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Kapitel 2
Оглавление„JEDER SELBSTMÖRDER KÜNDIGT SEINEN SELBSTMORD AN“,
erklärte Prof. Ringel, den ich zwei Wochen nach dem Abgang von Norbert aufsuchte. Wir seien nur nicht in der Lage, die Zeichen zu deuten. Hinterher füge sich das Bild beklemmend lückenlos zusammen. Ich möge doch nachdenken, befahl Ringel mit seiner schnarrenden Stimme. Ich würde ein Indiz nach dem anderen finden, aber keines sei in seiner Einzelaussage so beschaffen, dass dadurch der Gedanke an einen bevorstehenden Selbstmord ausgelöst werden könne. Alle Hinweise, die der künftige Selbstmörder abgebe, seien verschlüsselt.
„Wie aber hat er diese letzte Woche überstanden?“, fragte ich, und das Grauen vor der schrecklichen Verzweiflung, die in Norbert geherrscht haben musste, kündigt sich in mir an. Dieses Grauen vor dem Unbekannten, der Norbert, wenn ich auf diese letzte Woche zurückblicke, für mich war, als er seinen eigenen Weg ging, den man nur allein geht. Einsam. Ich denke an meine Mutter. Alle waren wir dabei, als sie starb. Und dennoch, sie war allein im Sterben. Lebte aber dennoch. Wie Norbert. Er sah mich, und wusste, er würde mich zum selbst festgesetzten Zeitpunkt verlassen. Verlassen in eine Dimension, von der nur weniges gesichert ist: Dass er nicht mehr da ist und dass er für immer nicht mehr da ist, zumindest nicht in der Gestalt, Form oder Ausprägung, die ihm die auslösenden Probleme schuf.
Also erstens, replizierte Ringel mit akribischer Munterkeit, hätte er diese Woche ja nicht überstanden. ‚Zweitens’ ließ ich keines folgen, weil ich gleich weiterfragte: „Wieso aber eine ganze Woche?“
Am 7. März erfuhr Norbert, wie es um ihn stand. An diesem Tag begannen auch seine Vorbereitungen.
Da Ringel noch, vor sich hin nickend, nachdachte, fragte ich weiter: „Diese Kraft, diese wahnsinnige Stärke in dieser letzten Woche...“, meine Stimme wollte mir nicht mehr gehorchen, weil ich von meiner Unfähigkeit, diese Tage zu begreifen, voll überfallen wurde. Ohnmacht, die mein Blut rasen macht, die mir heiß werden lässt.
Konsequent, nickte Ringel sehr intensiv mit Präsenz und Munterkeit, das sei er wohl in höchstem Maße gewesen. Ein vorbildlicher Beamter halt.
Norbert war daran gewöhnt, die Bezeichnung ‚Beamter’, wenn sie ein anderer gebrauchte, als mit Traditionen beladenes Schimpfwort hinzunehmen. Aber er, für sich selber, war, da hatte Ringel Recht, mit Leib und Seele, mit Überzeugung und Charisma, Beamter.
Ich möge mir vorstellen, stach Ringel mit gestrecktem, gichtig verbogenem Zeigefinger in die Luft, dass Norbert seit dem Empfang des Todesurteils mit jedem Tag seiner peniblen Vorbereitung mehr Erleichterung erfuhr. Er habe sich folgerichtig und wohl überlegt Schritt für Schritt der Lösung seines Problems genähert und vom Leben entfernt. Alles mit haargenau den gleichen Mitteln, mit denen er sein Leben bestritt.
Ich war zutiefst erstaunt, denn Ringel vermochte, allein aus meiner Schilderung der letzten Woche, Norbert so exakt zu beschreiben, dass das Bild, das er entwarf, vollkommen mit dem übereinstimmte, das ich aus der nachträglichen Aufarbeitung dieser letzten Tage gewonnen habe.
Bei der folgenden Frage erfasste mich wieder diese Welle des Entsetzens, das mich auch jetzt noch überfällt, wenn ich an Norbert und den Augenblick seiner Tat denke: „Aber vor dem Sprung? Vor die U-Bahn?“
Ringel nickte eifrig. Wir bewegten uns auf einem Gebiet, in dem er sich auskannte. Fast schien es ihm Vergnügen zu bereiten, zu antworten. Da sei diese Tunnel-Theorie. Norbert sei die ganze Woche über, seit Empfang des Todesurteils, in einem finsteren Tunnel unterwegs gewesen. Sekunden vor der Tat sah er dann ein Licht am anderen Ende und wollte nichts anderes, als dort hin. Er sah Licht und war glücklich, weil die Lösung seines Problems, das ihn zu Tode belastete, in Sicht war.
„Aber knapp vorher! Da kommt die U-Bahn, und dann der Sprung, das kann doch nicht mit einem Glücksgefühl verbunden sein...“, ich geriet in ein hysterisch lautes Reden vor Ekel, Angst und Entsetzen.
Ringel nickte, wackelte abwechselnd mit dem Kopf und gab zu, dass unsere Phantasie da aushake. Unsereiner könne das nicht nachvollziehen. Was fühlt einer, der das Todesurteil eines Tages aus heiterem Himmel auf den Kopf zugesagt bekommt? Bei Aids durfte nichts verheimlicht werden. Was also fühlt einer, der DAS Todesurteil in der Tasche hat? Und der von seiner Gesellschaft so eingeengt ist? „Der DURCH MICH, seinen besten und einzigen Freund, so eingeengt war?“, bezichtigte ich mich selbst, der mir eigenen Neigung zum Selbstmitleid, das alles andere zu übertönen imstande ist, eifrig frönend.
Als ich mit dem Bruder von Norbert etwa fünf Monate später einen Notariatstermin hatte, um die Erbschaftsangelegenheiten zu erledigen, mussten wir auf die Abfassung eines Dokumentes warten. Der Notar hatte das Zimmer verlassen, wir waren allein. Da sagte Peter so nebenbei: „Übrigens, er ist gar nicht gesprungen. Er ist auf dem Rücken gelegen, mit dem Hals genau auf einer Schiene.“
Ich schloss die Augen und tat das, was ich, wenn ich einen Gedanken nicht fassen kann, automatisch tue, ich frage meine Phantasie. Sie beschied mir, dass das Liegen auf den Schienen und Warten wohl nicht ganz so schlimm wäre, als das Sehen des herankommenden Zuges und das rechtzeitige Springen. Norbert würde doch beim Liegen sicher die Augen zugemacht haben. Sicher. Er hatte sie fest geschlossen, und immer fester, je näher er den Zug kommen hörte. Ich fühle es wie einen kleinen Trost. Der Sprung, die Vorstellung des Sprunges ist so ziemlich das Schlimmste, an das ich zurückdenke. Das Liegen auf den Schienen bringt mir Norbert aus der Unbegreiflichkeit heraus und etwas näher, begreifbarer. Das bin ich imstande, annähernd zu verstehen.
Aber was ist ‚annäherndes Verstehen’? Eine Redewendung. Eine verbale Kurve, die nach kurzem Nachdenken sich um 180 Grad dreht und mich dorthin zurückwirft, von wo ich mich soeben loszulösen geglaubt habe. Annäherndes Verstehen ist genauso Wenig-Verstehen wie Nicht-Verstehen.
Reue, Hilflosigkeit, Ratlosigkeit breiten sich in mir aus, wie immer, wenn ich stehen geblieben bin. Wie immer, wenn ich bei einem der vielen Punkte angelangt bin, an denen mein Denken nicht mehr weitergeht.
Es ist ja Trost, den ich suche. Und es ist Beruhigung, die ich suche. Beruhigung vor dem Grauen, das ich fühle, wenn ich daran denke, dass ich eine Woche lang mit einem Todeskandidaten lebte, der Sterben nach Fahrplan betrieb. Mit einem Menschen, der mir so nahe stand, dass ich es nicht fasse, was dem alles durch den Kopf gegangen sein mochte in dieser Woche. Was in ihm alles vorgegangen sein mochte an diesem Tag als er es erfuhr, an diesem Tag, an dem er es tat, an den Tagen dazwischen.
Ringels Trost war aber keine leere Hülse. Ich wusste, dass der Psychologe Recht hat, ich selbst empfand es in der Woche nach dem Tod von Norbert, als ich meinen eigenen Selbstmord plante, genauso, wie Ringel es von Norbert erklärt hat.