Читать книгу Vietnam 1973 - 1974 - ein DDR-Auslandskader erzählt - Günter Mosler - Страница 6
Der Flug Berlin – Hanoi
ОглавлениеVon quälender Last befreit, mit zurück gewonnen Selbstbewusstsein und steigender Neugier auf die erste Flugetappe mit der IL-62 unserer Fluggesellschaft „Interflug“, sitzen wir, drei abgekämpfte Mohikaner, schweigend auf der Bank und warten auf den Aufruf, zum Ausgang zu gehen. Es kommen immer mehr Passagiere, zum Flug nach Moskau und in andere Richtungen. in den Transitraum. Nach kurzer Verschnaufpause treten wir zur Bar, ein kleines und noch ein großes Bierchen, eine warme Bockwurst, dann ein Magenbitter, Cognac und Wodka, damit der nächste Schritt in guter Laune vollzogen wird. Wir lernen uns kennen, im Zuge der Vorbereitung und Einarbeitung beim VEB SKET-Ingan Berlin, gab es wenig Zeit für private Unterredungen.
Werner, der älteste von uns, war schon, vor dem 26.12.1972, in Vietnam und ist mit den dortigen Arbeits- und Lebensbedingungen vertraut. Mit lockerer Zunge werden Fragen an ihn gerichtet, die er auch ungeschmückt beantwortet. Wir sitzen weiter gemütlich an der Bar, duzen uns nach Bierchen und Schnäpschen, und horchen aufmerksam Werners Vietnam-Erzählungen zu.
Plötzlich der Aufruf, Passagiere zum Flug nach Moskau möchten zum Ausgang zu gehen. Die Maschine ist vollbesetzt. Während eine Stewardess zum letzten Mal die Vollständigkeit der Passagiere auf ihren Plätzen prüft, erklingt das Bordmikrofon, „Gurte sind anzuschnallen, das Rauchen während des Startvorganges ist nicht gestattet.“
Auch Hinweisschilder „Bitte Gurte anschnallen“ und „Nicht Rauchen“ leuchten über dem Durchgang auf. Im Vorderteil des Flugzeuges präsentiert eine Stewardess eine Rettungsausrüstung mit schriftlicher Instruktion und belehrt Fluggäste über Verhaltensweise im Falle eines unvorhergesehenen Ereignisses. Pünktlich, 8:45 MEZ startet unsere IL-62. Der erste Abschnitt des Fluges Berlin-Hanoi, beginnt mit einem Ohrenbetäubenden Anschublärm und immer schneller werdender Startgeschwindigkeit, bis zum Abheben der Maschine. Vom ovalen Fenster aus, sehe ich, wie schnell das Flugzeug an Höhe gewinnt, immer ferner werden Flughafenkomplex, Grundstücke, Häuser, Wege, Straßen, die Autobahn, Kraftfahrzeuge, die „Mauer“ pardon der „antifaschistische Wall“ zu Westberlin, auch der Lärm lässt nach, die erste Wolkenschicht wird durchgestochen. Leuchtende Hinweisschilder erlöschen, es gibt einen Hinweis, wir befinden uns auf Flughöhe. Flugpassagiere befreien sich von der Gurtschnallung, Entspannen mit Tageszeitung in der Hand, Stewardessen verlassen die Sitzplätze, gehen in die Bordküche um den Fluggästen das Frühstück und die Getränke vorzubereiten. Aus dem Bordlautsprecher erklingt die Stimme des Flugkapitäns, er stellt sich mit Namen vor, begrüßt Passagiere, macht Angaben zur Flughöhe- und Geschwindigkeit, Außentemperatur, beschreibt die Flugroute und wünscht angenehmen Flug. Weitere Bordinformationen folgen. Wir überfliegen, etwa 10 Minuten nach dem Start, die Staatsgrenze zu Polen, um 9:45 MEZ die Stadt Vilnius, in 10.000 m Höhe, mit einer Fluggeschwindigkeit von 850 km/h, bei -42°C Außentemperatur, ist aus dem Lautsprechen zu hören. Das Frühstück, im schmalen Servierwagen transportiert, reichen nette Stewardessen auf einem Tablett. Es schmeckt und ist sehr reichlich. Schweigend frühstücken die Passagiere mit gutem Appetit, richten hin und wieder mal ein Blick zum Fenster. Außerhalb des Flugzeuges macht sich dem Betrachter eine märchenhafte Landschaft breit, die ein Fluggast, der zum ersten Mal fliegt, nie vergessen wird. Unter der braven Il-62 liegt ein unendlich weit und breit gestreckter Teppich aus gleichmäßig zerstreuten weißen Wolken. Über uns die Sonne, der dunkelblaue Himmel, oder wie ihn Astronomen bezeichnen „das scheinbare Gewölbe, das sich als hohle Kugel über der Erde ausbreitet“. Die Sonne strahlt majestätisch mit Glanz und Herrlichkeit unseren Lebensraum an. Wir Vietnamreisende, von der psychischen Spannung der letzten Tage erlöst, sind müde, halten Augen geschlossen. Um 10.40 ertönt eine Durchsage, unsere Landung am Flughafen Moskau-Scheremjetewo 2 steht bevor, die Außentemperatur beträgt +16°C, Passagiere werden zum Anschnallen der Gurte und Einstellen das Rauchen auffordert. Die gute Il-62 verlässt die Flughöhe, durchsticht Wolkenschichten, Umrisse von Gebäuden, Grundstücken, Straßen, Wegen werden immer deutlicher, Düsenmotoren bremsen hör- und spürbar, der Boden sehr nah, plötzlich das Aufsetzen der Räder auf der Landebahn erschüttert leicht die Maschine, die Rollgeschwindigkeit verlangsamt, unser Flugzeug kommt zum Stehen, es ist 11:00 Uhr MEZ.
Die Pass- und Zollabfertigung verläuft zügig, unser Gepäck übernimmt der Transitdiensthabende am Flughafen, wir können uns frei bewegen, außerhalb des Flughafengeländes, um 20:00 Moskauer Zeit, laut Flugplan, erfolgt die nächste Flugetappe Moskau-Peking. Die Kosten der Verpflegung übernimmt die sowjetische Fluggesellschaft „Aeroflot“, wir sind im Besitz einer OK-Buchung. Die freie Zeit, bis zum Weiterflug, vertreiben wir beim mehrgängigen und reichlichen Mittagessen sowie Getränken, einem ausgedehnten Spaziergang innerhalb und außerhalb des Flughafengebäudes.
Um 20:00 Ortszeit besteigen wir schweigend die TU-104, der sowjetischen Fluggesellschaft „Aeroflot“; die Crew begrüßt die Passagiere an der Schwelle, mit langsamen Schritten gehen wir zu den gebuchten Sitzplätzen.
Der Flug von Moskau bis Peking, mit Zwischenlandung in Omsk und Irkutsk, ist mit 11 Flugstunden angegeben. Nach dem Abheben gewinnt die TU-104 rasch an Höhe, ich blicke zum ovalen Fenster, alles Irdische wird von Sekunde zu Sekunde kleiner, die Ohren nehmen das eintönige Geräusch ohne Widerspruch an, Hinweisschilder erlöschen, wir befinden uns in vorgeschriebene Flughöhe. Unsere Maschine ist nicht voll besetzt, außer uns sind noch Sowjetbürger, Chinesen, Laoten, Vietnamesen und eine Gruppe von 25 bis 30 Albanern – alle einheitlich gekleidet und sehr distanziert zu Passagieren – an Bord. Das Abendessen von einer Stewardess serviert, ist reichlich und schmackhaft was die Stimmung der Fluggäste belebt. Draußen neigt der Tag dem Ende zu, die ersten Himmelskörper leuchten auf, unsere Maschine fliegt in Richtung Osten, dem neuen Tag entgegen. Ein Pilot schreitet während des Fluges, mit freundlichem Lächeln den Gang entlang, spricht Fluggäste russisch oder englisch an, plaudert kürzer oder länger, was Reisende fröhlich stimmt. Meine guten polnischen und schwachen russischen Sprachkenntnisse bieten die Möglichkeit, vom Piloten zu erfahren, dass wir bald einen herrlichen Sonnenaufgang sehen werden. Wir befinden uns in einer Zeitzone, die sich zur Moskauer Zeit um 6 Stunden unterscheidet, das heißt, wir werden den neuen Tag 6 Stunden eher begegnen. Unsere TU-104 befindet sich in 10.000 m Höhe, die Nacht neigt sich unbemerkt aber schnell dem nahen Morgen zu. Etwa eine Stunde vor der Zwischenlandung im sibirischen Omsk erleben wir ein unvergessenes Naturereignis, den herrlichen Sonnenaufgang, der Minuten zuvor vom Kapitän im Lautsprecher, in verschiedenen Sprachen, angekündigt wurde. Hinter ovaler Fensterscheibe beobachte ich weit am Horizont, in östlicher Richtung, einen kleinen rot leuchtenden Flächenpunkt, der bei genauer Betrachtung, von Sekunde zu Sekunde, größer und immer größer wird. Es ist nicht zu fassen, was sich vor meinen Augen abspielt, auch andere Fluggäste werden zur Aufmerksamkeit bewegt. Die feuerrote Flächenhelligkeit, einer Vulkanlawine am Berghang ähnlich, umrahmt von dunkler Nacht und unzähligen Sternen, breitet sich in allen Richtungen meines Sehbereiches, unaufhaltsam, aus. Nach und nach erblasst die feuerrote Farbe am Horizont, die Sonne nimmt deutlich und schnell bekannte Konturen eines großen hellgelblichen Balles an.
Unsere TU-104 setzt ihren Flug, ungeachtet des berauschenden Naturereignisses in östlicher Richtung fort, dem neuen Tag entgegen. Im Lautsprecher wird in russischer und – zu unserem Erstaunen – in deutscher Sprache die Landung unserer Maschine auf dem Flughafen von Omsk, in 25 Minuten ankündigt. Genau um 23:25 Moskauer und 5:25 Uhr örtlicher Zeit, also am frühen Morgen, kommen die winzigen Räder der großen Maschine auf der verregneten Landebahn zum Stehen. Ein Bus fährt uns zum Transitraum. Ein sehr sympathisches älteres Mütterchen, bietet kostenlos Reisenden im leeren Transitraum heißen Kaffee oder Tee an. Passagiere eilen zum Zeitungsregal und wühlen in illustrierten Presseerzeugnissen, die reichlich und verschiedenen Sprachen geordnet daliegen. Andere machen von bequemer Sitzmöglichkeit gebrauch oder stehen regungslos vor dem großen Fenster des Raumes und blicken in den sibirischen Sommermorgen. Die Außentemperatur wird mit +20°C notiert, es nieselt leicht an diesem Morgen.
Nachdem ich mehrere Illustrierte ausgewählt habe, frage ich das Mütterchen freundlich, ob ich diese Zeitschriften mitnehmen darf. Die Antwort: „Pozhaluysta!“ – bitte.
Nach 50-minutigem Aufenthalt im Transitraum sind wir wieder in Obhut der Crew. So liegen weitere 2 Stunden und 45 Minuten der Langeweile, bis zur nächsten Zwischenlandung in Irkutsk vor uns. Da und dort ein leises Plaudern, Gähnen, Stöhnen oder Schnarchen, einige schlafen gehüllt in einer Decke, ein Pilot mit freundlichem Lächeln und langsamen Schrittes durchstreift die Passagierkabine.
Unser Flugzeug überfliegt Städte, große und kleine Ansiedlungen, die Taiga, Flüsse, Gebirgsketten, Täler, zwischendurch servieren Stewardessen frisches Gebäck, warme und kalte Getränke. Sonnenstrahlen prallen schonungslos in das innere der Passagierkabine, Sonnenblenden, über dem Fenster werden gezogen um lesen zu können. Der Gedanke bald in Irkutsk, an der Angara und nicht weit von Baikalsee zu sein, erfreute mich sehr. Über Irkutsk und Sibirien las ich viele Bücher, Berichte über die Verbannung und Dekabristen bewegen mich sehr.
Bei der Durchsage: „In 20 Minuten landen wir auf dem Flughafen in Irkutsk“, verfließt meine Phantasie. Es ist kalt 12°C und regnerisch.
Die Gangway und der Bus mit Aufschrift „Aeroflot“ fahren heran, nach kurzer Fahrt betreten wir den Transitraum mit wartenden Fluggästen, hauptsächlich Asiaten, für unsere und andere Fluglinien. Reisende sitzen hinter Tischen, blättern gelangweilt in Zeitschriften, andere schauen auf Exponate vom Baikalsee, die sich zahlreich in Vitrinen befinden, andere stehen vor der großen Fensterscheibe und beobachten Techniker und das Versorgungspersonal bei der Vorbereitung unsere TU-104 zum Weiterflug nach Peking. Nicht zu übersehen ist das Buffet mit preisgünstigem Angebot an russischen Sekt, Kognak, Wodka und Bier, belegten Brötchen, Zigaretten und anderen Produkten für Transitreisende.
„Es geht weiter!“, rufe ich meinen Freunden zu.
Die Maschine vibriert, wir heben von der Startbahn ab und schweben majestätisch über Irkutsk, mit Südkurs, auf Peking zu. Die Flughöhe ist noch nicht erreicht und schon sehe ich den in aller Welt bekannten Baikalsee mit einer Fläche von 31.500 km², ein faszinierender Anblick, der nur Sekunden lang andauert. „Ein Geschenk der Natur“, sage ich im Selbstgespräch und im gleichen Moment macht unsere Maschine eine weitere Schleife nach rechts, noch ein Blick zum Fenster, bald danach erlöschen die Hinweisschilder über dem Durchgang zum Wirtschaftsbereich. Nach dem Erlöschen der Hinweisschilder, kommt eine Stewardess zu uns Transitreisenden nach Hanoi und fragt, was wir in Peking zu speisen wünschen: Chinesisch, arabisch oder europäisch. Unsere Antwort: „Chinesisch“, was per Funk zum Flughafen nach Peking weitergeleitet wird. Es ist 10:00 Ortszeit (3:00 MEZ), eine Stewardess informiert: „In 2 Stunden und 30 Minuten landen wir in Peking“, daraufhin beflügelt mich der Gedanke: „Günter, bald bist du in Peking, in China, unglaublich.“
Erinnerungen an meine ersten Kontakte mit asiatischen Briefmarken in der Philatelie werden wach. In jungen Jahren sammelte ich Briefmarken. Beim Betrachten chinesischer und vietnamesischer Marken dachte ich, dass sind ferne Länder, für mich unerreichbar, nun bin ich auf dem Weg, dort hin. Mit eintönigem Motorengeräusch fliegt unsere gute TU-104 über der Wüste Gobi, ein sonnen strahlender Himmel über uns. Bald sind wir in der VR China, ein riesengroßes Land mit fast 10 Million km², mit der größten Bevölkerungszahl der Welt – mit fast 1 Milliarde (1973) Menschen.
Wir fliegen weiter, ein Wolkenteppich breitet sich unter uns aus, im Lautsprecher wird die Landung auf dem Flughafen Peking angesagt. Das Landemanöver der letzten Flugetappe nach Peking beginnt. Der schlangenartigen Verlauf der Chinesischen Mauer ist deutlich zu sehen, Ansiedlungen, Felder, Flüsse, Straßen, Bäume, fahrende Kraftfahrzeuge, Menschen, die Landebahn und noch ein paar Sekunden und die Räder sind kaum spürbar mit der betonierten Piste in Berührung gekommen, eine meisterhafte Landung. Die gewaltige Bremskraft drückt unsere Körper in die Sitzplätze immer stärker, das Rollen der Räder wird langsamer, die Maschine kommt, nicht weit vom Flughafengebäude, zum Stehen. Der Ausstieg beginnt, ein 11 Stunden langer Flug von Moskau nach Peking hat sein Finale erreicht. Es ist 12:45 Ortszeit (5:45 MEZ) der 30.06.1973. Nun bin ich in Peking in der VR China, in einem Land, das älter ist, als die älteste Pyramide der 1. Dynastie, um 3000 v. Chr. in Ägypten. Chinesen kannten den Holztafeldruck, Kompass, Schießpulver, Porzellan, Papier, Seidenraupenzucht viel früher als wir Europäer, obwohl der Weg in die Gegenwart nicht mit Rosen geschmückt war. Inzwischen sucht uns Frau Schneider, von der DDR-Botschaft in Peking auf, die uns mit gutem Chinesisch, bis zum Weiterflug am 02.07.1973, freundlich und stets hilfsbereit zur Seite steht. Die Flugabfertigungshalle mit vielen Fluggästen und Besuchern, vorwiegend Chinesen, Frauen und Männer, auffallend einheitlich gekleidet, der angenehme Jasmingeruch in der Halle und eine riesengroße Mao-Zedong-Statue aus weißem Marmor, im Zentrum der Halle, geben Anlass zur Neugier.
Wir gehen zur Gepäckausgabe außerhalb der Halle. Das Gepäck, der TU-104 aus Moskau, wird angekündigt und schon treffen die ersten Gepäckstücke auf Plattformwagen hoch gestapelt zum Ausgabetisch ein. Meine Pappkoffer und Taschen stehen schon lange neben mir was ausbleibt, ist mein „Schmuckstück“, der lederner teure Luftkoffer mit seinem Schwergewicht. Wie schaffen es die kleinen nicht gerade muskulösen Chinesen, diesen schweren Koffer, auf den hohen Plattformwagen zu hieven, überlege ich ernst.
„Vielleicht bekommt dein gut aussehendes Stück eine Sonderbehandlung und wird als Einzelstück transportiert“, scherzt Werner. Meine Unruhe sehen mir die Gepäckausgeber an; die letzte Gepäckausgabe liegt eine Weile zurück, der Plattformwagen steht vor dem Halleneingang abgestellt da. Mein Gemüht verschlechtert sich zusehend, ein Chinese der Gepäckausgabe eilt zu mir, lächelt freundlich, gestikuliert „mein Koffer kommt“. Tatsächlich, ein kleiner zahnloser Chinese balanciert eine schäbige einrädrig unbereifte Schubkarre. Drauf ein undefinierbarer Gegenstand, zum Teil herabhängend, wie ein nasser Sack und steuert auf uns DDR-Bürger zu. Werner öffnet sein Mundwerk und zischt: „Habe ich nicht gesagt, Sonderbehandlung erfährt dein schmuckes Stück.“
Die schreckliche Szene die sich vor meinen Augen vollzieht, gleicht einem Krimi. Mein „stabiler“ lederner Luftkoffer, meine große Hoffnung unbeschadet ans Ziel zugelangen, ist von Leid geplagt. Und ein zweiter jonglierender Chinese, mit gleichem Vehikel und seltsamer Schutt-Fracht kommt, schaut mich mit tiefer Anteilnahme an, und verschwindet. Nach Aushändigung der Gepäckscheine, erlaubt mir der nette Chinese, mein „Hab und Gut“ in Empfang zu nehmen, damit ich mich, über den Inhalt des Koffers erfreuen kann. Der gute, leere, lederne, „stabile“ Koffer ist ein Totalschaden; Verschlüsse aus der Vernietung herausgerissen, die eingenähten Gurte auf beiden Seiten, zum Teil abgetrennt, hängen frei, die zusätzlich angebrachten Riemen sind nicht da. Der gesamte Inhalt meines volumenreichen Koffers liegt am Ausgabetisch ungeordnet ausgebreitet und lächelt mich an.
Meine Kollegen lästern: „Lieber Günter, das war einmal ein stabiler lederner Luftkoffer, ein Glück, dass Du nicht mehrere davon hast.“
Nach improvisierter Schnellreparatur mit Bindeschnur, Draht und guten Ratschlägen, gelingt es, mein Prachtstück allmählich gebrauchfähig zu machen, die lose Fracht erneut einzupacken, den Rest in Taschen und Beutel zu verstauen. Die Zollabfertigung verläuft unbürokratisch, vielleicht deshalb, weil man mich „Unglücklichen“ beobachtet hat oder weil wir Transitreisende sind, mit nur zweitägigem Aufenthalt in Peking.
Im Flughafenhotel, auf der gegenüberliegenden Seite des Flughafengebäudes, sind bereits Zweibettzimmer für uns reserviert, die nach Vorlage der Reisedokumente von uns bezogen werden. Eine Stunde später, 15:00 Uhr Ortszeit, nehmen wir im Flughafenrestaurant, an einem großen runden Tisch platz, an dem schon vier Asiaten Vietnamesen, Laoten oder Kambodschaner sitzen. Vor jedem Sitzplatz, auf weißbedeckter Tischplatte, zwei Stäbchen, eine bunte leere Porzellanschüssel mit einem lang gezogenen Porzellanlöffel für Suppe, Sauce oder zum Füllen der Schüssel mit Reis. Kellner servieren mehrere Porzellanschüsseln in verschiedenen Größen und Formen mit klein geschnittenem Fleisch, Geflügel und Fisch, mit Suppe und Sauce, mit Muscheln und Schnecken, mit Gemüse, exotischem Obst verschiedener Art und mit Reis. Jede Schüssel ist voll mit diesen unbekannten kulinarischen Spezialitäten. Hinzu kommen Getränke: Tee mit Jasmingeschmack, chinesisches Bier und andere Erfrischungsgetränke. Die Kunst des Essens, zum ersten Mal chinesisch, beginnt. Was tun?
Ratlos wie ein Schüler während einer Klausur, schaue ich mal rechts, mal links, zu meinen vis-a-vis sitzenden Genossen Asiaten. Ich fasse Mut, greife zu Stäbchen, die in meinen ungeschickten Fingern keinen Halt finden, der Reis will nicht haften zwischen beiden dünnen, runden Stäbchen. Jetzt gibt es nur zwei Möglichkeiten: den Tisch hungrig verlassen, oder Stäbchen mit Fingern ersetzen, das wäre peinlich, peinlich.
Werner hat keine Probleme damit, Hans versucht es jedenfalls. Mir bleibt auch nichts anderes übrig, als den Versuch zu unternehmen, weiterhin sittlich zu essen. Wir sind die einzigen Europäer im Speisesaal; im Türrahmen stehen Kellner und beobachten uns amüsant, beim quälenden Transport der Genüsslichkeiten von Schüssel zum Gaumen. Nach misslungenem Versuch, die zarten Stäbchen zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger fachkundig zu bewegen, entscheide ich mich erst mal die Suppe mit dem Porzellanlöffel zu genießen, der Hunger ruft danach. Die chinesische Esskunst gebe ich nicht auf, ich übe, nehme zwischen beide Stäbchen Fleisch, Geflügel, Fisch, es klappt sogar, die Raritäten in die Sauce zu tunken und mit aller Vorsicht in Richtung Mund, zur letzten Verzehretappe zu transportieren. Mit dem Reistransport zum Zahn gibt es Probleme, aber durch geschicktes Anheben und Stützen der Schüssel auf der unteren Mundlippe, wie es unsere asiatischen Tischnachbarn praktizieren, komme ich auch in Genuss vom Reis. Außergewöhnliche Probleme bereitet uns der Transport der Schnecken zum Gaumen. Diese Meeresfrüchte sind glatt umhüllt und können nur mit geübten Fingern, zwischen beiden Stäbchen, in Haft genommen werden. Jede Schnecke „tanzt“ erst mal auf der weißbedeckten Tischplatte, bevor sie mit Stäbchen oder Fingern festgehalten werden kann und anschließend auf der Zunge die richtige Lage einnimmt. Nachschub kommt ständig, leere Schüsseln werden durch volle ersetzt, der Magen sagt stopp, die Augen strahlen weiter. Die quälende Sitzung endet mit Ausschank von Bier der Marke „Peking Beer“ und „Wuxing Pijiu“ sowie einem Kräuterlikör der Marke „Mao Dai“, angeblich für eine gute Verdauung
Unsere weiße Tischdecke sieht aus wie ein Schlachtfeld, von Speiseresten und Saucen befleckt. Tische, an denen unsere asiatischen Gäste saßen und mit Genuss schmatzend aßen, sehen noch trostloser aus, sie reinigten ihre fetten Hände an der Tischdecke.
Draußen, obwohl später Nachmittag, ist es sehr warm und schwül; regnerische Sommermonate Juli – August bringen Temperaturen von 40°C und 80% Luftfeuchtigkeit. Im Sommer werden warme pazifische Luftmassen von Südwesten herangeblasen. Monate Dezember, Januar, Februar sind windig, kalt, oftmals -10°C und trocken; Schnee gibt es wenig.
Mit einem Taxi fahren wir ins Zentrum der Stadt, die Verständigung mit dem Taxifahrer ist schwierig, in Englisch möglich. Schweigsam bewegen sich meine Augen links, rechts, geradeaus, um nichts außer Acht zu lassen, alles ist neu, vieles ungewöhnlich. Die unzähligen klingenden Radfahrer fallen sofort auf. Ohne Hektik fahren sie dicht nebeneinander auf der Fahrbahn, ständiges Hupen der Kraftfahrzeuge, auch im Zentrum der Stadt. An Lenkstangen vieler Fahrräder hängen festgebunden lebende Hühner, Enten mit Köpfen nach unten, am Gepäckträger waagerecht eine Bambusstange befestigt, an beiden Enden Körbe mit Gemüse oder Obst. Rikschas, die ich zum ersten Mal sehe, sind mit 1 bis 3 Fahrgästen besetzt, andere transportieren lebendes Geflügel, Schweine oder Sperrgut. Mir fällt auf, dass Personenkraftfahrzeuge außer Taxis, auf Pekings Straßen kaum zu sehen sind. Während der Fahrt fallen mir die bedeutsamsten Erfindungen der Chinesen ein: Seide, Porzellan, Papier, Magnetkompass, Schießpulver, Holzdruck, aber auch die chinesische Heilkunde. Die Menschen auf der Straße, auf dem Gehweg, auf Fahrrädern in Rikschas, sind einheitlich gekleidet.
Die Taxifahrt endet am Tiananmen-Platz, auch Platz des Himmlischen Friedens genannt, dem Schnittpunkt der Achsen Nord-Süd und Ost-West der Stadt. Vor mir, in nördlicher Richtung, das beeindruckende große Tor, der Eingang zum Kaiserpalast – genannt der Eingang zur verbotenen Stadt. Ein großes Porträt Mao Zedong und das Wappen des Staates, über dem Eingang, erinnern an die Ausrufung der VR China, an dieser Stelle, durch den großen Vorsitzenden Mao Zedong am 01.10.1949. Die Gesamtfläche des Tiananmen-Platzes, mit Steinplatten ausgelegt, beträgt etwa 40 Hektar (400.000m²). Östlich vom Kaiserpalast steht das Museum der Chinesischen Geschichte und westlich das auffallend große Gebäude des Nationalen Volkskongresses.
Nachdem die Neugier vom Platz des Himmlischen Friedens und Umgebung ein wenig gestillt ist, schlendern wir durch belebte Straßen und Gassen, an Geschäften, Kauf- und Wohnhäusern, an Baustellen vorbei. Überall bewegten sich Menschen, einheitlich in blau und grau drillichähnlichen Anzügen gekleidet. Ich sehe keine chinesische Frau die ein Kleid trägt. Die Brustpartie der Frauen, ob jung oder alt, ist unter der blauen Blusenjacke plattgedrückt, die Frisur in Bubikopf einheitlich geformt, wie bei Zwillingsschwestern. Militärangehörige sind ebenfalls in einheitlichen Drillichuniformen gekleidet, Offiziere von Soldaten sind nicht zu unterscheiden, Rangschulterstücke sind nicht aufgenäht. Die einheitlich gekleideten Menschen im Lande sind das Produkt der Kulturrevolution von 1965-1976.
Ausländische Bürger müssen sehr wachsam sein, um nicht aufzufallen. Sie sollten keinen Kontakt zu Einheimischen suchen oder gar kritische Bemerkungen über Land, Leute, Politik, Porträts zum Ausdruck bringen.
Wir bewegen uns aufs gerade Wohl, immer der Nase nach. Schmale Gassen zehn Schritte breit, kleine Häuser links und rechts, zufriedene Menschen in Gassen vor Häusern, lachen, winken uns zu. Fassaden der Wohnhäuser – wenig farbenprächtig – neigen ins dunkle Grau. In der Stadt gibt es kaum Bäume, die wertvollen Schatten, in Sommermonaten, spenden. Große Porträts mit Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Zedong, nebeneinander porträtiert, hängen nicht nur an Fassaden öffentlicher Gebäude. Ein alter Chinese mit weißem Spitzbart in abgetragener Drillichbekleidung, gefranste ¾ Hosenbeinlänge, ohne Fußbekleidung, drückt vor sich einen wackligen Kinderwagen, aus gezimmertem Bambusholz, auf vier ungleichen Rädern, in dem drei kleine Kinder auf harter Holzfläche sitzen. Ein belustigender Anblick. Jagende Kinder, barfuß und in kurzen Hosen, ältere in Hosenanzügen, mit durchgehendem Schlitz im Schritt, damit Bedürfnissen schnell nachgegangen werden kann, so die Begründung. Passanten schauen uns erstaunt an, es ist bekannt, in ihren Augen sind Europäer weiße Langnasen. Die meisten chinesischen Männer tragen Sandalen aus Gummibereifung,
Wir durchlaufen lebhafte Einkaufsstraßen, besuchen ein Mehretagen-Warenhaus mit hoher Verkaufskultur, erstaunlich gutem Warenangebot von Lebensmitteln, Bekleidung, Industriewaren, Kunstgewerbe bis zu Elektronik. Die schnelle und freundliche Bedienung in weißer Bekleidung, voller Kopfbedeckung und Handschuhen am Backwarenstand; Berührung der Geldscheine erfolgt mittels einer Pinzette. Zuschauen macht riesigen Spaß. Wir Europäer werden im Warenhaus von Chinesen bestaunt. Ich kaufe nichts, meine Tagegelder für drei Tage Aufenthalt in Peking betragen 18 Yuan, zu wenig für ein passendes Souvenir; die geplante Stadtbesichtigungsfahrt mit dem Botschaftsauto am morgigen Tag, muss vom Taschengeld beglichen werden. Nehme mir vor, Yuan aufzusparen, diese erst beim Rückflug auszugeben, für ein Souvenir an meine Lieben zu Hause.
Das Abendessen im Flughafenrestaurant auf Kosten der Chinesischen Fluggesellschaft CAAC, gibt frischen Elan. Frohe Stimmung kommt auf, besonders beim ungeschickten Umgang mit chinesischen Essutensilien oder wenn der Zugriff mit Fingern in die Schüssel oder auf der Tischdecke die letzte Möglichkeit ist, den Hunger zu stillen. Die Bedienung nimmt das den Tischgästen nicht übel, im Gegenteil, sie erkennen daran, dem Gast hat es geschmeckt und er ist zufrieden. Zum Ausklang des erfolgreichen Tages, trinkt jeder ein „Peking Beer“, Kräuterschnaps „Mao Dai“ und der Aufbruch zum Hotel folgt.
Die Nacht verläuft im tiefen Schlaf, meine Beine und Hände signalisieren Wehwehchen, vom gestrigen Koffertragen und vom Straßenpflaster.
Nach dem Frühstück, wie verabredet um 8:00 Uhr, sitzen wir im Kleinbus unserer Botschaft und bewegen uns in Richtung Kaiserpalast. Unser Kleinbus nähert sich dem Tiananmen-Platz, eine Menschenmenge die nicht zu übersehen ist, wartet auf Einlass in den Kaiserpalast. Vor uns demonstrativ, einmalig elegant, das Tor des Himmlischen Friedens mit doppelten gelben Dach, weit vorstehenden Ecken, stark betont und verzierten Dachfirsten, die gen Himmel hinauf schwingen. Berichten zu Folge wurde dieses prächtige Bauwerk im Jahr 1420 errichtet. „Purpurn verbotene Stadt“ war in den frühen Zeiten der Name des mächtigen Herrschersitzes. Die gesamte Fläche soll weit über 700.000m² betragen, ist sehr dicht bebaut und die Anzahl der Räume soll annähernd 10.000 betragen.
„Der Kaiserpalast besteht aus mehreren meisterhaft angelegten Höfen und Hallen aus künstlerisch bearbeiteten Marmor und Steinen, aus majestätisch geschwenkten und verzierten Dächern, aus schmucken Balustraden und Brüstungen. Jedes Bauwerk ist ein ideales Meisterstück der altchinesischen Architekturkunst und trägt einen phantasievollen Namen. wie Halle der Pflege des Herzens, Pavillon der Bildung der Gefühle, Halle der Kaiserlichen Ruhe, Palast der Irdischen Ruhe, Halle des Bewahrens der Harmonie, Palast der Himmlischen Klarheit, Halle der Himmlischen Reinheit, Palast des Immerwährenden Frühlings, Halle der Militärischen Tapferkeit, Palast der Konzentrierten Eleganz oder Palast des Fastens. Die Halle der Höchsten Harmonie ist eine prächtige Zeremoniehalle, in deren Holzkonstruktion sich kein einziger Nagel befindet“, berichtet unsere Begleiterin.
Wir fahren am Baum vorbei, an dem sich der letzte Kaiser der Minh-Dynastie am 17. März 1644, vor Furcht der Rache eines aufständigen Bauernführers Namens Li Zicheng, an einer seidenen Schnur erhängte. Die Sonne liegt schon lange hinter dem Horizont und ab und zu bläst ein Hauch angenehmer kühler Luft uns an. Der Tag neigt dem Ende zu, die Dunkelheit schreitet zügig voran.
Wir treten die Rückfahrt an. Beim Betreten des Restaurants wird sofort unser Wunsch erkannt, kaum platzgenommen, sind volle Biergläser da. Schnell werden die Gläser leer, der quälende Durst einmählich gestillt und die fröhliche Stimmung ist wieder da. Die chinesische Küche ist einmalig, wenig fetthaltig, reich an Gemüse, vielseitig und schmeckt vorzüglich.
Leider, die Zeit zum Aufbruch rückt heran. Noch ein Kräuterlikör zur Verdauung, ein Glas Bier und wir verabschieden uns vom netten Bedienungspersonal.
Am Morgen, es ist der 2. Juli 1973, beginnt die letzte Reiseetappe Berlin – Moskau – Peking – Hanoi. Um 7:50 lokaler Zeit, heulen Motoren der kleinen Maschine „Waykan“ der chinesischen Fluggesellschaft CAAC auf. Im Transitraum gelang es mir, das rote Büchlein, die so genannte Mao-Bibel, mit Mao-Zitaten, allerdings in polnischer Sprache, zu ergreifen. Die Flugroute von Peking nach Hanoi ist mit Zwischenlandung in Shangsha und Naning, an der Grenze zu Vietnam, im Flugplan vermerkt. Hinter der Fensterscheibe beobachte ich sorgfältig den Flugverlauf. Ab und zu beflügeln mich Gedanken, über mein zukünftiges Aufgabengebiet als Baustellenorganisator in Vietnam. Was mag auf mich zu kommen?
Eine dichte Wolkendecke liegt unter uns, über uns das überdimensionale blaue Himmelszelt mit strahlender Sonne, begleitet vom gleichmäßigen Motorengeräusch der „Waykan“.
Die Maschine ist nicht voll besetzt, nur 25 Fluggäste, davon die Hälfte Chinesen auf Dienstreise, nach Shangsha und Naning. Wir fliegen unbeirrt in südöstlicher Richtung. Passagiere, die den zeitlichen Abstand zwischen Start und Landung kennen, schauen einem baldigen Aufsetzten der Räder, auf der Rollbahn in Shangsha entgegen.
Plötzlich ertönt die Stimme der Stewardess in Chinesisch und Englisch mit der Ankündigung: „Aus meteorologischen Gründen erfolgt die Landung in Wuhan und nicht in Shangsha!“
Unruhe macht sich unter den chinesischen Passagieren breit, es wird lebhaft mit der Stewardess diskutiert. Wuhan ist die Hauptstadt der Provinz Hupeh, liegt am Yangtse Fluss. Die Stadtteile Wuchang und Hanyang verbindet eine über 1150 Meter lange Brücke über den Yangtse Fluss. Um 12:10 Uhr Ortzeit landen wir auf dem Flughafen in Wuhan. Im Flughafenrestaurant werden wir drei weißen Langnasen höflich zu einem Tisch geführt, der reichlich und auf europäische Art gedeckt ist. Mit Neid, sehe ich zu, wie geschickt und eifrig asiatische Fluggäste, am Nachbartisch, die Stäbchen bewegen. Der Speiseraum ist groß und wird nicht nur von Fluggästen besucht, da immer neue Gäste hinzukommen, die aber keine Fluggäste sind.
Am Tisch, noch während des Mittagsessen, kommt die Durchsage: „Aus meteorologischen Gründen wird der Weiterflug nach Shangsha erst Morgen fortgesetzt.“
Um 14:00 Ortzeit, besteigen wir mit unserem Handgepäck einen von der chinesischen Fluggesellschaft CAAC bereitgestellten weiß-roten Bus und machen eine Stadtrundfahrt. Außer uns Langnasen, dem Kraftfahrer und der Reisebegleitung, mit der wir uns Englisch verstehen können, ist keiner dabei. An Gebäudefassaden kommen häufig Mao Zedong-Porträts und Porträts der fünf nebeneinander stehenden Personen: Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Zedong zum Vorschein. Im Gegensatz zu Peking fällt auf, dass viele Frauen an Stelle von Drillichjacken bunte Blusen tragen.
Nach der Stadtrundfahrt, steigen wir vor unserem exklusiven Hotel, sehr nah am Yangtze-Fluss, aus. Blitzschnell breitet sich die Kunde aus, Langnasen sind da und schon umringen uns viele Chinesen, verschiedener Altersgruppen, sprechen uns Chinesisch an, aber wir verstehen nichts. Sie reden, gestikulieren, lachen, halten sich gegenseitig an den Nasen, schauen kichernd in unsere Richtung.
Mein Zimmer ist ein großes Zweibettzimmer mit Bad, Dusche und Betten, ausgestattet mit Moskitonetzen, antiken Möbeln und einem Balkon mit Blick auf den Yangtze-Fluss.
Mein sehnigster Wunsch ist Duschen, mich vom Scheiß befreien, denn das schwüle Klima regt den Körper zum Schwitzen an. Bin entkleidet, wühle im Handgepäck nach dem Kosmetikbeutel. Plötzlich stürz ein Chinese ins Zimmer und kündigt die sofortige Rückfahrt zum Flughafen an, der Flug nach Shangsha wird fortgesetzt.
Wie beim Fliegeralarm im Zweiten Weltkrieg, eilen wir mit Hab und Gut in der Hand, nicht geduscht, nicht rasiert, einer nach dem anderen aus Zimmern zum Aufzug und zur Rezeption, den Reisepass in Empfang zu nehmen.
Um 17:00 Uhr besteigen wir die Gangway, eine Viertelstunde später schwebt majestätisch unserer „silberner Vogel“ hoch über den Wolken. Die Stewardess ist erfreut, denn der Flug nach Shangsha wird fortgesetzt. Sie serviert jedem Fluggast einen bunten Becher mit Fruchteis.
Der Flug nach Shangsha nimmt nicht viel Zeit in Anspruch, nach einer Stunde Flugzeit kommt unsere kleine Maschine am Rollfeld zum Stehen.
Beim Betreten der Gangway wird klar, ich befinde mich in den Tropen. Es ist schwülwarm und obwohl 18:00 Uhr Ortszeit, fängt es an dämmrig zu werden. Im Flughafenrestaurant stehen runde Tische mit chinesischen Spezialitäten gedeckt, warten auf Esswillige. Die zugewiesenen Plätze nehmen wir ein, drei freie Stühle an unserem Tisch werden nach und nach von asiatischen Fluggästen besetzt. Unsere asiatischen Tischgäste hantieren sofort meisterhaft mit ihren Stäbchen. Auch wir greifen mit „praktischen“ Erfahrungen zu, schaukeln die Nährung zum Gaumen. Alles ist gut gewürzt und schmackhaft. Probleme gibt es auch bei den asiatischen Tischfreunden. Die schwarzen, glitschigen Schnecken fallen auf die weiße Tischdecke. Der Versuch diese zwischen dünnen Stäbchen zu halten, scheitert und nackte Finger kommen zum Einsatz. Verstohlen beobachten wir die Jagd am Tisch. Blitzschnell kommt der Gedanke auf: „Was ihr könnt, können wir auch.“ Wir schließen uns der Schneckenjagd an, wobei unsere Ungeschichtlichkeit größer ist, als die der Asiaten.
Während wir noch speisen, eilt ein Chinese auf uns zu und sagt in Englisch: „Wir übernachten hier in Shangsha. Hanoi erteilt keine Landeerlaubnis in Abendstunden, da die Beleuchtung der Landebahn nicht ausreichend ist.“
Ohne zu Zögern besteigen wir Langnasen den bereitgestellten Kleinbus, fahren in Begleitung eines Reiseführers in Richtung Stadt. Die Dämmerung schreitet voran; zum ersten Mal sehe ich Reisfelder, Palmen, Wasserbüffel, vor einem Zweiradwagen gespannt, Handwagen auf großen Gummirädern, mit zwei Deichseln, voll beladen, von einem jungen Chinesen gezogen.
Unser Kleinbus hält vor einem attraktiven mehrstöckigen Hotel, umgeben von Palmen und Grünanlagen, wir sind hier die einzigen Europäer. Passanten schauen uns an, gehen lächelnd ihren Weg weiter.
In der 1. Etage sind unsere Zweibettzimmer, sauber, sehr gut eingerichtet und ausgestattet mit laufender Klimaanlage, die Erfrischung spendet. Über jedem Bett hängen gewickelte Moskitonetze unter einem Holzgestell. Alles macht guten Eindruck. Kaum bin ich im Zimmer, kommt eine Chinesin, bringt eine Thermoskanne mit heißem Wasser und duftendem Tee.
Nach dem Duschen, es ist 21:30 Uhr Ortzeit, schleiche ich ins Bett. Es ist ungewöhnlich, unter einem Moskitonetz und mit dem eintönigen Geräusch der Klimaanlage zu schlafen.
Der nächste Tag, der 3.7.1973, beginnt mit Wecken um 6:00 Uhr, reichlichem Frühstück und anschließender Fahrt zum Flughafen. Es ist hell und feuchtwarm, nicht zu übersehen sind herrliche Gärten, Grünanlagen, alte Bauwerke mit nach oben schwingenden Dächern. Die Straßen sind nicht bevölkert wie gestern Abend, der Kleinbus hat freie Fahrt. Bäuerinnen und Bauern mit Strohhüten, bearbeiten fleißig gebückt den nassen Boden der Reisfelder, schon am frühen Morgen.
Der Flughafen ist in Sichtweite, wir nähern uns dem kleinen Flughafengebäude. Um 8:30 Uhr Ortzeit sitzen wir im Flugzeug, einer Waykan, auch chinesische Passagiere sind dabei – vielleicht bis Naning, der letzten Zwischenlandung auf dem Territorium Chinas. Die Flugzeit bis Naning beträgt 1 Stunde und 50 Minuten. Der Flugverlauf ist der gleiche, wie der vorangegangene, es ist langweilig. Um die Zeit zu vertreiben, nehme ich das kleine rote Büchlein, die Mao-Bibel, in den Abmessungen 75mm x 110mm x 75mm zu Hand. Dieses Büchlein hat 429 Seiten mit 33 Themen aus Mao-Zedong Werken.
Von der Existenz einer Mao-Bibel hatte ich Kenntnis. In Peking und Wuhan ist mir aufgefallen, junge Chinesen tragen das kleines rote Büchlein und lesen im Freien. So halte ich das Büchlein, in exquisiter Hülle, einem Gebet oder Gesangbuch ähnlich, in meinen Händen, und lese aufmerksam darin. Die Philosophie des großen Vorsitzenden Mao Zedong, auf Seite 189, verblüfft mich: „Die Atombombe ist ein Papiertiger, mit dem die reaktionären Kräfte der USA versuchen, die Menschen zu schrecken. Augenscheinlich ist sie schrecklich, aber in Wirklichkeit ist es nicht so. Natürlich ist die Atombombe eine Massenvernichtungswaffe, aber über das Ergebnis eines Krieges entscheidet das Volk und nicht eine oder zwei neue Waffengattungen.“
Dieses Büchlein soll Ideen Mao Zedongs in die breite Volksmassen tragen. Beim Lesen ermüde ich, bin zu schwach zum Nachdenken geworden, endlich ist das Absenken der Flughöhe, das Ausfahren der Räder aus dem Verschluss unter dem Flugzeugboden zu hören, ein Zeichen einer bevorstehender Landung. Minuten später, es ist 10:50 Uhr Ortzeit berührt unser „silberner Vogel“ die Landebahn und kommt schnell zum Stehen.
Vor dem Betreten des Transitraumes, werden Reisedokumente vom chinesischen Pass- und Zollorgan, kontrolliert. Zwei runde Tische, für je fünf Personen, mit kalten und warmen Speisen und Südfrüchten, sind bereits gedeckt; der Flug wird in wenigen Minuten fortgesetzt. Probleme gibt es nicht nur bei uns Europäern mit Schnecken, die reichlich vorhanden sind. Dem Beispiel der Asiaten folgend, transportiere ich die klitschigen Dinger mit den Fingern zum Gaumen. Oh Gott, die weiße Tischdecke sieht nach dem Essen, erbärmlich, dreckig aus. Irgendwie interessiert mich das jetzt wenig, es trennen mich nur noch 45-Minuten Flugzeit von Hanoi, dann muss ich mich beweisen, in meiner neuen Funktion im Ausland. Die Spannung wächst in mir, von Minute zu Minute.
Der Aufbruch zur letzten Etappe unserer Reise folgt. Wir, als winzige Reisegruppe besteigen die Gangway, nehmen unsere Plätze ein. Alles nur Sekundensache, kaum angeschnallt, setzt die zuverlässige kleine „Waykan“ ihre Räder in Bewegung zur Startbahn. Die leistungsstarken Motoren heulen zunehmend auf, die winzigen Räder beschleunigen die Geschwindigkeit, das Flugzeug hebt von der Startbahn ab. Motorenlärm lässt nach, wir schweben und das Flugzeug gewinnt an Höhe.
Reisfelder, Palmen, Zitrusbäume, Bananenstauden, Straßen und Wege werden immer kleiner, Nach dem Durchstechen der Wolkendecke, kommt der blaue Himmel über uns und die Wolkendecke unter uns zum Vorschein. Mit der Mao-Bibel versuche ich, die restliche Flugzeit nützlich zu verbringen, blättere herum, aber verspüre zunehmend Konzentrationsschwäche. Ich werde nachdenklich, bin schon in Vietnam auf der Baustelle des Stahl- und Walzwerkes „Gia Sang“ und überlege, welche Probleme, in nächster Zeit, auf mich zukommen werden. Nur noch Minuten trennen mich vom Neubeginn, in einem weit von Europa entferntem Land. Ich werde unruhig, bereite mein Handgepäck vor, binde meine Krawatte um den Hals, ziehe die Jacke an, um den Ausstieg nach der Landung nicht zu verzögern.
Andere Passagiere schauen häufiger zum Fenster oder zur Uhr. Es ist so weit. Unser Flugzeug steuert einen kleinen Winkel an, zum Verlassen der Flughöhe. Schon schwebt unsere „Waykan“ in den Wolken, das Territorium Vietnams nimmt in meinen Augen Konturen an. Ein Rattern unterm Fußboden der Maschine, bestätigt das Herausfahren der Räder. Die Landeansage, das Aufleuchten der Hinweisschilder, das Anschnallzeichen, die lauter werdenden Motorgeräusche, sind Anzeichen einer bevorstehenden Landung auf dem Flughafen „Gia Lam“ in Hanoi.
Ich sitze auf meinem Platz angeschnallt, warte mit Spannung auf den vertrauten Anschlag der Räder auf der Landebahn. Noch ein letzter Blick zum Fenster, draußen wird alles deutlicher, plötzlich ein leichter Ruck, ein Zeichen, ich befinde mich auf dem Boden Vietnams.
Es ist der 03.07.1973, ca. 14:00 Uhr Ortzeit.