Читать книгу Der Schoppenfetzer und die Satansrebe - Günter Huth - Страница 7
ОглавлениеFast 500 Jahre später in Würzburg
Der Mann betätigte den Lichtschalter und die paarweise angeordneten Neonleuchten ergossen ihr grelles Licht über die Regale, Schränke und aufgestapelten Kisten. Dieser Raum war einer der zahlreichen klimatisierten Magazinräume des Mainfränkischen Museums, in denen eine Vielzahl von Exponaten aufbewahrt wurde, die noch nie den Weg in die Ausstellungsräume des Museums gefunden hatten.
Der Mann musste sich keine große Mühe geben, seinen Aufenthalt in diesem Bereich des Museums zu verheimlichen. Er besaß völlig legal einen Schlüssel. Zudem war es Montag und das Museum für den Publikumsverkehr geschlossen. Es war bereits nach 19 Uhr und die Wahrscheinlichkeit, dass sich um diese Uhrzeit jemand vom wissenschaftlichen Personal hierherverirrte, tendierte gegen null.
Schnell hatte er den gesuchten Gegenstand gefunden. Der Grabstein lagerte fachmännisch auf mehreren gepolsterten Balken und war sorgfältig abgedeckt. Der Mann lüftete die Folie und warf einen flüchtigen Blick auf die vom Zahn der Zeit stark angegriffene Inschrift:
„Anno domini 1531 am abent Kiliani starb der ersam und kunstreich Tilman Riemenschneider bildhauer, burger zu Würzburg, dem got genedig sey. Amen.“
An der Decke des Raumes befand sich eine Laufkatze, mit deren Hilfe sich schwere Gegenstände in diesem Magazin heben und bewegen ließen. Der Mann führte zwei stabile, weich gepolsterte Gurte unter dem Stein hindurch und betätigte die Hebevorrichtung. Als er den Stein an der Außenkante anhob, um ihn erst auf die Seite zu stellen und dann auf die Vorderfront zu legen, traten ihm vor Anstrengung die Sehnen am Hals hervor. Er keuchte. Schließlich hatte er es geschafft. Langsam ließ er die Steinplatte wieder herab. Nun holte er aus der mitgeführten Werkzeugtasche einen Akkubohrer, der mit einem sehr dünnen Steinbohrer bestückt war. Er nahm kurz Maß, dann setzte er den Bohrer an. Das Material war nicht sonderlich hart und der Bohrer drang problemlos ein. Nach wenigen Zentimetern fuhr der Bohrer ins Leere. Er war offensichtlich richtig informiert: In der Rückseite des Grabsteines befand sich tatsächlich ein Hohlraum. Der Mann legte den Bohrer in die Tasche zurück und griff sich einen spitzen Meißel und einen Holzschlägel. Mit wenigen gekonnten Schlägen vergrößerte er das Loch. Bei jedem Schlag sprangen Steinsplitter von der Grabplatte ab.
Als er das Loch vorsichtig so weit geöffnet hatte, dass er in den Hohlraum sehen konnte, holte er eine Taschenlampe hervor und leuchtete hinein. Ein zufriedenes Grunzen entfuhr ihm. Seine Mühe wurde belohnt: Hinter der Rückwand waren die Konturen eines kleinen Steinreliefs zu erkennen. Vorsichtig arbeitete er weiter. Jetzt waren auch die Konturen eines steinernen Einsatzes zu erkennen, mit dessen Hilfe der Steinmetz, der diesen Grabstein einst geschaffen hatte, den Hohlraum im Stein geschickt verschlossen hatte – so kunstfertig, dass man auch bei genauerer Betrachtung keine Anschlussstellen erkennen konnte. Schon bald hatte er diesen Deckel so weit entfernt, dass er eine kleine Steintafel entnehmen konnte.
Aus dem Stein war ein Bildnis herausgearbeitet, das so gut erhalten war, als hätte man es erst gestern in sein Versteck gelegt. Er hielt sich aber nicht lange mit der Betrachtung auf, weil er möglichst schnell wieder von hier verschwinden wollte. Die Tafel schlug er in ein weiches Handtuch ein und schob sie in ein leeres Seitenfach seiner Werkzeugtasche. Dieser Fund war von unschätzbarem Wert. Jetzt machte sich der Mann daran, seine Spuren zu beseitigen. Er kehrte die Steinsplitter zusammen und füllte sie in den Hohlraum der Platte. Aus seiner Tasche holte er die bereits fertige Mischung eines Schnellbinderbetons, aus einer Plastikflasche goss er Wasser in das Pulver und rührte gründlich mit einem Spachtel um. Dann goss er den Brei in den Hohlraum im Stein. Wenige Minuten später war das Loch ausgegossen. Weil er zudem ein Farbpulver untergemischt hatte, war der ausgetrocknete Beton vom natürlichen Stein der Grabplatte bei flüchtigem Hinsehen kaum zu unterscheiden. Sobald der Beton ausgehärtet war, konnte er die Grabplatte wieder umdrehen und endlich verschwinden.
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Der international bekannte amerikanische Regisseur Christos Kelleroulos, dessen Wurzeln im unterfränkischen Rimpar lagen, schob mit einem heftigen Ruck den Schild seiner Baseballkappe nach hinten und wischte sich mit einem knallroten Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. Dann sprang er trotz seiner durchaus fülligen Figur mit einer unerwarteten Dynamik, um nicht zu sagen überraschenden Leichtigkeit aus seinem Klappstuhl. Alle Beschäftigten am Filmset zogen ruckartig den Kopf ein und bewegten sich unauffällig außer Reichweite des Filmemachers. Diejenigen unter ihnen, die schon öfters mit ihm gearbeitet hatten, wussten, dass sich Kelleroulos’ recht dünner Geduldsfaden kurz vor dem Zerreißen befand. Sein Gesicht unter dem dicht an den Kopf gegelten Haar hatte eine unnatürliche rote Farbe angenommen. Kelleroulos war bei der Arbeit ein wahrer Vulkan, der zu heftigen Ausbrüchen neigte. Ein solcher stand offenbar kurz bevor.
„Cut! Cut!“, schrie er mit sich überschlagender Stimme und wedelte dabei heftig mit den Armen in der Luft herum, wobei er fast einen Scheinwerfer umgeworfen hätte. „No, no, so geht des fei werkli nit!“ Seit Kelleroulos sich wieder in heimischen Gefilden aufhielt, vermischte er mit einer gnadenlosen Selbstverständlichkeit breites Amerikanisch mit unterfränkisch-ländlichem Dialekt – für diejenigen seiner Filmcrew, die er aus den Staaten mitgebracht hatte, nicht gerade einfach zu verstehen. Aber das war dem Meister egal. Kelleroulos schob den Kameramann, der mit der Handkamera am Boden kniend gerade eine Szene aufnehmen sollte, so heftig zur Seite, dass dieser fast umfiel.
„Mister Rottmann, ich hab’s Ihne jetzt doch scho zum dritte Mal explained. Sie komme zügich von links, lasse Ihrn Dog, ich meen des Hündle, ordentlich rechts an der Leine geh und halte Ihr Pfeife in der linke Hand. Dann mache Se en Schwenk to the right in Richtung von dem Eingang vom Maulaffenbäck. Dort klopfe Se Ihr Pfeife in dem Aschebecher da vorne aus. Dabei müsse se carefully druff acht, dass mer Ihre rechte Seite gut sieht, sonst kann der Kameramann des Ausklopfe nit in der gewünschte Großaufnahme eicatch. You know? Anschließend stecke Se die Pfeife in Ihre Jacketasche und entern mit Ihrm Hündle die Weinstube. Damit wär die Szene dann endlich im Kaste und wir für heut da herause in der Maulhardgass ready. Des kann doch realy nit so schwer sei! Also, jetzt concentration Se sich! Des muss jetzt klapp, sonst bekomme mer da in dere düstere Gasse Probleme with the light, ich meen mit dem Licht!“
Erich Rottmann fuhr sich gereizt durch seinen kurzen Haarschopf. Er verfluchte den Tag, an dem er sich von dem bekannten Würzburger Sensationsreporter Schöpf-Kelle hatte überreden lassen, in diesem Film eine kleine Rolle zu übernehmen. Rottmann hatte es zuerst gar nicht glauben wollen, als er erfuhr, dass eine solche Filmgröße wie Christos Kelleroulos bereit war, bei einem Film Regie zu führen, für den Schöpf-Kelle das Drehbuch geschrieben hatte und der in Würzburg spielen sollte – bis er dann herausbekommen hatte, dass Kelleroulos ein Vetter zweiten Grades von Schöpf-Kelle war. In jungen Jahren war er aus Rimpar aufgebrochen, hatte auf einer Filmakademie in den Staaten das Handwerk von der Pike auf gelernt und später unter seinem Künstlernamen in den USA als Regisseur Karriere gemacht. Nur deshalb und weil Kelleroulos Heimweh hatte und gerne wieder einmal ein paar Wochen in seiner Heimat verbringen wollte, war es Schöpf-Kelle gelungen, ihn zu beschwatzen, diesen Film mit dem Titel „Der Mörderschoppen“ zu drehen. Nach Schöpf-Kelles Vorstellungen sollte die Geschichte ausschließlich an Schauplätzen in Würzburg und Umgebung und – wegen der Authentizität – mit unterfränkischen Darstellern gedreht werden. Der Ausgangspunkt der Geschichte war der Maulaffenbäck, eine der ältesten und traditionsreichsten Weinstuben der Stadt. Einige Laiendarsteller standen nach der Vorstellung des Drehbuchautors von Anfang an fest: Erich Rottmann und sein Stammtisch Die Schoppenfetzer. Es hatte eine riesige Begeisterung unter den Mitgliedern des Stammtisches ausgelöst, als sie von ihrer Berufung erfahren hatten. Dass sich besonders Rottmann zu dieser Sache bereit erklärt hatte, grenzte an ein Wunder. Alle anderen Schauspieler, die selbstverständlich Profis waren, mussten ihre unterfränkischen Sprachkenntnisse im Rahmen eines harten Castings unter Beweis stellen.
Was war der eigentliche Grund dieses wagemutigen Projekts? Der Bayerische Rundfunk hatte aus unerfindlichen Gründen und für die bayerische Filmszene völlig überraschend seine bisher gepflegte Ignoranz gegenüber Unterfranken als Spielort von Fernsehfilmen aufgegeben. Insider vermuteten, dass der Grund dafür war, dass Hollywood einen Großteil seiner Neuverfilmung des Klassikers „Die drei Musketiere“ in Würzburg abgedreht hatte und dieser Film weltweit ordentlich Kasse machte. Jedenfalls beauftragte der BR irgendwann die kleine, aber leistungsfähige Produktionsgesellschaft RMP – Rümprer Movie Production, das Drehbuch von Schöpf-Kelle umzusetzen. Besonders verwunderlich war, dass man den Film sogar mit einem ordentlichen Budget ausgestattet hatte. Es wurden auch keine Einwände erhoben, als der Drehbuchautor und der Regisseur wegen der von ihnen angestrebten Authentizität darauf bestanden, in einigen kleineren Rollen geeignete Laiendarsteller einzusetzen. Die Schoppenfetzer als unterfränkische Patrioten hatten natürlich die bisherigen kläglichen Versuche des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, Fränkisches auf die Mattscheibe zu bringen, schmerzlich zur Kenntnis genommen. Nach einem langen Abend am Stammtisch mit viel Wein und langen Gesprächen mit Autor und Regisseur hatten sich die Stammtischbrüder dann breitschlagen lassen, einen neuen Versuch zu starten.
Im Augenblick drehte die Filmcrew gerade die Szenen, in denen Rottmann und Öchsle und später auch der Stammtisch eine Rolle spielten.
In groben Zügen ging es bei der Story darum, dass der Stammtisch an einem Abend den Geburtstag eines seiner Mitglieder feierte. Dabei handelte es sich um die Filmfigur Dr. Bernhard Schlegelmilch, den ehemaligen Leiter der Staatsanwaltschaft Würzburg, dargestellt von Horst Ritter. An dem Abend kommt Ritter alias Schlegelmilch später zum Stammtisch als gewohnt. Nachdem er einen kräftigen Schluck von seinem Schoppen genommen hat, verschwindet er auf der Toilette. Als er nach geraumer Zeit nicht zurückkommt, muss der Schoppenfetzer Arno Wegner, gespielt von Xaver Marschmann, nach dem Verbleib des Stammtischbruders sehen. Er findet ihn dort zusammengebrochen vor. Der sofort verständigte Notarzt kann nur noch seinen Tod feststellen.
Erich Rottmann verkörpert mit der Filmfigur Arno Falk praktisch sich selbst. Laut Drehbuch verständigt Falk sofort die Polizei, die ihre Ermittlungen aufnimmt. An dieser Stelle endet die Aufgabe Rottmanns und der Stammtischbrüder. Den Rest erledigen die Profi-Kommissare, dargestellt von echten unterfränkischen Schauspielern.
Die Maulhardgasse war für den Dreh völlig abgesperrt worden, da die Ausrüstung der Filmcrew die gesamte Breite der Gasse in Anspruch nahm. Hinter den Absperrungen hatten sich zahlreiche Schaulustige eingefunden, die neugierig das Geschehen verfolgten. Rottmann hatte zu seiner großen Freude schon einige seiner Bekannten gesehen, die ihm zuwinkten. Er konnte sich sehr gut vorstellen, was da hinter vorgehaltener Hand geflüstert und gelästert wurde. Wenn er sich nicht sehr täuschte, hatte er in der Menge auch Elvira Stark ausgemacht. Das hätte er sich ja denken können, dass sich seine ehemalige Jugendliebe den Anblick eines schauspielernden Erich Rottmann nicht entgehen lassen würde. Von ihm hatte sie es zwar nicht erfahren, aber die örtlichen Medien berichteten sehr ausführlich über das große Filmereignis.
Öchsle stand etwas verloren zwischen den vielen Menschen und ließ seine Rute hängen. Laut Drehbuch musste er in den Szenen an der Leine gehen, was der Rüde ja gar nicht gewohnt war.
„Öchsle“, sagte Rottmann leise, während er sich zu seinem Hund herunterbeugte, „da müssen wir jetzt durch. Ich gebe mir auch richtig Mühe, damit ich mich nicht wieder vertue. Wenn wir das überstanden haben, gibt’s für uns beide eine ordentliche Portion Leberkäs.“ Öchsle rang sich ohne große Begeisterung einen schwachen Schwanzwedler ab.
Kaum hatte sich Rottmann wieder aufgerichtet, kam auch schon die Maskenbildnerin angerauscht. In der einen Hand hielt sie eine Puderdose, in der anderen einen Schminkpinsel. Ohne viel Federlesens baute sie sich vor Rottmann auf. „Jetzt halten Sie doch mal still!“ Mit schnellen Pinselstrichen bearbeitete sie sein Gesicht. „Sie dürfen nicht so viel schwitzen“, mahnte sie spitz, „sonst verläuft Ihr ganzes Make-up!“
Rottmann zog eine Grimasse. „Sie haben leicht reden. Wir haben Sommer und dann noch die Hitze von den Scheinwerfern. Das ist ja schlimmer als in einer Sauna!“
„Attention, Attention, Ladies and Gentlemen“, tönte da auch schon wieder die knarrende Stimme des Regisseurs aus einem Megafon, „alles auf Position, please! Herr Rottmann, un mir reiße uns jetzt a little bit zamm! Okay?“
Rottmann nickte ergeben, lockte Öchsle und begab sich an den Ausgangspunkt der kurzen Wegstrecke, die er vor der Kamera zurückzulegen hatte. Mit Schrecken dachte er an die ihm noch bevorstehenden Innenaufnahmen im Maulaffenbäck. Bei diesen kam erschwerend hinzu, dass er dabei auch noch an drei Stellen Text zu sprechen hatte. Nicht viel, nur ein paar Sätze. Aber wenn er daran dachte, wie lange es gedauert hatte, bis er sie sich in den letzten Tagen eingetrichtert hatte, trat ihm schon wieder der Schweiß auf die Stirn. Rottmann riss sich zusammen, blendete alle störenden Gedanken aus und konzentrierte sich.
Der Regisseur vergewisserte sich, dass alle Kameras liefen und der Ton bereit war, dann gab er Rottmann ein Zeichen und rief: „Action!“
„Szene 13, Aufnahme 5“, rief der Regieassistent und schlug mit einem klatschenden Geräusch die Filmklappe zusammen. Nun war Rottmann dran. Er und Öchsle legten nun zum fünften Mal dieselbe Wegstrecke zurück. Der Kameramann lief gebückt mit der Handkamera vor ihm her. Rottmann war so konzentriert, dass er das Kommando „Stopp!“, das Kelleroulos am Ende der Strecke fast jubelnd ausrief, gar nicht mitbekam.
„Alles okay, Mister Rottmann, die Szene ist im Kasten.“ Er nahm das Megafon wieder an den Mund und schmetterte in die Gasse: „A shorts Päusle, dann bauen wir im Lokal auf.“ Zu Rottmann gewandt erklärte er: „Sie hamm jetzt a guts Stündle Pause, dann geht’s drinne weiter.“
Erich Rottmann atmete auf. Es wurde höchste Zeit, sich ein paar Kalorien zuzuführen. Bei diesem Filmstress fiel man ja regelrecht vom Fleisch. Er bückte sich und erlöste Öchsle von der Leine. Sofort vollführte der Rüde ein paar Freudensprünge, die so lustig aussahen, dass einige Leute hinter der Absperrung spontan applaudierten.
Rottmann betrat den Metzger seines Vertrauens an der Ecke der oberen Maulhardgasse und besorgte sich eine ordentliche Portion seines Grundnahrungsmittels. Darauf schwor der Exkommissar, denn er war der Überzeugung, dass es die Basis für seine widerstandsfähige Gesundheit bildete. Mit dem Fresspaket in der Hand betrat der ehemalige Leiter der Würzburger Mordkommission seine Stammweinstube und schlängelte sich durch die herumwuselnden Filmleute zum Hinterzimmer. Der Maulaffenbäck war während der Filmaufnahmen für die Öffentlichkeit geschlossen – ein Umstand, der in den letzten Tagen bei einigen Stammgästen für Unmut gesorgt hatte.
Im Hinterzimmer saßen die Mitglieder des Stammtisches um einen Ecktisch geschart und genehmigten sich in bester Laune ihre obligatorischen Schoppen. Aus ihrer Stimmung war zu schließen, dass es für alle nicht das erste Glas war. An ihren gewohnten runden Stammtisch in der Gaststube konnten sie im Augenblick nicht ran, weil der für die Filmaufnahmen hergerichtet werden musste. Anni, die Bedienung im Maulaffenbäck, war auch als Komparsin verpflichtet worden. Sie hatte ihr feschestes Dirndl angezogen und war bereits geschminkt. Obwohl sie keine Sprechrolle hatte, war sie sichtlich nervös.
„Na, Erich“, begrüßte Ron Schneider seinen Stammtischbruder, „hat Hollywood schon angerufen?“ Die anderen lachten.
Rottmann zog eine Grimasse und ließ sich am Tisch nieder. „Ich kann euch sagen, da löse ich lieber den kniffligsten Kriminalfall, als mich hier zum Affen zu machen“, grantelte er und legte sein Fresspaket auf den Tisch. Anni reichte ihm Besteck und einen Teller. Rottmann bediente sich aus einer offenen Weinflasche auf dem Tisch. Der Wirt hatte zur Feier des Tages den Wein spendiert.
Öchsle ließ sich unter Rottmanns Platz nieder. Der schmeichelnde Duft des Leberkäses drang durch die Umhüllung der Alufolie und kitzelte seine Geschmacksnerven. Aus seinem Maul tropfte Speichel auf den Boden.
Rottmann erlöste seinen vierbeinigen Freund von seinen Qualen, indem er ihm einen Brocken Leberkäs hinunterreichte. Dann begann er selbst mit großem Appetit zu essen. Die Vorstellung, hier am Stammtisch an einem vergifteten Schoppen zu sterben, wie es das Drehbuch für „Dr. Schlegelmilch“ vorsah, war für den Schoppenfetzer ein grausiger Gedanke.
Rottmann wurde sehr schnell in die Realität zurückgeholt, als einer der Filmmenschen durch die Schiebetür hereinblickte und rief: „Meine Herren, bitte kommen Sie. Wir müssen eine Beleuchtungsprobe durchführen.“
Schnell schluckte Rottmann den letzten Bissen hinunter und spülte mit einem reichlichen Schluck Silvaner nach. Man konnte nicht einmal in Ruhe essen. Die Stammtischbrüder erhoben sich polternd von ihren Stühlen und eilten zum Set.
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Es war Neumond und trotz eines heftigen Gewitterschauers noch schwülwarm. Die Straßenlaternen des unteren Teils der Trautenauer Straße hatten Mühe, mit ihrem Licht das dichte Laub der Alleebäume zu durchdringen.
Der schwarze Geländewagen einer deutschen Nobelmarke parkte schon seit fast zwei Stunden auf der rechten Straßenseite oberhalb des Grünewald-Gymnasiums vor dem Gittertor eines unbebauten Grundstücks. In der Dunkelheit fiel das schwarze Fahrzeug kaum auf. Das Kennzeichen war sehr verschmutzt und unleserlich. Von dieser Stelle aus hatte der dunkel gekleidete Fahrer gute Sicht auf das knapp hundert Meter entfernt gelegene Anwesen auf der anderen Straßenseite. Jetzt, kurz vor Mitternacht, war die Straße kaum befahren. Auf dem Beifahrersitz lag ein kleines Fernglas, dessen zehnfache Vergrößerung dem Mann die Vorderseite und den Vorgarten des Hauses erschloss. Alle Fenster des Hauses waren finster. Der Bewohner, der, wie der Beobachter wusste, dort allein lebte, war noch nicht nach Hause gekommen. Nach seinen Recherchen befand er sich auf einer Feier. Dennoch war der Mann, der sich zum Rächer berufen fühlte, extrem vorsichtig. Ein einziger Fehler, eine unüberlegte Handlung und sein ganzer Plan würde scheitern.
Der Mann warf einen Blick auf die handliche Sporttasche aus dunkelblauem Stoff, die auf dem Beifahrersitz lag. Sie enthielt alles, was er für sein Vorhaben benötigte. Er legte seine rechte Hand auf den festen Stoff. Als er eine leichte Bewegung im Innern spürte, huschte der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht. Mit einem Handgriff langte er in seine Jackentasche und holte ein paar kräftige Gummihandschuhe heraus, die er sich überstreifte. Der Rächer prüfte nochmals eingehend, ob er allein auf der Straße sein würde. Dann nahm er die Tasche, öffnete die Fahrertür und stieg aus. Um das bestätigende Intervallleuchten der Blinker zu unterbinden, schloss er die Wagentür nicht mit der Fernbedienung, sondern mit dem Schlüssel ab. Dann überquerte er zügig die Fahrbahn und näherte sich dem Anwesen. Das Haus war von einer mannshohen Hecke umgeben. Der nächtliche Besucher drückte die Klinke des Gartentors herunter und trat ein. Sofort wurde er vom Schatten der hochwüchsigen Büsche aufgenommen, die den zum Hauseingang führenden Plattenweg begleiteten. An der Haustür blieb er kurz stehen und lauschte. Das Geräusch, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte, war das kurze verschlafene Zwitschern eines Vogels, dessen Nachtschlaf er gestört haben mochte. Dann trat wieder Ruhe ein. Ein Namensschild am Türrahmen bestätigte ihm, dass er an der richtigen Adresse war.
Durch seine Recherchen wusste der Rächer, dass das Haus keine Alarmanlage besaß. Auch ein Hund, der seinen Plan hätte durchkreuzen können, war nicht vorhanden. Er griff in die Seitentasche und holte einen kleinen Gegenstand heraus, führte die zwei Stifte, die an dem Kästchen hervorragten, in das Türschloss ein und betätigte einen Schalter. Ein leises, hektisches Schnarren ertönte, dann wechselte eine Leuchtdiode auf der Oberseite des Geräts von Rot auf Grün. Mit einem kaum hörbaren Knacken ging das Schloss auf und die Tür schwang nach innen. Angespannt starrte er in den schwarzen Hausflur. Fast eine Minute lang blieb er regungslos stehen und lauschte. Beiläufig nahm er den Geruch des Hauses in sich auf: eine Mischung aus abgestandener Luft und dem Hauch eines herben Herrendufts. Schließlich trat er ein und schloss die Tür lautlos hinter sich. Im Schein seiner schwach leuchtenden Taschenlampe erkundete er den Flur. Auf der rechten Seite führte eine Steintreppe in das obere Stockwerk, gegenüber befand sich eine schmale Tür, auf der eine Comicfigur darauf hinwies, dass sich dort die Toilette befand. Danach kam die Garderobe. Gegenüber dem Hauseingang führte eine weitere Tür in die Wohnräume.
Die weichen, profillosen Sohlen seiner Sportschuhe verursachten auf dem Nadelfilz des Flures keinerlei Geräusche, als er durch die Tür trat. Wieder blieb er stehen und lauschte. Lediglich das Ticken einer Uhr unterbrach die Stille. Urplötzlich empfand der Rächer ein starkes Gefühl der Macht: Macht über dieses Haus und damit auch über seinen Bewohner. Gemächlich nahm er die Räumlichkeiten des Untergeschosses in Augenschein: Küche, Wohnzimmer, Esszimmer, daran angeschlossen eine großflächige Veranda an der Hinterseite des Hauses. Die Wohnung war ordentlich, fast pedantisch aufgeräumt. Der Lichtstrahl der kleinen Lampe fiel auf Plastiken und Bilder. Der Rächer verstand zwar nicht allzu viel davon, aber dass sie wertvoll waren, davon war er überzeugt. Er wusste, dass der Eigentümer Kunstsammler war und sich dieses Hobby auch leisten konnte. Der Mann zuckte mit den Schultern. Er war nicht hier, um sich zu bereichern. Sein Ziel war ein anderes. Ohne etwas berührt zu haben, verließ er den unteren Bereich der Wohnung, schloss die Tür hinter sich und betrat die Treppe zum oberen Stockwerk.
Hier befanden sich zwei Schlafräume und eine Bibliothek, die wohl auch als Arbeitszimmer diente. In den Regalen der Bibliothek standen Bücher über viele Meter. Auf einem massiven Eichenschreibtisch lag ein geschlossener Laptop. Zwischen den beiden Schlafräumen, von denen der kleinere offenbar als Gästezimmer genutzt wurde, befand sich ein Bad, zu dem vom größeren Schlafraum aus eine Verbindungstür führte. Durch eine weitere Tür gelangte man in einen geräumigen begehbaren Kleiderschrank. Auf der einen Seite befanden sich, farblich sortiert, Anzüge und in einem Regal gebügelte Hemden. Gegenüber in einem weiteren Regal standen zahlreiche Schuhe.
Der Rächer ging zurück in den Schlafraum und blickte eine Zeit lang auf das großflächige Doppelbett, das ebenfalls korrekt gerichtet war. Nach wenigen Minuten stand sein Plan fest. Er betrat wieder den begehbaren Kleiderschrank und setzte sich auf einen kleinen Hocker. Aus der Tasche zog er einen Elektroschocker und legte ihn neben sich. Die Tür zum Schlafraum ließ er angelehnt, so dass er Geräusche aus dem Haus gut hören konnte. Der Rächer war bereit.
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Rechtsanwalt Theodor Friedrich Seibold liebte Gesellschaft, besonders die von deutlich jüngeren Damen. Das gab ihm das Gefühl, ebenfalls jung zu sein und dem Alter trotzen zu können. Als er die Einladung zur Promotionsfeier der Tochter eines Kollegen erhalten hatte, hatte er mit Freude zugesagt, weil er sich sicher war, dort jede Menge ansprechende Weiblichkeit anzutreffen. Seibold sah man seine zweiundsechzig Jahre definitiv nicht an. Mit seinen Einmeterfünfundachtzig und der schlanken sportlichen Figur ging er locker als zehn Jahre jünger durch. Dazu kam, dass er sich in seiner Freizeit betont jugendlich kleidete. Seinen immer noch vollen Haaren half er mit etwas Tönung auf die Sprünge, damit das Dunkelblond durch keine graue Strähne beleidigt wurde. Allenfalls an den Schläfen gestattete er sich ein paar silbrige Fäden.
Die Promotionsfeier fand im Haus einer Würzburger Studentenverbindung in der Rottendorfer Straße statt. So ungefähr bis Mitternacht lief die Feier einigermaßen geordnet ab, da aber der Alkohol reichlich floss, wurden die Gäste immer ausgelassener. Die Musik dröhnte aus den geöffneten Fenstern und beschallte die Straße.
Seibold hatte einem ausgesprochen fruchtigen Riesling reichlich zugesprochen und dazwischen einige Cocktails geleert. Nachdem er sich in der letzten Stunde ausgiebig einer Jurastudentin im letzten Semester gewidmet hatte, musste er, als er von einem Toilettenbesuch zurückkam, feststellen, dass die junge Dame verschwunden war. Als irgendwann später zwei Polizeibeamte im Saal standen und nicht unfreundlich, aber sehr nachdrücklich auf einer Reduzierung des Lärms bestanden, beschloss Seibold, die Feier zu verlassen. Er kannte die Signale seines Körpers und wusste, wann er genug hatte.
Seibold verabschiedete sich von der ebenfalls betrunkenen Gastgeberin, dann trat er in die Dunkelheit hinaus. Die nächtliche Brise kühlte sein erhitztes Gesicht.
Von der Studentenverbindung bis zu seinem Haus war es ein Fußweg von fünfzehn Minuten. Zügig marschierte er die Straße hinauf. Jetzt, an der frischen Luft, bekam er die Wirkung des Alkohols heftig zu spüren. Ihm fiel auf, dass der Asphalt des Gehsteigs hier sonderbarerweise erhebliche Wellen schlug, denen auszuweichen ihm nur durch gekonntes Gegensteuern gelang.
Am Letzten Hieb – eine Ortsbezeichnung aus Würzburgs mittelalterlicher Vergangenheit, als verurteilte Menschen hier vorbei zum wenig entfernten Galgenberg zur Hinrichtung geführt wurden – blieb er erneut kurz stehen und atmete durch, dann marschierte er die Wittelsbacher Straße hinunter. Es bedurfte seiner ganzen Konzentration, da hier der Gehsteig plötzlich eine spürbare Schräglage bekam.
Er kicherte leise vor sich hin. Eigentlich hatte er in Bezug auf Alkohol ganz gute Nehmerqualitäten, aber diesmal war er offensichtlich am Limit angelangt. Kurz dachte er an seine gutaussehende Gesprächspartnerin der letzten Stunde. Vor zwanzig Jahren wäre sie ihm sicher nicht entwischt. Er machte eine wegwischende Handbewegung, die so heftig ausfiel, dass er Mühe hatte, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass er ins Bett kam.
Als er die Haustür hinter sich schließen wollte, rutschte sie ihm aus der Hand und knallte mit einem lauten Schlag ins Schloss. Er schaltete das Licht an und hängte seinen Hausschlüssel an den Haken. Vielmehr wollte er das, da er ihn aber verfehlte, flog der Schlüsselbund klappernd auf den Boden. Er vollführte eine gleichgültige Handbewegung, dann stieg er die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Jetzt war er wirklich platt. Schnurstracks ging er ins Bad und begann sich auszuziehen. Leise vor sich hin brabbelnd, zog er sich bis auf die Boxershorts aus und griff nach der Zahnbürste. Er hatte einen üblen Geschmack im Mund. Als er mit den abendlichen Verrichtungen fertig war, löschte er das Licht im Bad und betrat sein Schlafzimmer. Mit einem vernehmlichen Grunzen ließ er sich quer auf sein Bett fallen, das sofort die Eigenschaften eines Karussells annahm und in jede Richtung schwankte.
Der Schmerz kam überraschend und gewaltig. Sein heiserer Schrei erstarb, denn er bekam keine Luft mehr, dann schwanden ihm schlagartig die Sinne.
Der Rächer steckte den Elektroschocker an den Gürtel. Jetzt musste er sich beeilen, denn die Lähmung würde nicht allzu lange anhalten. Er nahm eine fertig aufgezogene Spritze aus seiner Sporttasche und eilte zu Seibold. Mit einem schnellen Handgriff schob er dessen Boxershorts in die Höhe und musterte das Gesäß. Schließlich trieb er die Spitze der Nadel im unteren Bereich des linken Gesäßmuskels in einen Leberfleck. Langsam drückte der Rächer das Narkotikum in das Gewebe, dann zog er die Spritze wieder heraus und trat einen Schritt zurück. Der Einstich war praktisch nicht zu sehen. Das Betäubungsmittel wirkte schnell. Als er sicher war, dass Seibold nicht mehr aufwachen würde, beugte er sich über ihn und drehte ihn auf den Rücken. Einige Zeit lang betrachtete er den so daliegenden Mann mit zusammengekniffenen Augen. Seibold bewegte sich nicht, aber an seinem sich leicht bewegenden Brustkorb konnte er sehen, dass er gleichmäßig atmete.
Jetzt war der große Augenblick gekommen. Die Stunde des Vollstreckers hatte geschlagen. Der Rächer bückte sich und zog vorsichtig einen Stoffbeutel aus der Sporttasche. Als er ihn hochhob, waren darin deutliche Bewegungen zu erkennen.
Nach dem Verlassen von Seibolds Haus fuhr der Rächer nach Hause. Er befand sich in einem heftigen Erregungszustand. Es war ein bisher nie gekanntes Gefühl von Macht und Überlegenheit, das ihn erfüllte.
Nachdem er den Vollstrecker versorgt hatte, ging er ins Wohnzimmer und goss sich einen doppelten Whisky ein. Dann öffnete er in einem Schrank zwei kleine Flügeltüren aus Metall, welche die Stärke eines Tresors hatten und durch eine Zahlenkombination geschützt waren. Als er sie auseinanderzog, ging im Innern ein gelbliches Licht an und beleuchtete eine Steintafel von etwa zwanzig Zentimetern Höhe und fünfzehn Zentimetern Breite.
Der Rächer setzte sich dem Schrein gegenüber in einen Sessel, nippte an seinem Whisky und versank in der Betrachtung der Tafel und der reliefartigen Darstellung, die aus ihrer Fläche herausgearbeitet war. Trotz ihrer Schlichtheit war deutlich zu erkennen, was der Künstler hatte ausdrücken wollen. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich. Er spürte die starken Schwingungen, die von dem Stein magisch auf ihn einwirkten. Sie ergriffen Besitz von seiner Persönlichkeit und weckten sein tief verborgenes zweites Ich. Der Rächer begann ihn immer stärker zu beherrschen. Bereitwillig gab er sich den Gewaltfantasien hin, die ihn wie eine Woge überschwemmten. Es war reiner Hass, der wie ein Seeungeheuer an die Meeresoberfläche kam, um zu rauben und zu zerstören. Ihm wurde gar nicht bewusst, wie er am ganzen Körper zitterte. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn.
Irgendwann ließ dieser Zustand nach und der Rächer kehrte langsam in die Wirklichkeit zurück. Wie nach jedem dieser Anfälle verspürte er so starke Kopfschmerzen, als würde ihm jeden Moment der Schädel platzen.
„Dein Vermächtnis wird erfüllt werden, Meister“, murmelte er leise vor sich hin. Nach dem zweiten Whisky wurde er ruhiger. Der Kopfschmerz allerdings blieb.
Wenig später erhob er sich, schloss den Schrein und begab sich ins Bad. Dort nahm er eine starke Kopfschmerztablette und stellte sich unter die Dusche. Draußen begann es bereits zu dämmern. Der Mann ging ins Schlafzimmer und stellte den Wecker, denn er wollte rechtzeitig vor Ort sein. Dann legte er sich hin. Nur eine Minute später war er eingeschlafen. Sein Schlaf wurde von quälenden Träumen begleitet.