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3. Kapitel

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Seit etwa Mitte März hatten Karl Brammer und sein Knecht auf den zum Hof gehörenden Feldern viel zu tun gehabt. Auch jetzt, Anfang April, war die Bestellung der Felder noch nicht ganz abgeschlossen. Dazu mussten die Äcker der zehn Tagelöhnerinnen gepflügt und geeggt werden. Deren Felder waren zwar nicht allzu groß, meistens handelte es sich nur um einen viertel oder einen halben Morgen, aber einige davon lagen mehrere hundert Meter vom Hof entfernt, drei sogar am Stadtrand von Grafenhagen. Um zu diesen Äckern einen Pflug und zwei Eggen zu transportieren, musste Karl Brammer oder sein Knecht einen Kastenwagen benutzen, vor dem dann zwei Pferde gespannt waren. Die Arbeiten auf den Feldern der Tagelöhnerinnen waren deshalb wegen der Anfahrten ziemlich zeitaufwendig. Aber sie waren fast ebenso wichtig wie die auf den eigenen Feldern des Bauern; denn die Tagelöhnerinnen wurden im Sommer zu den Erntezeiten und im Herbst zum Dreschen des Getreides in der großen Scheune oder auf der Diele dringend benötigt. Auf sie konnte kein Bauer verzichten. Andererseits waren aber auch die Tagelöhnerinnen - ihre Männer waren in der Regel während des Tages berufstätig oder waren Soldat - auf die Bauern angewiesen, da sie allein kaum in der Lage waren, ihre Felder, die sie zur Eigenversorgung und zur Fütterung ihres meist geringen Viehbestandes benötigten, mit dem Spaten umzugraben und dann zu bepflanzen oder zu besäen, zumal sie in der Regel auch noch ihren Haushalt und Kinder zu versorgen hatten und Gartenland besaßen, das sie mit eigenen Gerätschaften durch Handarbeit bestellen mussten. So ergänzten sich beide. Der Bauer half den Tagelöhnerinnen, indem er ihre Felder pflügte und eggte und im Sommer deren Getreide zur Dreschmaschine und das gedroschene Stroh und das Korn zum Haus der Tagelöhnerinnen fuhr, und jene halfen dem Bauern, indem sie ihm tageweise bei der Getreideernte, bei der Kartoffelernte oder beim Dreschen des Korns im Herbst als Arbeitskraft zur Verfügung standen. Die Heuernte schaffte Karl Brammer mit seinen Familienangehörigen und den Eheleuten Tagtmeier in der Regel ohne Mithilfe der Tagelöhnerinnen.

Der polnische Kriegsgefangene Adam Bujak, der inzwischen von allen auf dem Hof nur Adam genannt wurde, kam mit dem ihm zugewiesenen Arbeiten bestens zurecht. Er war kräftig und hatte körperlich keine Schwierigkeiten, sie auszuführen. Selbst zum Melken konnte er herangezogen werden. Er war auch willig und verrichtete manchmal sogar von sich aus Arbeiten, die ihm gar nicht aufgegeben waren, die er aber als notwendig erkannte. Karl Brammer und Fritz Tegtmeier beobachteten seinen Einsatz mit Zufriedenheit.

Adam machte schon am zweiten Sonntag nach dem Beginn seiner Arbeit bei Karl Brammer die Bekanntschaft einer temperamentvollen "Zivilarbeiterin polnischen Volkstums" wie solche Arbeiterinnen offiziell bezeichnet wurden. Sie war auf dem Nachbarhof beschäftigt, hieß Katja Kulik, war 21 Jahre alt, recht ansehnlich und stammte aus der Gegend von Krakau. Adam sah sie an diesem sonnigen Sonntagnachmittag zum ersten Mal, als er gelangweilt vor der Hofeinfahrt stand und auf etwas Interessantes wartete. In der Hoffnung, dass jemand vorbeigehen oder vorbeifahren würde, blickte er nach rechts und links die Straße entlang. Aber es kam niemand. Die Straße blieb menschenleer.

Plötzlich hörte er jedoch rechts hinter sich von jenseits einer etwa eineinhalb Meter hohen Hecke, die sich vom Graben neben der Landstraße bis zur Leibzucht erstreckte und hier die Grenze zum Nachbarhof bildete, dass jemand leise ein polnisches Volkslied sang. Adam drehte sich überrascht zur Seite und sah auf einer kleinen zum Nachbarhof gehörenden Weide eine junge Frau stehen, die ihn anlächelte. Es war Katja, die sich ganz gezielt Adam genähert hatte. Sie hatte einige Tage vorher von ihrem Bauern erfahren, dass auf dem Hof Brammer ein polnischer Kriegsgefangener eingetroffen sei. An seiner schon etwas verschlissenen polnischen Uniform hatte sie ihn als Kriegsgefangenen erkannt. Sie hatte sich wie Adam an diesem Sonntagnachmittag gelangweilt und den Hof Brammer in der Hoffnung beobachtet, ihren Landsmann zu sehen und kennen zu lernen, um sich mit ihm in ihrer Muttersprache unterhalten zu können. Als sie dann Adam an der Landstraße gesehen hatte, war sie über die Weide bis an die Hecke gegangen und hatte sich ihm, leise singend, genähert. Adam ahnte jedoch von alledem nichts.

Er fragte sie verwundert auf Polnisch: "Bist du etwa Polin?"

Und als Katja die Frage bejahte, strahlte er sie an: "Welch ein Glück Jetzt kann ich mich ja mit jemand auf Polnisch unterhalten. Ich glaubte schon, ich müsste hier nur Deutsch sprechen."

"Ich freue mich auch," strahlte Katja zurück, und beide gaben sich über die Hecke hinweg die Hand. Dabei bemerkte Adam auf der rechten Jackenseite der Frau das dort festgenähte, violett umrandete Stoffquadrat mit dem violetten "P" auf gelbem Grund, die Kennzeichnung für eine polnische Fremdarbeiterin.

Beide gingen nach der Begrüßung und namentlichen Vorstellung, sich lebhaft in Polnisch unterhaltend, langsam in Richtung Leibzucht, Adam diesseits und Katja jenseits der Hecke. Jeder erzählte dabei in groben Zügen seine Lebensgeschichte.

Etwa in Höhe der Leibzucht endete die Hecke, und die zum Nachbarhof gehörende kleine Weide war von hier ab zu dem Weg, der an der Leibzucht vorbei zum Hochsitz und zur Jagdhütte des Karl Brammer führte, etwa zehn Meter weit durch ein Holzgatter abgegrenzt, das sich nach dieser Strecke im Winkel von neunzig Grad nach Norden fortsetzte. Hier blieben beide stehen und sprachen weiter miteinander. Für Adam, der sonst eher zurückhaltend und etwas wortkarg wirkte, war die muntere und freimütige Erzählung seiner Landsmännin derart anregend, dass er mehr aus seiner Vergangenheit berichtete als er das bei einer weniger lebendigen Gesprächspartnerin getan haben würde.

Nach etwa fünfzehn Minuten näherten sich langsam aus Richtung Jagdhütte und Hochsitz Lina und Sophie Brammer. Beide Frauen hatten auf dem Feldweg einen Spaziergang zur Hütte gemacht und waren nun auf dem Wege nach Hause. Sophie Brammer, die nur langsam gehen konnte, benutzte als Gehhilfe einen Spazierstock, den sie in der rechten Hand hatte. Links hatte sie sich bei ihrer Schwiegertochter eingehakt.

Als beide Adam und Katja erreicht hatten, blieben sie stehen, und Sophie Brammer sagte an die beiden Polen gewandt: "Ist es nicht schön, dass ihr euch jetzt öfter in eurer Muttersprache unterhalten könnt?"

"Ja, ja," antwortete Adam, "gut für uns beide."

"Das ist wirklich sehr schön," bekräftigte Katja lachend, "ich bin froh, dass ich jetzt wieder mit jemand Polnisch sprechen kann, der noch dazu so nahe bei mir wohnt."

Katja, die gleich nach der Besetzung Polens durch deutsche Truppen zwangsweise nach Deutschland gebracht worden war, hatte danach erstaunlich gut Deutsch gelernt.

"Na, dann unterhaltet euch man weiter," sagte Sophie Brammer, fügte aber, als sie sich gerade zum Weitergehen zur Seite gedreht hatte, noch schmunzelnd hinzu: "Vergiss nicht, Adam, dass du verheiratet bist und zwei Kinder hast."

Während Adam zunächst verlegen grinste, lachte Katja hell auf. Lina Brammer schwieg etwas betroffen.

Adam äußerte nur: "Ich nicht vergessen. Ich aufpassen. Nur ein bisschen auf Polnisch unterhalten. Mehr nicht."

Dann gingen beide Frauen weiter. Nach mehreren Schritten meinte Lina Brammer zu ihrer Schwiegermutter: "Das hättest du nicht sagen sollen, Mutter. Du hast Adam richtig in Verlegenheit gebracht."

"Na wenn schon," erwiderte Sophie Brammer darauf, "ich habe ihn bewusst daran erinnern wollen. Adam ist ein Mann im besten Alter, und Katja ist ein gut aussehendes, kesses Mädchen, das ihm gefährlich werden kann, zumal es für sie hier kaum eine Auswahl an polnischen Männern gibt. Ich bin mir nicht sicher, ob beide immer genügend Abstand zueinander halten werden."

"Ich würde für die beiden auch keine Hand ins Feuer legen," erklärte Lina Brammer dazu, "aber wenn es denn so kommt, wie ich fast befürchte, können wir auch nichts daran ändern."

Alsbald danach hatten die Frauen die Diele erreicht und suchten jeweils ihre Wohnung auf, Sophie Brammer, weil sie ein Nickerchen machen wollte, und Lina Brammer, weil sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Küche Kaffee trinken wollte.

Baptiste hatte in den etwa zwei Wochen, die er inzwischen auf dem Hof Brammer arbeitete, einiges gelernt. Er hatte keine Angst mehr vor den vier Pferden des Bauern. Er konnte ihnen sogar das Geschirr anlegen und sie vor einen Wagen spannen. Fritz Tegtmeier hatte ihm auch das Füttern der Pferde beigebracht, ihnen die nötigen Portionen Hafer und Heu über den Tag verteilt zu geben. Nur mit dem Melken der Kühe haperte es noch. Fritz war der Meinung, dass Baptiste das Melken wohl nie richtig lernen würde. Aber das war nicht weiter schlimm, da es auf dem Hof genug andere Arbeiten für ihn gab. Eine seiner regelmäßigen Aufgaben bestand darin, jeden Morgen zu einer bestimmten Uhrzeit drei große Kannen voller Milch mit Hilfe einer Schiebkarre an die Landstrasse zu transportieren und sie dort neben der Hofeinfahrt auf eine Bank ohne Lehne zu stellen. Von hier wurden sie kurze Zeit später von einem Milchkutscher abgeholt und auf einem Pferdewagen mit einer flachen Ladefläche zur Molkerei am Stadtrand von Grafenhagen gebracht. Die vollen Kannen wurden jeweils durch leere ersetzt, die Baptiste im Laufe des Vormittags von der Bank holen, in die Waschküche bringen und dort, obwohl sie bereits in der Molkerei mit warmem Wasser gereinigt worden waren, noch einmal ausspülen musste.

Wie Adam wurde auch Baptiste inzwischen von allen Hofbewohnern, jedoch nicht von Anna, geduzt und mit seinem Vornamen angesprochen, während die beiden Kriegsgefangenen alle auf dem Hof, von Fritz Tegtmeier abgesehen, siezten und mit ihrem Nachnamen ansprachen. Anna vermied es, Baptiste zu duzen und nannte ihn nur hin und wieder beim Vornamen. Der Knecht hatte die beiden Gefangenen schon etwa eine Woche nach ihrem Erscheinen aufgefordert, ihn einfach nur Fritz zu nennen und ihn zu duzen. Warum Anna im Gegensatz zu ihrer Familie und zu den Eheleuten Tegtmeier Baptiste siezte, hatte sie bisher nicht zu erklären vermocht. Ihr war nicht bewusst geworden, dass sie mit dem distanzierten Sie eine innere Abwehrhaltung gegen ihre von Woche zu Woche stärker werdenden Gefühle für Baptiste zu erkennen gab, dass sie sich damit instinktiv gegen ihre Empfindungen für ihn sträubte. Zwar hatte sie schon wiederholt, wenn sie abends in ihrem Wohnzimmer allein war, ihre aufkommenden Gefühle für Baptiste und ihre innere Abwehr dagegen zu analysieren versucht; aber die Bemühungen hatten für sie keine wirkliche Klarheit gebracht, nur Verzweiflung über sich selbst. Ihr wurde auch nicht bewusst, dass sie, wenn sie ihrem Mann schrieb, in ihren Briefen Baptiste häufiger erwähnte als Adam. Überhaupt waren ihre Gedanken, wenn sie allein war, inzwischen mehr bei Baptiste als bei ihrem Mann in Ostpreußen. Sie konnte diese Gefühle nicht begreifen, und sie hatte Angst vor diesen Empfindungen, die mehr und mehr dazu führten, dass sie ernst und verschlossen wurde.

Ihre Mutter, der das nicht entging, die jedoch mit niemandem darüber sprach, deutete den Zustand ihrer Tochter dahin, dass jene sich Sorgen um ihren Mann machte und inzwischen viel zu lange von ihm getrennt war. Für eine junge, verheiratete Frau musste es nach Auffassung von Annas Mutter fast unerträglich sein, so lange allein zu leben. Lina Brammer hatte sich schon mal vorzustellen versucht, wie wohl ihre eigene seelische Verfassung gewesen wäre, wenn sie im Alter ihrer Tochter so lange von ihrem Karl hätte getrennt leben müssen. Wahrscheinlich - so glaubte sie - hätte sie das nicht ertragen und wäre trübsinnig geworden. Sie hatte deshalb Verständnis dafür, dass Anna ernst und verschlossen war. Aber sie vermied es, sie darauf anzusprechen.

Anna spürte, dass Baptiste ihre Nähe suchte. Sie ging ihm jedoch, soweit das möglich war, aus dem Weg, aus Furcht vor einer sich steigernden Empfindung für ihn, die sie möglicherweise irgendwann nicht mehr würde steuern können. Auch versuchte sie, besonders bei den Mahlzeiten, seinen Blicken auszuweichen. Andererseits fühlte sie sich mehr und mehr zu ihm hingezogen, was ihr immer bewusster wurde und in ihr tiefe Gewissenskonflikte hervorriefen. Sie flüchtete abends in die Einsamkeit, die sie dann regelmäßig in ihrem Wohnzimmer suchte, und sie fürchtete voller Verzweiflung, dass sie ihrer Sehnsucht nach Baptiste eines Tages nachgeben würde, trotz ihres inneren Sträubens gegen ihre Gefühle für ihn. Sie verstand das alles nicht. Was war nur mit ihr geschehen? Nie zuvor hatte sie so etwas erlebt. Als sie ihren Mann kennen gelernt hatte und sie Wochen danach ein Paar geworden waren, war alles innerlich unkompliziert gewesen. Sie hatten sich amüsiert, hatten Tanzveranstaltungen besucht, waren hin und wieder ins Kino gegangen und hatten abends auf Bänken sitzend oder unter Bäumen stehend geschmust. Erst als sie sich einig gewesen waren, dass sie zusammen bleiben wollten, hatte sie Helmut ihren Eltern und ihrer Großmutter vorgestellt und hatte jener sie zu seinen Eltern mitgenommen. Sicher, sie hatten sich geliebt, aber ihre Gefühle für einander hatten beide kaum wörtlich zum Ausdruck gebracht, wie sie sich zu erinnern glaubte. Dafür hatte aber auch keine Veranlassung bestanden, weil sie sich während der Woche mindestens zweimal und dazu am Wochenende getroffen hatten. Schon mit diesen regelmäßigen Treffen hatten sie ihre Liebe zueinander gezeigt. Besonderer Worte darüber hatte es deshalb nicht mehr bedurft, und unbefriedigte sexuelle Spannungen hatte es für sie kaum gegeben. Alles war zwischen ihnen fast sachlich abgelaufen.

Als Helmut im September 1939 zum Militär eingezogen worden war und seine Grundausbildung in Hannover hatte machen müssen, waren sie etwa alle zwei Wochen dort oder in Wöhren für einige Stunden zusammen gewesen. Aber Anna hatte sich trotz dieser Trennungen von ihrem damaligen Verlobten ruhig und ausgeglichen gefühlt. Selbst als Helmut nach Ostpreußen versetzt worden war, hatte sich an ihrem inneren Zustand kaum etwas geändert. Jetzt aber waren für sie Empfindungen entstanden, die ihr fremd waren, die sie beunruhigten, die ihr Angst machten und die sie nach dem Abendessen in das Alleinsein flüchten ließen. Was war seit dem Erscheinen von Baptiste in ihr vorgegangen? Diese Frage stellte sie sich immer wieder. Aber eine Antwort darauf versuchte sie sich erst gar nicht ernsthaft zu geben, weil sie Angst davor hatte, obwohl sie irgendwie ahnte, dass sie sich in Baptiste verliebt hatte. Und sie war überzeugt, dass Baptiste das gleiche für sie empfand wie sie für ihn.

Baptiste entging natürlich nicht, dass Anna ihm aus dem Weg zu gehen versuchte, dass sie seinen Bemühungen, besonders bei den Mahlzeiten, Blickkontakte mit ihr zu bekommen, auswich. Aber er spürte, dass dieses Verhalten nicht auf einer Gleichgültigkeit ihm gegenüber beruhte oder gar auf einer Abneigung, sondern dass eine Verunsicherung und eine Flucht vor ihren eigenen Empfindungen für ihn die Ursache ihres Ausweichens war. Baptiste selbst hatte in den vergangenen Wochen immer tiefere Gefühle für Anna empfunden. Ihm war längst klar, dass er sich in sie verliebt hatte. Auch er dachte, wenn er allein war, so häufig an sie, dass ihm dabei Angst wurde. Aber er wusste, dass es eine Verbindung zwischen ihnen nicht geben durfte, weil er Kriegsgefangener und Anna verheiratet war. Ihm war klar, dass er den Hof Brammer sofort würde verlassen müssen, wenn auch nur der leiseste Verdacht aufkommen würde, dass er Anna zugeneigt war. Vielleicht würde mit ihm sogar etwas Schlimmeres passieren. Alle diese Gedanken daran, die ihm täglich durch den Kopf gingen, quälten ihn, ließen ihn unruhig schlafen und führten dazu, dass er häufig ernst und traurig wirkte.

Fritz Tegtmeier blieb das nicht verborgen. Er fragte Baptiste deshalb eines Tages: " Wa wa was ist ei ei eigentlich mit dir lo lo los, Ba Ba Baptiste? Du la la lachst kaum noch und bi bi bist o o oft wie gei gei geistesab ab abwesend. Ha ha hast du Ku Ku Kummer? De de denkst du an Zu Zuhau hau hause?"

"Manchmal schon," gab Baptiste zur Antwort und fügte dann in seinem französischen Akzent hinzu: "Es wird schon wieder besser werden. Ganz sicher, ja, ganz sicher."

Fritz gab sich mit dieser Antwort zufrieden, erklärte aber noch tröstend: "Der Krie Krie Krieg wird nicht e e ewig dau dau dauern. Er ist scho scho schon fast zu E E Ende. Eines Ta Ta Tages wirst du nach Fran Fran Frankreich zu zu zurückkeh kehren dü dürfen. Vie vie vielleicht schon ba ba bald."

"Ja, Fritz, vielleicht. Vielleicht schon bald," antwortete Baptiste nachdenklich. Er wollte noch hinzufugen, dass er es hoffe und dass er sich darauf freue. Aber er unterließ es, weil es eine Lüge gewesen wäre, jedenfalls im Augenblick, da eine Rückkehr nach Frankreich eine Trennung von Anna bedeutet hätte.

"Die AA Arbeit ist dir do do doch nicht zu schwer? O O Oder?" wollte Fritz Tegtmeier noch wissen. Ihm war bekannt, dass jener vor seiner Einberufung zum Militär Lehrer gewesen war und deshalb - so vermutete Fritz - die zum Teil schwere Arbeit auf dem Hof für ihn ungewohnt war.

"Nein, nein, sie macht mir sogar Spaß. Ich hätte das vor dem Krieg nicht geglaubt," versicherte Baptiste. Dabei wusste er aber, dass hauptsächlich Anna der Grund für seine Freude an der Arbeit war. Wenngleich er nur ganz selten mit ihr zusammen etwas auf dem Hof verrichten musste, so war sie doch in seiner Nähe und sah er sie während des Tages häufig, nicht nur bei den Mahlzeiten. Diese Tatsache ließ ihn die Arbeit leicht erscheinen und führte dazu, dass er schon abends den neuen Tag herbeisehnte.

Einige Tage nach diesem kurzen Gespräch zwischen Fritz Tegtmeier und Baptiste war der 20. April 1941, der 52. Geburtstag des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler. Alle Häuser in Wöhren waren an diesem Tage mit einer Hakenkreuzfahne beflaggt. Karl Brammer hatte schon vor Jahren einige Meter rechts vom Tor zur Diele ein Loch in den Boden gegraben und darin senkrecht ein gut ein Meter langes, etwa armdickes Metallrohr gesteckt, in das er seinen etwa vier Meter langen, selbst gezimmerten hölzerner Fahnenmast senken konnte, an dem unten und oben je eine Rolle angebracht war, über die eine Leine gespannt war. An dieser Leine konnte die Fahne befestigt und hochgezogen werden. Den Mast mit der Fahne stellte Karl Brammer aber nicht nur am Führergeburtstag auf, sondern an allen nationalsozialistischen Gedenktagen, an denen die öffentlichen Gebäude beflaggt werden mussten. Karl Brammers Hofgebäude gehörte zwar nicht dazu, obwohl er Bürgermeister, Ortsgruppenleiter und Ortsbauernführer von Wöhren war; aber als überzeugter Nationalsozialist wollte er auch an solchen Tagen die Hakenkreuzfahne hissen.

Am Führergeburtstag war es zwar nicht unbedingt Pflicht, die Fahne an den Häusern anzubringen; aber die nationalsozialistische Parteiführung erwartete von allen Hauseigentümern die Beflaggung ihrer Gebäude an diesem Tag, um damit ihre Liebe zum Führer und ihre Zustimmung zu seiner Politik zum Ausdruck zu bringen. Allerdings beflaggte nicht jeder Eigentümer sein Haus aus diesem Gefühl heraus. Das wusste auch Karl Brammer. Ihm war klar, dass mehrere Hauseigentümer im Dorf die Fahne nur deshalb zeigten, weil sie keinen Ärger mit den Nationalsozialisten haben wollten, weil sie die möglichen unangenehmen Fragen der linientreuen Parteileute fürchteten, warum sie ihr Haus denn nicht beflaggten, ob sie etwa etwas gegen den Führer und sein^ Politik hätten. Um solchen Fragen von vornherein aus dem Weg zu gehen oder gar Repressalien jedweder Art seitens der Parteiführung zu vermeiden, hängten diese Leute gegen ihre Überzeugung lieber gleich die Fahne heraus, die sie sich schon alsbald nach der sogenannten Machtergreifung durch die Nationalsozialisten auf Grund ihrer Propaganda, die keinen Widerspruch duldete, angeschafft hatten.

Karl Brammer hatte seine Hakenkreuzfahne bereits am Abend des 19. April gehisst. Am Vormittag des 20. April hing sie jedoch schlapp am Mast herunter, da kein Wind wehte. Am Nachmittag dieses Tages wollte er zusammen mit seiner Frau nach Grafenhagen radeln und an einer Führergeburtstagsfeier der SA teilnehmen^

So gegen elf Uhr, als er gerade von der Diele kommend auf den Hof trat, kam seine Schwester aus Brinke mit ihrem Fahrrad auf den Hof gefahren. Sie war zum Einkaufen in Grafenhagen gewesen und wollte auf dem Rückweg nach Hause kurz ihre Mutter und die Familie ihres Bruders besuchen. Das tat sie mindestens einmal in der Woche, auch wenn sie nicht nach Grafenhagen musste.

"Guten Morgen, Karl," begrüßte sie ihren Bruder und stieg vom Fahrrad. "Ist zu Hause alles in Ordnung?"

"Morgen," reagierte Karl Brammer nur kurz. Er wusste, dass seine Schwester ihn nie mit Heil Hitler, dem sogenannten deutschen Gruß, begrüßen würde.

"Hier ist alles wie sonst. Mutter geht es so weit ganz gut, und Arbeit gibt es auch genug. Aber das weisst du ja."

"Bist du mit den Arbeiten der beiden Gefangenen zufrieden?" fragte Caroline Neuwinger ihren Bruder und blickte dabei zu Adam und Baptiste hinüber, die zuvor die Schweineställe ausgemistet hatten und nun dabei waren, den vom betonierten Weg vor dem Stallgebäude mit einer Schiebkarre auf die Mistkuhle gekippten feuchten Mist zu verteilen. Caroline Neuwinger hatte die beiden Gefangenen schon vor einigen Wochen begrüßt und sich kurz mit ihnen unterhalten. Sie hatte von beiden einen guten Eindruck gewonnen.

"Der Polacke macht seine Arbeit gut, manchmal sogar sehr gut. Er ist willig und für die Landwirtschaft gut zu gebrauchen. Der Franzmann bemüht sich zwar; aber ich habe den Eindruck, dass ihm die Arbeiten auf einem Hof nicht liegen. Na ja, er ist Lehrer von Beruf und eben kein Bauer. Aber insgesamt kann ich über ihn nicht klagen."

"Das ist gut," freute sich Caroline Neuwinger und fügte dann vorsichtig ermahnend hinzu: "Lass dich bloß nicht dazu hinreißen, sie anzuschreien oder gar zu schlagen, wenn sie mal etwas falsch gemacht haben oder mal nicht so arbeitswillig sind, wie du dir das wünscht. Die würden dir das nie vergessen. Mit einem sachlichen Gespräch lässt sich fast alles regeln, besonders dann, wenn sie einsichtig und im Grunde willig sind. Jeder hat mal einen schlechten Tag. Das solltest du immer bedenken, Karl."

"Warum sagst du mir das?" fragte Karl Brammer überrascht.

"Weil ich gehört habe, dass der Pächter Meyer-Wallbaum vom Gut Brandenburg schon wiederholt den Hilfspolizisten Heitscher aus Grafenhagen hat kommen lassen, wenn er Schwierigkeiten mit seinen Kriegsgefangenen oder Fremdarbeitern hatte. Heitscher, auch ein Parteigenosse von dir, hat die renitenten oder vermeintlich renitenten Personen dann vor den Augen anderer auf dem Hof mit seinem Gummiknüppel verhauen. Jedenfalls habe ich das schon von mehreren Seiten gehört, sogar von einem, der auf dem Gut arbeitet. Ich gehe deshalb davon aus, dass es stimmt, was erzählt wird. Und ich möchte nicht, dass auch du so etwas tust."

"Ich habe auch davon gehört. Du musst dabei aber berücksichtigen, dass auf der Brandenburg etwa zwanzig Fremdarbeiter und Kriegsgefangene eingesetzt sind. Bei einer solchen Anzahl ist in der Regel mindestens einer dabei, der nicht spurt oder gar andere gegen die Anweisungen der Vorgesetzten aufhetzt. Gegen solche Leute muss hart durchgegriffen werden, notfalls muss ihr Widerstand auch durch Schläge gebrochen werden. Würde Meyer-Wallbaum nichts gegen diese Personen unternehmen, könnte er seinen Betrieb stilllegen. Die Gefangenen und Fremdarbeiter würden ihm dann auf der Nase herumtanzen und nur noch das tun, wozu sie gerade Lust hätten. Er muss sich den arbeitsunwilligen und renitenten Leuten gegenüber durchsetzen, zumal es sich um Gefangene und Fremdarbeiter handelt, die die Anweisungen ihrer Vorgesetzten widerspruchslos zu befolgen haben. Ich habe nie gehört, dass auch deutsche Arbeiter geschlagen wurden. Sie würden wahrscheinlich sofort entlassen, wenn sie nicht spurten."

"Trotzdem, Karl, tu du so etwas nicht. Wir wissen nicht, was mal wird. Es könnte sein, dass die geschlagenen Leute einmal Gelegenheit bekommen, sich zu rächen. Sie werden erniedrigende Schläge vor anderen nie vergessen. Davon bin ich überzeugt. Im Übrigen halte ich Meyer-Wallbaum, der ja ebenfalls dein Parteigenosse ist, für einen arroganten Menschen, der seine Macht ausspielt und keinen Widerspruch duldet. Und der Heitscher ist aufbrausend und rechthaberisch. Ich habe den Eindruck, dass er Freude daran hat, andere zu verprügeln. Er hat sich schon als junger Mann oft und gern geschlagen. Du kannst dich doch sicher noch daran erinnern, dass er auf Festlichkeiten im angetrunkenen Zustand oft andere angepöbelt hat und dass er erst zufrieden war, wenn es zu einer Schlägerei gekommen war. Später in der SA konnte er sich dann so richtig austoben, weil er sich nicht zu rechtfertigen brauchte, wenn er Kritiker oder vermeintliche Gegner des Nationalsozialismus, insbesondere Sozis und Kommunisten, verprügelt hatte. Nein, nein, mir sind beide, Meyer-Wallbaum und Heitscher, nicht gerade sympathisch."

"Ich habe bisher keinen Grund gehabt, gegen den Polacken und den Franzmann energisch vorzugehen. Und ich hoffe, dass ich dazu auch in Zukunft keine Veranlassung haben werde," erklärte Karl Brammer zu den Äußerungen seiner Schwester. "Heitscher ist inzwischen älter und ruhiger geworden. Außerdem muss er als SA-Mann bei Auseinandersetzungen jetzt vorsichtiger sein, jedenfalls dann, wenn er eine Uniform trägt und sein Kontrahent nicht gerade ein Gegner von uns ist. Ob er als Hilfspolizist gleich schlagen muss, wenn Meyer-Wallbaum ihn um Hilfe bittet, weiß ich nicht. Darüber kann ich mir kein Urteil erlauben, weil mir nicht bekannt ist, was da im Einzelnen vorgefallen ist. Im Übrigen sehe ich wahrscheinlich beide heute Nachmittag bei der Führergeburtstagsfeier im Rathaussaal in Grafenhagen."

Dann fügte er hinzu: "Aber lass uns in die Küche gehen. Mutter ist schon dort und schält Kartoffeln."

Als Karl Brammer und seine Schwester, die inzwischen ihr Fahrrad gegen den Kastanienbaum gelehnt hatte, der zwischen der Leibzucht und der Landstraße stand, gerade die Diele betreten wollten, kam Fritz Tegtmeier aus der Leibzucht, ging strammen Schrittes auf den Fahnenmast zu, knallte die Hacken seiner Schuhe zusammen, hob den rechten Arm zum Gruß und rief erkennbar nur scheinbar ernst mit lauter Stimme, wobei er Hitlers harte Aussprache nachahmte: “'Hei Hei Heil Hi Hi Hitler. Gra Gra Gratuliere zum Ge Ge Geburtstag, mein Füh Füh Führer."

Die beiden Gefangenen beobachteten das Schauspiel amüsiert, und Caroline Neuwinger schmunzelte, während Karl Brammer zunächst verduzt war und dann seinen Knecht anraunzte: "Was soll der Quatsch?"

Fritz Tegtmeier nahm seinen rechten Arm herunter und begrüßte Karl Brammers Schwester mit den Worten: "Morgen, Ca Ca Caroline."

Dann wandte er sich an den Bauern: "Da da das war kein Qua Qua Quatsch, Ka Ka Karl. Wenn u u unser ge ge geliebter Füh Füh Führer das von dir ge ge gehört hä hä hätte, wä wä wäre er si si sicher nicht er er erfreut. Im Im Immerhin ge ge gehörst du sei sei seiner Par Par Partei an und so so solltest froh sein, wenn je je jemand sei sei seine Lie Lie Liebe zu ihm auf die die diese Wei Wei Weise zum Aus Aus Ausdruck bringt. Ich mei mei meine es ehr ehr ehrlich, auch wenn du da da das vie vie vielleicht nicht glau glau glaubst."

Bei den letzten Worten grinste Fritz Tegtmeier und blickte Karl Brammer und dann dessen Schwester an. Diese lachte amüsiert auf, während der Bauer verärgert sagte: "Du redest mal wieder einen Unsinn. Mach, dass du an die Arbeit kommst."

"Du hast aber nur eine kläglich schlappe Fahne gegrüßt, Fritz, und keine, die uns stolz voranflattern soll," bemerkte Caroline Neuwinger in einem leicht ironischen Tonfall. "Wenn du nach Grafenhagen kommen und vor jeder Fahne stramm stehen und grüßen würdest wie eben, hättest du heute Abend einen steifen Arm und kaputte Schuhe. Da hängen nämlich an manchen Häusern sogar zwei Fahnen, eine vor dem Erdgeschoss und eine vor der ersten Etage. Einige Straßen gleichen dort einer Fahnenallee."

"De de deshalb ge ge gehe ich heu heu heute auch nicht nach Gra Gra Grafenhagen. Ich muss nä nä nämlich auf mei mei meine Ge Ge Gesundheit ach ach achten. Ka Ka Karl brau brau braucht mich noch. Und mei mei meine Schu Schu Schuhe muss ich auch scho scho schonen. Ein Ge Ge Geburtsta ta tagsgruß muss aus aus ausreichen. Ma ma mach es gut, Ca Ca Caroline."

"Bist du ein Quatschkopf," knurrte Karl Brammer verärgert und forderte dann seine Schwester auf, mit in die Küche zu kommen.

"Mach es gut, Fritz," rief Caroline Neuwinger dem Knecht nach, der sich breit grinsend abgewandt hatte und in Richtung Mistkuhle ging.

"Ist das ein Blödmann," schimpfte Karl Brammer gegenüber seiner Schwester, als sie die Diele betraten. "Manchmal möchte ich ihn in den Arsch treten."

"Lass man, Karl, der Fritz ist in Ordnung," beruhigte Caroline Neuwinger ihren Bruder. "Er ist schlauer, als mancher vielleicht meint. Ich glaube, dass er auch politisch eine Meinung hat. Er ist aber so klug, dass er nicht öffentlich ausspricht, was er über die augenblickliche Politik denkt. Er weiß, dass es möglicherweise gefährlich für ihn werden könnte, wenn er das täte. Ich halte ihn nämlich nicht für einen überzeugten Nationalsozialisten."

"Mir ist egal, was er über uns denkt, solange er nicht öffentlich gegen uns redet. Wenn er das täte, könnte es für ihn tatsächlich gefährlich werden," reagierte Karl Brammer auf die Äußerungen seiner Schwester.

Bevor beide die Küche betraten, konnte sich Caroline Neuwinger die nachdenklich gesprochene Bemerkung in Frageform nicht verkneifen: "Ich weiß nicht, Karl, wegen des Geburtstags nur eines Mannes, nicht einmal eines runden Geburtstags, so viel Aufwand, so viele Fahnen, so viele Feiern? Mir wurde fast unheimlich beim Anblick der vielen Fahnen in Grafenhagen. Glaubt ihr denn, er sei ein Heilsbringer?"

Ihr Bruder schwieg dazu, öffnete die Küchentür und ließ seine Schwester eintreten.

In der Küche waren Lina und Sophie Brammer. Caroline Neuwinder begrüßte die Frauen mit "Guten Morgen" und umarmte kurz ihre Mutter, die am Tisch auf einem Stuhl saß und Kartoffeln schälte. Dann ging sie zu ihrer Schwägerin, die im steinernen Becken unter der Pumpe einen Topf abwusch, und berührte mit ihrer rechten Hand kurz deren linken Ellenbogen. Anschließend nahm sie auf Aufforderung ihrer Schwägerin auf einem Stuhl am Tisch Platz. Karl Brammer setzte sich aufs Sofa.

Caroline Neuwinger erzählte den beiden Frauen, dass sie in Grafenhagen gewesen sei und dort eingekauft habe. Sie berichtete auch von den vielen Fahnen, die sie gesehen habe, und fragte dann, ob ihr Sohn Claus seiner Oma oder seinem Patenonkel kürzlich geschrieben habe.

"Ich habe vor einigen Tagen einen Brief von ihm bekommen," antwortete Karl Brammer auf die Frage seiner Schwester. "Er schrieb mir, dass er es inzwischen auf vierzig Abschüsse gebracht habe. Ich habe darauf gleich geantwortet und ihm gratuliert. Donnerwetter, jetzt schon vierzig Abschüsse. Großartig."

"Hat er sonst nichts berichtet?"

"Na ja, so allgemeine Dinge, wie sein Tag abläuft und dass er oft zu wenig Schlaf bekommt. Aber was sollte er sonst noch schreiben?" fragte Karl Brammer erwartungsvoll.

"Erinnerst du dich daran, dass wir Ende März, als Claus einige Tage Urlaub hatte, darüber gesprochen haben, dass sein Jagdgeschwader eventuell nach Polen verlegt werde. Jedenfalls wurde es damals gemunkelt, wie Claus mir bei seinem Besuch erzählte. Jetzt hat er uns geschrieben, dass das, was damals als Gerücht herumgegangen sei, im Mai wahr werde. Polen direkt hat er nicht erwähnt. Aber das durfte er wohl auch nicht."

"Das ist ja interessant," bemerkte Karl Brammer überrascht. "Nein, davon hat er in seinem Brief nichts erwähnt."

Lina und Sophie Brammer, die beide politisch wenig interessiert waren, hatten auf Grund der Äußerungen von Caroline Neuwinger mit ihrer Arbeit innegehalten und blickten sie erstaunt und gleichzeitig besorgt an.

"Was soll er denn in Polen," fragte Lina Brammer, ohne eine Antwort zu erwarten, " Polen ist doch besiegt?"

"Das möchte ich auch wissen," ergänzte Sophie Brammer.

"Ja, ja, was soll er dort? Wenn ich das wüsste. Kannst du dir einen Reim daraus machen, Karl?" wandte sich Caroline an ihren Bruder. "England ist noch nicht besiegt, und nahezu täglich fliegen deutsche Bomber von Frankreich aus nach England. Jedenfalls habe ich das im Rundfunk gehört. Was soll das Jagdgeschwader unter diesen Umständen in Polen, Karl? Ich vermute, dass Hitler im Osten etwas im Schilde führt."

Karl Brammer, der seiner Schwester nachdenklich zugehört hatte, reagierte auf ihre Äußerungen mit den Worten: "Nein, nein, das kann nicht sein. Wir haben die Tschechoslowakei besetzt, und Österreich gehört zu uns."

"Und was ist mit Russland? Das ist das einzige große Land, das im Osten noch an Polen grenzt," gab Caroline Neuwinger zu bedenken.

"Mit Russland haben wir Ende August 1939 einen Nichtangriffspakt geschlossen und Ende September 1939 einen Grenz- und Freundschaftsvertrag. Da vermutest du falsch; da kann nichts passieren. Die Verlegung des Jagdgeschwaders kam strategische Gründe haben."

"Welche denn? Ich sehe keine, wenn ich zu Grunde lege, was du eben gesagt hast."

"Das weiß ich auch nicht. Aber ich vertraue auf den Führer und seine Generäle. Sie werden sich schon etwas dabei gedacht haben."

"Hoffentlich nichts Schlimmes," gab Caroline Neuwinger nachdenklich zu verstehen.

Dann schwiegen alle eine kurze Zeit.

"Möchtest du mit uns zu Mittag essen?" fragte Lina Brammer ihre Schwägerin. "Es gibt Puffer. Mutter hat reichlich Kartoffeln geschält. Es macht mir nichts aus, einige Puffer mehr zu backen."

"Nein, nein, danke," lehnte Caroline Neuwinger ab. "Franz möchte gegen ein Uhr sein Essen haben, und Liesel kommt gegen halb zwei von der Schule. Bei uns gibt es heute Bratkartoffeln und anschließend noch Pudding."

Nach diesen Worten erhob sich Caroline Neuwinger vom Stuhl und verabschiedete sich mit den Worten: "Macht es gut. Ich komme nächste Woche wieder vorbei. Den Tag kann ich noch nicht sagen."

Sie umarmte ihre Mutter kurz und gab ihrem Bruder und ihrer Schwägerin die Hand. Dann verließ sie die Küche. Ihr Bruder begleitete sie bis zu ihrem Fahrrad, winkte ihr noch kurz zu, bevor sie vom Hof fuhr, und begab sich danach in die kleine Scheune, in der er sein Fahrrad und das seiner Frau überprüfte, besonders den Reifendruck und die Lampen. Nachmittags sollte es zur Führergeburtstagsfeier nach Grafenhagen gehen, und da er vermutete, dass es mit der Rückkehr spät werden würde, mussten der Reifendruck und die Lampen in Ordnung sein.

Am Nachmittag dieses Tages - die Eheleute Brammer waren bereits in Richtung Grafenhagen abgefahren, Karl Brammer in seiner SA-Uniform - fuhr auch Anna Zurheide mit ihrem Fahrrad nach Grafenhagen, um dort einzukaufen. Das war so gegen vier Uhr. Sie wollte in etwa einer Stunde zurück sein.

Fritz Tegtmeier und Baptiste waren zu dieser Zeit damit beschäftigt, auf dem Boden über den Stallungen einige Säcke mit Hafer zu füllen, der dort lose auf einem großen Haufen lag. Der Knecht schaufelte das Korn in die Säcke, während Baptiste die Sacköffnungen aufhielt. Adam stand unten auf der Stallgasse unter der Luke und nahm die nicht ganz gefüllten Säcke an, die ihm von Fritz und Baptiste über die Leiter hinuntergereicht wurden. Dann transportierte er die einzelnen Säcke mit einer Sackkarre zum Pferdestall.

Als die Arbeit auf dem Boden getan war und Baptiste die Leiter heruntergestiegen war und über die Diele in den Pferdestall gehen wollte, rutschte er auf einer kleinen vom Mist glitschigen Stelle auf der Gasse zwischen den Schweineställen aus und schlug mit dem Kopf gegen die gemauerte Außenwand eines Troges. Adam, der in unmittelbarer Nähe war und den Sturz gesehen hatte, beugte sich über ihn und fragte besorgt, ob er sich verletzt habe. Aber der Franzose antwortete nicht. Er lag mit verdrehten Augen auf der Stallgasse. Darauf rief Adam laut nach Fritz, der noch auf dem Boden war und die beim Füllen der Säcke daneben gefallenen Körner auf den großen Haferhaufen fegte. Fritz Tegtmeier blickte durch die Luke nach unten und sah Baptiste auf der Stallgasse liegen.

"Wa wa was ist lo lo los?" fragte er erschrocken.

"Schnell kommen, Fritz," rief Adam zurück, "Baptiste gefallen."

Fritz Tegtmeier kletterte so schnell er konnte die Leiter hinunter und beugte sich über Baptiste, der jetzt keine verdrehten Augen mehr hatte, aber Fritz groß anblickte.

"Wa Wa Was ist pa pa passiert? Bi Bi Bist du ver ver verletzt?"

Baptiste gab jedoch keine Antwort.

"Er ausgerutscht und mit Kopf gegen Trog gestoßen," erklärte Adam.

"Ich ho ho hole So So Sophie, die ke ke kennt sich be be besser aus als ich. Vie Vie Vielleicht hat er ei ei eine Ge Ge Gehirn er er erschütterung. Blei Blei Bleib du bei ihm," forderte Fritz Tegtmeier den Polen auf.

Dann eilte er über die Diele zur Wohnung von Sophie Brammer, klopfte kurz an ihre Tür und trat danach sofort ein, ohne eine Reaktion von ihr abzuwarten. Sophie Brammer, die auf ihrem Sofa saß und in der Bibel las, blickte erschrocken auf. Sie hatte vorher nie erlebt, dass der Knecht so hektisch in ihr Wohn-Schlafzimmer gekommen war.

"So So Sophie, Ba Ba Baptist ist ge ge gestürzt. Er lie lie liegt im Stall. Ka ka kannst du mal ko ko kommen?" presste er erregt hervor. "Du ke ke kennst dich in so so solchen Fä Fä Fällen be be besser aus als ich."

Sophie Brammer fragte besorgt, ob sich Baptiste verletzt habe, erhob sich dann leicht stöhnend vom Sofa und humpelte hinter Fritz Tegtmeier her, der gleich wieder zurück in den Stall geeilt war. Als sie dort ankam, hatte sich Baptiste bereits etwas aufgerichtet, saß aber noch auf dem Stallboden und hielt seine rechte Hand gegen seine rechte Kopfseite, an der er eine dicke Beule fühlte. Mit der linken Hand stützte er sich auf dem Boden der Stallgasse ab. Adam kniete neben ihm und hielt ihn mit beiden Händen an den Oberarmen fest.

"Mein Gott, was ist denn passiert?" fragte Sophie Brammer besorgt den Franzosen. "Hast du dich verletzt?"

"Ich bin ausgerutscht und gestürzt. Dabei bin ich mit meinem Kopf gegen einen Trog geschlagen und habe an der rechten Kopfseite eine Beule," antwortete jener langsam noch etwas benommen.

"Hoffentlich hast du keine Gehirnerschütterung." Und an Fritz Tegtmeier gewandt fügte sie hinzu: "Bringt Baptiste in mein Zimmer und legt ihn auf mein Sofa. Seid aber vorsichtig."

Der Knecht und Adam fassten Baptiste, jeder an einer Seite, unter den Oberarm, hoben ihn langsam hoch und führten ihn aus dem Stall über die Diele in Sophie Brammers Wohn-Schlafzimmer. Baptiste ließ das mit gesenktem Kopf mit sich geschehen. Beide legten den Franzosen aufs Sofa, standen dann davor und blickten besorgt auf ihn hinab.

Sophie Brammer hatte inzwischen einen kalten, feuchten Lappen aus der Küche geholt und legte ihn, als sie leicht stöhnend in ihr Zimmer zurückgekehrt war, auf die Beule an Baptistes rechter Kopfseite.

"Tut das gut?" fragte sie.

Baptiste nickte und sagte nach einer Weile, es gehe ihm schon wieder etwas besser, er könne nun seine Arbeit im Stall fortsetzen.

"Nein, nein," bestimmte Sophie Brammer, "das kommt nicht in Frage. Für heute ist Schluss. Fritz und Adam bringen dich in dein Zimmer, und du legst dich ins Bett. Es könnte sein, dass du eine Gehirnerschütterung erlitten hast. Das Abendbrot bringt dir nachher Adam."

An Fritz Tegtmeier und Adam gewandt ermahnte sie noch: "Seid vorsichtig, besonders auf der Treppe. Er darf nicht noch einmal fallen."

"Danke, Frau Brammer," sagte Baptiste mit leiser Stimme.

"Es ist schon gut," winkte Sophie Brammer ab.

Fritz und Adam unterstützten Baptiste beim Aufstehen und führten ihn - wie schon zuvor - gestützt über die Diele auf den Hof und dann durch den an der Nordseite der Leibzucht befindlichen Eingang in die Waschküche. Auf der steilen Holztreppe, die in das Dachgeschoss führte, hielt sich Baptiste mit seiner linken Hand am Geländer fest. Adam ging langsam vorweg, blickte sich aber wiederholt zu ihm um. Fritz Tegtmeier stieg unmittelbar hinter Baptiste die Treppe hinauf, die so schmal war, dass keine zwei Personen nebeneinander gehen konnten. Der Knecht drückte dabei mit seiner rechten Hand gegen das Gesäß des Franzosen, und mit seiner linken Hand hielt er sich wie Baptiste am Treppengeländer fest.

Im Zimmer der beiden Gefangenen halfen Fritz Tegtmeier und Adam dem Franzosen beim Hinlegen auf sein Bett. Adam zog ihm die Schuhe aus. Die übrige Kleidung behielt Baptiste an.

"Bleib lie lie liegen, und ver ver versuche nicht, al al allein auf auf aufzustehen," ermahnte Fritz den Franzosen, der dazu nickte. "Vie Vie

Vielleicht geht es dir mo mo morgen scho scho schon wieder be be besser."

"Nicht aufstehen, Baptiste. Ausruhen," ergänzte Adam. "Morgen besser, vielleicht."

"Ich ko ko komme nach nach nachher noch mal zu dir ho ho hoch," versprach Fritz. "Jetzt müs müs müssen wir wie wie wieder an die Ar Ar Arbeit."

Fritz und Adam verließen den Raum und setzten ihre Arbeit im Stall fort.

Kurz vor dem Abendessen kehrte Anna aus Grafenhagen zurück. Ihre Großmutter war zu dieser Zeit in der Küche und deckte den Tisch. Sie erzählte Anna, was mit Baptiste passiert war, und erwähnte auch, dass sie einige Butterbrote für ihn machen wolle, die Adam zu ihm hoch bringen solle.

Anna hörte besorgt zu und nahm sich vor, ohne jedoch zunächst etwas davon zu sagen, selbst Baptiste aufzusuchen und ihm die Butterbrote zu bringen. Dann kamen nach und nach Fritz und Adam und auch Marie Tegtmeier in die Küche.

Als alle mit dem Abendessen fertig waren und Sophie Brammer die Butterbrote für Baptiste geschmiert hatte, erklärte Anna etwas zögerlich und innerlich leicht erregt: "Ich bringe die Butterbrote zu Baptiste, weil ich sehen möchte, wie es ihm geht."

Als sie seitens ihrer Großmutter keinen Widerspruch hörte und auch die Eheleute Tegtmeier keine Äußerungen dazu machten, erhob sie sich vom Stuhl, suchte die Waschküche auf und holte daraus einen aus Weidenzweigen geflochtenen Einkaufskorb. Dann kehrte sie in die Küche zurück und stellte den Teller mit den Broten in den Korb. Anschließend holte sie eine kleine Milchkanne aus dem Küchenschrank, füllte sie mit Milch und tat auch die Kanne mit einem Glas hinein.

"Du bist sehr für für fürsorglich," lobte Fritz Tegtmeier, der Anna bei ihrem Tun beobachtet hatte.

Anna, die befürchtete, dass Fritz seine Bemerkung ironisch meinte, blickte ihn kurz an. Aber sie sah in ein ernstes Gesicht, ohne den geringsten Ansatz eines Schmunzeins oder gar Grinsens.

"Sag Ba Ba Baptiste, dass ich nach nach nachher noch mal zu ihm hoch ko ko komme."

"Ich werde es ihm ausrichten," gab Anna zur Antwort und verließ darauf mit dem Korb die Küche.

Wenn ihr Vater anwesend gewesen wäre, würde sie es nicht gewagt haben, allein zu dem Franzosen in die Leibzucht zu gehen. Darüber war sie sich im Klaren. Jetzt aber war sie froh, dass niemand eine Äußerung gemacht hatte, die den Verdacht hätte begründen können, dass jemand Anstoß an ihrem Tun nahm.

Anna ging über den Hof und dann von dem Weg aus, der zum Hochsitz und zur Jagdhütte ihres Vaters führte, durch die Tür in die Waschküche der Leibzucht. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Treppe zum Zimmer der Gefangenen hochstieg. Das lag aber nicht an der kurzen Anstrengung, die das Treppensteigen erforderte, sondern an der inneren Spannung, die sie empfand, weil sie von sich aus in Gegenwart ihrer Großmutter und der Eheleute Tegtmeier entschieden hatte, Baptiste aufzusuchen, und sie zum ersten Mal mit ihm allein in einem Zimmer sein würde. Vor der Begegnung mit ihm unter den gegebenen Umständen hatte sie auch ein bisschen Angst.

Sie klopfte zweimal zaghaft gegen die Tür, und als sie "ja, bitte" hörte, öffnete sie sie und trat in den halbdunklen Raum. Baptiste, der mit Annas Erscheinen nicht gerechnet hatte, richtete sich im Bett auf und blickte sie mit großen Augen irritiert und überrascht an.

"Ich möchte ihnen etwas zu essen und zu trinken bringen," sagte Anna mit leicht zitternder Stimme, "und dann möchte ich mich erkundigen, wie es ihnen geht. Meine Oma hat mir erzählt, was ihnen passiert ist."

Dann stellte sie den Korb auf den Tisch und ging langsam rückwärts zur geschlossenen Tür zurück, als suchte sie daran einen Halt.

"Das finde ich aber nett. Und vor allem, dass sie gekommen sind. Damit hätte ich nicht gerechnet. Ich glaubte, Adam würde mir die Butterbrote bringen, wie es ihre Oma angekündigt hat," sagte Baptiste, der etwas verlegen wirkte.

"Was machen sie nur für Sachen, Baptiste. Sie hätten tot sein können." sagte Anna besorgt und hoffte, dass keine peinliche Gesprächspause entstehen würde. Um eine solche zu vermeiden, fügte sie noch die Frage hinzu: "Haben sie Schmerzen?"

"Nein, nein," beruhigte Baptiste sie. "Auch meine Beule merke ich kaum noch."

"Soll ich einen Lappen anfeuchten und die Beule kühlen?"

"Das hat ihre Oma schon getan," antwortete Baptiste, "danke."

Anna blickte nach rechts und links und sagte dann wie in Gedanken mit leiser Stimme: "Mein Gott, bin ich schon lange nicht mehr in diesem Zimmer gewesen. Als Kind habe ich hier öfter mit meinen Freundinnen gespielt. Dieser Raum und der Boden nebenan waren unsere Abenteuerspielplätze, besonders bei schlechtem Wetter."

Und als Baptiste nichts darauf sagte, sie nur mit großen Augen ansah, ergänzte sie, um das Gespräch nicht abbrechen zu lassen: "Haben auch sie früher einen ähnlichen Spielplatz gehabt?"

"Nein, leider nicht," antwortete Baptiste in seinem französischen Akzent. "Meine Eltern hatten nur eine Mietwohnung. Aber wir haben als Kinder viel draußen auf der Strasse gespielt. Auch das hat Spaß gemacht. So viel Platz wie sie hatten wir allerdings nicht: Der große Hof, die Diele, die Wohnung ihrer Eltern, die Scheunen und der Stall. Ich kann mir schon vorstellen, dass das alles für sie ein Spielparadies war. Aber auch ich habe trotz des begrenzten Raumes in der Wohnung meiner Eltern und auf der Strasse eine schöne Kindheit gehabt, an die ich mich oft und gern erinnere."

Anna hörte interessiert zu und war wieder von dem Akzent des Franzosen fasziniert. Dann schwiegen beide einen Moment. Baptiste blickte Anna an, die seinem Blick dieses Mal nicht auswich. Sie überlegte krampfhaft, wie sie das Gespräch fortsetzen konnte. Dann wurde ihr bewusst, dass sich in dem Raum kein Ofen befand.

"Dieses Zimmer kann ja nicht beheizt werden. Es ist doch viel zu kalt hier drin. Ich werde meinen Vater bitten, dass er einen Ofen aufstellen lässt. Das Abzugsrohr könnte durch das Dach gelegt werden."

"Nein, nein, Anna, das ist im Augenblick nicht nötig. Es wird ja allmählich Sommer," meinte Baptiste.

"Aber im Winter wird es hier zu kalt sein," äußerte Anna besorgt. "Bis dahin muss ein Ofen aufgestellt werden. Ich werde das veranlassen."

"Es freut mich, dass sie sich um Adam und mich sorgen. Wirklich, das freut mich sehr.“

Dann schwiegen beide eine Weile und blickten sich an.

"Schlafen sie und Adam in ihrer Kleidung?" wollte Anna danach wissen, weil sie erst jetzt bewusst wahrnahm, dass Baptiste in seiner leicht verschlissenen Uniform auf dem Bett lag.

"Nein, wir schlafen in unserer Unterwäsche. Die reicht aus. Frieren tun wir nicht. Das Oberbett ist ziemlich dick," gab Baptiste zur Antwort.

"Aber das geht doch auf Dauer nicht," ereiferte sich Anna. "Ich werde meine Mutter fragen, ob wir irgendwo im Haus noch zwei Nachthemden haben, die nicht benötigt werden, für sie und Adam. Ich bin sicher, dass wir noch zwei finden."

"Danke, Anna," reagierte Baptiste darauf etwas verlegen lächelnd. "Aber ich möchte nicht, dass sie deshalb mit ihrem Vater Ärger bekommen. Vielleicht ist er damit nicht einverstanden."

"Das wird er schon sein. Da bin ich mir ziemlich sicher. Im Übrigen braucht er nichts davon zu erfahren. Ich bespreche das mit meiner Mutter," erklärte Anna.

"Ihre Mutter wird bestimmt nichts dagegen haben. Davon bin ich überzeugt."

Dann schwiegen beide wieder, bis Anna das Gespräch mit der Ankündigung fortsetzte, dass sie nun wieder gehen wolle: " Fritz wird heute Abend noch nach ihnen schauen, vielleicht auch Marie."

Anna, die immer noch mit ihrem Rücken zur Tür stand, drehte sich um und öffnete die Tür. In diesem Augenblick hörte sie Baptiste ihren Vornamen sagen. Anna blieb stehen, drehte sich wieder um und blickte Baptiste an, der mit leiser Stimme sagte: "Ich werde morgen wieder arbeiten können. Da bin ich mir sicher. Ich freue mich schon darauf."

Dann fuhr er nach einer kurzen Pause, langsam sprechend, fort: "Ich bin froh, dass ich im Stall ausgerutscht bin, Anna."

"Warum denn das? Sie dürfen so etwas nicht sagen, Baptiste," entgegnete Anna etwas verunsichert.

"Doch," antwortete der Franzose, "wenn ich nicht gestürzt wäre, hätten sie mich hier nicht besucht. Ich bin sehr glücklich darüber, dass sie gekommen sind."

Anna wusste darauf nichts weiter zu sagen, als verlegen die kurze Frage zu stellen: "Ja?"

"Ja, wirklich," antwortete Baptiste und fügte noch hinzu: "Merci, Anna."

Anna drehte sich erneut um, stieg die Treppe hinab und begab sich auf dem selben Weg, den sie gekommen war, in die Küche zurück. Ihre Oma und Marie Tegtmeier hatten inzwischen den Tisch abgedeckt und das benutzte Geschirr gesäubert. Fritz und Adam waren schon nicht mehr in der Küche. Sie waren in den Stall gegangen, um dort noch einige Arbeiten zu erledigen.

Anna wünschte ihrer Oma und Marie Tegtmeier eine gute Nacht und suchte dann ihre Wohnung auf. Sie hatte auch an diesem Abend das Bedürfnis, allein zu sein. Aber sie war es nicht. Was sie auch tat, immer wieder tauchte Baptiste vor ihren Augen auf, und immer wieder hörte sie seine Stimme.

"Mein Gott, was ist das nur? Es darf doch so nicht weitergehen," dachte sie.

Sie fühlte sich elend, und sie wurde von einem schlechten Gewissen geplagt, wenn sie für eine kurze Zeit mal an ihren Mann dachte. Sie war sich bewusst, dass sie ihm in Gedanken untreu war, und sie betete, dass Gott sie von ihren Gefühlen für Baptiste befreien möge. Sie war verzweifelt und glücklich zugleich, aber sie hatte auch Angst vor ihren Empfindungen, weil sie wusste, dass sie als verheiratete Frau für Baptiste, den Gefangenen und angeblichen Feind, solche Gefühle nicht haben und schon gar nicht zeigen durfte.

Der Abend erschien ihr wieder einmal unendlich lang, und als sie gegen zehn Uhr zu Bett ging, konnte sie zunächst nicht einschlafen. Und als sie schließlich doch vom Schlaf übermannt wurde, schlief sie unruhig. Sie wurde wiederholt wach, und dann tauchte immer wieder Baptiste vor ihren Augen auf, und sie hörte seine ruhige Stimme mit dem für sie angenehmen französischen Akzent. Dann kam der nächste Morgen. Und sie war beruhigt, als Baptiste wieder zum Frühstück erschien, und sie war froh, dass er anschließend die ihm aufgetragenen Arbeiten verrichten konnte.

Es war die Zeit, in der es von Tag zu Tag abends länger hell blieb. Anna liebte die langen, hellen Abende, und an sonnigen Tagen beobachtete sie manchmal vom Hof aus, wie die Sonne glutrot hinter den Feldern ihres Vaters jenseits der Landstraße langsam hinter dem Horizont verschwand. Danach war noch fast eine Stunde lang das Abendrot am Himmel zu sehen, das allmählich immer schwächer wurde und einen neuen sonnigen Tag ankündigte.

Es hatte in diesem Jahr schon viele Sonnentage gegeben, und Anna hatte deshalb die Vermutung, dass der bevorstehende Sommer schön werden würde.

Ein warmer, sonniger Tag war auch der erste Mai 1941. Die beiden Kastanienbäume auf dem Hof standen in voller Blüte. Der Baum zwischen der Leibzucht und der Landstraße hatte dunkelrote Blüten, die an kleine Tannenbäume erinnerten, und die des Baumes links neben der Ausfahrt waren von weißer Farbe. Auch die Obstbäume auf dem Grundstück rund um die Hofgebäude und auf den Nachbargrundstücken standen bereits in voller Blüte, in diesem Jahr auffallend früh, wie Anna meinte. Aber das lag wohl an dem angenehm warmen Wetter, das im April geherrscht hatte. Insbesondere bei Sonnenschein boten die vielen Blüten ein prächtiges Farbenspiel, an dem sich Anna nicht satt sehen konnte.

Karl Brammer hatte an diesem Tage schon früh morgens die Hakenkreuzfahne gehisst, um sich als überzeugter Nationalsozialist zu präsentieren. Am späten Nachmittag wollte er nach Grafenhagen radeln, um dort an einer Parteiversammlung teilzunehmen. Alle Hofbewohner erledigten an diesem ersten Mai nur die notwendigen Arbeiten, zu denen besonders das Füttern des Viehs und das Melken der Kühe gehörte. Im Übrigen aber verbrachten sie den Tag wie einen Sonntag.

So gegen halb acht Uhr abends, als alle Arbeiten auf dem Hof und im Stall erledigt waren, schlenderte Baptiste in Gedanken versunken über die Weide hinter der großen Scheune bis zum Bach und dann weiter auf dem Feldweg am Hochsitz vorbei in Richtung Jagdhütte. An diesem schönen Abend mochte er nicht in seinem Zimmer in der Leibzucht hocken und sich langweilen. Schlafen konnte er um diese Zeit sowieso noch nicht.

Er dachte an seine Mutter und seine Schwester, auch an seine Heimatstadt und seine Schule. Aber immer wieder tauchte auch Anna vor seinen Augen auf. Er sehnte sich nach Hause. Gleichzeitig wünschte er aber auch, in Annas Nähe bleiben zu dürfen. Solche Gedanken hatte er tagsüber während der Arbeit kaum, weil dafür wenig Zeit war und er immer wieder von Fritz und Adam abgelenkt wurde. Und das war gut so, da er seine Situation sonst noch verzweifelter empfunden hätte.

Trotz des schönen Abends geriet er in eine tiefe Traurigkeit, aus der ihn auch nicht eine Amsel befreien konnte, die auf einem Zweig hoch oben in einem Baum saß und ihr Lied über die Weiden, Felder und den kleinen Wald flötete, in dem die Jagdhütte des Bauern stand. Baptiste blieb stehen und blickte zu ihr hoch.

"Du hast es gut," sagte er mit leiser Stimme auf Französisch, "du bist frei, kannst fliegen, wohin du willst, und hast keinen Liebeskummer."

Nach einem Augenblick ergänzte er: "Vielleicht gibt es bei euch so etwas aber auch gar nicht. Erzähle es mir, hast du schon mal Liebeskummer oder Sehnsucht nach einem Partner gehabt?"

Dann fuhr er auf Deutsch fort: "Ach ja, ich habe ganz vergessen, dass du kein Französisch verstehst."

Aber der Vogel reagierte nicht. Er flötete unermüdlich weiter.

"Auf jeden Fall machst du einen zufriedenen Eindruck," sagte Baptiste jetzt wieder auf Französisch. "Mach es gut. Vielleicht singst du mir ja mal wieder etwas vor, vielleicht morgen, vielleicht auch später."

Baptiste schlenderte weiter auf dem Feldweg, an der Jagdhütte vorbei bis zu dem quer verlaufenden Weg. Hier blieb er erneut stehen. Vor sich in der Ferne sah er die Häuser eines Dorfes und rechts den Berg, der sich mehrere Kilometer lang etwa von Osten nach Westen erstreckte und an dessen Nordseite mehrere Dörfer lagen.

"Mein Gott, wie lange soll dieser unselige Krieg noch dauern mit seiner Dunkelheit und seinem Elend?" fragte er sich und erinnerte sich an tote und verletzte Kameraden, an zerstörte Häuser in Frankreich und an zerschossenes Kriegsgerät, und dann dachte er an das große Leid, das der Krieg über Tausende von Menschen gebracht hatte.

"Und vielleicht war das alles noch nicht das Ende. Vielleicht war es erst der Anfang," grübelte er weiter. "Nein, das kann nicht sein, das darf nicht sein."

Er mochte sich nicht vorstellen, dass der Krieg noch einige Jahre dauern konnte, lange Jahre, fern der Heimat und der Familie. Welch ein Wahnsinn. Vor dem Krieg hatte er kaum Deutsche gekannt. Nur hin und wieder war er mal mit deutschen Touristen ins Gespräch gekommen. Er hatte sie angesprochen, wenn er sie an der Sprache als Deutsche erkannt hatte. Es waren alle höfliche und aufgeschlossene Menschen gewesen, die sich gefreut hatten, mit einem Franzosen sprechen zu können. Und er war sich sicher, dass diese Touristen in den meisten Fällen von den Franzosen und von Frankreich einen positiven Eindruck gewonnen hatten. Wie kamen deutsche Politiker dazu, die Franzosen als Erbfeinde der Deutschen zu bezeichnen? Die meisten Deutschen hatten vor dem Krieg überhaupt keinen Franzosen gekannt, waren nie in Frankreich gewesen und sprachen kein Französisch. Erst durch französische Kriegsgefangene waren mehr Deutsche mit Franzosen in Berührung gekommen. Alle Deutschen und auch die wenigen, die vor dem Krieg irgendwann einmal einen Franzosen kennen gelernt und sich möglicherweise sogar mit ihm angefreundet hatten, sollten jene als Erbfeinde ansehen? Nein, Baptiste war sich sicher, dass die weitaus meisten Deutschen das nicht taten, dass sie aber aus Angst vor Repressalien durch die Nationalsozialisten dazu schwiegen. Es wurde ihnen von den herrschenden Politikern nur eingeredet, dass es so sei. Aber nicht gerade wenige glaubten es wohl auch und sprachen es nach, unwissend und gedankenlos.

"Welch ein Wahnsinn," dachte Baptiste noch einmal und blickte zu dem Vogel zurück, den er jetzt nicht mehr sah, der aber immer noch laut sein Lied flötete.

Baptiste setzte sich auf einen Baumstamm, der am Rand des Weges lag, und zupfte einige Grashalme aus der Erde, die zwischen seinen Füssen wucherten. Dann dachte er auch an Adam, dem es noch schlechter gehen musste als ihm, der verheiratet war und zwei Kinder in Polen hatte. Wenngleich Adam bisher wenig über seine Gefühle und Gedanken gesprochen hatte, so war sich Baptiste sicher, dass jener täglich an seine Familie dachte und sich nach Hause sehnte. Zum Glück, so meinte Baptiste, hatte Adam jedoch in Katja eine Leidensgenossin, mit der er sich hin und wieder in seiner Muttersprache unterhalten konnte. Aber im Vergleich zu dem Polen hatte Baptiste weniger Gründe sich zu beklagen, jedenfalls nicht unter den gegebenen Umständen. Dessen war er sich bewusst.

Dann erhob er sich und ging langsamen Schrittes auf dem Weg in Richtung Hof zurück.

Als er etwa in Höhe des Baches war, hörte er aus Richtung des Hofes Musik. Er vermutete, dass Fritz Tegtmeier auf seiner Ziehharmonika spielte. Jener hatte ihm und Adam mal erzählt, dass er ein solches Instrument von seinem Vater geerbt habe und dass er gelegentlich darauf spiele.

Baptiste bog gleich hinter dem Bach vom Weg nach links ab, schritt durch den Heckendurchlass auf die Weide, ging darauf entlang und dann zwischen der großen und kleinen Scheune hindurch auf den Hof. Er sah Fritz und seine Frau auf der Bank vor der Leibzucht sitzen. Auf einer Treppenstufe vor der Eingangstür zur Leibzucht saß Adam. Fritz spielte Volkslieder und sang die Texte dazu. Baptiste war erstaunt, dass jener die Texte der Lieder auswendig konnte. Dass der Knecht beim Singen nicht stotterte, wunderte ihn nicht. Er hatte an seiner Schule mehrere stotternde Schüler gehabt, die ebenfalls singen konnten, ohne anzustoßen.

"Se Se Setz dich zu uns, Ba Ba Baptiste," forderte Fritz, der sein Spiel unterbrach, den Gefangenen auf, als dieser die drei Personen erreicht hatte. "Hier auf der Ba Ba Bank ist noch Pla Pla Platz, aber auch ne ne neben A A Adam."

Baptiste setzte sich neben Adam auf die Treppenstufe, und Fritz spielte und sang zwei Strophen von dem Lied "Der Mai ist gekommen". Seine Frau sang mit, und die beiden Gefangenen hörten staunend zu.

Danach hielt Fritz inne und meinte: "Ist das ein schö schö schöner AA Abend heute."

Seine Frau bat ihn, doch mal das Lied "Am Brunnen vor dem Tore" zu spielen

Fritz wollte der Bitte seiner Frau gerade nachkommen, als Katja, die polnische Fremdarbeiterin vom Nachbarhof, zaghaft um die Ecke der Leibzucht kam. Sie hatte Musik gehört, war, neugierig geworden, über das Gatter geklettert, das in Höhe der Leibzucht Karl Brammers Hof vom Nachbarhof abgrenzte, und stand nun, zurückhaltend lächelnd, vor den vier Personen vor der Leibzucht.

"Guten Abend", grüßte sie kleinlaut. "Darf ich ein bisschen zuhören?"

"Na Na Natürlich," gab Fritz zur Antwort, als er den Gruß der Polin erwidert hatte. "Ni Ni Nimm Pla Pla Platz. Du pa pa passt noch mit auf die Ba Ba Bank."

"Ich möchte lieber stehen bleiben," erklärte Katja. "Danke."

In diesem Moment fiel Fritz das Lied vom Polenstädtchen ein, das er sofort anstimmte und leicht schmunzelnd mitsang. Dabei blickte er Katja an, die etwas verlegen lächelte. Fritz hatte, für alle erkennbar, seine helle Freude an seinem Gesang und der Verlegenheit der Fremdarbeiterin, als er laut singend den Text vortrug: "In einem Polenstädtchen, da lebte einst ein Mädchen, das war so schön. Es war das allerschönste Kind, das man in Polen find, aber "Küssen?", nein, sprach sie, ich küsse nie."

Fritz kannte alle fünf Strophen des Liedes. Und je mehr er sang, desto fröhlicher und gelöster wurde das Lächeln der Polin. Nach der dritten Strophe stand Fritz sogar auf und spielte, alle Register ziehend, Katja an, die ihn daraufhin mehr und mehr anstrahlte. Fritz schauspielerte während des Spielens und Singens, und alle merkten, dass ihm seine Rolle als Musiker in diesem Augenblick großen Spaß machte.

Als Fritz die erste Strophe des Liedes gesungen hatte, tauchten Lina Brammer und Anna am Dielentor auf, verharrten dort überrascht einen Moment und näherten sich dann schmunzelnd langsam der Personengruppe vor der Leibzucht. Anna blieb zögernd neben dem Stamm des Kastanienbaumes zwischen der Leibzucht und der Landstraße stehen, während sich ihre Mutter in die Nähe von Katje stellte.

Am Ende des Liedes klatschten Marie Tegtmeier, die Gefangenen und Katja. Fritz verbeugte sich leicht und strahlte voller Stolz in die Runde. Lina Brammer lobte den Knecht, er habe schön gespielt, und er solle man noch einige Lieder vortragen.

"Ei ei einen Au Au Augenblick muss ich a a aber ver ver verschnaufen, Li Li Lina," presste Fritz hervor und setzte sich wieder auf die Bank neben seine Frau, die ihm auf die Schulter klopfte und ihn lobte: "Fritz kann gut Texte behalten. Ich könnte das nicht. Und das ist ein gutes Zeichen. Es zeigt, dass er geistig noch auf der Höhe ist."

Dann ergänzte sie und stieß ihrem Mann dabei lachend in die Seite: "Manchmal trägt er mir abends sogar Liedtexte vor, ohne mich vorher zu fragen, ob ich sie überhaupt hören will. Ja, ja, Fritz, du bist schon ein sonderbarer Zeitgenosse."

Fritz grinste und meinte, dass seine Frau die von ihm vorgetragenen Liedtexte längst auswendig kennen müsste; aber bisher habe sie nur zugehört und nichts dazu gelernt.

"Na ja," fügte er, immer noch grinsend, hinzu: "Sie ist ja auch zwei zwei zweimal si si sitzen ge ge geblieben in der Schu Schu Schule, ich da da dagegen nur ein ein einmal. Und das ist ein ge ge gewaltiger Un Un Unterschied."

" Musst du das denn allen erzählen?" rügte ihn seine Frau. Alle merkten aber, dass sie ihre Rüge nicht ernst meinte. "Im Übrigen liegt unsere Schulzeit schon so lange zurück, dass es unbedeutend ist, ob damals jemand einmal oder zweimal sitzen geblieben ist."

"Du a a aber zwei zwei zweimal," hob Fritz hervor und streckte den Zeigefinger seiner rechten Hand etwas nach oben.

Die Gefangenen, Anna und Katja schmunzelten, und Lina Brammer erklärte lachend: "Ich verstehe nicht, Fritz, warum du sitzen geblieben bist. Du bist doch ein intelligenter Mann, hast ein gutes Gedächtnis, kannst denken und auch rechnen, wie ich schon wiederholt festgestellt habe, und hast eine - wie sagt man so schön - gewisse Bauernschläue."

"Das ka ka kann ich dir sa sa sagen, Li Li Lina," stotterte Fritz leicht lächelnd, "weil ich als Ki Ki Kind faul war und au au auch nicht spre spre sprechen mochte. Die an an ander ha ha haben immer ge ge gelacht, wenn ich was sa sa sagte. Spä spä später ha ha habe ich ge ge dacht: Le le leckt mich am A A Arsch. Ich spre spreche so, wie mir der Schna Schna Schnabel ge ge gewachsen ist. Da da dann war ich ein Spät Spät Spätzünder. A A Aber da da das ha ha haben die Leh Leh Lehrer da da damals nicht er er erkannt. - ko ko konnten sie auch nicht, weil ich ja ein Spät Spät Spätzünder war."

Alle lachten.

Dann fragte Baptiste: "Fritz, darf ich mal deine Ziehharmonika haben?"

"Ka ka kannst du etwa auch spie spie spielen?" wollte Fritz erstaunt wissen.

"Ich will es mal versuchen," antwortete der Franzose. Beide erhoben sich, und Fritz übergab seine Ziehharmonika erwartungsvoll dem Gefangenen.

Baptiste zog die beiden Trageriemen des Instruments nacheinander über seine Arme bis zur Schulter und bediente wiederholt einige Tasten, dabei mit leicht gesenktem Kopf horchend auf die Ziehharmonika blickend. Die anderen schauten ihn gespannt an. Anna erinnerte sich in diesem Augenblick an ihr Gespräch mit Baptiste auf der Stallgasse vor den Pferdeboxen, als er erwähnte, dass er manchmal einen Kollegen, der Musiklehrer sei, vertreten habe. Dann hatte Baptiste die richtigen Töne im Griff. Er spielte eine etwas schwermütig klingende, eingängige Melodie und danach noch eine. Dabei blickte er einige Male Anna an, die sich inzwischen an den Stamm der Kastanie gelehnt hatte und seinen Blicken nicht auswich. Alle hörten andächtig zu und schwiegen einen Augenblick, als Baptiste mit dem Spielen aufhörte. Er gab das Instrument an Fritz zurück, der ihn mit ernstem Gesicht lobte: "To To Toll, Ba Ba Baptiste. Die Me Me Melodien ha ha habe ich noch nie ge ge gehört. Wa Wa Waren das fran fran französische Lie Lie Lieder?"

"Das waren Chansons," gab Baptiste zur Antwort und setzte sich wieder auf die Treppenstufe.

"Die klangen aber gut, wirklich gut," meinte Lina Brammer. "Wo hast du spielen gelernt?"

"Schon als Kind zu Hause, dann in der Schule, und später war es ein Hobby von mir," antwortete Baptiste, "aber ich kann nur - wie sagt man auf Deutsch? - für den Hausgebrauch spielen. Ich bin kein Musiker."

"Vielleicht spielst du uns irgendwann mal wieder etwas vor. Ich würde mich sehr freuen, " versicherte Lina Brammer.

"Wenn ich darf, gerne," antwortete Baptiste.

Inzwischen hatte Fritz die Trageriemen seiner Ziehharmonika wieder über seine Schultern gelegt und spielte dann noch einige Volkslieder. Zwischendurch machte er Pause und unterhielt sich mit Lina Brammer und seiner Frau. Anna schwieg, und Katja und die Gefangenen beteiligten sich an den Gesprächen nur insoweit, als sie Fragen der Bäuerin und der Eheleute Tegtmeier beantworteten.

So gegen neun Uhr - es war inzwischen dämmerig geworden - kam Karl Brammer mit seinem Fahrrad auf den Hof gefahren. In Höhe des Kastanienbaumes, also in der Nähe von Anna, stieg er ab. Fritz, der gerade ein Volkslied spielte und sang, unterbrach seine Musik und blickte zum Bauern hinüber, der etwas erregt der Personengruppe zurief: "Was ist denn hier los? Veranstaltet ihr ein Volksfest? Es fehlt nur noch, dass auch getanzt wird."

"Nach Vo Vo Volksliedern ka ka kann man schle schle schlecht ta ta tanzen, Ka Ka Karl," rief Fritz zurück.

An die Gefangenen gewandt befahl der Bauer: "Ihr geht sofort in euer Zimmer. Ich habe euch gesagt, dass ihr bei Dunkelheit nicht mehr draußen sein dürft."

Und zu Katja sagte er barsch: "Und du gehst nach Hause."

"Es ist do do doch a a aber noch gar nicht du du dunkel, Ka Ka Karl," mischte sich Fritz Tegtmeier ein. "Es ist erst dä dä dämmerig."

Karl Brammer überhörte die Belehrung seines Knechts, schob wortlos sein Fahrrad zur kleinen Scheune, stellte es darin ab und ging anschließend schnellen Schrittes auf dem betonierten Weg zwischen der Mistkuhle und dem Stallgebäude zum Dielentor, hinter dem er sodann verschwand, ohne zuvor noch einen Blick auf die Personengruppe vor der Leibzucht geworfen zu haben.

Die Gefangenen hatten sich zu dieser Zeit bereits erhoben und gingen auf den Weg, der zum Hochsitz und zur Jagdhütte führte. Von hier aus betraten sie die Waschküche der Leibzucht und stiegen die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf.

Katja hatte eilends ihren Standort verlassen und war unter dem Holzgatter hindurch auf das Nachbargrundstück gekrochen. Fritz hatte, als Karl Brammer von der kleinen Scheune in Richtung Dielentor ging, mit dem Lied zu spielen und zu singen begonnen "Horch, was kommt von draußen rein, Hollahi, hollaho." Bis dahin sang er den Text mit lauter Stimme, danach aber leise: "Wird wohl Karlchen Brammer sein." Dann wieder lauthals: "Hollahi hollaho. Geht vorbei und schaut nicht her. Hollahi hollaho. Ärgert sich wohl allzu sehr. Hollahiaho."

Marie Tegtmeier stieß ihren Mann an und forderte ihn energisch auf, damit aufzuhören, Karl sei für solche Späße heute nicht zu haben.

"Lass uns Schluss machen und ins Haus gehen," riet sie.

Lina Brammer seufzte einmal und zuckte mit ihren Schultern. Anna blickte etwas irritiert ihre Mutter an.

"Ich muss mit Karl reden. Er wird sich schon wieder beruhigen," erklärte die Bäuerin und ging zur Diele.

Die Eheleute Tegtmeier suchten ihre Wohnung auf, Fritz wiederholt den Kopf schüttelnd, und Anna ging langsam wie in Gedanken versunken zur Landstraße und blickte über die Felder, hinter denen weit im Westen ein kräftiges Abendrot zu sehen war.

Als Lina Brammer in die Küche kam, saß ihr Mann in der einen Sofaecke und las im "Generalanzeiger". Sein Gesichtsausdruck war mürrisch.

"Karl, musste das sein, dass du so reagiertest? Was haben dir die Ausländer getan?" fragte sie mit ruhiger Stimme, in der kein Vorwurf lag.

Karl Brammer legte die Zeitung auf den runden Tisch vor dem Sofa und erklärte gereizt: "Ich habe euch schon mehrere Male gesagt, dass es verboten ist, privaten Umgang mit Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern zu haben. Der Umgang mit ihnen ist auf das notwendigste Maß zu beschränken. Und ihr macht mit denen eine Musikveranstaltung. Wollt ihr, dass ich Schwierigkeiten mit der Polizei und der Partei bekomme?"

Etwa zu dieser Zeit kam Anna auf dem Flur an der Küchentür vorbei. Sie hörte einen Wortwechsel, der auf ein Streitgespräch ihrer Eltern hindeutete. Sie blieb einen Moment vor der Tür stehen und vernahm einzelne Wörter, die für sie jedoch keinen Zusammenhang ergaben. Dann suchte sie ihre Wohnung auf.

"Aber Karl," reagierte Lina Brammer gelassen auf die Äußerung ihres Mannes, "Was ist denn passiert? Fritz hat vor der Leibzucht gespielt und gesungen, wie er es in den vergangenen Jahren schon viele Male an schönen Abenden im Sommer getan hat. Die Gefangenen und Katja haben die Musik gehört und sind, neugierig geworden, dazu gekommen, ebenso wie Anna und ich. Sollte Fritz sie wegjagen, wo er doch in den vergangenen Wochen und heute mit Adam und Baptiste zusammengearbeitet hat und morgen wieder mit ihnen zusammen sein wird? Sag mir, was er hätte tun sollen? Sollte er aufhören zu spielen und zu singen und ins Haus gehen? Das wäre einer peinlichen Abweisung der beiden Gefangenen gleichgekommen. Nein, Karl, das hätte ich an seiner Stelle auch nicht getan, und du wahrscheinlich auch nicht."

"Ich hätte es erst gar nicht so weit kommen lassen," polterte Karl Brammer, "Fritz hätte in seiner Wohnung spielen können."

"Wie stellst du dir das vor?" fragte seine Frau, ohne auf ihre Frage eine Antwort zu erwarten. "An solch einem schönen Abend in der Wohnung spielen und singen? Fritz hat an solchen Abenden immer draußen gespielt. Sollte er heute drinnen spielen, nur um zu vermeiden, dass sich die Gefangenen zu ihm gesellen? Nein, Karl, das brauchte er nicht zu tun. Und dann Katja: Sie ist eine junge Frau, die wahrscheinlich gern Musik hört und etwas Geselligkeit haben möchte. Kannst du dich nicht in ihre Lage versetzen? Was hat sie denn vom Leben? Sie wurde gegen ihren Willen nach Deutschland gebracht, muss hier schuften und kann sich nur mit Adam in ihrer Muttersprache unterhalten. Ein trauriges, einsames Dasein ist das für eine junge Frau. Stell dir mal vor, es wäre Anna, der so etwas passiert wäre. Schon der Gedanke daran lässt mich erschaudern."

Karl Brammer erhob sich zerknirscht. Er wusste wieder einmal nicht so recht, was er auf die Argumente seiner Frau antworten sollte.

"Ich glaube, ihr wollt mich nicht verstehen. Es geht hier auch um meine Ämter, vielleicht sogar um meine Freiheit," rief er erregt, aber erkennbar auch verunsichert. "Ich darf so etwas nicht auf die leichte Schulter nehmen. Versteht ihr das denn nicht?"

Nach einem Moment des Schweigens, Lina blickte ihren Mann fast mitleidsvoll an, fügte er, ruhiger geworden, mit leiser, fast resignierender Stimme hinzu: "Ich bin müde, sehr müde sogar. Ich gehe jetzt schlafen. Nacht."

Dann verließ er die Küche, während seine Frau noch einige Minuten darin verweilte. Sie setzte sich auf einen Stuhl an den Tisch und stützte ihren leicht gesenkten Kopf mit den Händen ab. Einerseits verstand sie die Besorgnis ihres Mannes, andererseits jedoch ließ es ihr Mitgefühl nicht zu, die beiden Gefangenen, die tagtäglich für sie arbeiteten, von den ohnehin seltenen abwechslungsreichen und erfreulichen Augenblicken auszuschließen.

Nach einigen Minuten erhob sie sich, faltete den auf dem runden Tisch liegenden "Generalanzeiger" zusammen, legte die Zeitung auf den Küchentisch, schaltete das Licht aus und begab sich dann ebenfalls ins Schlafzimmer.

Als sie ihre Nachttischlampe anschaltete, sah sie, dass ihr Mann auf dem Rücken in seinem Bett lag und an die Zimmerdecke starrte. Sie entkleidete sich, zog ihr Nachthemd an und legte sich in ihr Bett. Die Lampe auf ihrem Nachttisch ließ sie an.

Nach einigen Augenblicken sagte sie: "Karl, möchtest du nicht mal wieder zu mir ins Bett kommen?"

Als ihr Mann darauf nicht antwortete, erklärte sie nach einer Weile: "Na gut, dann komme ich eben zu dir."

Sie klappte den oberen Teil ihres dicken Oberbettes über den unteren Teil in Höhe ihrer Füße, kroch unter das Oberbett ihres Mannes, legte, auf der linken Seite liegend, ihren rechten Arm über seine Brust und schmiegte ihren Kopf an seine rechte Schulter.

"Karl, ich möchte nicht, dass wir uns wegen der Gefangenen streiten," sagte sie nach einem Augenblick mit leiser Stimme.

"Ich ja auch nicht," brummte Karl Brammer kleinlaut. "Aber ihr müsst mich auch verstehen. So wie Fritz sich verhält, geht es nicht. Es darf keine Verbrüderung mit den Gefangenen geben."

"Aber das war doch keine Verbrüderung, Karl. Fritz hat doch nur gespielt und gesungen, und die Gefangenen und Katja haben zugehört, ebenso wie Anna und ich. Weiter war nichts."

Lina Brammer verschwieg bewusst, dass auch Baptiste zwei Chansons auf der Ziehharmonika gespielt hatte.

Nach einem Moment fügte sie hinzu: "Du könntest so etwas ja übersehen, wenn du wolltest. Du selbst hast damit doch nichts zu tun. Es war aber nicht notwendig, dass du den Gefangenen und Katja so barsch befiehlst zu verschwinden."

Karl Brammer brummte darauf nur: "Hm."

"Na siehst du. Vielleicht hast du das ja inzwischen eingesehen. Und nun sei nicht länger so stur."

Als sie den letzten Satz sprach, rüttelte Lina Brammer ihren Mann etwas mit ihrer rechten Hand und schwieg danach einen Moment. Dann schob sie mit dieser Hand langsam das Nachthemd ihres Mannes in Richtung seines Bauches hoch und streichelte vorsichtig seine Oberschenkel, seinen Bauch und auch sein Geschlechtsteil. Es dauerte nur kurze Zeit, bis sie eine geschlechtliche Erregung ihres Mannes spürte, der sich nun auf seine rechte Seite legte und seine Frau umarmte. Alsbald danach kam es zum Beischlaf, der beide derart in Ekstase geraten ließ, dass sie nicht wahrnahmen, wie das Oberbett allmählich auf den Fußboden des Schlafzimmers rutschte. Es war, als wollte Karl Brammer seinen ganzen Frust über das vorausgegangene Geschehen durch den Verkehr mit seiner Frau abbauen. Beide Eheleute hatten an diesem Abend ausnahmsweise etwa zur gleichen Zeit ihren Orgasmus.

Danach lagen sie schwer atmend noch eine Zeit lang eng umschlungen nebeneinander.

Dann wünschte Lina Brammer ihrem Mann eine gute Nacht und schlüpfte in ihr Bett zurück, während Karl Brammer sein Oberbett vom Fußboden zu sich hochzog und sich damit zudeckte. Seine Frau schaltete anschließend ihre Nachttischlampe aus.

Karl Brammer lag noch eine Weile wach und dachte an seine Frau Lina, deren ausgleichendes Wesen er wieder einmal kennen gelernt hatte und das er insgeheim bewunderte. Im Stillen gab er ihr Recht und konnte er sich ihrer Argumentation nicht ganz verschließen. Aber er sagte es ihr nicht. Wie schon so oft behielt er es für sich. Er konnte schlecht vermeintliche Fehler einräumen oder seiner Frau gar Komplimente machen, von einer Liebeserklärung ganz zu schweigen. Das wurmte ihn, und er ärgerte sich über sich selbst. Aber er liebte seine Frau, und er war davon überzeugt, dass sie das wusste. Es war deshalb seiner Meinung nach nicht unbedingt erforderlich, ihr das noch besonders zu sagen. Was sein barsches Auftreten gegenüber den Gefangenen und Katja anbetraf, so nahm er sich vor, sich nicht noch einmal so zu verhalten. Er wollte sich bemühen, der Empfehlung seiner Frau zu folgen und über einiges hinwegsehen, soweit er das sich selbst und der Partei gegenüber verantworten konnte. Er war sich in Klaren darüber, dass er sich in einem Spannungsfeld bewegte: Einerseits wollte er der nationalsozialistischen Forderung nach weitgehender Distanz zu Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern gerecht werden, andererseits aber auch christliche Nächstenliebe praktizieren, die in ihm auf Grund der Erziehung seiner Eltern, seiner Lehrer und des Pastors im Konfirmandenunterricht tief verwurzelt war. Zumindest im Unterbewusstsein spürte er, das sein Verhalten gegenüber den beiden Kriegsgefangenen und Katja mit Nächstenliebe nicht gerade in Einklang zu bringen war. Bei diesen Gedankengängen wurde er allmählich vom Schlaf übermannt.

Auch Lina Brammer schlief nicht gleich ein. Sie vernahm nach einiger Zeit das ruhige Atmen ihres Mannes in der Dunkelheit des Zimmers und schloss daraus, dass er eingeschlafen war. Sie wusste, dass er sie über alles liebte, dass er sich jedoch schwer tat, ihr das zu sagen. Aber im Grunde zeigte er ihr das tagtäglich durch die freundliche, manchmal allerdings auch knurrige Art seines Umgangs mit ihr. Sie war überzeugt davon, dass er ihre Empfehlung hinsichtlich seines Verhaltens gegenüber den Gefangenen in Zukunft befolgen würde.

Dann dachte sie an ihre Tochter Anna, die nun schon fast ein Jahr verheiratet war und von ihrem Mann getrennt lebte, von wenigen Urlaubstagen abgesehen, und die solche Glücksmomente, wie sie selbst sie soeben erlebt hatte, bisher nur selten hatte erfahren können, weil ihr Mann im fernen Ostpreußen Soldat war, wenn Anna sie denn überhaupt schon erlebt hatte. Wie sollte ihre Tochter unter diesen Umständen zu einer sexuellen Harmonie mit ihrem Mann finden? Lina erinnerte sich, dass es Monate gedauert hatte, bis sie und ihr Mann eine solche Harmonie gefunden hatten, die - so meinte sie jedenfalls -größer nicht sein konnte. Karl und sie waren nach ihrer Heirat nach und nach immer freier und unbekümmerter mit Sexualität umgegangen. In der Zeit davor waren ihre sexuellen Beziehungen dagegen ziemlich verkrampft gewesen, und Lina hatte sich nicht selten nur als ein Objekt für eine Befriedigung ihres Mannes gesehen. Gespräche mit ihren Eltern über Sexualität hatte es nie gegeben, nicht einmal mit ihrer Mutter, der sie im Übrigen jedoch vieles hatte anvertrauen können. Sie und ihr Mann hatten selbst ihren Weg auf diesem Gebiet finden müssen, und sie hatten ihn gefunden, zur vollen Zufriedenheit beider. Für eine blutjunge Frau wie Anna musste es dagegen schlimm sein, Monate von ihrem Mann getrennt zu leben. Lina Brammer fühlte sich hilflos und empfand eine tiefe Traurigkeit. Sie hatte schon einige Male erwogen, mit ihrer Tochter darüber zu reden; sie hatte sich jedoch nicht getraut. Sexualität war zu ihrem Bedauern immer noch ein Tabuthema. Abgesehen davon wollte sie Anna auch nicht in Verlegenheit bringen. Wer würde schon zugeben wollen, dass ihm sexuell etwas fehle? Nein, dieses Thema wollte sie mit Anna nicht erörtern, zumal sie ihr sowieso nicht würde helfen können.

In einer Mischung aus Trauer und Hilflosigkeit glitt Lina Brammer ganz allmählich in einen tiefen Schlaf.

Günter Wilkening

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