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II. Gelehrtenstreit

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»Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott, der Herr, der ist und der war und der kommt, der Herrscher über die ganze Schöpfung.«

Offenbarung des Johannes 1, 8

Sieben Jahre und sieben Monate später

»Guten Abend meine Damen und Herren! Es ist Sonntag, der achte Januar 2012. Mein Name ist Richard White, und mit mir im Studio befindet sich Kim Williams«, begrüßte der Nachrichtensprecher des Fernsehsenders CNN seine Zuschauer.

Richard White, der die Zuschauer schon über Jahre durch das Nachrichtenprogramm führte und insofern ei­nen hohen Bekanntheitsgrad hatte, war in den letzten Jah­ren sichtlich gealtert. Sein ehemals gänzlich schwarzes Haar schien an manchen Stellen verräterisch grau, und sei­ne Gestalt hielt er nicht mehr so aufrecht wie früher.

Den stärksten Hinweis auf seinen Alterungsprozess ga­ben indes seine Augen, die von einer traurigen Melancholie umspielt waren. Er fuhr fort: »Wie in den vergangenen Sendungen berichten wir auch heute wieder von den Kri­senherden auf diesem Planeten, der uns die letzten Jahre so übel mitspielt. Die Zahl der Opfer geht Schätzungen der UNO zufolge mittlerweile in die Millionen, aber diese Zahl genau zu ermitteln wird sicherlich niemals möglich sein. Zunächst liefern wir Ihnen aber eine chronologische Zu­sammenfassung der Ereignisse des letzten Monats, die vie­le von uns in ihrem tiefsten Innern erschütterten. Anschlie­ßend schalten wir nach New York, wo heute unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen eine Diskussions­runde mit namhaften Wissenschaftlern aus Amerika und Europa stattfindet, die über das weitere...«

Er unterbrach irritiert und lauschte stillschweigend für einige Sekunden, dann entschuldigte er sich, wieder frei in die Kamera blickend: »Verzeihen Sie die Unterbrechung, aber ich erfahre gerade, dass wir schon in Kürze nach New York gehen, die Sitzung fängt offenbar früher an als uns ursprünglich mitgeteilt wurde.«

Nun übernahm seine Kollegin Kim Williams, der man es ebenfalls ansah, dass sie älter geworden und mittlerweile Mitte dreißig war. Ihre großen, dunklen Augen machten ei­nen traurigen Eindruck, ihr immer noch volles Haar trug sie hochgesteckt, was ihr ein fast strenges Aussehen ver­lieh.

Sie begrüßte die Zuschauer mit einem unsicher wirken­den Lächeln bevor sie sagte: »Bevor wir hinüberschalten darf ich Ihnen die Damen und Herren der Diskussionsrun­de noch ganz kurz vorstellen! Wir erwarten die Professoren Frederick Taylor, ehemals University of Detroit, Jonathan Buttler von der Yale-University, Claudia Freeman von der University of Michigan, Jeremy Matthew Dixon, ehemali­ger Angehöriger der Regierung als Generalsekretär für die Nationale Sicherheit mit Schwerpunkt Umwelttechnologi­en, Walter James Green, Mitbegründer der International Geographic Foundation und vordem tätig an der Harvard University, William O'Donnell von der University of Cam­bridge, Shannon Riggs von der Oxford-University, Herrn Professor Doktor Eduard Wagner vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg und Frau Doktor Renate Schumann vom geologischen Forschungszentrum in Pots­dam, die Eheleute Sarah und Derek Newman, die in Ost-Asien viel praktische Erfahrung gesammelt, aber natürlich auch entsprechende Arbeit geleistet haben, sowie Com­mander Hughes William Phillips von der Navy, ehemali­ger Technischer Offizier auf dem Flugzeugträger USS George Washington und jetzt beschäftigt im Weißen Haus in unmittelbarer Nähe des Stabschefs. Von ihm erhoffen wir uns natürlich auch Aussagen bezüglich der weiteren Maßnahmen seitens der Regierung. Eine Zusammenfas­sung am Ende der Sendung wird die Ergebnisse nochmals genau analysieren. Zu diesem Zweck steht uns unser stell­vertretender Redaktionschef nachher zur Verfügung, mit dem wir...«

Da wurde sie von ihrem Kollegen unterbrochen, der plötzlich einwarf: »Entschuldige, Kim, aber jetzt ist es so­weit, wir schalten hinüber nach New York, ins Quartier der Vereinten Nationen.«

Die Zuschauer sahen noch für einen kurzen Augenblick das verlegene Lächeln des sympathischen Reporters, dann erschien für Sekunden ein schwarzes Bild. Schließlich wur­de die Flagge der Vereinten Nationen sichtbar, und danach erschien das Symbol für eine globale Sendung.

*

In den ansonsten eher ruhigen Gängen des UNO-Gebäudes mit seiner äußerst gediegenen Atmosphäre herrschte eine fast schon spürbare Anspannung. Nicht nur die Zuschauer an den Fernsehschirmen, sondern auch die im Gebäude und im Saal Anwesenden warteten gespannt auf die Ge­schehnisse. Und obgleich die Ostküste und also auch New York an diesem Tag mit einem extremen Schneechaos zu kämpfen hatte, waren alle Konferenzteilnehmer, Journalis­ten und UN-Verantwortliche rechtzeitig erschienen.

Das nächste Bild zeigte einen mittelgroßen Saal im UNO-Hauptgebäude, in dem ungefähr einhundertfünfzig Zu­schauer anwesend waren.

Sie alle richteten ihren Blick auf ein etwas erhöhtes Podi­um, in dessen Mitte die genannten Personen um einen großen kreisförmigen Tisch herum saßen. Vor jedem Teil­nehmer der Diskussionsrunde befand sich ein Schild mit seinem Namen und seiner aktuellen oder zuletzt ausgeüb­ten Tätigkeit, daneben war auf jedem Platz das unvermeid­liche Glas Wasser nebst Flasche aufgestellt. Jeder Platz ver­fügte über mehrere in den Tisch eingearbeitete Sensoren, die es den Beteiligten ermöglichten, bestimmte Daten auf eine riesige, sechsunddreißig Quadratmeter große Lein­wand zu projizieren, die von einem Computer auf Abruf bereit gehalten wurden. Sie war an der den Zuschauern ge­genüberliegenden Seite des Raumes angebracht und diente darüber hinaus als Fernsehschirm, auf dem momentan noch die Sitzordnung der Experten angezeigt wurde. Et­waige weitere Darstellungen konnten jederzeit von den UNO-Mitarbeitern im Hintergrund des Geschehens einge­bracht werden. Ein Computer im Nebenraum war zuvor mit Unmengen von Daten und Informationsmaterial von Seiten der Wissenschaftler und der Mitarbeiter gefüttert worden, um es dann im Bedarfsfalle für alle Teilnehmer und Zuschauer sichtbar machen zu können.

Hinter den verglasten Scheiben der Pressekabinen, die auf den drei weiteren Seiten des Raumes lagen und bis auf den letzten Platz belegt waren, harrten Hunderte von Re­portern und Journalisten ungeduldig auf den Beginn der Konferenz, um sie in jeden Winkel der Erde zu übertragen.

Als Einziger saß Professor Frederick Taylor auf einer et­was herausgehobenen Sitzposition - in der Mitte des Ti­sches unmittelbar vor der Leinwand - und ermöglichte so­mit allen Zuschauern direkten Sichtkontakt. Er war ein Mittsechziger, mit größtenteils grauem Haar, das allerdings ausgezeichnet zu ihm passte.

Er machte einen sehr intelligenten, seriösen und gebilde­ten Eindruck und war mit Sicherheit nicht umsonst von al­len anderen zum Sprecher bestimmt worden. Denn obwohl prinzipiell eine gesunde Portion Selbstbewusstsein zum Beruf eines derartigen Experten gehört, waren sich alle ei­nig, dass ihm der inoffizielle Vorsitz gebührte. Das mochte allerdings auch daran liegen, dass er der älteste aller An­wesenden war. Wie die meisten trug er einen unauffälligen grauen Anzug, der den seriösen Eindruck noch verstärkte.

Es ertönte ein Gong als Zeichen, dass nun alle Fernseh­stationen zugeschaltet waren und die Diskussion beginnen konnte. Ein erwünschter Nebeneffekt war das sofortige Verstummen der Zuschauer, die nun ihre volle Aufmerk­samkeit auf das Podium richteten. Professor Taylor räus­perte sich vernehmlich bevor er begann: »Guten Abend, meine Damen und Herren, verehrte Zuschauer am Fern­sehgerät, liebe Gäste, - er blickte die am Tisch Sitzenden der Reihe nach an – Kolleginnen und Kollegen!«

Und wieder in die Kamera blickend fuhr er fort: »Ich darf Sie zu dieser eher ungewöhnlichen Sendung im Namen al­ler hier Anwesenden begrüßen. Da von Seiten des Veran­stalters auf einen zusätzlichen Moderator verzichtet wurde, da man der Meinung war, hier genug Fachidioten vorzu­finden - er lächelte leicht und seine Kollegen verzogen ebenfalls pflichtschuldigst ihre Mundwinkel - wurde ich gebeten, Sie durch die Sendung zu führen. Auf eine Vor­stellung der so genannten Experten, wie man uns zuweilen nennt, kann ich verzichten, da wir alle schon von Ihren je­weiligen Fernsehsendern vorgestellt worden sind. Daher nur noch eine kurze Sache, bevor wir dann beginnen wol­len: Sie hören, sofern Sie nicht den Originalton in engli­scher Sprache verfolgen, die Stimme eines Dolmetschers der Vereinten Nationen. Diese Sendung wird in insgesamt über einhundert Länder übertragen, und neben der eng­lischsprachigen Originalversion ist sie unter anderen in Chinesisch, Arabisch, Französisch, Portugiesisch, Japa­nisch, Russisch, Spanisch, Italienisch, Türkisch, Hollän­disch, Deutsch, Polnisch, Bulgarisch, Rumänisch, Kroa­tisch, Hebräisch und Griechisch zu hören. Für die entspre­chende Audio-Übertragung sind die nationalen Fernseh­stationen zuständig. Obwohl das Gespräch simultan über­setzt wird, kommt es natürlich zu einer geringfügig verzö­gerten Übertragung, insofern werden wir uns bemühen, nicht zu hektisch zu verfahren und vor allem den anderen aussprechen zu lassen«, wandte er sich an seine Kollegen, »und nicht zu unterbrechen. - Ich danke Ihnen!«

Die Zuschauer im Saal spendeten Applaus, und nachdem die anderen Professoren die Zuschauer ebenfalls mit einem leichten Kopfnicken begrüßt hatten, ergriff Professor Butt­ler, ein kleiner und übergewichtiger Mann, der nicht nur bei seinen Kollegen, sondern auch bei Studenten und in seinem Bekanntenkreis als ein cholerischer und äußerst temperamentvoller Professor bekannt war, sogleich das Wort: »Also, um mal gleich auf den Punkt zu kommen! Diese Diskussion wird letztendlich doch zu nichts führen, denn Sachen, die geschehen sind, können nicht mehr rück­gängig gemacht werden, und ich glaube auch nicht, dass die Zukunft so viel besser aussehen wird! Jedenfalls nicht als Folge der heutigen Versammlung oder Diskussionsrun­de und dieses Gesprächs!«

Jonathan Buttler war ohne Zweifel die auffälligste Per­sönlichkeit im Kreis der Experten. Zu schwarzer Hose und schwarzem Hemd trug er ein flammend rotes Jackett, des­sen Farbe seine Gesichtszüge stets anzunehmen pflegten, wenn er sehr erregt war. Doch noch behielt sein Teint die normale Farbe.

Der zu seiner Linken im Rollstuhl sitzende Walter James Green fiel ein: »Müssen Sie denn schon wieder alles so ne­gativ sehen? Dieser Kreis ist meiner Meinung nach sehr wohl dazu imstande, geeignete Lösungsmöglichkeiten aus­zuarbeiten - und auch zu verwirklichen!«

Buttlers Gegenüber, Professor William O'Donnell, ein ru­higer Brite Anfang sechzig, stimmte Green zu: »Der Mei­nung bin ich allerdings auch. Über eine unzureichende Qualifikation braucht sich in dieser Runde mit Sicherheit niemand Gedanken zu machen!«

Commander Phillips versuchte die Gemüter zu beruhi­gen: »Aber meine Herren! Ich versichere Ihnen, dass nie­mand Ihre Qualifikation in Frage stellt. Wir wollen in die­ser Runde doch das Fachwissen von Ihnen vermittelt be­kommen. Und zwar einmal für den Zuschauer, damit der eine ungefähre Vorstellung bekommt, wie es weitergehen könnte, und zum anderen für den Präsidenten, dem ich morgen hoffentlich ein Ergebnis aus dieser Runde präsen­tieren kann.«

Der Commander wirkte auf Grund seines dunklen Voll­bartes und der angegrauten Schläfen älter als er eigentlich war. Seine Augen verrieten jedoch eine Vitalität, die fast noch als jugendlich zu bezeichnen war. Nicht nur dadurch unterschied er sich von den Professoren, sondern auch in der Wahl seiner Kleidung. Zu einem marineblauen Pullo­ver trug er eine weiße Hose, was immerhin Rückschlüsse auf sein Ressort zuließ. Er war wie Green ebenfalls fünfzig Jahre alt und von großer, hochgewachsener Statur, was sich durchaus mit seiner Stimme vereinbarte, die wohltö­nend und kräftig war.

Bei der Engländerin Shannon Riggs schien er jedoch kei­ne besondere Wirkung zu erzielen, denn sie fragte sarkas­tisch: »Warum? Sitzt er denn nicht auch vor seinem Fernse­her?«

Sie war eine kleine schlanke Frau Anfang vierzig und musste auf den ersten Blick in jedem Mann den Beschützer­instinkt wecken. Doch da hatte sich schon so manch einer verrechnet. Sie besaß nämlich einen eisernen Willen und konnte ihren hübschen Kopf durchaus auf stur schalten. Sie war bekennende und praktizierende Ökolo­gin, benutzte nur Bahn und Fahrrad als Transportmittel und wohnte in einem großen Anwesen auf dem Land. Ihre Unterrichtsstätte war Oxford, wo sie von Dienstags bis Donnerstags unterrichtete, und sich in geringer Entfernung zur Universität eine kleine Wohnung gemietet hatte. Don­nerstags fuhr sie dann allerdings wieder nach Hause, in den Südwesten Englands. Drei Tage verpestete Luft reich­ten ihr jede Woche, wie sie meinte.

Phillips, dessen Zivilkleidung die Konferenzteilnehmer entsprechend zu würdigen wussten, denn immerhin war das ein Zeichen dafür, dass er sie nicht mit der gewohnten Arroganz, die einige Offiziere gegenüber Zivilisten hervor­zubringen pflegen, betrachtete, blickte sie eisern an: »Nein, dazu hat er keine Zeit«, ließ er seinen Blick nun weiter in die Runde schweifen, »denn wie vielleicht auch Sie schon mitbekommen haben, versuchen wir den anderen Natio­nen nach wie vor zu helfen, obwohl unser Land seit eini­gen Jahren ebenfalls zu den stark betroffenen Ländern die­ser äußerst katastrophalen Zustände zählt.«

Nun versuchte Claudia Freeman, eine attraktive Mittvier­zigerin mit langen, dunklen Haaren, die Spannung zu ent­schärfen: »Sie meinen Florida und natürlich die Unwetter, die dem Süden und dem Südosten so übel mitspielten.«

Commander Phillips nickte: »Ja, Florida vor zweieinhalb Jahren, und wenig später die Südküste. Und obwohl dort Zehntausende von Opfern zu beklagen waren und Schäden in hundertfacher Milliardenhöhe entstanden, und wir die Spuren noch immer nicht hundertprozentig beseitigt ha­ben, unterstützt unsere Nation immer noch nach Kräften solche Länder, die es aus eigener Kraft einfach nicht schaf­fen.«

An diesem Punkt stellte Walter Green nüchtern fest: »Da­mit spielen Sie auf Japan an, wo die Navy vor wenigen Jah­ren den größten Einsatz ihrer Geschichte erlebt hat.«

Professor William O'Donnell bemerkte schnell: »Ja, so et­was habe ich noch nicht gesehen. Es muss damals ja fast die gesamte Flotte...«

Commander Phillips unterbrach ihn: »Nein, nein, das Kontingent, das sich im Japanischen Meer und im Pazifik vor Japan im Einsatz befand, stellte ungefähr die Hälfte un­serer Seestreitkräfte dar.«

Da lehnte sich Professor Jeremy Dixon wohlgefällig in seinen Stuhl zurück und bemerkte ironisch: »Ja, und ein Viertel davon befindet sich noch immer in der Werkstatt!«

Er war nach Professor Taylor und Professor Wagner mit dreiundsechzig Jahren der drittälteste in dieser Runde, sah mit seinem dichten, schon ins Graue schimmernden Voll­bart und dem tief zerfurchten Gesicht sogar noch etwas äl­ter aus, und verfügte seinem Blick zufolge über mehr Le­benserfahrung als alle Anwesenden zusammen. Sein schwarzer Anzug verstärkte diesen Eindruck um ein Viel­faches, und er war den Kollegen kein Unbekannter, doch auf Grund seiner ehemaligen Tätigkeit im Weißen Haus weder besonders bekannt noch beliebt. Er spielte nämlich sehr gern mit seiner außergewöhnlichen Position und Au­torität, die er schon damals zu jeder Gelegenheit hervorzu­heben wusste, und an die er sich und andere auch in der Gegenwart zu erinnern pflegte.

Phillips blickte ihn stirnrunzelnd an, sagte aber nichts.

Nun trat Frederick Taylor auf den Plan: »Meine Damen und Herren! Wie Sie sehen und auch hören konnten, sind wir schneller zum Thema gekommen als gedacht, was al­lerdings auch nicht weiter verwunderlich ist, da es kein Drehbuch für diese Sitzung gibt!«

Einige Leute im Publikum lachten, die aufgeheizte Stim­mung unter den Anwesenden flaute merklich ab.

Taylor fuhr fort: »Um Ihnen allen jedoch zunächst einmal die Chance zu geben, eine einheitliche Gesprächsbasis zu erreichen, haben wir – er blickte seine Kollegen der Reihe nach an -, etliche Fernsehsender weltweit und einige UNO-Mitarbeiter in den vergangenen beiden Tagen einen kurzen Film zusammengestellt, der jetzt zunächst einmal den Stand der allgemeinen Entwicklung auf der Welt wiederge­ben soll. Er dauert sechseinhalb Minuten und enthält Se­quenzen aus verschiedensten Nachrichtensendungen aus aller Welt, die unmittelbar hintereinander geschnitten sind und deren Kommentare durch entsprechende Nachbear­beitung jetzt hier in Englisch zu hören sind.«

Er drückte an seinem Platz zwei Knöpfe und gleich dar­auf einen dritten und schlagartig wurde das Licht im Sit­zungssaal gedämpft, und auf der großen Leinwand er­schien ein Bild.

»Ich darf um Ruhe bitten, Herrschaften«, war Taylors so­nore Stimme noch einmal zu vernehmen, »denn einige der Sequenzen verfügen wie gesagt über Ton!«

Dann war Stille und alle – auch die Professoren, die den Film ja bereits kannten – schauten gebannt zu dem riesigen Bildschirm hinauf. Die ersten Bilder zeigten Aufnahmen von der Westküste Südamerikas, wo El Niño mit einer un­vergleichlichen Wucht zahlreiche Dörfer dem Erdboden gleichmachte. Andere Bilder zeigten Satellitenaufnahmen von Hurrikans und Tornados, die über die Karibik, Mittel­amerika und die Vereinigten Staaten zogen und noch schlimmere Verwüstungen anrichteten. Nun wurden Film­sequenzen mit Ton eingespielt, und Stimmen von verschie­denen Reportern waren zu vernehmen: »... den Treibhaus­effekt gibt es doch nur in den Gehirnen von Politikern und Anhängern alternativer Energien! Es würde auch noch schlimmer werden, wenn wir alle nicht mehr Auto fahren würden und sämtliche Kraftwerke außer Betrieb...« – »... wurden bei Rettungs- und Löscharbeiten zehn Feuerwehr­leute getötet und fünfunddreißig verletzt. Die Brände dau­ern mit unverminderter Wucht an und sind von den Behör­den...« – »... wurde die Evakuierung mehrerer Ölbohrplatt­formen im Golf von Mexiko gerade noch rechtzeitig abge­schlossen...« – »... nach sintflutartigen Regengüssen hat die Feuerwehr in der Hansestadt vor einer Stunde den Aus­nahmezustand ausgerufen. Die Temperaturen fielen inner­halb einer halben Stunde von dreiunddreißig auf siebzehn Grad Celsius...« - »... haben Böen in den Alpen Geschwin­digkeiten von bis zu zweihundertneunzig Kilometern pro Stunde erreicht. Dabei wurden zahlreiche Autofahrer von umstürzenden Bäumen in ihren Autos eingequetscht...« – »... fielen seit vergangenem Freitag über dreihundertfünf­zig Liter Regen pro Quadratmeter - die Stadt stand somit bereits zum dritten Mal innerhalb von nur sieben Monaten komplett unter Wasser...« - »... sind in den letzten Tagen im mittleren Westen der USA dreiundfünfzig Menschen durch mehrere Tornados ums Leben gekommen...« - »... ist der Pacific Coast Highway nach tagelangem Regen völlig über­schwemmt und nicht mehr passierbar...« - »... flüchten die Menschen hier in Japan ins Landesinnere - Kumano Bay und Ise Bay wurden durch Tsunamis verwüstet, seit Wo­chen strömen die Menschen in Richtung Kyoto, das für vie­le die letzte Hoffnung zu sein scheint - seit heute sind wohl auch die hartnäckigsten Optimisten zur Flucht entschlos­sen - lassen ihr Hab und Gut zurück und retten oftmals nur das nackte Leben...« – »... stehe ich vor den Trümmern des Mitsubishi Bank-Gebäudes!«

Die Reporterin deutete mit der freien rechten Hand auf die hinter und neben ihr liegenden Gebäudeüberreste: »In weitem Umkreis wurden die Gebäude, die in Fachkreisen als erdbebensicher galten, durch Erdbeben nachhaltig zer­stört – wie Sie sich selbst überzeugen können. Und noch immer gehen leichte Nachbeben durch die Stadt und das Land und versetzen die Menschen in eine Panik, die...«

Ein dumpfes Grollen schnitt ihr die restlichen Worte ab, und eine männliche Stimme schrie: »Los komm! Wir müs­sen hier weg! Zum Hubschrauber zurück!«

Die Kamera zeigte einige verschwommene, nur undeutli­che Aufnahmen bis das Bild schließlich kippte, und einen schwarzen Bildschirm hinterließ.

Nach einem kurzen Störsignal erschien ein neuer Beitrag, der eine andere Reporterin zeigte, die mit wehenden Haa­ren in einem Hubschrauber saß und die Geschehnisse und Bilder unter ihr kommentierte: »... befinde ich mich über der Bucht von Tokio! Der Tsunami, der sich in der Sagami Bay aufgebaut hatte und mit unwiderstehlicher Gewalt die Stadt Kamakura vollständig zerstört hat, hinterließ hier ein schreckliches Bild der Verwüstung! Er drang zwar auch in die Bucht von Tokio ein und gelangte bis Tokio, doch rich­tete er bei weitem nicht soviel Schaden an wie die Erdbe­ben, die die Stadt in ein Trümmerfeld verwandelten...« - »... haben die Unwetter und Katastrophen in Südostasien Zehntausende Opfer gefordert, vereinzelt war von Flücht­lingen zu hören, dass sie sich bestraft fühlten, aber doch nichts Schlimmes getan hätten! Die Verhältnisse an Chinas Küsten sind nicht besser, Hongkong wurde ebenso von Flutwellen verwüstet, alle Schiffe, die im bisher als äußerst sicher geltenden Hafen lagen, wurden zerstört, der Tsuna­mi wälzte sich durch die engen Gassen und richtete in der Stadt größte Schäden an!«

Die Reporterin konnte nicht verhehlen, dass ihr die Ge­schehnisse zu schaffen machten. Ihre Augen waren leicht verquollen und mit einer raschen Handbewegung wischte sie eine Träne weg. Der Leitsatz der Journalisten, nur Fak­ten und Nachrichten zu präsentieren, aber keine Emotio­nen zu zeigen oder zu kommentieren, war ob der katastro­phalen Zustände eine echte Herausforderung, der nicht je­der gewachsen war. Sie konnte ihre Emotionen, die klar zeigten, dass sie das Geschehen nicht unbeteiligt ließ, je­denfalls kaum mehr unterdrücken und schluchzte leise, während sie die Ereignisse des Tages in gewohnt knapper und präziser Form wiederzugeben suchte. Doch merkte sie offenbar, dass ihr ihre emotionale Lage trotz allem anzuse­hen war, und mit einem unsicheren Lächeln blickte sie in die Kamera: »Entschuldigen Sie..., meine sehr verehrten Damen und Herren..., aber diese Ereignisse..., die kann ich nicht... – Eine Kollegin von mir war nach einem Vulkan­ausbruch vor einigen Jahren im Kongo und hat die Stim­mung dort wohl sehr zutreffend beschrieben als sie sagte: Das ist kein normaler Krieg. Das ist der Krieg Gottes. – Ich denke diese Aussage kann man auch auf diese Geschehnis­se und die heutige Zeit beziehen!«

Das nächste Bild zeigte eine Flotte von Kriegsschiffen, ja­panische und einige koreanische, aber auch sehr viele ame­rikanische und europäische, die im Pazifik, im Japanischen und im Ostchinesischen Meer lagen, und die Tausende von Flüchtlingen an Bord nahmen.

»Danke, das war's«, ließ sich nun wieder Professor Tay­lors sonore Stimme vernehmen. Der Bildschirm wurde dunkel, und das Licht im Saal wurde wieder eingeschaltet, doch es verging eine geraume Zeit, bevor Professor Wag­ner einen Kommentar abgab: »Mein Gott! Obwohl ich den Film ja bereits kannte, lief es mir jetzt erneut eiskalt den Rücken hinunter!«

Er hatte einen Platz an der Sonne erwischt, wie er schon beim Betreten des Podiums bemerkt hatte, denn er wurde von zwei bezaubernden Damen eingerahmt. Beide hätten in Bezug auf den Altersunterschied allerdings durchaus seine Tochter sein können, und sie bekundeten Beifall zu seiner Rede indem sie ungewöhnlich heftig nickten.

Die zu seiner Linken sitzende Renate Schumann über­ragte ihren anderen Nachbarn, Jonathan Buttler, deutlich. Sie war neben ihm die Einzige, die ein wenig Farbe in diese Runde brachte, denn sie trug ein blaues Kostüm, dass je­doch gegen das schreiende Rot von Buttler keine Chance auf einen Aufmerksamkeitspreis hatte. Sie war Anfang vierzig, hatte kurzes rotblondes Haar und bei Professor Wagner promoviert. Während er jedoch dem in Hamburg ansässigen Max-Planck-Institut für Meteorologie treu blieb, ging sie anschließend zum geologischen Forschungszent­rum nach Potsdam.

Die zweite bezaubernde Dame neben dem Deutschen war Sarah Newman, die ebenfalls großgewachsen war und halblange blonde Haare trug. Damit hörten die Gemein­samkeiten mit Renate Schumann aber auch schon auf, denn im Gegensatz zu ihr besaß sie keinen Doktortitel oder sons­tige Auszeichnungen. Sie hatte mit ihrem neben ihr sitzen­den Mann fast fünfzehn Jahre in Südostasien gelebt und war Ende vierzig.

Ihr Mann, Derek Newman, war fünf Jahre älter als sie. Er hatte ähnlich graue Haare wie Professor Taylor, doch sein Gesicht verriet die gleiche Vitalität wie dasjenige von Com­mander Phillips. Er übte durch seine äußerst charismati­sche Art eine fast magische Anziehungskraft auf seine Ge­sprächspartner aus und war in der Newman'schen Ehe ein­deutig der ruhige Pol. Doch jetzt war er es, der zunächst das Wort ergriff: »Ja, das geht mir auch so, schon schockie­rend!«

»Und wie es scheint, hat man für das Militär endlich mal eine gute Beschäftigung gefunden!«, spottete Shannon Rig­gs.

»Das ist nicht fair!«, schüttelte Phillips den Kopf. »In Ih­rer Vorstellung existieren Soldaten ja nur als potentielle Mörder und Kriegsteilnehmer!«

»Ja, aber wie man sehen kann, gibt es auch durchaus sinnvolle Tätigkeiten!« Die Ökologin legte gleich zu Beginn Zeugnis ihrer Halsstarrigkeit ab.

»Und ich möchte an dieser Stelle nur kurz erwähnen, dass unsere Soldaten schon gegen die Naturgewalten ge­kämpft haben, als die Amerikaner noch nicht einmal davon träumten, Militär in diesem Ausmaß für so etwas einzuset­zen! Aber als die Maschinerie einmal im Gang war, wurde es natürlich im Rahmen der Selbstdarstellung und Propa­ganda in aller Ausführlichkeit und äußerst eindrucksvoll dargestellt«, warf Professor Wagner ein.

»Und Sie haben ja wohl bei diesen Operationen auch ei­nige Rückschläge erlitten«, meinte Shannon Riggs, »ich er­innere mich nur an diesen Flugzeugträgerverband, der da­mals mitten im Ozean verschwand und...«

»Die Truman!«, rief Professor Buttler dazwischen. »Ge­nau! Die ist doch damals mit Mann und Maus im Pazifik abgesoffen – warum eigentlich, Commander? Das Penta­gon hat auch später nie eine vollständige Erklärung über den Vorfall abgegeben!«

Phillips' Gesicht verhärtete sich: »Wir sprechen nicht gern darüber.«

»Aber es ist ja wohl eine Tatsache, dass die Truman da­mals mit dem Ziel der Ostküste Japans von San Diego aus­lief und der Kontakt zu ihr irgendwo nördlich von Hawaii abriss, oder wollen Sie das leugnen?«

Der Commander blickte ihn eisern an: »Ich leugne gar nichts. Aber ich bin nicht befugt, über diesen Vorfall zu sprechen.«

»Das kann ich mir denken«, mischte sich nun Claudia Freeman ein, »immerhin war es kein Bravourstück, einen riesigen Flugzeugträger mit Begleitschiffen zu verlieren! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass sich das irgendwo vor der Ostküste der Vereinigten Staa­ten im Bermuda-Dreieck abgespielt hat, aber ich habe die Truman damals ja mit meinen eigenen Augen von San Die­go auslaufen sehen!«

»Stimmt genau«, nahm Buttler dankbar den Ball auf, den ihm seine Kollegin zugeworfen hatte. »Man könnte sogar sagen, dass es ausgesprochen peinlich war! Aber der Gipfel waren die Statements, die eine Flutwelle für die Katastro­phe verantwortlich machten – so ein Unsinn!«

»Keineswegs«, widersprach jedoch Professor Wagner, »solche Flutwellen sind nicht nur in Küstennähe aufgetre­ten, sondern auch schon auf offener See! Bei uns in Deutschland bezeichnet man sie als 'Monsterwellen'. Es wurden schon Wellen beobachtet, die fünfunddreißig Me­ter hoch waren – und das sind die gewesen, die von Über­lebenden gesichtet wurden. Ich möchte nicht wissen, wie hoch solche Wellen sind, von denen keine Überlebenden mehr berichten können...«

Für Sekunden herrschte absolute Stille. Jeder versuchte sich vorzustellen, was eine etwa vierzig Meter hohe Wand aus Wasser auf offener See für Kräfte entwickeln konnte, und Einigen in der Runde – und auch im Publikum - konn­te man problemlos an den Gesichtern ablesen, dass sie durchaus die Fantasie dazu aufbrachten. Wagner fuhr fort: »Die deutschen Seeleute nennen so eine Welle 'Kavents­mann', aber sie treten Gott sei Dank nicht allzu häufig auf. Aber wenn...«

Er beendete den Satz nicht, sondern verstummte und lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück. Ein schneller Blick in Phillips' Gesicht hatte ihm gezeigt, dass er mit sei­ner Vermutung richtig lag.

»Gott sei Dank?« Buttlers Stimme hatte etwas widerlich Zynisches. »Was hat denn Gott damit zu tun? Ich glaube nun wirklich nicht, dass Gott in Zusammenhang mit ir­gendwelchen Naturkatastrophen steht!«

»Das ist sicherlich richtig«, mischte sich Professor Jeremy Dixon ein, »dafür gibt es ganz andere Erklärungen!«

»Aber Gott ist doch mit allem verbunden, wie soll er dann nicht an etwas beteiligt sein?«, fragte Derek Newman.

Dixon blickte ihn scharf an: »Ach ja? Wo war denn Ihr Gott, als Florida verwüstet wurde? Als Houston zerstört wurde? Als New Orleans überflutet wurde? Als das stärks­te Erdbeben, das jemals in den Staaten gemessen wurde, die Region von Miami bis Havanna erschütterte? Auf Kuba herrschten Epidemien wie zur Zeiten der Pest in Europa!«

Jonathan Buttler nahm seine Lesebrille von der Nase und hielt sie wie eine Pistole auf seinen Gegenüber gerichtet: »Nicht zu vergessen die Flutwellen, die über Neuseeland und Australien eingebrochen sind, wo es zwar nicht so vie­le Tote gab, aber die Natur spielt doch überall verrückt! Wenn ich Gott wäre, würde ich so etwas nicht zulassen!«

Da stellte Derek Newman ganz sachlich fest: »Wenn Sie Gott wären, würde es diese Welt doch wohl kaum geben!«

»Das ist ja wohl eine Frechheit!«, entgegnete Buttler. Mit vor Hohn triefender Stimme fuhr er fort: »Ich habe mich auf diese Sitzung natürlich auch ein bisschen vorbereitet und mir ein paar Unterlagen zusammengestellt..., erlauben Sie«, kramte er in seiner Tasche und brachte schließlich ei­nen schmalen Ordner hervor. »Hier ist eine Aufstellung der größten Schäden der letzten fünfundzwanzig Jahre! Ich denke, wir alle sind uns einig, dass die Zeit seit Ende der Achtziger als die schlimmste in der gesamten Geschichte der Menschheit angesehen werden dürfte«, blickte er in die Runde.

Und nachdem ihm niemand widersprach, schlug er sie­gesgewiss den Ordner auf. Gleichzeitig betätigte er zwei Knöpfe an seinem Platz, und auf der Leinwand erschien eine Übersicht. Er las vor: »1988 Armenien – fünfundzwan­zigtausend Todesopfer nach einem Erdbeben, 1990 wieder ein Erdbeben, diesmal im Iran – vierzigtausend Todesop­fer, 1991 Bangladesch – eine halbe Million Tote nach einem Wirbelsturm, was lange Zeit als die Naturkatastrophe mit der zweitgrößten Anzahl an Todesopfern galt, gleich nach dem Tangshan-Erdbeben 1976 in China, wo es offiziell eine Viertelmillion, aber anderweitigen Schätzungen zufolge mehr als siebenhunderttausend Tote gegeben hat!«

Er hob kurz seinen Kopf, um sich zu vergewissern, dass ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit aller gewiss war, dann widmete er sich wieder seiner Liste: »1995 ein Erdbeben in Kobe, Japan, mit über fünftausendfünfhundert Toten und achtmal soviel Verletzten! Dieses Jahr galt unter Wissen­schaftlern als das schlimmste Katastrophenjahr in der Ge­schichte der Menschheit – allerdings nur für vier Jahre. Denn bereits 1999 wurde es übertroffen, durch gewaltige Erdbeben in Südamerika, in Südosteuropa, in Asien und anderen Gebieten. Hinzu kommen Überschwemmungen, Waldbrände, Wirbelstürme, Tornados und Dürren! Allein in den USA wurden über hunderttausend Hektar Wald durch Brände vernichtet!«

»Aber Sie vernachlässigen dabei, dass es jedes Jahr zu solchen Katastrophen kommt«, unterbrach Jeremy Dixon seinen eifrigen Kollegen. »So kam es ein Jahr zuvor, im Juli 1998, nach einem Seebeben zu katastrophalen Zuständen auf Papua-Neuguinea! Durch einen Tsunami wurden gan­ze Dörfer zerstört, und es gab über siebentausend Todes­opfer!«

Buttler schien der Einwand in sein Konzept zu passen. Wider Erwarten blieb er trotz der Unterbrechung ruhig und nickte sogar zustimmend. Als Dixon seinen Einwurf beendet hatte, gab er jedoch zurück: »Ja! Ich bestreite ja auch gar nicht, dass es jedes Jahr zu solchen Katastrophen kommt, aber in einigen Jahren treten sie nun mal verstärkt auf! Das werden Sie sicherlich nicht bestreiten, denn das Jahr mit den schlimmsten Katastrophen liegt doch so lange noch gar nicht zurück. Vor drei Jahren erfolgten das Tangs­han-Beben, das mit einer Stärke von neun Komma acht das Beben von 1976 bei weitem übertraf und dafür sorgte, dass Peking jetzt am Meer liegt, sowie das große Tokai-Beben bei Tokio, das man seit 1980 erwartete, und das somit re­gelrecht überfällig war...! Und obwohl es die am besten überwachte Erdbebenregion der Welt ist, wurden viele Ge­biete in Mitleidenschaft gezogen – wie wir eben im Film gesehen haben. Und sogar die höchste Brücke der Welt, die Akashi-Kaikyo-Brücke, deren Fundamente siebzig Meter unter dem Meeresgrund verankert sind, und die bis zu ei­ner Stärke von acht Komma fünf als erdbebensicher galt, fiel in Nullkommanix in sich zusammen! Einhundert Jahre hielt Chile den Rekord für das schwerste Erdbeben – jetzt halten ihn Japan und China. Das ist der Lauf der Zeit!« Buttler blickte von seinem Zettel hoch, vergewisserte sich, dass die Grafik – für alle Zuschauer sichtbar - nach wie vor auf der Leinwand dargestellt wurde, lehnte sich in seinen Sitz zurück und warf einen herausfordernden, stechenden Blick in die Runde.

Zunächst schien niemand etwas entgegnen zu wollen, doch dann schaute ihn Derek Newman an: »Zahlen!«, meinte er lakonisch.

»Wie, Zahlen? – Das sind Fakten!«, erregte sich Buttler.

»Ja, so muss man das wohl bezeichnen«, entgegnete New­man, »aber hinter jeder Zahl steht letztendlich immer noch ein Mensch, und hinter jedem Menschen ein Schick­sal.«

Und seine Frau führte weiter aus: »Zahlen, die in die Tausende oder Zehntausende gehen, sind doch nur Statis­tik! Da können Sie sich doch gar kein Bild von machen, ge­schweige denn irgendein Politiker oder die Presse! Aber wenn es um Einen oder einige Wenige geht, dann sehen Sie sofort ein Schicksal dahinter, da kann man dann Punkte sammeln, und die Quoten im Fernsehen schnellen in die Höhe, wenn ein Opfer nach Tagen lebendig geborgen wird! So etwas nennt man dann identifizieren mit der Opferrolle! Die Leute können sich mit wenigen Opfern viel eher identi­fizieren als mit einer großen Menge. Hunderte oder Tau­sende sind schnell vergessen und werden dann nur noch statistisch erfasst!«

»Ganz zu schweigen von Zehn- oder Hunderttausenden«, stimmte ihr Mann bei.

»Und welche Konsequenzen werden daraus gezogen?«, wandte sie sich mit fragendem, fast schon anklagendem Blick in die Runde. »Offenbar keine! 1970 gab es in Bangla­desch schon eine ähnlich verheerende Sturmflut, die noch mehr Todesopfer forderte, nämlich dreihunderttausend! Und was ist seitdem geschehen...? – Gar nichts! Die größ­ten Verluste an Menschenleben verzeichnen wir nach wie vor in den so genannten armen Ländern, denn diese besit­zen ganz einfach nicht die technischen Möglichkeiten, um sich dagegen wappnen zu können, ganz zu schweigen von einer möglichen Früherkennung oder Vorwarnzeit!«

»Aber Sie müssen doch zugeben, dass wir zum Glück über solche Systeme verfügen!«, zeigte sich Buttler noch immer sehr erregt. »Ich möchte nicht wissen, wie viele To­desopfer es gegeben hätte, wenn nicht alle Wissenschaftler weltweit an einem Strang gezogen und die Politiker so schnell von der nahenden Katastrophe unterrichtet hätten! Solche Frühwarnsysteme haben in den vergangenen Jahr­zehnten mehr Menschenleben gerettet als so manches Krankenhaus in einer Weltmetropole! Denken Sie nur an den heftigen Ausbruch des Pinatubo auf den Philippinen 1991, von dem weite Teile Südostasiens betroffen waren, es aber in Relation zur Heftigkeit des Ausbruchs sehr wenig Opfer zu beklagen gab!«

»Es ist eben nie ausreichend, nur ein gutes System zu be­sitzen«, murmelte Sarah Newman.

»Was meinen Sie?«

»Ich sagte, dass es nicht allein auf das System ankommt, sondern auch auf die Menschen, die dahinterstehen«, wie­derholte sie.

»Na, das ist doch klar«, verkündete Buttler im Brustton der Überzeugung, »das versteht sich ja wohl von selbst!«

»Für einige offenbar nicht«, ergriff Derek Newman Partei für seine Frau, »denn es gab immer schon Politiker, die die Wissenschaftler in der Ausübung ihrer Tätigkeit dermaßen behindert haben, dass man sich fragen muss, ob die noch ganz zurechnungsfähig sind!«

»Das ist richtig«, stimmte Buttler ihm zu, doch dann musterte er ihn mit scharfem Blick: »Aber Sie werden mir jetzt ja wohl auch zustimmen, dass Gott, sofern es ihn über­haupt gibt, mit solchen Ereignissen nichts zu tun hat, oder?«

Newman sah den Choleriker nachdenklich an, blieb je­doch still. Dafür ergriff seine Frau das Wort: »Sofern es ihn überhaupt gibt? Was wollen Sie denn damit sagen?«

»Na ja, es weiß schließlich niemand, ob es einen Gott gibt, oder was auch immer man sich unter dem Begriff vor­zustellen hat«, erwiderte Buttler.

»Natürlich gibt es ihn. Wen sonst machen Sie denn für die Erschaffung der Welt verantwortlich?« Sarah Newman schaute ihn kopfschüttelnd an. »Und Sie dürfen Ihre per­sönlichen Schicksalsschläge und Probleme unter gar keinen Umständen auf die Allgemeinheit loslassen und mit ihren dienstlichen Belangen vermengen!«

»Was meinen Sie damit ?«

»Gott kann nichts dafür, dass Sie alles und jeden dafür verantwortlich machen, dass Ihr Sohn letztes Jahr in Flori­da umgekommen ist...«

»Waas? Das ist ja wohl eine Unverschämtheit! Das muss ich mir nicht gefallen lassen!«, brüllte Buttler.

»Aber bitte, wollen wir wieder zu den reinen Tatsachen zurückkommen«, mischte sich Professor Green ein, »priva­te Auseinandersetzungen haben in dieser Runde nun wirk­lich nichts verloren! Und über Gott zu lästern, bringt uns auch nicht weiter! Auch ich beschwere mich nicht über den Hurrikan, der mir zu meinem Stuhl verholfen hat!«

Sein sachlicher Tonfall und seine ruhige Ausstrahlung trugen maßgeblich dazu bei, dass sich die beiden Streithäh­ne schnell wieder beruhigten, und er wechselte mit rhetori­schem Geschick das Thema: »Ich denke, dass wir uns auf einen ersten gemeinsamen Punkt einigen können, nämlich dass man vorrangig langfristig denken muss. Also unter Umständen für unsere Kinder und Enkelkinder, da das ge­samte Klimasystem ausgesprochen träge reagiert. Der zweite Punkt wäre das Forcieren der Entwicklung alterna­tiver Energien, wie sie seit Jahrzehnten in aller Munde sind, sich aber bis zum heutigen Tage noch immer nicht richtig durchgesetzt haben. Des Weiteren bin ich der Mei­nung, dass es bestimmt nicht schaden kann, wenn wir den Menschen bewusster vor Augen führen, was für Auswir­kungen ihre Handlungen haben. Denn die Umwelt wird nicht nur durch das materielle, sprich den Körper geprägt, sondern auch durch den Geist!«

Auch ein Erstklässler hätte den Sarkasmus in Professor Buttlers Stimme nicht überhören können: »Wollen Sie da­mit etwa sagen, dass die Menschen durch ihre Gefühle oder Gedanken oder was weiß ich ihre Umwelt oder sogar das Wetter beeinflussen können?«

Green nickte nur, doch Derek Newman antwortete an seiner Stelle: »In der Tat, denn jede Tat in der materiellen Welt bedingt zuvor eine Idee in der geistigen. Diese Welt ist zwar mit unseren physischen Sinnen nicht erfassbar, aber wenn man in die geistige Welt schauen könnte, dann würde man die Ursachen unserer Taten sehen und...«

Jonathan Buttler platzte ihm in die Rede: »Ach, das ist ja wohl lächerlich! So eine Behauptung von einem Wissen­schaftler! Ich muss mich ja geradezu von Ihnen distanzie­ren, sonst werde ich noch mit Ihnen in einen Topf gewor­fen, und mein guter Ruf ist ruiniert!«

Da fiel Professor Wagner mit nüchterner Stimme ein: »Ich kann dem Kollegen Newman da aber durchaus zu­stimmen.«

Nun richtete sich die gesamte Aufmerksamkeit auf ihn: »Ich habe so etwas sogar schon selbst erlebt, vor fünf oder sechs Jahren war ich auf dem Münchener Oktoberfest, überall in Deutschland und Österreich, bis hinüber zur Schweiz und zur Tschechei war es bewölkt oder hat sogar geregnet, nur über München zeigte sich nicht eine Wolke. Dieses ganze Wochenende wies auch im Münchener Poli­zeibericht eine bis dahin einzigartige Harmonie aus, denn es wurden an diesem Wochenende die geringsten Krawal­le, Überfälle und Diebstähle registriert. Und zwar in der gesamten Geschichte des Oktoberfestes!«, stellte er nach­drücklich fest.

»Ich danke Ihnen«, nickte Newman ihm zu, »nicht jeder Wissenschaftler bringt den Mut auf, auch mal über seinen Horizont zu blicken und sich vorzustellen, dass wir trotz allem, was wir heute erreicht haben, noch längst nicht alles wissen. Schon gar nicht in der nichtmateriellen Welt!«

Seine Frau stimmte ihm zu: »Ja, und das dann noch in der Öffentlichkeit zu vertreten, das ist der nächste Schritt, den allerdings noch viele scheuen!«

Und ihr Mann pflichtete nun ihr bei: »Genau, ein guter Wissenschaftler sollte immer überlegen, ob die bestehen­den Normen nicht einer Überarbeitung bedürfen. – Aber für viele spielt die Angst eine große Rolle! Die Angst, ihren gut bezahlten Job zu verlieren oder sich lächerlich zu ma­chen. Viele Kollegen haben auch Angst vor Veränderun­gen, die ihre ganze schöne Ordnung über den Haufen wer­fen könnten, und für die sie jahrelang eingetreten sind. Niemand sägt den Ast ab, auf dem er sitzt. Vielleicht haben sie aber auch einfach nur Angst davor, ihre bisherigen Überzeugungen aufgeben zu müssen. Schließlich ist es ein­facher, etwas Bestehendes zu übernehmen, zumal wenn es von hochrangigen Kollegen und Wissenschaftlern in der Vergangenheit bestätigt worden ist, als dagegen anzu-kämpfen und etwas Neues zu versuchen, nicht wahr?«

Er blickte in die Runde und sah stetige Verwunderung in den Augen. »Das gilt natürlich auch für die weiblichen Kollegen, manchmal sogar ganz besonders!«.

Nun meldete sich Professor Wagner zu Wort: »Da muss ich Ihnen beipflichten. Aber Sie dürfen das den Kollegen nicht übel nehmen, immerhin kann nicht jeder so wie Sie beide seinen Lebensunterhalt als freischaffender Wissen­schaftler mit Vorträgen verdienen.« Er schaute Newman mit einem leichten Lächeln an.

Seine Frau erwiderte das Lächeln, doch Buttler rang sichtlich mit seiner Fassung: »Das glaube ich alles nicht! Für so einen Unsinn bin ich nicht hierher gekommen!«

»Unsinn?«, fragte Newman mit schneidender Stimme. »Was zählt bei Ihnen denn in die Kategorie 'Annehmbares'? Wahrscheinlich nur Fakten, die möglichst schriftlich niedergelegt und mit Stempel und Unterschrift von irgendeinem Experten versehen sind!«

»Wenn Sie es so ausdrücken wollen, bitte sehr! Ich habe nichts dagegen. Dieses Modell hat die Wissenschaft im Laufe der Jahre doch überhaupt nur vorangebracht, sonst säßen wir noch heute auf den Bäumen!«

Er erntete Gelächter aus den Reihen der Zuschauer.

Dadurch ermutigt fuhr er fort: »Ja, so ist es doch! Wenn wir nach Ihren Theorien gehen würden, dann hätten wir doch nichts Greifbares, Reelles in der Hand!«

Derek Newman schüttelte leise den Kopf. »Der Mensch stammt nicht vom Affen ab! Gott erschuf ihn nach seinem Ebenbild! Ein Affe kann nie ein Mensch werden.«

Doch seine Bemerkung ging in dem Gejohle der Zu­schauer unter.

»Etwas Greifbares!«, stöhnte nun seine Frau. »Als ob man als Wissenschaftler nur so denken sollte! Gerade dieser Personenkreis sollte sich dadurch auszeichnen, dass er in bestimmten Bereichen über ein größeres Wissen verfügt als der überwiegende Teil der Menschen, aber Sie scheinen nicht dazu zu gehören. Vermutlich wissen Sie auch nicht, was ein 'Platonisches Jahr' ist!«

Buttler guckte verwirrt. »Platonisches Jahr? – Platonische Liebe kenne ich«, grinste er sich ins Publikum wendend. Verschiedene Zwischenrufe ertönten, und wieder lachten einige, andere klatschten sogar Beifall.

Doch Sarah Newman ließ sich nicht irritieren: »Sie wis­sen ja gar nichts! Und so etwas schimpft sich dann Wissen­schaftler! Mit welchem Recht eigentlich?«

»Oho!«, mischte sich Professor Dixon ein. »Jetzt wollen wir mal nicht beleidigend werden, ja? Auch ich habe von diesem Platonischen Jahr noch nichts gehört!«

»Tja«, blickte sie ihn mit einem ernsten Lächeln an, »dann haben Sie genauso wenig Ahnung wie...«

»Das ist ja wohl die Höhe!«, empörte sich Dixon, »von so einer jungen...« Er verschluckte die restlichen Worte als ihm Derek Newman einen scharfen Blick zuwarf.

Erneut war es Commander Phillips, der schlichtend ein­fiel: »Also, ich bin ja kein Wissenschaftler, und ich muss es somit wohl auch nicht wissen! – Aber was genau ist denn nun ein 'Platonisches Jahr'?«

Sarah Newman holte tief Luft und erwiderte: »Es ist ein anderer Begriff für ein 'siderisches Jahr', in dem wir einmal komplett die zwölf Tierkreiszeichen durchlaufen. Die Erde dreht sich – oder besser gesagt 'taumelt' - bekanntlich in ei­nem Jahr um die Sonne, in dessen Verlauf verschiedene Jahreszeiten auftreten. Diese werden durch die Präzession verursacht, denn die Erde rotiert ja in einem speziellen Winkel von gut dreiundzwanzig Grad um ihre Achse und nicht...«

»Ja ja, das ist uns hinreichend bekannt«, unterbrach Butt­ler sie mit einer wegwerfenden Geste und guckte siegessi­cher ins Publikum, »aber was hat das nun mit Ihrem plato­nischen Liebes-Jahr zu tun?« Er griff nach seinem Glas Wasser.

Einige Leute lachten, doch andere pfiffen und die meis­ten blieben ruhig. Seine Pointe hatte sich abgenutzt.

So konnte Sarah Newman problemlos fortfahren: »Da sich die Erde durch diese Präzession wie ein Kreisel ver­hält, der sich auf einem Kegelmantel um den Pol der Eklip­tik bewegt, und zudem noch gewissen Kräften und Einflüs­sen der Sonne, des Mondes und der anderen Planeten aus­gesetzt ist, verschiebt sich das Frühlings-Äquinoktium jährlich um zwölf Minuten, so dass es einen längeren Zeit­raum in Anspruch nimmt bis der gleiche Punkt wieder an seinem Ausgangspunkt ist. Insgesamt dauert so ein plato­nisches Jahr ungefähr fünfundzwanzigtausendneunhun­dertzwanzig Jahre, je nach Einfluss der Planeten, des Mon­des und der Sonne.«

»Und was bringt mir das?«, fragte Dixon höhnisch.

»Ein ganz spezielles platonisches Jahr geht dieses Jahr zu Ende«, blickte Sarah Newman ihn durchdringend an, »es wird auch das 'Wassermannzeitalter' genannt, das sich an das Zeitalter der Fische anschließt, welches wir verlassen.«

»Um jedes Tierkreiszeichen zu durchlaufen brauchen wir ungefähr zweitausendeinhundertsechzig Jahre«, fügte ihr Mann hinzu, »und die Veränderungen, die wir in den letz­ten Jahren erlebt haben, waren nichts anderes als die ersten Ankündigungen dieses neuen Zeitalters.«

»Dann ist also das Aufkommen eines neuen Zeitalters der Grund für all die Katastrophen, ja?«, fragte Buttler.

»Sie machen sich das aber sehr einfach«, wandte Sarah Newman kopfschüttelnd ein. »Die Menschen haben doch den freien Willen! Die können im Prinzip machen was sie wollen.«

»Man muss keinen Jahreswechsel mit Blut oder Zerstö­rung begehen«, stimmte ihr Mann ihr zu, »und ebenso we­nig den Wechsel eines Zeitalters!«

»Ich glaube, Sie beide waren zu lange in Asien! Glauben Sie etwa auch an die Wiedergeburt?« Buttler griff nach sei­nem Glas.

»Selbstverständlich«, gab Newman ruhig zurück.

»So ein Schwachsinn!«, ereiferte sich der Choleriker uns stellte das Glas mit einem lauten Knall hart auf den Tisch zurück.

»Warum Schwachsinn?«, fragte Sarah Newman. »Vor hundert Jahren dachten die Menschen, dass man stirbt, wenn man schneller als fünfzig Kilometer pro Stunde fährt. Vor fünfhundert Jahren dachten sie noch, die Welt ist eine Scheibe, von deren Rand man hinunterfallen könne, und dass sich die Sonne um die Erde dreht!«

»Der Mensch besteht nicht nur aus dem Körper oder dem Fleisch«, wandte seine Frau ein und sah Buttler direkt in die Augen, »sondern auch aus Geist und Seele.«

»Was Sie nicht sagen«, spottete Buttler und hielt ihren Blick ruhig aus, »das ist ja nun keine neue Erkenntnis!«

»Ach, das wissen Sie also?«, hielt seine Gegenüber den Blick noch immer auf ihn gerichtet. »Dann sollten Sie aber auch wissen, dass es diese beiden sind, die im Verlauf ihrer Entwicklung lernen müssen, und dass es nicht der Körper ist, denn dieser ist vergänglich und dient dem Menschen nur als ein Instrument! – Darum die fünf Sinne!«

Buttler senkte den Blick. Es schien als ob er nachdenken würde. Sie fuhr fort: »Die Wiedergeburt gehört zum Leben, zur Evolution, denn man wird wiedergeboren, um sich weiter zu entwickeln. Jeder Mensch muss sich entwickeln, und während seiner Entwicklung lernen. Denn nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir! Oder meinen Sie, dass die Entwicklung mit einem einzigen Menschenle­ben abgeschlossen ist, und die Seele dann ihren Weg zu Gott zurückfindet? Dann tun Sie mir aber leid!« Es war kein Spott und auch kein Mitleid, das in ihrer Stimme mit­schwang, nur aufrichtiges Bedauern.

Nun trat ihr Mann wieder auf den Plan: »Darum gibt es nämlich auch so genannte Wunderkinder, die im Alter von sechs Jahren bereits Dinge vollbringen, die mancher Er­wachsene nicht zustande bringt, geschweige denn, dass die Eltern ihrem Kind entsprechende Gene vererbt haben kön­nen! Und dabei ist es ganz egal, ob es sich nun um Spra­chen, musische Talente oder das Schachspiel handelt. Gera­de in Indien, wo wir beide – er bedachte seine Frau mit ei­nem liebevollen Blick – lange Jahre unseres Lebens ver­bracht haben, gibt es manche Kinder, die sich an Einzelhei­ten ihres vergangenen Lebens erinnern. Das ist sogar mehr­fach wissenschaftlich untersucht und bestätigt worden.«

»Ach, das mögen ja ein paar Zufälle sein!«, tat Buttler das jedoch mit einer herrischen Handbewegung ab.

»Es gibt keine Zufälle!«, widersprach Newman, »es gibt nur die Unterscheidung zwischen bewusst und unbewusst durchgeführten Aktionen! Erstere bezeichnet man dann als geplant, letztere ereignen sich, ohne dass wir die Aktion steuern. Und es müsste gerade Ihnen als Wissenschaftler klar sein, dass die Seele und der Geist irgendwo bleiben müssen, wenn ein Mensch stirbt. Denn der Energieerhal­tungssatz, wonach Energie nicht verschwinden, sondern nur in eine andere Form umgewandelt werden kann, dürf­te Ihnen nicht unbekannt sein! Und auch Seele und Geist bestehen schließlich aus einer Form von Energie.«

»Buttler sah ihn verwirrt an. Doch wie viele Choleriker war auch er überaus reizbar und streitsüchtig: »Keine Zu­fälle! Nachher erzählen Sie mir noch, dass die Titanic nicht zufällig vor hundert Jahren gesunken ist, sondern dass das eine kleine Warnung für dieses Jahr war, und uns eine ähn­liche Katastrophe bevorsteht!«

»Bitte meine Herren, das Gespräch artet noch in einen Privatkrieg aus«, fiel jetzt Frederick Taylor ein, »denken Sie an die Zuschauer an den Fernsehschirmen!«

»Ja, denken Sie an diese!«, ereiferte sich jetzt Shannon Riggs, »die sitzen doch nur vor ihren Kisten, um mal wie­der ein paar schlechte Nachrichten zu sehen!«

Nun schauten ihre Kollegen sie verwirrt an.

»Mit guten Nachrichten locken Sie heutzutage doch kei­nen Menschen mehr hinter'm Ofen hervor!«, bekräftigte sie.

»Genau!«, stimmte ihr Claudia Freeman zu. »Die Leute wollen schlechte News, um mitzittern zu können, um da­bei zu sein, um es mitzuerleben...«

»...und um zu sehen, dass es Leute gibt, denen es noch schlechter geht als ihnen!«, ergänzte Shannon Riggs und warf einen streitsüchtigen Blick in die Runde.

»Was genau meinen Sie denn damit?«, fragte Taylor irri­tiert. Er fühlte sich ob der Aggressivität der Britin leicht un­behaglich in seiner Rolle als Moderator und nahm nun erst­mal einen großen Schluck aus seinem Glas.

»Ich meine, dass Überschwemmungen und Erdbeben höchstwahrscheinlich die medienwirksamsten und viel­leicht auch verheerendsten Naturkatastrophen repräsentie­ren..., aber dass wir darüber eines nicht vergessen sollten, nämlich die Brände!«, erläuterte die Britin.

»Brände?« Taylor stellte sein Glas auf den Tisch zurück.

»Ja«, nickte sie, »Waldbrände, riesige Flächenbrände, wie sie in den Staaten bisher jedes Jahr auftreten, aber auch zum Beispiel in Australien. Dort war im Outback vor zehn Jahren bereits eine Fläche verbrannt, die so groß wie Eng­land ist! – Ganz zu schweigen von den Folgeschäden!«

»Das stimmt«, gab ihr Claudia Freeman Recht, »ich ken­ne mich auf dem Gebiet zwar nicht so gut aus, aber...«

»Ich dafür um so besser«, fiel die Engländerin eifrig ein, »allein in den USA ist nämlich in den letzten zehn Jahren eine Waldfläche von über siebenhundertfünfzigtausend Quadratkilometern verbrannt. Und jedes Mal reichert sich mehr schädliches Kohlendioxid in der Atmosphäre an!«

»Leider«, seufzte Sarah Newman, »und noch immer gibt es Politiker und Wissenschaftler, die hartnäckig bestreiten, dass es dadurch zur Erderwärmung kommt. Ja, einige seh­en noch nicht einmal das!«

»Wieso denn auch«, meinte Dixon, »das Wenige, was durch Menschen verursacht wird, das können Sie doch un­möglich für alle Katastrophen verantwortlich machen!«

»Doch, das ist bedauerlicherweise so«, entgegnete sie ru­hig, »die Balance des Kohlenstoff-Kreislaufs ist sehr sensi­bel, das ist wie mit dem Alkohol im Blut. Ein paar Promille zuviel, und Sie sind nicht mehr zurechnungsfähig.«

»Also, wenn das eine Anspielung sein soll...«, beugte sich Dixon drohend nach vorn.

»Die meisten Naturkatastrophen sind doch ein Resultat der Eingriffe der Menschen, ob nun direkt oder indirekt«, versuchte Derek Newman die Situation zu entschärfen.

Es gelang ihm aber nur teilweise, Dixon schaute noch im­mer recht aggressiv zu seiner Frau herüber, doch nun er­griff Professor Wagner das Wort: »Also Fakt ist, dass von einer Zunahme des Kohlendioxidgehalts die Poren der Bäume betroffen sind, und dass in Folge dessen das von deren Wurzeln aufgenommene Wasser langsamer ver­dunstet. Die Auswirkungen spüren wir, wenn es stark reg­net, und der Boden nicht mehr so viel Wasser aufnehmen kann, denn dann kommt es sehr schnell zu Hochwasser und Überflutungen. Meine Landsleute und auch die Be­wohner der Nachbarländer kennen dieses Phänomen recht genau, es ist in den vergangenen Jahren wiederholt aufge­treten. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch Eindei­chung, denn dadurch gehen natürliche Überschwem­mungsgebiete verloren, wodurch die Flusspegel steigen.«

»Wir brauchen hier doch nicht über ungelegte Eier zu diskutieren! Fest steht, dass durch einen anhaltenden und erhöhten Kohlendioxid-Ausstoß durch photochemische Prozesse Ozon gebildet wird, was seinerseits zur erhöhten Absorption langwelliger Erdstrahlung führt. Und das trägt wiederum zum globalen Treibhauseffekt bei«, mischte sich plötzlich Renate Schumann ein, »das lernt heutzutage jedes Kind in der Schule! Und es ist auch kein Geheimnis, dass in den letzten zweihundert Jahren der Kohlendioxidgehalt um knapp vierzig Prozent und der Meeresspiegel um über zwanzig Zentimeter pro Jahrhundert angestiegen ist, was sich durch eine Erhöhung der Temperatur der Atmosphäre noch verstärken wird! So manche verträumt gelegene Insel in der Südsee wird im nächsten Jahrhundert nur noch eine Sandbank sein! Und wenn die Gletscher in den Alpen wei­ter so schmelzen, dann wird der Rhein eines Tages kein Wasser mehr führen. Und dieser Tag liegt in gar nicht allzu weiter Ferne!«

Für Momente herrschte Stille in der Runde. Die Deutsche hatte bisher kaum etwas zur Diskussion beigetragen, und jetzt überfiel sie die Runde mit derartigen Argumenten, dass es ihren Kollegen regelrecht die Sprache verschlug.

Professor O'Donnell war es, der zuerst seine Fassung zu­rück gewann: »Da möchte ich der Kollegin beipflichten, manchmal kommt es mir tatsächlich so vor, als ob wir uns mit unserer Diskussion im Kreis bewegen. Und ich darf hinzufügen, dass ich ebenso der Ansicht bin, dass die Men­schen an vielen Naturkatastrophen selbst Schuld sind.«

»Stimmt genau«, pflichtete ihm Sarah Newman bei, »denken Sie nur an die Tankerunglücke, die Millionen und Abermillionen Tonnen Rohöl in die Meere ergossen! Die Havarie der Exxon Valdez im Prince William Sound im März 1989, durch die zweieinhalbtausend Kilometer Küste verseucht und die schlimmsten Alpträume eines jeden Um­weltschützers Wirklichkeit wurden. Oder an den Unter­gang des Öltankers vor Galicien zur Weihnachtszeit 2002, wovon die gesamte nordspanische Küste bis nach Frank­reich und Portugal betroffen war! Das gesamte Ökosystem dieser Region brauchte Jahre, um sich davon zu erholen!«

»Ganz zu schweigen von den Folgeschäden!«, meldete sich Shannon Riggs wieder zu Wort. »Da Schweröl sehr viele krebserregende Stoffe enthält, die wir durch die Fi­sche in uns aufnehmen. Und was damals einige Kollegen – sie betonte das Wort 'Kollegen' als ob es sich dabei um ihre persönlichen Todfeinde handelte – von sich gegeben ha­ben, dass sich die Region vielleicht schon wieder nach eini­gen Monaten oder spätestens einem Jahr erholt habe..., das kann ich nur als unverantwortliche Politik bezeichnen!«

»Sie sollten über Ihre Kollegen nicht so schlecht spre­chen«, unterbrach Dixon die aufgebrachte Britin und sah ihr starr in die Augen, »ich...«

»Haben Sie denn schon mal einen Vogel mit ölverseuch­tem Gefieder gesehen?«, keifte Shannon Riggs und unter­brach ihn nun ihrerseits. »Ich möchte fast behaupten: Nein!«

Dixon brach den Blickkontakt ab, es herrschte wieder einmal Stille. Doch im Publikum kam erneut Unruhe auf. Die Zuschauer merkten, dass die Ansichten der Professo­ren nicht zu einem Konsens führen würden, der das eigent­liche Ziel dieser Runde war, sondern dass die so genannten Experten eine Art Privatkrieg führten. Sie kamen jedoch bald wieder zur Ruhe. Einmal mehr war es Professor Butt­ler, der das Schweigen als Erster brach: »Und wo war da Ihr Gott?«, fragte er das Ehepaar Newman und hob dabei den Finger als säßen die beiden auf der Anklagebank und er wäre Geschworener, Anwalt und Richter zugleich.

»Unser Gott?«, fragte Derek Newman erbost.

»Warum nur unser Gott?«, fragte auch seine Frau, doch sie blieb bedeutend ruhiger. »Gott ist für alle Lebewesen da, nicht nur für einige Wenige, und auch nicht nur für die, die vielleicht an ihn glauben!«

»Ach ja?«, keifte Buttler, »und warum tut er dann nichts gegen diese Katastrophen? – Wie ich das sehe, müsste er doch nur sagen 'es werde' und das Öl wäre verschwunden, oder wie sehen Sie das?«

Die beiden Newmans schüttelten den Kopf, erwiderten aber nichts. Sie blieben die Ruhe selbst. Aber Professor O'Donnell starrte den Choleriker an und schluckte zwei­mal. Er schien ihm eine scharfe Zurechtweisung geben zu wollen.

Doch da ergriff Professor Wagner mit ruhiger Stimme das Wort: »Ich kenne mich auf dem Gebiet zwar nicht so aus wie unsere beiden Kollegen, aber ich denke, dass die Erde so etwas wie ein Spielplatz oder Erprobungsterritori­um ist. Die Menschen können so ziemlich alles machen, was sie wollen, nur müssen sie später mit den Ergebnissen leben. Und wenn sie ihre Umwelt nun mal zerstören und so achtlos mit ihr umgehen, dann äußert sich das so, wie wir das vorhin im Filmbeitrag gesehen haben!«

»Und wie wir und unsere Kinder in Zukunft auch noch feststellen werden«, warf Sarah Newman ihm einen war­men, dankbaren Blick zu.

»Sie können doch nicht im Ernst annehmen, dass Gott die ganzen hirnlosen Aktionen, die wir veranstalten, ausba-det!«, konnte sich O'Donnell nun nicht mehr länger beherrschen und schaute Buttler zornig an. »Das fällt alles auf die Menschen selbst zurück!«

Buttler blieb - sehr zur Verwunderung der Teilnehmer und auch der Zuschauer - ganz ruhig ob der ungewohnten Attacken, und nun mischte sich Derek Newman wieder ein: »Gott hat bei der Schaffung der Welt mehrere univer­sale Gesetze erlassen, denen sich alles unterzuordnen hat, so das Gesetz von der Liebe und dann das von Ursache und Wirkung, auf die alle großen Religionsverkünder wie­derholt hingewiesen haben. Denn sie sind natürlich nicht auf eine einzige Religion beschränkt, sondern vielmehr Be­standteil aller großen Religionen dieser Welt.«

Und seine Frau fügte hinzu: »In gewissen Kreisen nennt man Ihn deshalb auch den 'Einen', den 'Einen Schöpfer' oder 'Alles was ist'. Neben der Bibel taucht er natürlich auch im Koran auf, hier wird er Al-Dschabbar genannt, das bedeutet 'Der Absolute'. Aber Er besitzt dort mehrere Namen, die letzten Endes Attribute von Ihm sind. Neben Al-Khaliq – 'Der Schöpfer' und Al-Wahid – 'Der Eine' ist sicherlich Al-'Afuw, das bedeutet 'Der Vergebende' von offensichtlicher Bedeutung.«

Und nun ergänzte ihr Mann sie: »Das letzte Attribut, das ihm der Koran zuschreibt, heißt übrigens As-Sabur. Das bedeutet 'Der Geduldige'.« Und er sah in die Runde: »Zufall oder Schicksal?«

Auch Sarah Newman warf nun einen fragenden Blick in die Runde, doch niemand schien das Gesagte kommentie­ren zu wollen, für Sekunden herrschte gespannte Stille.

Schließlich meldete sich Professor Buttler wieder zu Wort. Er verfiel wiederum in Sarkasmus. »Wenn Sie mei­nen, dann wird es wohl so sein. Aber wie steht es denn mit dem kommenden Reich Gottes? Viele Leute Ihres Schlages sind doch der Ansicht, dass in der jetzigen Zeit – wie Sie vorhin sagten – ein neues Zeitalter anbrechen soll. Aber meinen Sie, dass er in dieser zerstörten Welt sein Reich er­richten will?«

»Das kommende Reich Gottes wird aus Frieden, Liebe, Gerechtigkeit und dem Gebet bestehen..., und wenn er ruft, dann kommen alle«, erwiderte Sarah Newman ohne den Spott ihres Kontrahenten zu beachten. »Und das Schicksal ist schließlich nicht unabwendbar. Wenn die Menschheit ihr Bewusstsein ändert, kann sie ihre Bestimmung ändern.«

Auch jetzt äußerte sich niemand, nur Jonathan Buttler schüttelte noch immer verständnislos den Kopf. Er blickte Sarah Newman an: »Also, ich...«

Doch es erfuhr niemand mehr, was er sagen wollte, denn in diesem Moment stieß Renate Schumann einen unartiku­lierten Ruf aus, der ihr die Aufmerksamkeit aller garantier­te. Sie blickte entsetzt in die Runde und dann wortlos zu dem Bildschirm hoch. Auf diesem war das Gesicht eines Reporters zu sehen, der sehr schnell und sehr erregt zu sprechen schien. Eine unter seinem Kopf laufende Einblen­dung informierte die Zuschauer, dass sein Name Eddy Spencer war, doch es gab kaum jemanden, den das wirk­lich interessierte. Da nämlich zunächst noch kein Ton zu hören war, konzentrierten sich alle Zuschauer auf die Bild­laufleiste, wo zu lesen war, dass sich ein ungewöhnlich starkes Seebeben im Japanischen Meer fünfundfünfzig Ki­lometer vor der russischen Küste ereignet habe, und dass von den Behörden die ersten Auswirkungen bereits festgestellt und bekannt gegeben seien.

Jetzt wurde auch der Ton zugeschaltet und nun konnten es alle hören: »... von ausgehen. Wie der zuständige Leiter des Pacific Tsunami Warning Center in Honolulu, Hawaii mitteilte, sind erste Auswirkungen auf dem russischen Festland bereits zu registrieren. Da sich das Beben so knapp vor der Küste ereignete, erreichte eine relativ kleine Welle die Küste bevor eine Warnung ausgegeben werden konnte. Die Vorwarnzeit betrug nur etwa zehn Minuten. Größere Schäden sind allerdings nicht entstanden.«

Der Reporter war sich der Wichtigkeit seiner Person of­fenbar bewusst, denn er kommentierte das Ereignis wie ein Sport-Event. Seine gehetzte, atemlose Stimme glich mehr und mehr der eines Formel Eins-Reporters, der die Span­nung kurz vor dem Start noch zusätzlich steigern will: »Aber ausgehend vom Epizentrum pflanzt sie sich auch in andere Richtungen fort, und zwar mit einer mittlerweile von mehreren Messstationen bestätigten Geschwindigkeit von fast achthundert Stundenkilometern. Ersten Berech­nungen zufolge wird der Tsunami in etwa zweiundzwan­zig Minuten Hokkaido erreichen. Die Höhe der Welle, die dann auf die japanische Insel trifft, wird mit ungefähr acht­undvierzig bis einundfünfzig Metern angegeben. Einige Experten schätzen sie sogar noch höher ein. In diesen Mi­nuten wird in Sapporo Katastrophenalarm gegeben und die Bevölkerung der Küstenregionen wird evakuiert. Die japanische Regierung hat bereits...«

An dieser Stelle wurde der Ton wieder abgeschaltet, und die Aufmerksamkeit der Zuschauer richtete sich wieder auf die Professoren, die der Übertragung ebenfalls atemlos gelauscht hatten. Diesmal ergriff Derek Newman als Erster das Wort: »Als ob es in der Region noch nicht reichen wür­de«, brummte er leise vor sich hin, doch in Anbetracht der Stille wurde er von jedem klar verstanden.

»Was für Schäden kann die Welle denn anrichten?«, frag­te Commander Phillips.

»Nun ja«, gab Professor Green Auskunft, »ein Tsunami dieser Größe kann mehrere hundert Meter bis ins Landes­innere vordringen. Stellen Sie sich eine fünfzig Meter hohe Wand aus Wasser vor, die sich in Küstennähe noch immer mit der Geschwindigkeit eines Radfahrers fortbewegt. Dann können Sie sich ungefähr ausrechnen, was diese be­wirken können...«

»Oh mein Gott«, stieß der Commander hervor. Offenbar war ihm jetzt erst bewusst geworden, was ein Tsunami für die Betroffenen bedeutete. Es wurde still im Saal. Auch die Zuschauer konnten sich die Auswirkungen so einer Welle vorstellen. Den übrigen Teilnehmern sah man die Betrof­fenheit ebenfalls in den Gesichtern an. Niemand wagte eine Prognose oder einen Kommentar abzugeben.

Schließlich meinte Frederick Taylor: »Ich denke, das war's dann! Die Aktualität der Ereignisse hat unsere Dis­kussion überholt, und ich denke, wir alle warten jetzt auf aktuelle Bilder aus Japan. Daher schlage ich vor, die Konfe­renz für beendet zu erklären und das laufende Nachrich­tenprogramm zu verfolgen!«

Sein Vorschlag wurde einstimmig angenommen, und als Eddy Spencer wieder im Bild erschien, schauten ihm alle Anwesenden des UNO-Konferenzsaales zu. Er begann mit einem Räuspern, das eine leichte Verlegenheit nicht verber­gen konnte, und fragte dann: »Sind wir schon auf Sen­dung?«

Offensichtlich wurde ihm von der Regie eine positive Antwort gegeben, denn er straffte sich und begrüßte die Zuschauer: »Wir sind zurück, meine Damen und Herren, zurück um über die Entwicklung vor der japanischen Küs­te live zu berichten. Die Welle steht unter ständiger Beob­achtung und ist nur noch wenige Kilometer von der...«

Er brach ab, lauschte kurz in seinen Ohrhörer, dann ent­fuhr ihm ein: »Seid ihr verrückt? – Wie soll das denn...« Doch da erinnerte er sich offenbar wieder seiner Zuschau­er, und mit einem Achselzucken sprach er wieder gerade in die Kamera blickend: »Entschuldigen Sie, meine sehr ver­ehrten Zuschauer, aber ich erfahre gerade etwas Unglaubli­ches! Der Tsunami soll sich aufgelöst,... ja, soll sich aufge­löst haben! So unglaublich das klingt, aber ich brauche eine Bestätigung von... - hallo, hört ihr mich? Entschuldigen Sie, aber das muss hier doch...«

Das Bild wurde schwarz, dann erschien die Sendezentra­le des Nachrichtensenders, wo der Sprecher George Frede­ricks verkündete: »Soviel von unserem Korrespondeten live aus Hawaii...! Wir unterbrechen seinen Bericht für eine erste Stellungnahme der Regierung. Die Senatoren Max­well und Newton haben sich gegenüber unserer Mitarbei­terin Nancy Morgan zu einer ersten Stellungnahme bereit erklärt - wir schalten jetzt live nach Washington.«

Wieder entstand eine Pause, dann wurde das Weiße Haus im Hintergrund sichtbar.

Im Vordergrund wurden zwei etwa siebzigjährige Sena­toren von der Reporterin interviewt: »Senator Maxwell, was sagen Sie zu dem Vorgang, der sich vor wenigen Mi­nuten im Japanischen Meer abgespielt hat?«

»Ich kann nur wiederholen, was ich schon seit Jahren be­haupte«, ließ sich dieser vernehmen, »ich bin nämlich der Ansicht, dass diese Welt den lange befürchteten Atom-Krieg nicht mehr erleben wird, weil die Natur den Men­schen ihre Grenzen aufzeigen wird! Ich wurde mein ganzes Leben von Kriegen begleitet. Gleich nach meiner Geburt gab es den 'totalen Krieg', und als ich zehn Jahre alt war, kämpften die Vereinigten Staaten in Korea unter UN-Flagge. Als ich zwanzig war, sprach alle Welt vom Dritten Weltkrieg, weil die Russen einige hundert Meilen vor Florida Atomraketen in Stellung brachten. Von Vietnam will ich gar nicht erst reden, das haben schon andere zur Genüge getan, und 'Desert Storm' habe ich als Fünfzigjähriger erlebt! Als ich sechzig war, wurden die Twin-Towers in Schutt und Asche gelegt, und der Krieg im Nahen Osten, in Afghanistan und anderthalb Jahre später im Irak, begann. - Sehen Sie, worauf ich hinaus will?«

»Noch nicht so ganz, was hat das alles mit...«

»Ich komme direkt dazu«, fiel Maxwell der Reporterin je­doch ins Wort, »was ich meine, ist, dass man anhand der von Menschen veranstalteten Kriege eine Chronologie er­stellen kann«, erklärte er, »man kann es aber auch anhand der Naturkatastrophen, und zwar problemlos! – Nehmen Sie zum Beispiel Bangladesch oder Peru 1970, China sechs­undsiebzig, Europa und die USA in den Neunzigern und im letzten Jahrzehnt schließlich alle Kontinente! – Überall spielt die Natur verrückt und fordert mehr Menschenleben als Vietnam!«

Die Reporterin wirkte etwas gereizt. Offenbar hatte sie mit einer anderen Antwort gerechnet und sie sagte: »Vielen Dank, Senator, für diese prägnante Analyse der Verhältnis­se.« Sie wandte sich nun ihrem zweiten Gesprächspartner zu: »Wir haben noch eine zweite Stellungnahme zu erwar­ten – Senator Newton, was sagen Sie zu diesem Ereignis?«

»Ich bin der Meinung, dass die Entwicklung der Presse eine Zumutung für den Zuschauer darstellt! Und dieses Er­eignis heute halte ich für ein vortreffliches Beispiel, dass diese immer viel zu vorschnell reagiert!«

Nancy Morgan wurde durch diese Stellungnahme sicht­lich auf dem falschen Fuß erwischt. Verwirrt fragte sie: »Ähh, wie meinen Sie das? Die Presse hat doch wohl ein Recht...«

»Ja«, fiel ihr der Senator ins Wort, »das Recht, das Presse­recht, das Sie berechtigt, jeden Unsinn zu verzapfen, der Ihnen gerade in den Sinn kommt! Und wenn Sie sich geirrt haben sollten, dann wird die Sache später in einem Kurz­beitrag wieder richtig gestellt. Aber dieser klarstellende Beitrag wird doch von kaum einem Zuschauer so richtig wahrgenommen. Denn die sind schon längst zum nächsten Punkt der Tagesordnung übergegangen und beschäftigen sich mit ganz anderen ...«

»Das können Sie aber nicht verallgemeinern«, unterbrach die Reporterin nun ihrerseits den Senator.

»Das tue ich auch gar nicht, ich sage nur, dass die Aktion heute das beste Beispiel für die Schnellschusspolitik der Presse ist. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass Sie die Öffentlichkeit mit...«

An dieser Stelle blendete der UNO-Verantwortliche aus und der Bildschirm wurde schwarz und dann abgeschaltet.

»Was ist da passiert?« Buttler zuckte ratlos die Schultern.

»Ein Tsunami kann doch wohl nicht einfach im Meer ver­schwinden, da müssen die echt einen Blödsinn berichtet haben!«, erregte sich auch Professor Dixon.

»Wer weiß«, schmunzelte Sarah Newman, »bei Gott ist alles möglich.«

»Ach!«, machte Buttler verächtlich. »Sie immer mit Ihrem Gott! Das Thema hatten wir ja nun wirklich schon zur Ge­nüge. Das kann doch einfach nicht Ihr Ernst sein!«

»Auch dafür wird sich früher oder später eine vernünfti­ge wissenschaftliche Erklärung finden lassen«, pflichtete ihm Dixon bei, »vielleicht hat sich die Welle von allein ab­geschwächt...«

»Genau«, stimmte Buttler zu, »und ich schlage vor, wir lösen die Runde nun endgültig auf. Die Konzentration ist dahin, und es wird ohnehin jeder an den Fernseher wollen! Ich für meinen Teil will die Angelegenheit jedenfalls noch einmal prüfen.«

Einige Rufe aus dem Publikum, das in den vergangenen Minuten merklich unruhiger geworden war, wurden hör­bar. Die Zuschauer waren - zumindest teilweise - anderer Meinung. Offenbar verlangten sie eine Aufklärung seitens der Wissenschaftler ob des beobachteten Phänomens. Die Experten gingen jedoch nicht auf sie ein, und einige UN-Mitarbeiter mischten sich gebärdenreich unter die Zu­schauer und sorgten so schnell wieder für eine ruhige At­mosphäre im Publikum.

»Ja, genau«, spottete Shannon Riggs, »da man den Vor­gang nicht mit herkömmlichen Mitteln erklären kann, wer­den sich die Wissenschaftler jetzt wieder in ihre Gemächer zurückziehen und so lange suchen, bis sie eine Erklärung haben, die ihnen passt! Aber ich denke auch, dass wir kei­ne neuen Erkenntnisse mehr gewinnen können!«, schloss sie mit den Schultern zuckend.

»Und auch wenn man das Phänomen nicht sogleich er­klären kann, brauchen Sie uns mit Ihrem Gott nun wirklich nicht noch einmal zu kommen! Ich denke nicht, dass man gleich auf etwas Übernatürliches schließen muss, sobald ein solcher Vorgang nicht sofort klar erkennbar und erklär­bar ist. So etwas braucht schließlich Zeit.«

Seine Kollegen sahen Jeremy Dixon verwundert an. Er schien eine schon unvorstellbare Abneigung gegen alles zu haben, was auch nur ein bisschen in Richtung Spiritualität und der nicht-materiellen Welt ging.

Nur Jonathan Buttler nickte eifrig und erklärte: »Sehr richtig! Wie schon erwähnt, wissen wir ja nicht einmal, ob es Gott gibt, ich bin im Gegenteil überzeugt davon, dass es ihn nicht gibt. Und ich für meinen Teil brauche auch kei­nen!«

Derek Newman schüttelte leise und nachsichtig mit dem Kopf. Professor O'Donnell konnte sich jedoch nicht so be­herrschen, sondern rief brüsk: »Ach ja? Sie brauchen also keinen Gott? Was war denn Ihrer Meinung nach vor dem Urknall? – Nichts oder nur ein winzig-kleines Kügelchen?«

Buttler spürte den Spott seines Kollegen deutlich. Seine Züge verfärbten sich, und heiser erwiderte er: »Ein anderer Urknall! Das ist doch ganz offensichtlich! Das Universum expandiert und zieht sich dann wieder zusammen. Und so geht es bis in alle Ewigkeit. Nur ob sich jedes mal Leben auf die Art entwickelt, wie wir es kennen, das bleibt die Frage, die sicher niemals geklärt werden kann.«

»Und was ist mit den Überlieferungen, den Religionen und Mythen, die seit Jahrtausenden die Entwicklung der Menschheit begleiten?«, fragte Sarah Newman.

»Was soll mit denen sein?«, hielt Buttler höhnisch dage­gen. »An irgendetwas mussten sich die Menschen halt ori­entieren, und da wurden dann Erzählungen verfasst. Aber die sind mit wissenschaftlichen und modernen Anschau­ungen natürlich nicht vereinbar.«

»So ist es«, bemerkte Dixon. »Das ist so, als wenn sie heutzutage ihren Kindern Märchen oder andere Geschich­ten erzählen.«

»Der Meinung bin ich aber nicht«, widersprach Professor Wagner entschieden. »Und wenn Sie sich mal die Mühe machen würden, solche Geschichten und Märchen zu hin­terfragen, dann würden Sie merken, dass sich dahinter meist eine wahre Geschichte verbirgt.«

Buttler stierte ihn mit unverhohlener Fassungslosigkeit an: »Ja, denken Sie das denn im Ernst?«

»Natürlich.«

»Ich glaube, ich bin hier falsch!«, platzte Jeremy Dixon heraus. »Das darf ja wohl nicht wahr sein!«

Auch Buttler schien an den Kenntnissen und Fertigkeiten seines Kollegen zu zweifeln, seine Mimik drückte Verach­tung aus. »Das ist ja eine feine Runde! Die einen glauben an Märchen und Kindergeschichten, und die anderen sind religiöse Spinner, die in der falschen Zeit leben, und sich nicht mit den modernen Erkenntnissen auseinandersetzen wollen! Da frage ich mich doch, was ich hier eigentlich ma­che!«

»Dass Sie nicht an Gott glauben, bedeutet nicht, dass es ihn nicht gibt. Und es gibt Ihnen auch nicht das Recht, die anderen Kollegen zu beleidigen«, wies Frederick Taylor ihn scharf zurecht.

»Sind Sie etwa auch deren Ansicht? Dann frage ich mich, wer Sie zum Wissenschaftler ernannt hat!«, wandte sich Buttler nun auch noch gegen ihn. »Das es keinen Gott gibt, sehen Sie doch schon allein daran, dass er ansonsten kaum die furchtbaren Katastrophen und Kriege zulassen würde!«

»Ich halte es da so ähnlich wie die Kollegen, ohne gleich als religiöser Spinner abgestempelt zu werden«, hielt Tay­lor ihm entgegen. »Auch ich bin der Ansicht, dass die Men­schen nur die Auswirkungen ihrer wie auch immer gearte­ten Lebensweise zu spüren bekommen.«

»Das sehe ich genauso«, erklärte Sarah Newman, und ihr Mann nickte zustimmend. »Auch wenn einige uns als Spin­ner bezeichnen, aber das ist doch nur ein Ausdruck ihrer eigenen Angst.«

Buttler wurde rot im Gesicht: »Angst? Wovor soll ich denn bitte Angst haben? Die Erkenntnisse basieren alle auf wissenschaftlich ausgearbeiteten Daten und...«

»Ich denke, das reicht«, unterbrach einmal mehr Profes­sor Wagner den Choleriker. »Wir sollten diese Sitzung nicht in einem Chaos und Privatkrieg enden lassen, immer­hin haben wir Verpflichtungen gegenüber den Zuschau­ern.«

»Einverstanden«, erklärte Professor Taylor nach einem kurzen Blick in die Gesichter der übrigen Teilnehmer der Diskussionsrunde. »Die vorgesehene Sendezeit ist zwar noch nicht ganz erschöpft, aber in den noch verbleibenden Minuten werden wir sicherlich keine gravierenden neuen Erkenntnisse mehr sammeln, sondern uns nur noch weiter anfeinden. Daher erkläre ich die Sendung für beendet. - Meine Damen, meine Herren, Commander Phillips, ich danke Ihnen und denke, dass wir uns schon bald wieder in dieser Runde zusammenfinden werden. Der nächste Ter­min wird...«

An dieser Stelle wurde vom Sender ausgeblendet und Kim Williams begrüßte ihre Zuschauer wieder zurück: »Wir berichteten live aus New York von der so genannten Krisenkonferenz unter der Schirmherrschaft der UNO. Auch wir schließen uns den aktuellen Gegebenheiten an und beenden die jetzige Sendung mit dem Hinweis auf heute Abend. Um acht Uhr erhalten Sie wie immer eine Zusammenfassung der Geschehnisse in aller Welt.«

Und ihr Kollege Richard White beendete die Sendung mit den Worten: »Meine Damen und Herren, ich danke Ih­nen für Ihre Aufmerksamkeit! Das Geschehene wird uns die nächsten Wochen und Monate sicherlich noch beschäf­tigen, und ich darf Sie, verehrte Zuschauer, schon heute auf die nächste Sendung mit diesen Experten hinweisen, über die wir Sie natürlich rechtzeitig informieren werden. Ich verabschiede mich für heute von Ihnen. Bis zum nächs­ten Mal!«

Und seine Kollegin Kim Williams verabschiedete sich ebenso von den Zuschauern: »Good bye!«

Return of God

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