicherte Parker mit unbewegtem Gesicht.
»Ich lasse die Waffe sofort durch einen Beamten abholen, Mister Parker, wenn es recht ist.«
»Es ist mir eine Ehre, im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten dem Yard dienlich sein zu dürfen, Sir«, sagte Parker würdevoll. Noch bevor Ellis fragen konnte, woher Parker die Waffe hatte, hängte der Butler mit unbewegtem Gesicht ein.
Mike Rander konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Sieh an, sogar ›Mister‹ hat er gesagt. Erstaunlich, wie schnell sich eine solche Wandlung vollzieht.«
»In der Tat erstaunlich«, pflichtete Parker bei.
Es verging nur eine Viertelstunde, als der Mann vom Yard erschien und die Waffe abholte. Mike Rander händigte sie ihm aus. Erstaunlicherweise stellte der Mann keine weiteren Fragen. Er packte die Magnum in eine Plastiktüte, versprach, daß man sich nach der Untersuchung melden würde, und verschwand wieder.
Parker servierte einen kleinen Imbiß und schob den Teewagen herein, damit Mike Rander sich stärken konnte. Obwohl er ständig beschäftigt war, ließ er keine Sekunde das kleine elektronische Peilgerät aus den Augen, das den Standort des Mannes verriet, der immer noch unermüdlich seine Runden zog.
Hin und wieder war aus dem Gerät leises Räuspern zu hören, dann wieder waren Schritte oder der Lärm eines Autos zu vernehmen, das vorbeifuhr.
Josuah Parker und Mike Rander stellten sich hinter die Gardinen und beobachteten den Mann, der gerade mit einem zweiten zusammentraf.
»Da tut sich überhaupt nichts«, sagte eine Stimme. »Der Vogel rührt sich nicht aus seinem Nest. Vielleicht flattern ihm die Hosen?«
»Soll ich dich für ’ne halbe Stunde ablösen, Bennet«, erwiderte die andere Stimme. »Wenn wir den Kerl heute nicht mehr erwischen, dann eben morgen, sagt der Boß. Dann kriegen wir ihn ganz sicher. Is’ was vorgefallen?«
»Da kam nur ein Kerl, offenbar ein Vertreter. Der war gleich wieder draußen. Sonst nichts. Okay, dann hau’ ich ab.«
Die Stimme verstummte abrupt. Gleich darauf war ein heiserer Fluch zu hören, der von Bennet stammte.
»Verdammt nochmal, da soll doch gleich der Satan reinfahren, das gibt es doch gar nicht.«
»Was ist denn los?«
»Meine Kanone is’ weg, verschwunden.«
Der Mann, der mit Bennet angeredet wurde, schien sich über alle Maßen zu wundern. Er griff unter seinen Mantel, tastete seine Achselhöhlen ab und faßte in alle Taschen. Dabei wurde sein spitz zulaufendes Rattengesicht immer länger und ratloser.
»Das darf doch nicht wahr sein«, murmelte er. Seine diversen Abklopfversuche blieben jedoch auch weiterhin erfolgslos.
»Wie kann denn deine Kanone verschwinden?« fragte der andere.
»Weiß ich doch nicht, verdammt. Vorhin hatte ich sie noch, aber jetzt ist sie plötzlich weg.«
»Vielleicht hast du ein Loch in der Tasche.«
»Hab’ ich nicht, garantiert nicht.«
»Dann hat sie dir jemand geklaut«, behauptete der andere.
Darüber gerieten sich die beiden fast in die Haare.
»Mir – einer die Kanone klauen?
Daß ich nicht lache! Der muß erst noch geboren werden. Nee, mein Lieber, Fred Bennet beklaut man nicht, ohne daß er es merkt. Aber sie ist trotzdem verschwunden.«
»Mach was du willst. Vielleicht hast du sie gar nicht mitgenommen, und sie liegt noch zu Hause.«
Sie stritten sich noch eine Minute über die Kanone, die auf so geheimnisvolle Weise verschwunden war. Dann hatte Bennet offenbar genug. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte er sich um und ging verärgert und ratlos zugleich davon.
»Der Kerl mit dem Rattengesicht heißt also Bennet«, stelle Mike Rander fest. »Da er die Kanone bei sich trug, dürfte anzunehmen sein, daß er derjenige war, der Peacock erschoß. Oder sehen Sie das anders, Parker?«
»Meine Wenigkeit schließt sich dieser Annahme durchaus an, Sir. Bennet dürfte der Mörder sein. Ich hoffe, wir werden bald herausfinden, wo sich Mylady und McWarden aufhalten.«
*
Für Josuah Parker war es ein Kinderspiel, dem Gangster zu folgen. Er hatte auch auf jede Maskerade verzichtet, denn er wollte die Aufmerksamkeit jetzt voll und ganz auf seine Person lenken.
Als Parker und Mike Rander sahen, daß Bennet in der Nähe des Hyde-Parks in einen Wagen stieg, nahmen sie ein Taxi und folgten dem Gangster in gemessenem Abstand.
»Jetzt bin ich aber doch gespannt, wo es hingeht«, sagte der Anwalt, als der Wagen Kurs auf die New Cavendish Street nahm. »Der wird doch nicht zum Lordsiegelbewahrer persönlich hinfahren.«
Sie hielten sich immer so, daß sie von dem Gangster nicht bemerkt werden konnten.
Josuah Parker dirigierte das Taxi anhand des Zeigerausschlages auf dem Peilgerät. Er hatte den Ton so weit heruntergedreht, daß nur ein kaum hörbares Summen wahrnehmbar war.
Die Fahrt ging weiter zur Marylebone Road und dann in Richtung Regent’s Park. Nach weiteren fünf Minuten hielt der Wagen. Parker hörte es an dem Geräusch des Motors, der gleich darauf abgestellt wurde.
»Man könnte in Erwägung ziehen, hier auszusteigen«, sagte Parker. »Der ehrenwerte Mister Bennet dürfte in der Nähe beheimatet sein.«
Das Taxi hielt, Mike Rander und Parker stiegen aus. Der Butler bewegte sich wie immer sehr gemessen und würdevoll. Er hatte den Universal-Regenschirm über dem linken Arm hängen und ließ sich von der Elektronik den Weg weisen. Das Gerät führte sie zu einer Gärtnerei und Kakteen-Aufzucht mit zwei größeren Treibhäusern. Ein Schild verkündete, daß der gärtnerische Betrieb einem George Brooks gehörte. Der botanische Betrieb sah allerdings ziemlich vernachlässigt aus. Man konnte kaum durch die Scheiben der Treibhäuser blicken.
»Scheint sich wohl nur um einen kurzen Besuch zu handeln«, sagte Mike Rander. »Offenbar will das Kerlchen noch weiter und kauft hier nur ein paar Blümchen.«
Parker drehte an dem Wanzenempfänger herum.
»... is’ der Boß denn?« hörten sie Bennets Stimme.
»Keine Ahnung. Kann noch ein paar Stunden dauern, bis er kommt.«
»Hab’ ich meine Kanone hier liegen lassen?«
»Weiß ich doch nicht. Paß doch auf das Ding selbst auf.«
»Wo sind Mike und Jonny?«
»Beim Abkassieren. Du und John, ihr seid morgen dran im alten Bezirk. Hat sich was getan mit Parker?«
»Gar nichts, der Kerl hockt in seiner Bude und poliert seine Melone. Vor lauter Angst traut er sich nicht mehr auf die Straße.«
»Der wird umgelegt, bei nächster Gelegenheit. Befehl vom Boß. Aber vorher soll er noch eine Entschädigungssumme für den ganzen Aufwand zahlen. So an die zehntausend Pfund.«
Leises Lachen war nach den Worten zu hören.
Butler Parker gestattete sich ein zurückhaltendes Lächeln, als er Mike Rander einen Blick zu warf. Jetzt hatten sie wahrhaftig die Höhle des Löwen erreicht, das Rattenloch, von dem aus die Ratten ihr Unwesen trieben.
»Darf ich vorschlagen, die sicher interessante Flora näher in Augenschein zu nehmen, Sir?« fragte Parker.
»Aber immer«, sagte der Anwalt lächelnd, »ich mag die stacheligen Gesellen, sie sind interessant.«
Parker öffnete die Glastür und trat ein. Mike Rander folgte ihm.
Es gab einen kleinen Vorraum mit einer weiteren Tür. Die Fenster waren schmutzig und trübe, in der Luft lag stickiger Dunst.
Als Parker die zweite Tür öffnete, drehten sich drei Männer ruckartig um und starrten die Besucher an.
Zwei Männer trugen grüne Gärtnerschürzen und gaben sich den Anschein, als seien sie beschäftigt. Der dritte Mann war Bennet, der sie aus großen, erstaunten Augen anblickte.
Links, rechts und in der Mitte gab es Regale mit Kakteen aller Art. In der rechten hinteren Ecke befand sich ein großes Bassin, in dem sich Fische tummelten.
Der Betrieb schien nicht sonderlich zu florieren, aber das war anscheinend auch nicht beabsichtigt, denn das andere Geschäft lief wesentlich besser und einträglicher. Die Gärtnerei war nur der solide wirkende Hintergrund für die Ratten-Gang.
Da Parker in allen Situationen immer darauf bedacht war, die Formen des Anstandes und der Höflichkeit zu wahren, blieb er auch diesmal bei seiner Methode. Er lüftete die Melone und deutete eine leichte Verbeugung an.
»Man geruht freundlichst, einen angenehmen Tag in dieser exotischen Umgebung zu wünschen«, sagte er.
Den drei Kerlen klappte vor Verblüffung der Unterkiefer herunter. Sie starrten Parker und den Anwalt entgeistert an. Bennet fing sich jedoch rasch wieder. Er war sicher, daß Parker ihn nicht kannte, er war nur durch die Tatsache verunsichert, daß der Mann hier so übergangslos aufkreuzte.
Parker entging nicht, daß er den beiden anderen einen schnellen Blick zuwarf, worauf die ihre Unterkiefer wieder in Normalstellung brachten.
»Was darfs denn sein?« fragte Bennet tückisch.
»Meine Wenigkeit dachte an eine Zusammenstellung von Mesembryanthemaceae, vielleicht in einer Schale.«
»Was für Dinger?« fragte Bennet fassungslos.
Parker wiederholte das geduldig, wobei er wiederum höflich seine Melone zog.
»Ha’m wir hier nicht«, sagte Bennet. »Die Dinger sind gerade ausgegangen.«
»Sehr bedauerlich, doch wenn meine Kenntnisse mich nicht im Stich lassen, dann befinden sich in diesem Beet einige der hochsukkulenten Mittagsblumengewächse.«
Er deutete dezent mit der Hand auf die »lebenden Steine«.
»Ach die«, meinte Bennet erleichtert. Wieder warf er den beiden anderen einen Blick zu. »Ja, die haben wir noch.«
Die beiden scheinbaren Gärtnergehilfen näherten sich Parker unauffällig. Auch Bennet trat ein paar Schritte vor. Er stellte sich breitbeinig vor einen riesigen runden Kaktus, im Fachjargon als »Schwiegermutterstuhl« bezeichnet, der bereits die Größe eines Hockers erreicht hatte und tückischer war als die Oberkörper von zehn ausgewachsenen Igeln. Dann grinste er hinterhältig und stieß einen lauten Pfiff aus. Daraufhin öffnete sich weiter hinten eine Tür, und zwei weitere Männer erschienen in dem Treibhaus.
»Du bist vielleicht ein Witzbold, Parker«, höhnte Bennet. »Wie lange willst du uns eigentlich noch zum Narren halten? Fein, daß ihr hergekommen seid, damit erspart ihr uns eine Menge Arbeit.«
»Ultra posse nemo tenetur«, sagte Parker, »was soviel bedeutet, daß niemand verpflichtet ist, mehr zu leisten, als er kann.«
»Drauf auf die Kerle«, brüllte Bennet plötzlich. Er griff nach einem Rechen und drang auf Parker ein. Die vier anderen griffen ebenfalls nach allem, was sie in die Fäuste bekamen. Dann stürmten sie mit heiserem Gebrüll vor.
Eine riesige Faust kam auf Parker zugeflogen. Der Butler griff nach einem exzellent aussehenden Kaktus in einer Pflanzschale und hielt ihn schützend vor’s Gesicht.
Die Faust des Kerls knallte mit aller Wucht in den Kaktus. Ein uriger Aufschrei ließ fast die Scheiben splittern, so markerschütternd klang er durch das Treibhaus.
»Euphorbia horrida«, sagte Parker bedauernd, »leicht zu verwechseln mit der artverwandten Sorte Copiapoa aus dem nördlichen Chile. Bedauerlicherweise haben Sie ihn seiner Stacheln beraubt, Mister.«
Der Mister hüpfte kreischend und brüllend durch das Treibhaus und hielt beide Fäuste wie ein Champion hoch. Aus seinen Augen liefen Tränen, und er konnte sich nicht mehr beruhigen. Seine rechte Faust ähnelte einem neugeborenen Stachelschweinchen.
Die zweite Faust hieb nach Parker, traf aber seltsamerweise das Medusenhaupt, in das der Mann mit aller Kraft hineinschlug. Parker hatte die Schale rechtzeitig hochgehalten.
»Euphorbia caput medusae«, belehrte er den Schläger höflich, »was das caput betrifft, so ist es in des Wortes doppelter Bedeutung anwendungsfähig.«
Aber die gekonnten Erläuterungen hörte der Mann schon nicht mehr. Das Medusenhaupt, in das er leichtsinnigerweise seine Faust gesteckt hatte, war ein ebenso tückischer Kaktus, dessen viele und kleine Stacheln jetzt seine Hand zierten. Auch er hielt es für angebracht, an dem weiteren Kampfgeschehen nur noch passiv teilzunehmen, indem er sich in scheinbaren Luftsprüngen übte.
Mamillaria bombycina, mit kräftigen roten Hakenstacheln und weißer Axillenwolke ausgerüstet, erwies sich ebenfalls als sehr anhänglich, aber auch sehr tückisch, als der nächste Kerl hineinrannte.
Er schlug eine Dublette, was sowohl für den Kaktus wie auch für ihn das Aus bedeutete.
»Meine Wenigkeit bedauert den floristischen Untergang einiger Kakteen außerordentlich lebhaft«, sagte Parker gemessen. Interessiert sah er dem Mann nach, der wimmernd durch das Treibhaus raste, in seinem Schmerz die zweite Tür übersah und wie ein Wilder hindurchrannte. Die Scheiben der Tür folgten ihm nach draußen. Der Mann verschwand in einer kleinen Hecke aus Christusdorn, wobei die Landung nicht gerade zu seiner Erheiterung beitrug.
Parker hatte selten jemand so laut schreien hören. Der Gangster zappelte in der Hecke und verfing sich immer mehr in den höllischen Dornen.
Innerhalb weniger Sekunden hatte sich das Treibhaus in ein Tollhaus verwandelt, in dem kreischende Kerle tobten, die lautstark ihren Schmerz in die Welt schrien.
Den vierten Angreifer fintierte Mike Rander aus und schickte ihn mit gezieltem Haken in Richtung einer Wassertonne, in die er brüllend fiel. Ein nachgeworfener Kaktus, diesmal Notocactus ottonis, zierte gleich darauf seinen Schädel, was dem Mann großes Unbehagen zu bereiten schien. Er riß empört das Gewächs vom Kopf und zermatschte es in seinem Schmerz mit der rechten Hand. Das wiederum löste homerisches Gebrüll aus.
Bennet war bisher noch nicht zum Zug gekommen, weil sich alle darum rissen, Butler Parker zu verprügeln. Jetzt hieb er kraftvoll mit dem Rechen zu.
Dieses Gartengerät pfiff schon durch die Luft, und fast hätte es Parker getroffen, doch der Butler entsann sich rechtzeitig seines Universal-Regenschirmes, den er auch umgehend einsetzte.
Ein kurzer Ruck hebelte Bennet das rechte Bein weg. Er geriet aus dem Gleichgewicht, fuchtelte mit den Armen und ließ den Rechen fallen.
Als er einbeinig herumhüpfte, drückte Parker ihm die Spitze des Schirmes dezent auf die Brust.
Bennet war gezwungen, Übergangslos Platz zu nehmen. Er tat das auf eine völlig unkonventionelle Art. Parker hätte in diesem kritischen Augenblick keineswegs mit ihm getauscht.
Bennet setzte sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf den hinter ihm stehenden Stachelhocker, den sogenannten Schwiegermutterstuhl.
Der ganze Leidensweg eines Menschen wurde sichtbar. Hatte sich sein Gesicht eben noch grimmig verzogen, so veränderte es sich von einem Augenblick zum anderen auf erstaunliche Weise. Kein Schauspieler hätte diese Mimik jemals so echt zum Ausdruck bringen können.
Zuerst lief sein Gesicht knallrot an, wobei sich die Lippen bis zu den Ohren verzogen und die Augen groß wie Marmorkugeln wurden. Dann wechselte der Ausdruck. Bennet wurde blaß, seine Nase noch spitzer als vorher, und aus den Augen schossen ihm sturzbachartig die Tränen. Danach sah er aus wie altes, runzeliges Leder und kriegte immer mehr Falten im Gesicht.
»Monsieur Plissee, der Vielfältige«, kommentierte Mike Rander, der sich das Grinsen nicht mehr verkneifen konnte.
»In der Tat, Sir«, pflichtete Parker höflich bei. »Beachtenswert ist die fortlaufende Veränderung der Physiognomie des Betroffenen. Sie ist einem ständigen Wechsel unterworfen. Der Nebeneffekt dürfte als präkomativer Zustand anzusehen sein.«
Eine sekundenlange Bewußtseinstrübung setzte tatsächlich bei Bennet ein. Sie legte sich jedoch gleich wieder, denn jetzt erst drang der Schmerz durch. Ein markerschütternder Schrei entfuhr seiner Kehle, wobei sich sein Kopf so tief in den Oberkörper schob, als hätte er keinen Hals mehr. Dann wollte er aufspringen, doch der Butler legte dem Killer beruhigend beide Hände auf den Kopf.
»Sie sollten nichts überstürzen, mein Allerwertester«, sagte er, »bevor Sie Ihre Sondersitzung beenden, finden wir sicher noch die Zeit für einen erbaulichen Dialog.«
Aber von Dialogen unter verschärften Bedingungen wollte der Gangster nichts mehr wissen. Der Schwiegermutterstuhl hatte ihn restlos geschafft. Verzweifelt versuchte er wieder hochzukommen, aber da waren die segnenden Hände, die immer noch seinen Scheitel drückten und ihm gleichzeitig die Stacheln ins Fleisch trieben.
Er brüllte wie am Spieß, brachte aber keinen vernünftigen Ton heraus. Parker wunderte das keineswegs, denn die Stacheln drückten sich immer tiefer in die Sitzfläche des Mannes.
»Man geruht, Mister Bennet ein wenig Linderung zu verschaffen«, sagte Parker. »Möglicherweise läßt sich der Dialog in jenem Wasserfaß besser fortsetzen.«
Er nahm die Hände vom Kopf des Gangsters und bedeutete ihm, aufzustehen. Bennet, zitternd und an Leib und Seele gebrochen, gehorchte wie ein braver Hund. Sein Gesicht sah immer noch faltig und total zerknittert aus.
Von den anderen Gangstern war nur noch einer zu sehen, der seinen einsamen und verzweifelten Kampf mit der tückischen Hecke ausfocht. Die anderen hatten voller Entsetzen das Weite gesucht.
Mit der Spitze des Universal-Regenschirmes dirigierte Parker den schlotternden Gangster zu dem Wasserbottich hinüber. Ein kleiner Stoß genügte, um Bennet erneut zum Sitzen zu zwingen. Diesmal klatschte es laut, als er mit der Sitzfläche hineinfiel.
Die Physiognomie des Gangsters war wiederum beachtenswert. Erleichterung stand in seinen Zügen. Das Wasser tat ihm gut. Es kühlte seinen brennenden Schmerz.
»Darf man sich erkundigen, wer der eigentliche Boß ist?« fragte der Butler höflich.
Bennet hockte in der Wassertonne und schwieg verstockt. Finster sah er auf die beiden Männer.
»Dann werden wir mal einen Sitzplatzwechsel vornehmen«, meinte Mike Rander. »Auf dem Kaktus war er nicht so verstockt.«
»Nein, um Himmels willen«, schrie Bennet, »ich will nicht.«
»Dann sollten Sie nicht mit der Beantwortung meiner Frage zögern«, erwiderte Parker.
Als Bennet immer noch schwieg, tauchte Parker die Spitze des Universal-Regenschirmes leicht ins Wasser. Der Erfolg war verblüffend, selbst für Mike Rander, der erstaunt zusah.
Bennet hüpfte wie ein Ochsenfrosch in die Höhe und stieß einen jaulenden Ton aus. Dann klatschte er in den Bottich zurück und wurde wachsbleich.
»Was hat das eben bewirkt, Parker?« fragte Rander gespannt.
»Meine Wenigkeit gestattete sich, die Verstocktheit des Mannes mit Hilfe eines kleinen, unbedeutenden Elektroschocks aufzulockern, Sir. Es handelt sich dabei nur um eine Neun-Volt-Batterie, deren Strom keinerlei Schaden anrichtet.«
»Der Erfolg ist trotzdem beachtlich.«
»Sehr richtig, Sir. Es ist sozusagen unangenehm, diesem Schock ausgesetzt zu werden, zumal sich die Wirkung im Wasser leicht verstärkt.«
Bennet hatte sich von dem schwachen Stromstoß schnell erholt, aber er blieb immer noch trotzig.
Erst als Parker mit der Spitze noch mal das Wasser im Bottich umrührte, löste sich die Verstocktheit nach einem urigen Schrei, der in der höchsten Tonlage abrupt abbrach.
»Brooks ist der Boß, George Brooks«, kreischte Bennet.
»Und wo hält sich dieser George Brooks jetzt auf?«
»Er kommt erst morgen wieder, aber dann wird er es euch besorgen.«
»Dann blieben noch zwei, drei weitere Fragen offen«, sagte Parker zufrieden. »Haben Sie Mister Peacock erschossen?«
»Wer... wer ist Peacock?« fragte Bennet. Parker sah ihm an der Nasenspitze an, daß er genau wußte, wer Peacock war. Das erneute Eintauchen des Schirmes frischte das Gedächtnis des Gangsters auch sofort auf und ließ ihn redselig werden.
»Ich ... äh ... das war reine Notwehr«, versuchte er sich herauszureden.
»In der Beziehung werden Sie sich mit dem Gericht auseinandersetzen müssen«, sagte Parker kühl. »Vielleicht hätten Sie jetzt noch die Güte, auch die anderen Namen jener aufzuzählen, die der sogenannten Ratten-Gang angehören.«
Parker brauchte keinen weiteren Strom zu vergeuden. Er hob nur die Spitze leicht an, und schon sträubten sich Bennet die Haare.
»Da ist John, dann Mike, Jonny und Bill.«
»Die kompletten Namen, wenn ich bitten darf. Mit Vornamen ist mir leider nicht gedient.«
»John Godfrey, Mike Taylor, Jonny Hatch und Bill Baker.«
Bennets Augen flackerten wie die einer Ratte, die sich unverhofft in der Falle fand.
»Kann ich jetzt gehen?« fragte er verängstigt, »ich habe alles gesagt, was ich weiß.«
Mike Rander betrachtete ihn spöttisch. Er schüttelte verneinend den Kopf.
»Die Kernfrage bliebe noch zu klären«, bemerkte Parker. »Es geht um die entführte Lady Simpson und Mister McWarden. Ich setze voraus, daß Sie auch darüber Bescheid wissen und gern bereit sind, den Aufenthaltsort der Herrschaften mitzuteilen.«
In Bennets Augen erschien ein boshaftes Licht. Er grinste sogar etwas, obwohl wieder die Schirmspitze auf ihn zielte.
Hinter der Hecke, in der immer noch der eine Gangster zappelte, richtete sich jemand auf. Er hielt einen Revolver in der Faust und grinste kalt, während er langsam näher kam.
»Sieh an, der liebe Parker hat sich herbemüht, und sogar noch in Begleitung. Was ist denn hier passiert?« wandte er sich fragend an den Tonnensitzer.
»Die Kerle haben hier wild um sich geschossen«, behauptete Bennet, »und alles in Trümmer gelegt. Jetzt wollten sie mich ausquetschen.«
»Darf man sich nach dem Grund Ihres Besuches erkundigen?« fragte Parker höflich.
Godfrey blieb fast die Spucke weg.
»Der spinnt doch wahrhaftig«, sagte er fassungslos. »Fragt mich nach dem Grund meines Besuches. Daß ich nicht lache! Wer bist du?« wollte er wissen, wobei er mit dem Revolver auf Mike Rander zielte.
»Gestatten Sie, daß ich Ihnen den Herrn vorstelle?« fragte Parker. Er lüftete dezent die schwarze Melone, was den Gangster offenbar amüsierte. Schließlich hatte der Butler ja auch keine Waffe in der Hand.
»Ich gestatte«, sagte er.
Es waren für eine Weile seine letzten Worte. Die schwarze Melone sauste urplötzlich durch die Luft, aus dem Handgelenk geschleudert, und fand auch sofort ihr Ziel.
Das Ding, mit einer soliden Stahleinlage versehen, traf Godfrey mit unglaublicher Vehemenz an der Stirn. Die Auftreffwucht war so hart, daß er zwei Yards nach hinten getrieben wurde und sich dabei einmal um die eigene Achse drehte. Dabei löste sich aus seiner Waffe ein Schuß.
Der Erfolg war wiederum verblüffend. Der verzweifelt in der Dornenhecke kämpfende Mann kam schlagartig frei und jaulte in den allerhöchsten Tönen. Er preßte beide Hände auf sein Hinterteil und hüpfte herum. Die verirrte Kugel hatte seinen Hosenboden gestreift und eine feurige Schramme hinterlassen. Was dann folgte, ließ auch Butler Parker nicht kalt.
Der angesengte Gangster vollführte einen wilden Tanz quer durch das Treibhaus, bis er mit dem torkelnden Godfrey zusammenstieß. Seinen Revolver hatte er irgendwo zwischen den bunten Beeten längst verloren.
Jetzt umklammerten sich die beiden verzweifelt in einem Clinch, der sie weiter durch das Treibhaus führte. Es sah nach einer feierlichen Verbrüderung aus, war aber alles andere als das. Godfrey versuchte, sich von dem Heckenmann zu lösen, doch der umklammerte mit einer Hand den Gangster und preßte die andere auf den Hosenboden. Dann stolperte der Angesengte und riß Godfrey mit um. Beide landeten in einem langen Beet mit Kakteen.
Bei dieser Sorte handelte es sich um Opuntia rhodanta mit dunkelgrünen und sehr dicht bestachelten Gliedern. Die Stacheln hatten Widerhaken und waren sehr klein und einfühlsam. Als die beiden Gangster vereint im Kakteenbeet lagen, bohrten sich hunderte winziger Stacheln in ihre Körper.
Josuah Parker und Mike Rander lauschten, andächtig den Tönen, die zwischen den Opuntien erklangen. Untertrieben konnte man sie als unfein bezeichnen.
Sie wälzten sich hin und her in dem Bemühen, die stachlige Unterlage so schnell wie möglich zu verlassen, mußten dabei allerdings in Kauf nehmen, daß die Stacheln immer anhänglicher wurden.
Unterdessen hockte Bennet recht unglücklich in der Wassertonne und machte ein betrübtes Gesicht.
»Vermutlich ist Ihnen entgangen, daß Sie die vorhin gestellte Frage noch nicht beantwortet haben«, nahm Parker den Faden wieder auf. »Man darf auf diese Frage also zurückkommen.«
»Ich... äh, das weiß ich nicht. Ich habe damit überhaupt nichts zu tun.«
»Wir könnten ihn ein wenig tunken«, überlegte Mike Rander laut. »Elektrische Unterwassermassage würde vermutlich ein kleines Wunder bewirken.«
»Meine Wenigkeit ist ganz Ihrer Ansicht, Sir. Dabei wirft sich die Frage auf, wie lange Mister Bennet es wohl aushalten wird.«
»Bestimmt nicht lange, Parker. Wir können es ja mal darauf ankommen lassen.«
»Ihr könnt mich doch nicht ersäufen«, kreischte Bennet, der das alles für bare Münze nahm. »Nein, ich will nicht sterben.«
Er versuchte verzweifelt, den Bottich zu verlassen, doch ein sanfter Stoß beförderte ihn wieder zurück.
Als Mike Rander so tat, als würde er sich die Ärmel hochkrempeln, war der Gangster mit seinen Nerven am Ende.
»Ich sage ja alles«, flüsterte er, »aber laßt mich aus der Tonne raus, ich kann nicht mehr sitzen.«
»Vermutlich werden Sie noch sehr lange sitzen müssen«, meinte der Butler, »jedoch ist das nicht unbedingt auf die Tonne bezogen. Wo also befinden sich die Herrschaften?«
»Bei den alten Docks. Dort ist ein verkommener Schiffsfriedhof, eine Abwrackstation. Sie werden das Schiff gleich finden, es ist das erste, das an einer langen Pier liegt.«
Er stand noch etwas wackelig auf den Beinen und zog ein schmerzverzerrtes Gesicht.
»Kann ich jetzt endlich gehen? Ich muß mir die Stacheln rausziehen.«
»Sie werden selbstverständlich gefahren«, sagte Parker, »damit auch nicht der geringste Zweifel an Ihren Angaben besteht. Danach werden wir Sie in Sicherheit bringen.«
»Wirklich?« freute sich der Gangster, ohne über die Worte lange nachzudenken. »Dann nichts wie los. Meine Angaben stimmen ganz genau.«
Inzwischen war es den beiden anderen endlich gelungen, ihre stachelige Unterlage zu verlassen. Einer half dem anderen dabei.
Josuah Parker holte inzwischen seine Melone, fand auch den Revolver des Gangsters und entlud ihn. Die Waffe schleuderte er aus dem Handgelenk nach draußen. Dabei folgte ein Teil der gläsernen Wand, und es klirrte laut.
Als er an den beiden wimmernden Gangstern vorbeikam, berührte die Spitze des Schirmes wie zufällig den einen. Der machte daraufhin vor Schreck einen wilden Satz, riß seinen Kumpan mit und landete mit ihm zusammen erneut auf der stacheligen Unterlage, um Fakir zu spielen.
Bennet ging vor ihnen her wie ein geprügelter Hund, während Parker höflich die Melone lüftete und eine Entschuldigung murmelte.
*
»Dort vorn ist es«, sagte der Gangster, als sie den Schiffsfriedhof erreichten.
»Woran tatsächlich nicht der geringste Zweifel besteht«, stimmte Parker zu. »Mylady geruht bereits, sich bemerkbar zu machen.«
Auf dem rostigen Schiff erklangen Geräusche, als würde eine ganze Kolonne ihre Arbeitswut austoben.
»Das ist ganz sicher der Pompadour«, sagte Mike Rander. »Das hört sich fast nach einem pausenlos in Bewegung befindlichen Hammerwerk an.«
Bennet mußte wieder vorangehen und den Weg weisen, denn die hallenden Geräusche wirkten auf dem Schiff so irritierend, daß sie aus allen möglichen Richtungen kommen konnten.
Als ihre Schritte über das Eisendeck erklangen, hörte das wilde Hämmern plötzlich auf, und alles wurde totenstill.
»Hier, diese Tür«, sagte Bennet heiser.
Josuah Parker nickte dem Gangster auffordernd zu und trat vorsichtshalber einen Schritt zur Seite, weil er seine Herrin kannte. Auch Mike Rander trat zurück, als Bennet den Reiber herumlegte und das Schott ruckartig öffnete.
Er starrte furchtsam in den Raum, aber seine Reaktion erfolgte viel zu spät.
In der Annahme, daß die Gangster zurückgekommen waren, hatte Agatha Simpson bereits mit dem leicht malträtierten Pompadour ausgeholt.
Er pfiff wirklich sehr kraftvoll durch die Luft, zudem steckte Myladys heilloser Zorn noch dahinter. Das überstrapazierte Hufeisen war von dem wilden Hämmern noch fast heiß, und so traf es den unvorbereiteten Gangster machtvoll an der Stirn.
Parker und Mike Rander traten höflich nochmal einen Schritt zurück, um dem Gangster die Einflugschneise freizumachen. Bennet gab einen Ton von sich, der wie die Geräuschentwicklung einer anlaufenden Turbine klang. Er überschlug sich fast in der Luft, wurde zurückgetrieben und landete mit dumpfem Knall an der Reling. Eine große Rostblase war der Strapaze nicht gewachsen und fiel ihm sanft auf den Schädel.
Agatha Simpson sah ein wenig lädiert aus. Ihre Augen funkelten, und in totaler Verkennung der Sachlage schwang sie erneut den unheimlichen Glücksbringer. Sie war immer noch der Ansicht, daß sie die Gangster vor sich hatte.
McWarden fiel ihr rechtzeitig in den Arm.
Parker lüftete höflich seine schwarze Melone und verneigte sich.
»Es ist meiner Wenigkeit eine große Ehre, Mylady aus einer peinlichen Situation zu helfen.«
Die befreite Detektivin warf den beiden einen Blick zu. Ihr Lächeln war nur spärlich angedeutet.
»Es wurde aber auch langsam Zeit«, sagte sie ungehalten. »Sie hätten es zu dieser peinlichen Situation gar nicht erst kommen lassen dürfen, Mister Parker.«
»Mylady sehen mich zutiefst zerknirscht. Man bittet um Vergebung.«
»Schön war das ja nicht gerade«, sagte sie, wobei sie stirnrunzelnd auf den gefällten Gangster blickte, der immer noch mit glasigen Augen an der Reling hockte. »Wer ist dieses merkwürdige Subjekt überhaupt?«
»Ein Mann namens Bennet, Mylady. Wie inzwischen eindeutig feststeht, ist er Peacocks Mörder. Er hat es selbst gestanden.«
»Etwa von der Rattenbande?«
»So ist es, Mylady. Er gehört jener mysteriösen Bande an, die bisher unsichtbar geblieben ist.«
»Wie finde ich denn das? Sie werkeln hier einfach allein in der Gegend herum und benachrichtigen mich nicht mal, Mister Parker. Was muß ich davon halten?«
»Darf ich auch mal was sagen?« fragte McWarden. »Sie lassen ja überhaupt niemand zu Wort kommen, Mylady. Zuerst möchte ich mich bei Ihnen beiden bedanken, daß Sie uns so schnell gefunden haben. Sie sollten auch daran mal denken, Lady Agatha.«
»Papperlapapp«, entgegnete sie wegwerfend, »das war doch wohl vorauszusehen, daß Mister Parker und Mister Rander uns umgehend finden. Das war mir schon klar, als man uns auf dieses Schiff brachte. Was geschieht denn jetzt mit diesem Subjekt da? Jetzt habe ich endlich einen Mörder von der Rattenbande gefangen, aber wo lasse ich ihn nur?«
»Wir haben versprochen, ihn in Sicherheit zu bringen«, sagte Mike Rander lächelnd.
Bennet gab dazu einen ziemlich unklaren Kommentar ab. Er war durch den Glücksbringer-Volltreffer noch etwas dösig im Kopf.
»Genau – in Sicherheit, damit mir nichts passiert.«
»Wir haben da im Yard genügend Möglichkeiten«, informierte McWarden. Er sah den Butler gespannt an und war sichtlich erfreut darüber, jetzt erstmal handfeste Ergebnisse zu kriegen.
»Mylady werden den Gangster natürlich Mister McWarden überlassen«, sagte Parker.
»Natürlich. Wem denn sonst? Genau das hatte ich vor. Leider darf man sich solche Exemplare ja nicht ausstopfen lassen und sie unter Glas stellen. Das gäbe sicher eine nette Sammlung, nicht wahr?«
»Mylady würden mit dieser Sammlung ganze Galerien füllen«, versicherte Parker.
»Gehen wir«, entschied die resolute Detektivin. »Nehmen Sie diesen Lümmel zum Yard mit. Wir fahren erst mal nach Hause. Ich bin ein wenig echauffiert und muß mich zurechtmachen. Außerdem habe ich meine strenge Diät wegen dieser Subjekte nicht einhalten können. Wenn ich das alles hinter mir habe, werde ich mir den Boß der Bande kaufen. Hat der Lümmel schon gesungen, Mister Parker?«
»Mister Rander und meiner Wenigkeit sind die Mitglieder der Bande bereits namentlich bekannt, Mylady. Ihr Boß heißt George Brooks.«
»Brooks? Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Betreibt der Kerl nicht eine Buchhandlung?«
»Brooks betreibt zur Zeit eine Gärtnerei, Mylady, war aber leider unauffindbar.«
»Richtig, eine Gärtnerei«, sagte Agatha Simpson. »Das ist auch weitaus weniger auffallend als ein Buchhandel. Dieser Cooks wird mich noch kennenlernen, aber das besprechen wir alles nachher. Sie sind übrigens zu einer Tasse Tee eingeladen, McWarden. Schließlich soll der Yard ja auch wissen, wie er dran ist.«
»Zu gütig, Mylady«, erwiderte McWarden trocken. »Ihre großzügige Art beschämt mich immer wieder neu. Daß Sie den Yard an Ihren Gangsterjagden teilhaben lassen, bringt Ihnen sicher eine Staatsrente ein.«
»Ich werde Sie beim Wort nehmen. Geld kann man immer brauchen. Bei meinen bescheidenen Ersparnissen ist es stets willkommen.«
»Ich will in Sicherheit«, nuschelte Bennet, der immer noch keinen klaren Durchblick hatte.
Mike Rander und McWarden packten Bennet unter den Armen und verfrachteten ihn in den Wagen, während Butler Parker Lady Agatha den Arm bot, um sie sicher vom Schiff zu geleiten.
»Sie müssen mir unbedingt sofort einen kleinen Imbiß zubereiten, Mister Parker, sobald wir zu Hause sind. Ich fühle mich schrecklich, weil ich meine Diät nicht einhalten konnte.«
»Meine Wenigkeit bedauert das außerordentlich, Mylady dürfen versichert sein, daß es bei dem Imbiß an nichts mangeln wird. An was haben Mylady vorzugsweise gedacht?«
»Nun ja, es soll nicht viel sein. Nicht so wenig kalter Bratenaufschnitt, dafür lieber etwas mehr Pastete. Sie wissen schon, Mister Parker: ein einfaches frugales Mahl.«
»Mylady werden zufrieden sein.«
Etwas später wurde Bennet in »Sicherheit« gebracht, worüber er sehr erfreut zu sein schien. Der Glücksbringer hatte in seinem Schädel für heillose Unordnung gesorgt, und so fiel er dem ersten Beamten freudestrahlend um den Hals, als der ihm Handschellen anlegte.
*
Das frugale Mahl bestand aus zwei zarten Gänsebrüstchen, leicht getrüffelt, Rübchen in Weinkraut und Holundersoße. Als Vorausdiät begnügte sich Lady Agatha mit sechs Scheiben geeister Melone und Wildcremesuppe. Dafür fiel der Nachtisch dann umso bescheidener aus. Er bestand aus einer zwölfsortigen Käseplatte, Weintrauben, einer Honigmelone sowie diversen weiteren Früchten. Ganz zum Schluß servierte Parker eine Eisbombe als Überraschung.
Als er sie anschneiden wollte, wehrte die ältere Dame ab.
»Schneiden Sie sie nicht in acht Stücke, Mister Parker, sondern in vier. Sie wissen ja, daß ich Diät halten muß.«
»Wie Mylady wünschen«, erwiderte Parker mit unbewegtem Gesicht.
Als die Käseplatte leer war, Obst und Eis restlos verschwunden, lehnte Agatha Simpson sich behaglich zurück.
»Zur Zerstreuung werde ich noch mit ein paar Keksen, Pralinen und kandierten Früchten vorlieb nehmen, Mister Parker. Dann habe ich meinen Diätplan so ungefähr erfüllt.«
Parker ging ans Telefon, nachdem es geklingelt hatte, und hob ab. McWarden war am Apparat.
»Entschuldigen Sie mich bitte bei Lady Simpson«, sagte er. »Ich kann bedauerlicherweise nicht kommen. Ich werde hier dringend im Yard gebraucht. Und noch mal meinen besten Dank, Mister Parker. Ohne Ihre geschätzte Hilfe hätten wir nicht einen von der Ratten-Gang gefaßt. Mister Ellis hat mir alles berichtet.«
»Darf man sich erkundigen, was aus den restlichen Bandenmitgliedern wird?« fragte Parker.
»Wir werden sie in den nächsten Tagen festnehmen, Sie kennen ja die Namen der Mitglieder des Vereins. Augenblicklich konzentriert sich bei uns alles auf die Jagd nach einem Frauenmörder. Später, sobald ich Zeit habe, können Sie mir mal ausführlich schildern, wie Sie an den Revolver gekommen sind.«
»Es wird mir eine Ehre sein, Sir.«
»Okay, dann richten Sie Mylady meinen Gruß und mein gleichzeitiges Bedauern aus.«
»Meine Wenigkeit wird das sofort übermitteln, Sir.«
Parker brachte die kandierten Früchte, Pralinen und Kekse.
»Mister McWarden bedauert lebhaft, nicht erscheinen zu können, Mylady. Er läßt Mylady sehr herzlich grüßen.«
»Danke. Eigentlich ist das gut, wenn er nicht kommt. Dann spare ich mindestens drei oder vier Tassen Tee, von dem Gebäck und anderen diversen Sachen ganz zu schweigen.«
Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als das Telefon erneut klingelte. Lady Agatha sah unwillig hoch.
»Man ist noch nicht recht zu Hause, und schon wird man wieder belästigt«, empörte sie sich. »Oder sollte es Mike Rander sein?«
Es war aber nicht Mike Rander, sondern eine unbekannte Stimme, die Parker noch nie gehört hatte. Er schaltete den Knopf für den Lautsprecher ein, damit seine Herrin mithören konnte.
»Sie scheinen ein ganz besonders ausgekochtes Früchtchen zu sein, Parker«, sagte die Stimme. »Mir ist bereits zu Ohren gekommen, was Sie sich geleistet haben. Sie haben bei mir nicht nur alles demoliert, sondern auch noch einen meiner Männer zur Polizei gebracht, ganz zu schweigen von den anderen, die Sie erheblich verletzt haben. Nun, ich bin ein Geduldsmensch, Parker. Es erstaunt mich, daß Sie es sogar fertiggebracht haben, die Lady und den Sir zu befreien.«
»Man tut, was man kann«, sagte Parker. »Gehe ich fehl in der Annahme, daß ich mit Mister George Brooks spreche?«
»Sie gehen nicht fehl, mein Lieber. Mir kann allerdings niemand auch nur das Geringste nachweisen, dafür habe ich gesorgt.«
»Darf man sich nach dem Grund Ihres Anrufes erkundigen, Mister Brooks?« fragte Parker. Agatha Simpson war ganz gespannte Aufmerksamkeit und hörte zu.
»Ich wollte mich keinesfalls nach dem Wohlergehen der Lady erkundigen«, setzte Brooks das Gespräch fort. »Es geht um zehntausend Pfund, mein Lieber, die die Lady oder Sie mir schulden.«
»Man erinnert sich nicht, bei Ihnen einen Kredit aufgenommen zu haben«, erwiderte Parker.
»Stimmt, es ist eine Schuld, eine Bringschuld. Sie haben mir eine Menge Schaden zugefügt, und dafür werden Sie zahlen.«
»Wäre es nicht klüger, diese Summe gerichtlich eintreiben zu lassen, Mister?«
Am anderen Ende war leises Lachen zu hören. Brooks schien sich köstlich zu amüsieren.
»Sie halten mich wohl für einen ausgemachten Dummkopf, was? Sehen Sie, Parker, noch ist der Lady nichts Ernsthaftes passiert, aber das wird sich schnell ändern, wenn Sie die Summe nicht bezahlen. Ich habe noch ein paar gute Männer in Reserve, und die werden dafür sorgen, daß der Lady das Licht ausgeblasen wird. Dann sind Sie brotlos, mein Lieber. Sie werden die Summe heute abend persönlich vorbeibringen. Sie wissen ja, wo ich zu finden bin. Und noch etwas, Parker: Kommen Sie mir nicht mit so einfallslosen Dingen wie der Polizei. Ich hoffe, wir haben uns verstanden. Bis heute abend! Zehntausend Pfund in bar!«
Bevor Parker etwas erwidern konnte, wurde der Hörer aufgelegt.
Lady Agatha stieß heftig die Luft aus.
»Wie finde ich denn das? Wer ist dieser Rüpel eigentlich? Sollte das der Boß dieser Bande sein, von dem Sie erzählt haben?«
»In der Tat, Mylady.«
»Zehntausend Pfund«, ächzte sie empört. »Eine unvorstellbare Summe. Dieses Subjekt scheint verrückt geworden zu sein. Aber den werde ich mir kaufen, und dann werde ich ihm eine Schadensersatzforderung präsentieren, die sich gewaschen hat. Berichten Sie mir jetzt mal, was inzwischen passiert ist, Mister Parker. Das meiste weiß ich ja schon, aber es fehlen noch ein paar Kleinigkeiten.«
Der Butler berichtete haarklein, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte, aber Agatha Simpson behauptete anschließend, damit erzähle er ihr nichts Neues, das hätte sie alles schon gewußt.
»Können Sie sich denken, wie ich jetzt Vorgehen werde, Mister Parker?« fragte sie abschließend.
»Mylady werden zweifellos diesen Mister Brooks aufsuchen«, sagte Parker, der das Temperament seiner Herrin genau kannte. Eine andere Lösung hätte es für Lady Agatha auch nie gegeben.
»Genau das werde ich tun«, erwiderte sie entschlossen. »Glauben Sie, daß er sich in seinem Treibhaus aufhält?«
»Dem Gewächshaus schließt sich eine Art Büro an, Mylady. Es ist anzunehmen, daß Brooks dort residiert.«
»Dann wird er nicht mehr lange residieren, oder sind Sie da anderer Meinung, Mister Parker?«
»Meine Wenigkeit ist davon überzeugt, daß Brooks nach dem Besuch durch Mylady nur noch resignieren wird.«
Agatha Simpson geriet jetzt in Kampfeswut. Sie konnte sich nicht darüber beruhigen, daß ein Gangster sie eiskalt um die Summe von zehntausend Pfund erpressen wollte.
»Dieser Laffe wird sich wundern«, meinte sie grollend. »Entführt mich, sperrt mich auf dem Schiff ein, hindert mich an der Einhaltung meiner Diät und ramponiert mir auch noch die Kleidung auf dem schmuddeligen Kasten. Und dafür verlangt er auch noch Geld.«
»Mylady werden ihm schon den erforderlichen Respekt beibringen.«
»Darauf können Sie sich verlassen.«
»Wann wünschen Mylady zu diesem Brooks gefahren zu werden?«
»In zehn Minuten.«
*
Als sie in dem hochbeinigen Monstrum saßen, bemerkte der Butler, daß ihnen ein dunkelblauer Wagen folgte. Er machte Lady Agatha darauf aufmerksam.
»Den habe ich schon gesehen«, behauptete sie. »Sorgen Sie dafür, daß er die Verfolgung aufgibt, Mister Parker.«
»Sehr wohl, Mylady.«
Der Butler bog in eine unbelebte Nebenstraße ein. Der blaue Wagen folgte ihnen prompt. Der Fahrer war ein hagerer Mann mit düsteren Gesichtszügen und einem Oberlippenbart.
Josuah Parker erhöhte das Tempo ein wenig und legte gleichzeitig einen kleinen Hebel am Armaturenbrett um. Eine Handvoll solider Teufelskrallen verteilte sich auf der Straße. Die Stahlstifte waren so angeordnet, daß mindestens einer immer nach oben zeigte, egal wie sie fielen.
Der erwünschte Effekt ließ nicht lange auf sich warten. Der blaue Wagen schlingerte plötzlich, scherte zur Seite aus, neigte sich wie ein Schiff bei Seegang und rutschte an einen Baum. Mit eingebeulter Frontseite kam er zum Stehen.
Der Bartträger stieg fluchend und schimpfend aus. Parker hielt ebenfalls und setzte den Wagen vorsichtig zurück.
Der Mann blickte ihnen finster und wütend entgegen. Durch den abrupten Halt war er mit der Windschutzscheibe in Berührung gekommen und betastete sein Riechorgan, das sich ein wenig verschoben hatte.
Parker lüftete höflich die schwarze Melone.
»Darf man Ihnen behilflich sein, Sir?« fragte er zuvorkommend. »Sie hatten offenbar einen Unfall.«
»Das waren Sie«, brüllte der Mann. »Sie waren daran schuld. Sie haben was auf die Straße geworfen, Sie elender Kerl. Aber das werden Sie mir büßen, Sie und die alte Tante da.«
»Natürlich werden wir für den entstandenen Schaden aufkommen«, versicherte der Butler, zog einen Kugelschreiber aus der Westentasche und reichte ihn dem Mann.
»Bitte, notieren Sie meine Wagennummer, damit alles seine Richtigkeit hat.«
Der Bartträger griff nach dem Kugelschreiber, doch als er ihn in der Hand hielt, sprang er mit einem Riesensatz in die Höhe, zitterte am ganzen Körper und stieß einen Schrei aus. Als wäre der Kugelschreiber aus glühendem Metall, ließ er ihn augenblicklich fallen.
»Was, zum Teufel, ist das denn?« fragte er, immer noch zitternd.
»Ein batteriebetriebener Scherzartikel«, antwortete Parker. »Ähnlich wie dieser hier, nur nicht so wirkungsvoll.«
Josuah Parker hielt schon einen zweiten Kugelschreiber in der Hand, den der Bartträger verständnislos anstarrte. Aus dem Ding kam ein leises Zischen, das den Mann irritierte und sein Gesicht nervös zucken ließ. Automatisch rieb er sich mit der Hand darüber, aber damit verteilte er den feinen Film nur noch mehr.
»Ein unschädliches Gas«, erläuterte Parker. »Es hat die beruhigende Wirkung eines Schlummertrunks.«
Der Bartträger hörte das jedoch nicht mehr, grinste dümmlich und kippte langsam zur Seite.
Parker fing ihn auf und setzte ihn in den Wagen zurück. Dann sammelte er die »Krähenfüße« ein, damit kein Unschuldiger zu Schaden kam.
Anschließend durchsuchte er geschickt die Taschen des Mannes und wurde fündig. Der Mann trug eine Schulterhalfter mit einer großen Kanone, die Parker dezent verschwinden ließ. In der äußeren Jackentasche fand sich eine kleine Beretta, die Parker ebenfalls wegzauberte und einsteckte. Den Papieren nach hieß der Bärtige Mike Taylor, ein Name, den Parker schon von Bennet erfahren hatte.
Parker stieg wieder in das hochbeinige Monstrum und fuhr weiter, dem Regent’s Park entgegen.
»Natürlich gehörte der auch zu der Bande«, sagte Agatha Simpson.
»So ist es, Mylady. Ein unangenehmer Zeitgenosse, wenn meiner Wenigkeit die Bemerkung gestattet ist. Er war schwer bewaffnet.«
»Wieder einer weniger«, freute sich die Detektivin. »Er wird wohl noch eine ganze Weile schlafen, falls ihn nicht vorher noch die Polizei entdeckt.«
»Etwa zwei Stunden, Mylady.«
»Hm, ich werde dem Yard einen dezenten Hinweis geben«, überlegte sie laut. »Dann können sie ihn abholen.«
»Wünschen Mylady an der nächsten Telefonzelle zu halten?«
»Wo denken Sie hin, Mister Parker. Ich gebe doch mein gutes Geld nicht für Gangster aus. Ich werde das bei diesem Koks erledigen, oder wie der Kerl heißt.«
Parkers Gesicht blieb wieder mal unbewegt nach diesen Worten.
*
George Brooks war ein Mann mittleren Alters. Er war so groß wie Parker und hatte dunkle Haare mit Silberstreifen.
Neben ihm standen zwei Bilderbuchgangster, die spöttisch und überlegen auf Parker und Lady Agatha blickten.
»Sie haben es sich ja reichlich schnell überlegt«, sagte Brooks lächelnd. Er wies auf den Karton, den Parker in der Hand hielt. »Haben Sie die zehntausend mitgebracht?«
Parker lüftete dezent seine schwarze Melone, während Lady Agatha den Gangster scharf musterte.
Die beiden Gorillas konnten sich das Grinsen nicht verkneifen. Abwechselnd sahen sie auf den seltsam gekleideten Butler und dann wieder auf Lady Agatha, die ein viel zu weites Tweedkostüm trug und eine neue Modeschöpfung mit langer Hutnadel auf dem Kopf hatte. Sie spielte scheinbar nervös mit ihrem perlenbestickten Pompadour, was die Gangster noch mehr amüsierte.
»Zehntausend in kleinen Scheinen«, versicherte Parker.
»Her damit!«
»Moment«, sagte Agatha Simpson. »Bevor das geregelt wird, möchte ich anrufen, wenn Sie gestatten.«
»Aber gern«, erlaubte Brooks. »Sie werden doch aber nicht so dumm sein und die Polizei verständigen, was?«
»Das hätte ich sicher vorher tun können«, sagte die Lady unwillig. Sie rief den Yard an und ließ sich den Superintendenten geben.
»Ich bin’s, mein lieber McWarden«, sagte sie. »Wir hatten vorhin einen kleinen Unfall bemerkt, konnten uns aber nicht weiter darum kümmern, weil ich in Eile war.«
Sie gab mit freundlicher Stimme die Stelle an, wo das passiert war. »Wie der Mann hieß?« fragte sie zuckersüß. »Mike Taylor, das hat mein Butler herausgefunden. Sie können ihn abholen, er gehört der Ratten-Gang an. Nun muß ich aber aufhören.«
Die drei Gangster sahen sich so fassungslos an, als hätte neben ihnen der Blitz eingeschlagen. Der eine klappte den Unterkiefer herunter, und starrte die Lady völlig perplex an.
George Brooks sprang augenblicklich vom Stuhl auf.
»Das ist ja wohl das Ausmaß an Frechheit«, tobte er. »Diese alte Schraube wagt es doch tatsächlich die Polizei anzurufen und Mike in die Pfanne zu hauen.«
»Mylady sind davon überzeugt, eine gute Tat getan zu haben«, sagte Parker würdevoll.
»Schnappt sie euch und nehmt dem Kerl das Geld weg!« schrie Brooks in wilder Wut.
Er selbst riß Parker mit schnellem Griff den Karton weg, zerrte an dem Band und öffnete den Karton.
Wenn er erwartet hatte, jetzt auf zehntausend Pfund in kleinen Scheinen zu blicken, sah er sich jedoch getäuscht. Der Karton enthielt nicht eine einzige Pfundnote.
Brooks hatte mal entfernt was von sogenannten Schwarzen Löchern gehört, und so eines glaubte er jetzt vor sich zu sehen. Mit dumpfem Knall schoß aus dem Karton eine pechschwarze Rußwolke, die alles verdunkelte, vor allem sein Gesicht. Im Nu hatte er sich in einen Kaminfeger verwandelt. Er schlug die Hände vor’s Gesicht und irrte blind umher.
Den beiden anderen, die neben ihm gestanden hatten, erging es nicht viel besser. Auch sie sahen übergangslos wie Kohlenmänner aus und hieben wild durch die Luft, um die üble Rußwolke zu verteilen.
»Kleiner Scherz«, sagte Parker nach einem dezenten Räuspern. Aber das empfanden die anderen nicht unbedingt auch so.
Die drei Kerle brüllten jetzt durcheinander und hieben voller Zorn nach allen Seiten mit den Fäusten.
Einer griff in die Tasche, um seine Waffe zu ziehen.
»Die bring ich um«, brüllte er laut. Nur das Weiße in seinen Augen war in dem pechschwarzen Gesicht noch zu sehen.
Er hatte die Waffe noch nicht heraus, als ihn Parkers Universal-Regenschirm ziemlich heftig traf. Daraufhin stürzte er über einen Tisch, riß ein paar Vasen herunter und rannte durch die Tür. Daß die Glastür mittlerweile geschlossen war, entging ihm in seinem Eifer. Er nahm sie einfach mit und landete im Gewächshaus in dem Fischbecken, bis das Wasser überschwappte.
Lady Agatha hatte die »alte Schraube« noch nicht vergessen und nahm sich George Brooks vor:
Sie tat das mit ihrer Hutnadel wenig ladylike an Brooks empfindlicher Rückseite. Der durch den Ruß Geblendete stieß einen verzweifelten Schrei aus, als ihn die spitze Nadel ein zweites Mal herzhaft piesackte.
Der dritte Gangster, ebenfalls durch die Pestwolke schwer in Mitleidenschaft gezogen, drang mit einem Messer auf Parker ein. Er sah nicht mal recht, wohin er stach. Er benutzte das Messer wie eine Sense und hieb wild um sich.
Parker wollte gerade wieder seinen bewährten Schirm einsetzen, doch da ließ Agatha Simpson von dem kreischenden Brooks ab und setzte ihren Glücksbringer ein. Der traf auch prompt wie immer sein Ziel. Der überstrapazierte Glücksbringer knallte dem Gangster an den Schädel. Er riß den Mund auf, ließ das Messer fallen und verschwand mit leisem Ächzen unter dem Schreibtisch.
Brooks war inzwischen mit seinen Nerven am Ende, rannte durch die zersplitterte Tür, tastete mit den Händen um sich und fand keine rechte Orientierung.
Parker warf ihm die bleigefütterte Melone zielsicher hinterher. Sie erwischte Brooks vor dem berüchtigten Beet mit Korallenkakteen, die bereits eine beachtliche Höhe erreicht hatten.
Die Auftreffwucht ließ ihn zur Seite taumeln, und er landete mit einem Hechtsprung in dem langgestreckten Beet. Von da an schrie er, wie er schon lange nicht mehr geschrien hatte.
»So, den Fall habe ich gelöst«, sagte Lady Agatha strahlend. »Die Kerle sind erledigt. Sie hätten das auch nicht besser tun können, Mister Parker. Nehmen Sie sich ein Beispiel an einer schwachen Frau.«
»Meine Wenigkeit wird stets bemüht sein, von Mylady zu lernen«, erwiderte der Butler artig.
Bevor die Detektivin zum Telefon ging, um McWarden anzurufen, blieb sie jedoch entsetzt vor einer spiegelnden Scheibe stehen, in der sie sich bewundern konnte.
»Ich sehe ja schrecklich aus«, sagte sie, »ganz voll Ruß und Staub. Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, Mister Parker? Mein schönes Kleid! Ich glaube, wir werden uns über den Schaden wohl mal unterhalten müssen. Schließlich ist es Ihre Schuld gewesen.«
»Mylady sehen mich zutiefst betroffen. Aber selbstverständlich wird meine Wenigkeit für den entstandenen Schaden aufkommen.«
Parker sah ihr mit unbewegtem Gesicht nach, als sie zum Telefon ging.