Читать книгу Vietnam 1973 - 1974 - ein DDR-Auslandskader erzählt - Günter Mosler - Страница 5
Die Zeit vor meinem ersten Auslandeinsatz
Оглавление„Hände weg von Vietnam!“, „Frieden dem vietnamesischen Volk!“ rufen empört friedliebende Völker, auf unserem Planeten. Auch im Jahr 1972 wird dem vietnamesischen Volk das Recht auf ein friedliches Leben entzogen. In regelmäßigen Abständen lassen Amerikanische Jagdbomber vom Typ B 52, im Norden Vietnams, die todbringende Fracht, auf Städte und Dörfer, auf Friedhöfe, auf Krankenhäuser und Schulen, auf Kulturzentren und Industrieanlagen, auf Straßen, Brücken, Felder, Deiche, Bewässerungsanlagen und vielen anderen lebenswichtigen Einrichtungen fallen. Alte und junge Menschen, Greise, Säuglinge finden den Tot in Ruinen. Am 5.8.1964 begann der erste Bombenangriff über Nordvietnam und die Gefangenschaft für den ersten US-Piloten Marine-Oberleutnant Everett Alwarez, geboren am 23.12.1937, katholisch. Flugzeuge mit märchenhaften Namen wie Himmelsfalke (Typ: A4 Skyhawk), Donnergott (Typ F 105 Thunderchief), Gespenst (Typ F4 Phantom), sowie Flugzeuge vom Typ RB-66 und die schrecklichen Flugzeuge vom Typ B52 sind ungebetene und immer wieder zurückkehrende „Gäste“ am Himmel der Demokratischen Republik Vietnam. Die Weltöffentlichkeit Protestiert über einen Aufruf eines hohen US-Offiziers der Airforce: „Entweder ziehen die Nordvietnamesen ihre Hörner ein, oder wir bomben sie in die Steinzeit zurück!“ Das ist ein Befehl zum handeln für Piloten darunter Söhne, Ehemänner und Väter, die stationiert sind auf Militärbasen, in Südostasien. Über Hanoi, Haiphong und anderen Städten, Gemeinden, Ansiedlungen im Norden Vietnams, werden Kugelbomben, Sprengbomben, Raketen abgeworfen, unschuldige Zivilisten werden im Bombenhagel, verletzt, verkrüppelt oder getötet. Aber nicht alle Flugzeuge kehren auf ihre Stützpunkte zurück. Der Fallschirm ist der einzige Lebensretter für US-Piloten, nach Abschuss eines US-Flugzeuges, über dem Territorium der Demokratischen Republik Vietnam
Im Juni 1967 wird der Abschuss des 2000-sten US-Flugzeuges gefeiert und über der zauberhaften Halong-Bucht wurden weit über 200 Flugzeuge abgeschossen, so berichten Medien. Nach jedem Flugzeugangriff wird die Anzahl der überlebten US-Piloten größer. Oberleutnant Everett Alwarez ist nicht mehr alleine in der Gefangenschaft, seine Gleichgesinnten im verschwitzten Gewand und bewacht von der vietnamesischen Volksarmee. Jetzt erleben gefangene Piloten am eigenen Leib Bombenhagel ihrer Himmelsfalken, Donnergötter, Gespenster und anderer Flugzeuge und haben viel Zeit nachzudenken, welches Leid sie den Menschen zugefügt haben. Weihnachten 1972. Während Christen in aller Welt „Stille Nacht, heilige Nacht“ singen, nähern sich in der Stille der Nacht, vom 25. auf den 26. Dezember, eine unübersehbare Anzahl der Himmelsfalken, Donnergötter, Gespenster und andere „Engel der Freiheit“, der Hauptstadt Hanoi.
Motorengeräusche werden von Sekunde zu Sekunde deutlicher. Die Flugzeugabwehr der vietnamesischen Volksarmee steht zum Empfang ungebetener Weihnachtsgäste bereit, „ihre Hörner“ sind gen Himmel gestreckt und warten. Die Last der Bomber ist ungeheuer schwer und verhängnisvoll für Tausende von unschuldigen Menschen besonders in der Kham Thien-Straße von Hanoi sowie in den Vororten. Schon rasen die ersten „eisernen Himmelsfalken der Freiheit“ im Tiefflug auf ihre Ziele zu – die in einer Großstadt nichts anderes sind, als friedliebende Mütter mit Kindern, alte und junge Menschen sowie Greise – und lassen die todbringende Fracht fallen. Ohrenbetäubende Detonationen erschüttern die Stadt. Luftabwehr der vietnamesischen Volksarmee „begrüßt“ mit viel gezielten Treffern die Eindringlinge, holt mehrere „Weihnachtsgäste“ vom Himmel. Flammen steigen empor. Menschen schreien und. sterben.
Nein, die Tragödie ist noch nicht zu ende, sie hat erst begonnen. Eine Flugzeugwelle löst die andere ab, Bomben fallen und danach Detonationen, Flammen, Geschrei Hilferufender kommen hinzu. Unter Ruinen, wo vor kurzem Hilferufe nicht zu überhören waren, ist es still geworden, statt Hilfe kam der Tod
Das waren die frühen Morgenstunden des zweiten Weihnachtsfeiertages 1972. Gläubige vietnamesische Christen falten Hände gen Himmel und klagen: „Oh, Herr Jesus Christus, warum müssen wir auch heute, zwei Tage nach Deinem Geburtstag, so leiden?“ Noch undurchschaubar ist die Bilanz der Zerstörung. Die Kham Thien-Straße ist völlig zerstört, tausende Menschenleben, man spricht von 20.000, wurden ausgelöscht, verletzte und verstümmelte Bewohner kommen hinzu. Eine Katastrophenbilanz, die die Weltöffentlichkeit erschüttert. Die errichtete Gedenkstätte zwischen wieder aufgebauten Häusern, im Zentrum der Straße, erinnert an die Tragödie mit folgendem Wortlaut:
Kham Thien Khac sau cam thu 26.12.1972
Übersetzt:
Die Kham Thien Straße mit tiefem Hass 26.12.1972
Das Denkmal
Die US-Regierung erkennt die aussichtlose Lage und unterzeichnet am 27.01.1973 in Paris, das Abkommen über die Beendigung des Krieges und Wiederherstellung des Friedens in Vietnam, seine Truppen aus Südvietnam abzuziehen und die Unabhängigkeit ganz Vietnams anzuerkennen.
Vietnam braucht zur Herstellung des Friedens und späteren Aufbau des zerstörten Landes Stahl. Meine Kombinatsleitung, des VEB Bau- und Montagekombinates „Chemie Halle“, führt im März 1973 ein Kadergespräch mit mir, zwecks Delegierung nach Vietnam, zur Mitwirkung am Bau des Stahl- und Walzwerkes „Gia Sang“, nicht weit von Thai Nguyen, in der Provinz Bac Thai. Der Krisenrat: meine Frau Helene, Tochter Halina und ich tagt. Die Angst in ein weltbekanntes Krisengebiet zu reisen ist berechtigt. Von der Familie getrennt zu werden, meine geregelte Arbeit zu unterbrechen, Freunde zu verlassen, auf die Wohnung sowie erreichten Lebensstandard zeitweilig zu verzichten, ins Ungewisse zu reisen. Diese Gedanken stimmen mich, ehrlich gesagt, nachdenklich und decken sogar meinen Körper mit Frösteln ein. Vietnam-Informationen im Fernseher, Radio oder Presse bringen bei meiner Frau und unserer Tochter (13 Jahre) die Tränen zum Rollen. Wir diskutieren und versuchen, die Delegierung nach Vietnam von der positiven und negativen Seite zu beleuchten. Die positive Seite: das aufgestockte Gehalt, das schöne ausländisches Tagegeld von 30 Dong pro Tag, der Einkauf im Genex-Laden, exotische Länder kennenlernen, Hilfe leisten beim Bau eines Stahl- und Walzwerkes. Die negative Seite: die Trennung von Familie, das Ungewisse in einem zerstörten Land zu leben und zu arbeiten und das über mehrere Monate, der immer noch andauernde Kriege im Süden des Landes, das macht uns Sorgen. In mir werden Erinnerungen wach aus früheren Kriegsberichten in Vietnam. Plötzlich der Begriff My Lai!
Im Jahr 1970 veröffentlichte ein amerikanischer Armeefotograf Namens Ronald Haeberle in US Magazin „Life“ Farbfotos und Einzelheiten vom Massaker in My Lai, die um die Welt liefen. Es wurde berichtet, dass nur in 3 Stunden 504 Dorfbewohner zum Opfer fielen. Der Befehl lautete: Alles töten, vernichten und zerstören, weil sich im Dorf eine Gruppe von Vietcong versteckt. Eine 10-jährige Vietnamesin mit dem Namen Vo thi Lien aus My Lai, dessen alle Familienangehörige umgebracht wurden, tretet in vielen europäischen Ländern auf, klagt das Verbrechen in ihrer Heimat Vietnam vor der ganzen Welt an. Die Protestbewegung gegen die Aggression in Vietnam zieht auch in den Vereinigten Staaten von Amerika unter der Bevölkerung weite Kreise. Ich habe Bilder vor meinen Augen, die die Welt erschüttern. Der Polizeichef von Saigon erschoss mit seiner Pistole, auf offener Straße einen Vietnamesen. Berichte über Folterungen auf der Teufelinsel Con Son, in Konzentrationslagern und Gefängnissen, wo Menschen in Tigerkäfigen, bei erdrückender Hitze und Schwüle gehalten werden, sind auf der Tagesordnung. Je entschlossener ich bin nach Vietnam zu reisen, beim Bau des Stahl und Walzwerkes „Gia Sang“ in Thai Nguyen mitzuwirken, desto intensiver beschäftige ich mich mit Vietnam. Vietnam ein südostasiatisches Land liegt in den geografischen Koordinaten 102°10’ bis 109°29’ östlicher Länge und 8°30’ bis 23°22’ nördlicher Breite. Vietnam grenzt im Norden an China und im Westen an Laos und Kambodscha, im Osten und Süden bildet seine Grenze der Pazifik. 75% des vietnamesischen Territoriums sind von Gebirgen bedeckt. Die Uhren zeigen in der Hauptstadt Hanoi sieben Stunden mehr an als in Greenwich. In der DVR herrscht tropisches Monsunklima mit nach Norden abnehmenden Temperaturen. Die Jahresmitteltemperatur beträgt in Ho Chi Minh Stadt/Saigon +27,1 °C, in Hanoi +23,3 °C. Im Norden treten in den regenreichen Monaten d.h. Mai bis August Temperaturen von mehr als +30°C bei einer Luftfeuchtigkeit von etwa 80% auf. Für einen längeren Aufenthalt in Vietnam ist sowohl leichte als auch warme, atmungsaktive und pflegeleichte Bekleidung, erforderlich. Während der Sommermonate ist an heißen Tagen eine Kopfbedeckung angebracht. Tropenhelm, Strohhut u. ä. können im Land gekauft werden. Günstigste Reisezeit: September bis April. Landessprache ist Vietnamesisch. Die Handelssprachen sind: Französisch, Russisch, Englisch (besonders im Süden des Landes). Prophylaxe/Impfungen: Eine Tropenuntersuchung ist vor und nach der Reise erforderlich. Hinweise zur Hygiene: Die Verwendung von unabgekochtem Wasser (auch zum Zähneputzen), der Genuss von rohem Gemüse und Früchten (außer Schälfrüchten), von Eis sowie von Süßwasserfisch sollte unbedingt unterbleiben. – Fleisch ist nur in gut durchgebratenem bzw. gekochtem Zustand zu genießen. – In Binnengewässern sollte nicht gebadet werden.
Mit Vietnam-Informationen gut gerüstet, gemischten Gefühlen „in der Tasche“ aber auch der vorsichtige Drang zur bevorstehenden Herausforderung, auch die Neugier ein fernes exotisches Land, dessen Sitten und Gebräuche kennen zu lernen und nicht zuletzt gutes Geld zu verdienen, entscheide ich mich endgültig, nach Vietnam zu reisen. Die Delegierung zum Entsendebetrieb, dem VEB Ingenieuranlagenbau Berlin, Kurzbezeichnung VEB SKET-Ingan Berlin, als Generalauftragnehmer für das Vorhaben in Vietnam, verläuft unbürokratisch.
Während des Vorstellungsgesprächs erfahre ich meine zukünftige Funktionsbezeichnung: Baustellenorganisator, ein viel und nichts sagender Begriff. Schwerpunkte meiner Aufgabe werden sein: Montagefreiheitstermine für technologische Ausrüstung einzuhalten; Baustellentransporte zu organisieren.
Je tiefgründiger ich über mein Aufgabengebiet nachdenke, desto verwirrender werden meine Gedanken. Wie und wo beginne ich mit der Vorbereitung zu meiner neuen Tätigkeit?
Wie werde ich mich, vor Ort, sprachlich verständigen können?
Bin ich überhaupt in der Lage, ohne ausreichender Fachliteratur vor Ort, mein Arbeitspensum zu bewältigen?
Diese Fragen quälen mich. Jetzt bin ich öfters in VEB SKET-Ingan Berlin, bekomme Einblick in Projektunterlagen, werde mit „guten“ Ratschlägen aus erster Hand über Baustelle, Land und Leute „geimpft“. Es fällt mir leichter Arbeitsmaterial für meine neue Aufgabe zusammenzustellen, gewinne mein Selbstvertrauen zurück, es stimmt mich optimistisch. Der Ausreisetermin steht fest, das Einkaufen und Packen beginnt. Gemeinsam mit Frauchen und Töchterchen durchstöbern wir Verkaufseinrichtungen der HO u. Konsum. Diese Einkäufe nehmen kein Ende, ständig kommen neue Gedanken und Ideen hinzu. Der Hinweis „aus erster Hand“, die vor Ort schon waren, lautet unfrisiert: „Die Versorgung in Vietnam funktioniert nicht“, gibt Anstoß zum Handeln. Wir kaufen und kaufen und das nimmt kein Ende. In der Wohnung stauen sich Dosen mit Fleisch- und Wurstwaren, Kloßmehl, Makkaroni, Nudeln, Reiß (!), Mehl, Zucker, Salz, Beutelsuppen, Pudding, Trockenmilch, Dauerbrot, Pulvergetränke, Tee, Kaffee, Gewürze, alkoholische Getränke, Süßigkeiten, Waschpulver, Seife, Unterwäsche, ein Hut und Anzug für das tropische Klima. Ein großer lederner Luftkoffer für ca. 100,- DDR-Mark, drei Pappkoffer und vieles andere noch, werden angeschafft. Die rote Lampe, am Girokonto, leuchtet schon lange. Wir packen fleißig. Mein Luftkoffer, von dem ich mir hohe Stabilität verspreche, wird immer dicker und wir verstauen drin immer weiter. Jetzt ist das gute Stück voll gestopft, aufgebläht, wie ein Ballon, aber das Angeschaffte nimmt in der Menge nicht viel ab, es liegt zerstreut am Fußboden. Aus unserem Haushalt kommen noch hinzu: Töpfe, Teller, Tassen, Besteck, Tauchsieder, Bekleidung, Taschenlampe, kleine Tropenapotheke, Nähzeug, ein Kassettenrekorder mit Kassetten, Arbeitsschutzbekleidung, und vieles andere noch. Das Sortieren und Packen muss noch mehr durchdacht werden, nichts darf zu Bruch gehen, sämtliche Lücken auch die kleinsten Hohlräume im Koffer müssen belegt werden. Der letzte Pappkoffer für Arbeitsmittel, die einem vorbildlichen DDR-Baustellenorganisator dienen sollen ist reserviert.
Dazu zählen: Materialsverbrauchs- und Arbeitszeitnormen im Bauwesen, Dokumentation für den Gesundheits-, Arbeits- und Brandschutz, Normen für Baumaterialprüfungen, Vordruckblätter verschiedener Art, Schaubilder für Sieblinien, diverse Fachliteratur, ein Paar stabile Arbeitsschuhe und ein neuer Arbeitsschutzhelm – denn ohne solch eine Ausstattung darf sich keiner auf einer Baustelle bewegen.
Der DDR-Baustellenorganisator muss doch das glänzende Beispiel auf der Baustelle des Stahl und Walzwerkes „Gia Sang“ in Vietnam sein. So denke ich vor der Ausreise. Vor dem zerstreuten Haufen meiner Arbeitsmittel sieht der letzte Pappkoffer recht winzig aus. „Mein Gott Günter, wie willst Du diesen Kram in dem kleinen Pappkoffer verstauen?“, frage ich mich im Selbstgespräch. Die Antwort gebe ich mir selbst: Ein vierter Koffer muss her! Alles was da liegt, ist sehr wichtig – so denke ich als zukünftiger DDR – Baustellenorganisator. Ich liebäugele nach einem zweiten Luftkoffer, aber mein liebes Frauchen erfasst blitzschnell meine Wunschidee und zerschlägt diese mit der Bemerkung: „Einen blauen Schein (100 DDR-Mark) habe ich nicht mehr, es reicht nur für ein Pappkoffer.“
Kurz vor Ladenschluss, eile ich zu Fuß – wir haben noch keinen PKW – ins Zentrum der Stadt, einen Pappkoffer kaufen. Bis spät in die Nacht wird gepackt und verstaut, gemeinsam quälen wir die Koffer, der Ausreisetermin ist für Morgen früh vorgesehen. Es bleibt immer noch viel am Fußboden liegen. Mit schlechter Laune und gegenseitiger Schuldzuweisung, öffnen wir die Koffer mehrmals und umverteilen den Inhalt. Es folgt ein Durcheinander, wir Schwitzen, unsere Kräfte lassen nach, das Fazit: keiner weiß, wo was verstaut worden ist.
Unsere 13-jährige Halina steht freudestrahlend vor dem Spiegel im Selbstgespräch vertieft: „Mein Vati fliegt Morgen mit dem Flugzeug nach Vietnam und ich darf zum Flughafen nach Berlin Schönefeld mitfahren.“
Je näher das Packende voranschreitet, desto trauriger wird meine Frau. Der Gedanke, bald für längere Zeit getrennt zu sein, nährt die traurige Stimmung. Meine Gefühle sind gemischt, ich reise nach Vietnam, meinen Auftrag zu erfüllen. Beim Anheben der Koffer, besonders des schweren Luftkoffers, bekomme ich wackelige Beine, meine Körperhaltung nimmt die Gestalt eines Orang-Utans an.
„Mein Gott Günter, wie kommst Du damit nach Vietnam?“, frage ich mich im Selbstgespräch und beginne ernsthaft, an der Stabilität des guten ledernen Luftkoffers zu zweifeln. Zwei zusätzliche Riemen spanne ich um. Endlich sind wir mit dem Packen fertig, aber auch körperlich und nervlich geschafft, es ist sehr spät geworden. Die Nacht verbringen wir schlaflos und sehr unruhig. Meine Gedanken flattern hin und her, sind abwechselnd mit Optimismus und Pessimismus angesichts der nahen Zukunft geprägt. Ab Morgen beginnt, weit in der Welt, mein Abenteuer, das mich zufrieden oder unzufrieden stellen wird. Ich habe mich entschieden zu diesem Abenteuer, es gibt kein Zurück mehr. Meine Helene weint ununterbrochen, leise und laut, eine zeitlang mich vermissen zu müssen.
Ich tröste mein Frauchen mit Zärtlichkeiten und Worten. „Beide werden wir es nicht leicht haben. Belohnt werden wir, was Gutes getan zu haben, finanziell gestärkt zu werden, ein PKW könnte sogar herausspringen.“
Meine tröstenden Worte tragen nicht viel zum Eindämmen der Tränen bei.
Halina, geprägt vom Gedanken zum Flughafen Berlin-Schönefeld fahren zu dürfen, ist lange Zeit noch wach, ermahnt uns ständig aus dem Kinderzimmer, den Wecker nicht vergessen zu stellen. Ihre Bekleidung für die Reise zum Flughafen liegt bereit. Plötzlich herrscht Ruhe, Halina schläft.
Es ist Freitag, der 29. Juni 1973, um 3:00 Uhr morgens steht der Dienst-PKW, vor unserem Haus. Wir sind gekleidet und bereit zum Verlassen der Wohnung. Das Tragen des Gepäcks vom zweiten Obergeschoss zum Auto kostet mich körperliche Anstrengung. Das Verstauen der Koffer im PKW nimmt nicht viel Zeit in Anspruch, der Kraftfahrer wusste, was auf ihn zukommt, hat Erfahrung auf diesem Gebiet. Wir nehmen unsere Plätze ein und die unbequeme Fahrt, durch das viele Gepäck, in Richtung Berlin-Schönefeld beginnt. Meine Frau mit dunkler Brille, die angeschwollenen Augen von Tränen sollen nicht zum Vorschein kommen, unsere Tochter in Wechselstimmung. Müdigkeit und Freude lösen sich ab, ich in höchster Spannung auf das Bevorstehende, der Kraftfahrer in schlechter Laune, so zeitig eine weite Strecke fahren zu müssen. Wir fahren im Schweigen. Drei Stunden vor dem Abflug erreichen wir das hell beleuchtete Flughafengelände, auf dem Kraftfahrzeuge parken, aber Fluggäste oder Besucher kaum zu sehen sind.
Meine beiden mitreisenden Kollegen, Hans aus Sangerhausen für die Elektrotechnik und Werner aus Berlin für die Hochofenmontage zuständig, treffen nach und nach, mit Familienangehörigen und Freunden, ein. Nach Begrüßung, Bekanntmachung prüfen wir erneut unsere Reisedokumente, und gehen zur Gepäckabfertigung. Freunde und Familienangehörige helfen, die Last aufs Förderband zu hieven, achten darauf, dass Gepäckscheine gut aufbewahrt werden, die innere Unruhe der Ausreisenden ist nicht zu übersehen. Erbarmungslos nähert sich der Zeitpunkt zum Abschiednehmen von allernächsten Familienangehörigen, Freunden, von der Heimat. Oh Abschied, warum bist du so schwer?
Noch eine Minute, noch ein Paar Sekunden können wir zusammenbleiben. Tränen rollen, zärtliche Abschiedsberührungen und lang anhaltende Küsse nehmen kein Ende. Liebe Worte des Abschiedes und gute Wünsche werden mit traurigem Akzent getauscht. Noch ein, der letzte, Abschiedskuss und Händedruck mit meiner lieben Frau Helene und traurigen Tochter Halina, die trotz ihrer 13 Lebensjahre, in meinen Augen noch immer das kleine frohlockende Mädchen ist. Eine glänzende Zukunft ist ihr sicher?
Die Trennung ist endgültig vollzogen. Nach der Pass- und Sicherheitskontrolle noch ein Winken mit Handkuss in Richtung meiner Liebsten, dann betreten wir den Transitraum und plötzlich sieht die Welt ganz anders aus. Mich überkommt das Gefühl, von einer inneren Last befreit zu sein. Die innere Unruhe, die Hektik der letzten Tage, der Gedanke, in ein fernes zerstörtes Land zu reisen, die Frage, was dort auf mich zukommen wird, sind plötzlich entwichen. Die gewohnte Selbstsicherheit und der freudige Optimismus sind wieder da. Auch der schmerzliche Abschied, von meiner Frau und Tochter, rückt immer weiter fern.