Читать книгу Der Schoppenfetzer und die Satansrebe - Günter Huth - Страница 8

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Ein neuer Tag

Erich Rottmann war an diesem Morgen ausgesprochen gut gelaunt. Endlich waren die für ihn lästigen Dreharbeiten im Maulaffenbäck beendet. Höchste Zeit, dass er mit Öchsle an die frische Luft kam. „Auf geht’s, du fauler Stinker“, forderte der Exkommissar seinen vierbeinigen Freund temperamentvoll auf, der sofort freudig erregt zur Wohnungstür rannte. Rottmann war froh, dass am Abend wieder ein ganz normaler Stammtisch stattfand, ohne die Störung durch einen nervigen Regisseur. Rottmann fiel ein, dass sich ein neues Stammtischmitglied, ein gewisser Theodor Friedrich Seibold, ehemaliger Rechtsanwalt für Strafrecht, zum Stammtisch gesellen würde. Die Schoppenfetzer waren bestimmt kein abgehobener, elitärer Club, der spezielle Aufnahmerituale hatte. Im Prinzip konnte jeder im Ruhestand befindliche Kriminalist oder Jurist am runden Tisch platznehmen. Allerdings legten die Stammtischbrüder schon Wert darauf, dass ein Neuer auch zu ihnen passte. Bei Theodor Seibold sollte dies allerdings kein Problem sein. Es handelte sich bei ihm um einen erfahrenen Strafjuristen, der in jungen Jahren in einer großen Frankfurter Kanzlei gearbeitet und sich später in einer Sozietät in Würzburg niedergelassen hatte. Die Empfehlung war von Ron Schneider gekommen. Da musste es eigentlich passen.

Als der Rächer sich um acht Uhr erhob, fühlte er sich wenig erholt. Zum Frühstück gab es nur eine starke Tasse Kaffee. Dann packte er seinen Rucksack mit einigen Fruchtriegeln und Getränken und verließ das Haus. Als er die Trautenauer Straße wieder erreicht hatte, parkte er ein Stück unterhalb der Stelle, an der er in der Nacht gestanden hatte. Von hier aus konnte er den Eingang von Seibolds Grundstück mit dem Fernglas überwachen. Der Rächer war sich nicht sicher, wann sein Opfer wieder erwachen würde, da er nicht wusste, wie lange das Betäubungsmittel vorhielt, das er ihm gespritzt hatte. Er öffnete das Fenster und ließ frische Luft herein. Er musste aufpassen, dass er nicht im Wagen einschlief. Sein Schlafmangel machte sich langsam bemerkbar, er wollte sich aber der Früchte seiner nächtlichen Aktion auf keinen Fall berauben lassen. Um die Mittagszeit nahm er eine Kleinigkeit zu sich. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.

Als der Nachmittag fortschritt, machte sich der Rächer langsam Gedanken. Vielleicht hatte sein Opfer die Wirkung des Elektroschocks und der Betäubungsspritze nicht vertragen. Womöglich lag Seibold tot in der Wohnung. Darüber wäre der Rächer sehr enttäuscht gewesen. Bestandteil seiner Racheaktion war, dass das Opfer leiden musste und er dieses Leid sehen konnte.

Es war kurz nach siebzehn Uhr, als plötzlich die Haustür aufging, Seibold heraustrat und sich in Richtung Innenstadt bewegte. Der Rächer beobachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Über sein Gesicht glitt ein freudloses Lächeln. Lange würden die ersten Anzeichen sicher nicht mehr auf sich warten lassen. Er folgte seinem Opfer in einigem Abstand. Wenn es losging, wollte er dabei sein.

Es war fast achtzehn Uhr, als sich Rottmann dem Maulaffenbäck näherte. Schon von draußen vernahm er das typische Stimmengemurmel. Die Weinstube war wieder einmal gerammelt voll. Wahrscheinlich lag dies nicht zuletzt daran, dass der Bericht von den Filmaufnahmen im Maulaffenbäck in der Zeitung gestanden hatte und auch dem Regionalfernsehen einen Beitrag wert gewesen war. Das lockte Neugierige an.

Mit dem gewohnten Einkehrschwenk betrat Rottmann die Weinstube. Das draußen noch dezent wirkende Stimmengemurmel entwickelte sich drinnen zu einem lauten Gesprächswirrwarr.

Anni, die Bedienung, huschte mit rotem Kopf zwischen den Tischen hin und her und hatte für ihren Stammgast nur ein kurzes Nicken übrig.

Rottmann wusste jedoch, dass sie ihm umgehend seinen üblichen Silvanerschoppen bringen würde.

Am runden Tisch saßen bereits einige Stammtischbrüder und begrüßten Rottmann freundlich. Öchsle strebte zügig zu seinem Stammplatz unter der Bank. Rottmann ließ sich auf seinen Platz plumpsen. Zur Begrüßung klopfte er auf den Tisch.

„Na, Erich, heute mal ungeschminkt?“, stichelte Xaver Marschmann.

„Ja, ich habe auch den Eindruck, dass unser Hauptdarsteller heute etwas blässlich aussieht.“ Ron Schneider ließ keine Gelegenheit aus, wenn er einen Schoppenfetzer aufziehen konnte.

Rottmann blieb ihm nichts schuldig: „Nur kein Neid, Jungs, nur kein Neid. Bei euch würde ja nicht einmal mehr eine Schönheitsoperation was retten. Also bleibt gelassen.“

Dr. Horst Ritter, ehemaliger Leiter der Würzburger Staatsanwaltschaft, hatte das Begrüßungsgeplänkel abgewartet, jetzt meinte er: „Heute kommt ja der Neue. Ron hat ihn vorsorglich eine Viertelstunde später bestellt, damit wir dann auch wirklich alle beisammen sind. Ich denke, es ist sinnvoll, dass wir uns alle ein Bild von ihm machen.“ Zustimmendes Gemurmel in der Runde.

Rottmann, dem Anni bereits seinen Silvanerschoppen serviert hatte, nahm einen kräftigen Schluck und ließ den Wein mit seinen Geschmacksknospen spielen.

In diesem Augenblick ging die Tür der Weinstube auf und ein hochgewachsener, schlanker Mann trat ein. Ron Schneiders Mimik war zu entnehmen, dass es sich bei dem neuen Gast um den Erwarteten handelte. Schneider erhob sich auch gleich und ging Seibold einige Schritte entgegen. Er schüttelte ihm die Hand, dann wandte er sich seinen Stammtischbrüdern zu: „Freunde, das ist Theodor Friedrich Seibold, Rechtsanwalt, wie ich euch bereits gesagt habe, und seit einem Vierteljahr im Ruhestand.“

Rottmann musterte den Neuankömmling mit dem geübten Blick des Kriminalisten und verschaffte sich einen ersten Eindruck. Er kannte ihn nicht, weil Seibold während seiner aktiven Zeit als Kommissar noch nicht in Würzburg war. Aber so wie es aussah, war der Typ nicht unsympathisch. Was Rottmann jedoch sofort auffiel, war Seibolds ausgesprochen blasser Teint. Er lächelte zwar in die Runde, aber irgendwie hatte dies etwas Gezwungenes. Erich Rottmann glaubte zu spüren, dass es dem Mann in diesem Moment nicht sonderlich gutging.

Während Seibold jedem Schoppenfetzer die Hand schüttelte, registrierte der Exkriminalbeamte, dass der neue Gast eine feuchte Handfläche hatte. Rottmann wunderte sich. Dass ein Mann dieses Formats, der als Anwalt unzählige Male stressigen Situationen ausgesetzt gewesen war, bei der Begegnung mit den Schoppenfetzern nervös wurde, konnte er fast nicht glauben.

Nachdem sich Seibold auf einem freien Stuhl niedergelassen hatte, erklärte er: „Es freut mich sehr, dass ich hier in dieser Runde platznehmen darf. Ron hat mir erzählt, dass sich hier alle duzen. Mich nennen meine Freunde Theo. Ich darf euch doch alle zum Einstand zu einer Runde Schoppen einladen?“

Die allgemeine Zustimmung war ihm sicher. Damit war das Eis gebrochen und das Begrüßungsritual abgeschlossen. Anni kam gleich herbei, um die Schoppenfetzer nach ihren Wünschen zu fragen. Als der Neue einen trockenen Silvaner bestellte, stellte Rottmann fest, dass der Mann, zumindest was seinen Weingeschmack betraf, ausgezeichnet in die Runde passte.

Die Aufmerksamkeit der Schoppenfetzer wandte sich langsam wieder dem zurzeit aktuellen Thema in Würzburg zu: dem Film. Selbstverständlich wurde Seibold sofort in das Gespräch miteinbezogen. Dennoch beschränkte er sich in erster Linie auf die Rolle des Zuhörers. Rottmanns erster Eindruck, dass sich der Mann unwohl fühlte, erhärtete sich. Hin und wieder, wenn er sich unbeobachtet fühlte, drückte er seine Hand gegen den Bauch. Als wenn Seibold Rottmanns Gedanken gelesen hätte, erklärte er später, dass er am Vorabend auf einer Party gewesen sei und einiges an Alkohol konsumiert habe. „Ich bin heute total gerädert“, schloss er seine Erklärung und lächelte um Verständnis bittend in die Runde.

„Man ist halt nicht mehr ganz der Jüngste“, stellte Ron Schneider fest. „Vor zehn Jahren hätten wir derartige Feten locker weggesteckt.“

Seibold zuckte mit den Schultern. Eine knappe Stunde später erklärte er der Runde überraschend: „Ich bitte mir das nicht zu verübeln, aber ich möchte mich jetzt doch gern verabschieden. Ich fühle mich wirklich nicht fit. Wahrscheinlich eine Magenverstimmung. Ich hoffe, dass ich beim nächsten Stammtisch besser beieinander bin.“ Er nahm sein Glas und tat einen kräftigen Zug, trank es aber nicht ganz leer. Schließlich erhob er sich schwerfällig. Die Stammtischbrüder riefen ihm Grüße zu, dann ging er zur Tür. Für einen Augenblick hatte Rottmann den Eindruck, als würde der Mann ein wenig schwanken. Da musste der Gute, wenn er bei den Schoppenfetzern bestehen wollte, noch etwas an sich arbeiten. Als sich die Aufmerksamkeit des Exkommissars wieder auf den Tisch richtete, streifte sein Blick zufällig das Glas mit dem Rest Silvaner, das Seibold stehengelassen hatte. Er stutzte, dann zog er das Glas näher zu sich heran und betrachtete den Inhalt eingehender. Im Weinrest schwebte eine rötliche Schliere. Es gab eigentlich keine andere Erklärung: Das war ganz offensichtlich Blut!

„Na, Erich, seit wann trinkst du die Reste anderer Leute aus? Haben sie dir die Pension gekürzt?“ Xaver Marschmann grinste ihn schelmisch an.

„Quatsch“, gab Rottmann zurück, ging nicht weiter darauf ein und wandte sich wieder der allgemeinen Unterhaltung zu.

Seibold hatte in der Weinstube nur mit größter Selbstbeherrschung durchgehalten. Schon den ganzen Tag über spürte er merkwürdige Schmerzen in der Magengegend, die sich langsam, aber stetig verschlimmerten. Zunächst dachte er, er hätte sich bei der Feier eine Magenverstimmung eingehandelt. Der Alkoholkonsum war reichlich gewesen und er hatte auch durcheinandergetrunken – was ihm noch nie sonderlich gut bekommen war. Aber diese Schmerzen gingen über das bekannte Unwohlsein in Folge eines Katers hinaus und hatten auch insgesamt eine andere Qualität. Schon am späten Morgen, als er mit dröhnenden Kopfschmerzen aufgewacht war, hatte er sich gefühlt, als wäre er unter eine Dampfwalze geraten. Zwei Aspirin statt Frühstück hatten ihm nur wenig Erleichterung gebracht. Den ganzen Tag hatte er gegen dieses Unwohlsein angekämpft. Es hatte ihm wirklich sehr viel Energie abverlangt, den Stammtisch im Maulaffenbäck aufzusuchen. Aber nachdem dies die erste Einladung in diesen Kreis gewesen war, wollte er auf gar keinen Fall absagen.

Nach dem Verlassen des Maulaffenbäck blieb er zunächst einmal an eine Hauswand gelehnt stehen und schöpfte Luft. Plötzlich musste er sauer aufstoßen. Er griff in die Hosentasche, zog ein Papiertaschentuch heraus und wischte sich den Mund ab. Als er danach einen Blick auf das Tuch warf, stutzte er. Im Licht der Straßenlampe sah er, dass es stellenweise dunkel verfärbt war. Er sammelte Speichel im Mund und spuckte auf das Taschentuch. Es gab keinen Zweifel, das war Blut.

Seibold stieß sich von der Hauswand ab. Er würde sich in der Nähe des Mainfrankentheaters ein Taxi nehmen. Scheinbar brütete er irgendeine Krankheit aus. Er wollte nur noch nach Hause. Seibold überquerte die Schönbornstraße und lief weiter durch die Herzogenstraße, weil dies der kürzeste Weg zum Theater war. Nach einigen Metern verspürte er plötzlich einen fürchterlichen Stich in seiner Leibesmitte, so als wäre in seinem Inneren etwas zerrissen. Gleichzeitig wurde ihm schwarz vor Augen. Nur mit letzter Kraft ließ er sich auf einen der leeren Stühle fallen, die an den Tischen der Trattoria Augusto, einem Edelitaliener, standen. Würgend musste er sich plötzlich übergeben. An den anderen Tischen saßen Gäste, die den Mann, der stark angetrunken schien, verärgert anstarrten. Es gab erboste Bemerkungen, die Vittorio, der Kellner, hörte. Als er sah, dass der ungebetene Gast sich über den Tisch erbrochen hatte, begann er laut zu schimpfen. Das Erbrochene war dunkelrot und roch stark nach Alkohol. Für Vittorio war es keine Frage, dass sich der Mann sinnlos mit Rotwein hatte volllaufen lassen. Da Seibold keine Reaktion zeigte, wurde der Kellner wütend und begann heftig an ihm zu zerren, um ihn zum Gehen zu bewegen. Der einzige Erfolg, den er damit erzielte, bestand darin, dass der Mann vom Stuhl rutschte und vor Vittorio auf den Boden krachte. Sein Kopf schlug dabei haltlos gegen das Stuhlbein.

Jetzt hatte der Italiener genug. Er griff zum Telefon und wählte die Nummer der Polizei. Der Kerl musste so schnell wie möglich weg von hier. Einige Gäste griffen schon nach ihren Gläsern, um sich ins Innere der Trattoria zu setzen.

Die Polizeistreife war schnell vor Ort. Die Beamten betrachteten die Szene und hörten sich Vittorios Schimpfkanonade an. Beiläufig warf einer der Beamten einen Blick auf das Erbrochene. Er stutzte, dann rief er seinem Kollegen zu: „Ruf den Notarzt! Das hier ist kein Rotwein, sondern Blut.“

Der zweite Polizist griff zum Funkgerät und verständigte die Einsatzzentrale. Anschließend brachten die beiden Beamten Seibold in die stabile Seitenlage. Er atmete ganz flach und aus seinem Mundwinkel lief ein rotes Rinnsal.

Schon hörte man in der Ferne die Sirene eines Rettungswagens, der mit hoher Geschwindigkeit die Schönbornstraße entlanggerast kam. Als die Rettungsassistenten ihre Utensilien ausluden, näherte sich mit dem Klang eines weiteren Signalhorns aus Richtung Juliusspital der Notarzt.

Keine Minute später wimmelte es um den bewusstlosen Seibold von Männern in weißen Hosen und roten Jacken mit dem Symbol des Malteserkreuzes.

Plötzlich rief der Notarzt: „Vorsicht, er erbricht sich wieder!“ Ein weiterer Schwall Blut ergoss sich aus dem Mund des Liegenden. Der Notarzt wandte sich an den Fahrer des Rettungswagens. „Verständigen Sie die Notrufzentrale, dass sie das Juliusspital anfunken sollen. Wir bringen einen Patienten mit schwersten inneren Blutungen. Einen Transport in ein weiter entferntes Krankenhaus würde er nicht überstehen.“

Der Rächer hatte alles verfolgt. Als Seibold gegen 18 Uhr 15 in den Maulaffenbäck gegangen war, hatte er sich an einen der Tische gesetzt, die in der Maulhardgasse vor der Weinstube aufgestellt waren, eine Weinschorle bestellt – und gewartet. Als Seibold dann überraschend früh wieder in der Tür der Weinstube erschienen war, hatte der Rächer beobachten können, wie sich sein Opfer erschöpft gegen eine Hausmauer gelehnt und sich dabei gekrümmt hatte. Dabei war ein böses Lächeln über das Gesicht des Rächers gehuscht, der nun die erwartete Wirkung eintreten sah. Er war Seibold in einigem Abstand gefolgt und hatte noch dessen Zusammenbruch beobachtet, bevor er sich unter die Neugierigen vor der Trattoria mischte. Ihm war sofort klar gewesen, dass das rote Erbrochene kein Rotwein war. Mit dem kühlen Interesse, das ein Wissenschaftler einer im Versuch verendenden Laborratte widmet, hatte der Rächer den am Boden liegenden Mann gemustert. Als der Notarzt den Atemstillstand festgestellt und massive Rettungsmaßnahmen eingeleitet hatte, hatte sich der Rächer dann doch über den plötzlich so rasanten Fortgang gewundert. Der Vollstrecker hatte ganze Arbeit geleistet.

Nachdem Erich Rottmann die Toilette aufgesucht hatte, verließ er die Weinstube und ging nach draußen, um frische Luft zu schöpfen. In der Gasse vor dem Maulaffenbäck standen die Raucher und unterhielten sich. Gerne hätte Rottmann sich zu ihnen gesellt, um eine Pfeife zu rauchen, doch er wollte Öchsle nicht so lange allein lassen. Heute schienen die Nikotinfreunde ein besonders heißes Thema zu diskutieren, denn es herrschte ein regelrechtes Stimmengewirr. Rottmann trat langsam aus dem Eingangsbereich der Weinstube und gesellte sich zu den Rauchern. Jetzt bemerkte er, was ihre Aufmerksamkeit erregte. In der nahen Herzogenstraße war das beunruhigende Zucken der Blaulichter von Einsatzfahrzeugen zu erkennen, das von den Häuserwänden zurückgeworfen wurde. Rottmann beschlich plötzlich ein beklemmendes Gefühl. Er konnte erkennen, dass es sich um Rettungskräfte und um ein Polizeifahrzeug handelte. Ohne lange nachzudenken, verließ er die Gasse. Als er sich den Helfern näherte, die sich am Boden um einen auf der Trage liegenden Menschen bemühten, konnte er hören, wie der Notarzt gerade rief: „Er atmet nicht mehr! Kein Herzschlag! Schnell in den Wagen mit ihm, wir müssen reanimieren!“

Die Sanitäter sprangen von der Trage zurück und rollten sie zum Rettungswagen. Bei dieser Gelegenheit konnte Rottmann einen kurzen Blick auf den Patienten werfen. Trotz der blutgetränkten Jacke des Mannes erkannte der Exkommissar, dass es sich um das neue Stammtischmitglied Theo Seibold handelte. Schlagartig musste Rottmann an die blutige Schliere in Seibolds Glas denken.

Rottmann trat einen Schritt zurück und blickte in den Rettungswagen. Doch er konnte nur erkennen, dass die Männer des Rettungsdienstes um die Trage herumstanden und sich intensiv um ihren Patienten bemühten.

Der ehemalige Leiter der Würzburger Mordkommission verspürte ein wohlbekanntes Kribbeln in der Nase. Was war mit dem neuen Schoppenfetzer los? Wie konnte es sein, dass ein gerade noch vitaler Mann innerhalb so kurzer Zeit an der Schwelle des Todes stand?

Er schaute sich um. In seiner Nähe standen einige Passanten. Einer davon verfolgte das Geschehen mit einer derart auffälligen Neugier, dass Rottmann den Kopf schüttelte. Er kannte dieses Verhalten von seinen Einsätzen her, als er noch im aktiven Dienst stand. Menschen ergötzten sich immer wieder gerne am Leid anderer.

Während das Rettungsfahrzeug durch die Schönbornstraße in Richtung Juliusspital davonfuhr, ging Rottmann zurück zum Maulaffenbäck.

Am Stammtisch erwarteten ihn die fragenden Gesichter der Schoppenfetzer. Sie wunderten sich darüber, dass er so lange weggeblieben war. Während er Öchsle, der sich unter dem Tisch freudig an ihn drängte, den Kopf kraulte, erklärte er den Männern kurz, was er erlebt hatte. Auch die Stammtischbrüder zeigten sich darüber sehr betroffen.


Der Schoppenfetzer und die Satansrebe

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