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ОглавлениеI. Aufmerksamkeit und Achtsamkeit
Der Mensch ist Aufmerksamkeit, vom ersten Augenblick seines Lebens an. Aufmerksamkeit war da, bevor sie uns bewusst wurde. Unsere Sinnesorgane sind von Anfang an auf Empfang gestellt. Wir haben unser Leben in einer gemeinsamen Aufmerksamkeit mit anderen Menschen, meist unseren Eltern, begonnen und waren sogar einige Jahre absolut von deren Aufmerksamkeit abhängig. Erst langsam haben wir gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen und uns individuell zu spüren und zu steuern. Aufmerksamkeit ist das kostbarste Gut des Menschen. So hat es der Philosoph Wilhelm Schmid formuliert (Schmid 2007). Aber sie stellt keine Eigenschaft oder besondere Fähigkeit dar. Sie ist ständig vorhanden, ob man will oder nicht. Aufmerksamkeit ist die Grundeinheit der Lenkung der mentalen und aktionsbezogenen Kräfte des Menschen (Mohr 2006). Dort, wo die Aufmerksamkeit hingelenkt wird, findet die Welt für einen Menschen statt.
Achtsamkeit ist das Gewahrwerden der Aufmerksamkeit ohne Wertung bei gleichzeitig gutem und sinnvollem Steuern. Steuern bedeutet ein Einladen und Schaffen von Bedingungen, die Achtsamkeit ermöglichen. Achtsamkeit wird dadurch zum Schritt auf dem Weg zur inneren Ruhe und zu einem integrativen Selbst. Die Erkenntnisse westlicher Wissenschaft sowie östlicher und westlicher Weisheitslehren lassen ein Konzept entstehen, das insgesamt sechs Perspektiven der Aufmerksamkeit unterscheidet. Es übt den Blick auf das Zusammenwirken dieser verschiedenen Ebenen und lässt sie in guter Weise nützlich werden. Vor allem der »nondualen« (nicht trennenden, nicht wertenden, sondern verbindenden) Ebene der Aufmerksamkeit, auf der die Gedanken ruhen und innere Stille entsteht, kommt vor dem Hintergrund einer immer stressigeren und komplexeren Lebensgestaltung eine zentrale Bedeutung zu. Sie birgt entscheidende Kräfte wie Kreativität und Lösungsstärke. Und sie lässt die körperliche Aufmerksamkeit, die Gefühle, das Denken, das eigene Persönlichkeitsselbstbild ebenso wie die transgenerationale Ebene, die familiären, kultur- und milieubezogenen Wurzeln, zur guten Entfaltung kommen. Das Wissen um die verschiedenen Ebenen hilft Menschen, ihre Persönlichkeit zu erkennen und Wege zur Veränderung zu finden.
1. Die Treppe der Aufmerksamkeit
Abb. 1: Die Treppe der Aufmerksamkeit
Ich möchte die Ebenen der Treppe der Aufmerksamkeit kurz von unten nach oben erläutern, da sie sich in der menschlichen Entwicklung normalerweise in dieser Reihenfolge zunehmend offenbaren und damit der stetigen Erweiterung der Bewusstseinsperspektive dienen. Später im Buch werden die Möglichkeiten der einzelnen Ebenen detailliert dargestellt.
Das körperliche Bewusstsein ist entwicklungspsychologisch die erste Wahrnehmung im Leben eines Menschen. Dieses Bewusstsein bleibt in der Regel das ganze Leben lang erhalten. Vielleicht unterscheiden wir zunächst nur kalt und warm, schmerzhaft und schmerzlos, hungrig und satt. Das körperliche Bewusstsein differenziert sich weiter aus und begleitet uns unser ganzes Leben.
Körperliche Aufmerksamkeit
Aufwachsen, Ernährung, körperliches Befinden, Krankheiten, Schmerzen, Sport, Altern, …
Der Körper ist die biologische Grundlage des menschlichen Lebens und damit wesentliche Voraussetzung für Aufmerksamkeit. Der Körper ist vor allem am Beginn und am Ende des Lebens sehr zentral. Und die gesamte Art, wie die Spezies Mensch ihre Welt erfasst, ist durch ihre spezifischen Sinnessorgane und die typische Informationsverarbeitung des Gehirns, beides körperliche Bedingungen, bestimmt. Unsere Welt existiert in dieser Form nur für uns Menschen.
Emotionale Aufmerksamkeit
Differenzierung der Gefühle, Stimmungen aus persönlichen, biografischen Erlebnissen, aktuelle Gefühlsreaktionen, …
Als zweites folgt die emotionale Aufmerksamkeit, die Gefühle. Aus der anfänglich noch von der körperlichen Verfassung bestimmten Einordnung »angenehm« und »unangenehm« differenziert sich die weitere Aufmerksamkeitsebene, die der Gefühle wie Freude, Trauer und Ärger heraus. Einzelne davon werden uns mehr vertraut als andere. Dies macht bald einen Teil des Typischen im Ausdruck des jeweiligen Menschen aus.
Denkerische Aufmerksamkeit
Logik und Regeln, Rollenebene, Auftreten auf den Alltagsbühnen des Lebens wie Beruf, Partnerschaft oder Erziehung nach deren jeweiligen Spielregeln, …
Mit der Sprache entwickelt sich rationale, denkerische Kompetenz. Denken ist dann die Verknüpfung einzelner Ereignisse und Aspekte miteinander. Das Verbinden gemachter Erfahrungen mit aktuell anstehenden Aufgaben bildet den Kern dieser Aufmerksamkeitsebene.
Ich-Konstrukt-Aufmerksamkeit
Selbstbild, Persönlichkeitsausdruck, Bezugsrahmen, Lebensskript, …
Durch wachsende Erfahrung mit sich selbst und mit dem, wie andere auf einen reagieren, werden bald Schlussfolgerungen über das Leben gezogen. Der Ich-Gedanke ist die große Zäsur. Die Eltern freuen sich, wenn das Kind nicht mehr in der dritten Person von sich spricht, sondern »Ich« sagt. Es beginnt der entscheidende Prozess der Schlussfolgerungen über die eigene Person und andere. Der kleine Mensch macht sich einen fundamentalen Reim auf die Welt, auf alles, was er erlebt. Alfred Adler spricht von der »Lebensleitlinie« (Adler 1966), Eric Berne vom Lebensskript (Berne 1972). Das erste Ich-Konstrukt entsteht. Dies geschieht zunächst emotional durch die bedingungslose Liebe zu denen, die ihm das Leben ermöglichen, in der Regel zu den Eltern, und kognitiv mit den kindlichen Fähigkeiten, die noch anders sind als bei Erwachsenen. Sie sind durch vielerlei kind-typische Wahrnehmungs- und Verarbeitungsformen wie das magische Denken geprägt, wie der Entwicklungspsychologe Jean Piaget es hervorragend beschrieben hat (Piaget 1948). Es entstehen Grundlagen einer Selbstbildprägung, die dem Menschen für sein gesamtes Leben ein Strukturmuster für die eigene Person geben: ein erstes Ich, das sich weiterentwickelt und Teile im Unbewussten parkt. Dieses Ich ist eine Konstruktion, ein Lernergebnis, noch strenger ausgedrückt ein Konditionierungsergebnis, und entsteht aus dem Erleben häufiger Zusammentreffen bestimmter körperlicher, emotionaler, denkerischer Reaktionen und der Kommentierung durch die anderen. Somit ist es ein Gewohnheitsergebnis. Man erkennt sich jeden Morgen beim Blick in den Spiegel wieder. Daraus etwas Besonderes, die eigene Identität Beschreibendes zu konstruieren, ist verständlich, aber eigentlich nicht zwingend. Denn die Eltern kennen das Kind genauso wenig wie es sich selbst kennt. Das Geniale, Einzigartige wird häufig unter Schablonen des Funktionierens verborgen. Die Eltern definieren mit dem, was ihnen als Vergleich zur Verfügung steht, eher wild herum und das Kind hört zu. Denn das Ich-Konstrukt befriedigt das Strukturbedürfnis des Menschen (Berne 1963), bleibt aber ein Provisorium, das später achtsame Überprüfung braucht.
Transgenerationale Aufmerksamkeit
Aus der eigenen Sippe, der Kultur, der Familie übernommene Aufträge im Leben, Archetypen, Bezug zu früheren Generationen und nachfolgenden, Kindern, Enkeln, …
Die nächste Aufmerksamkeitsebene geht über das eigene Ich hinaus, ich nenne sie die transgenerationale Ebene. Sie enthüllt sich einem Menschen erst bewusst, wenn er sich aktiv mit ihr beschäftigt. Das Interesse, die Achtsamkeit für diese Ebene kommt den meisten erst in der zweiten Lebenshälfte. Natürlich ist sie von Anfang an virulent, weil die Eltern und andere Familienangehörige sie verkörpern und vermitteln. Sie ist aber meist unterschwellig von Beginn an wirksam. Sie besteht aus Impulsen und tieferen Prägungselementen aus der eigenen Familie, der Sippe (Weber 1993), dem Milieu (Schmid 2011) und der Kultur, wie die indische Wissenschaftlerin Pearl Drego und der italienische Arzt Marco Mazzetti belegen (Drego 2005; Mazzetti 2010). Selbst wenn Menschen sich von ihrer Familie abwenden und deren Werte ablehnen, ist diese mehrgenerationale Ebene vorhanden. Die Ergebnisse der modernen Familienforschung zeigen dies. Die Therapeuten Iván Boszormenyi-Nagy und Geraldine Spark (1973) nehmen eine Art »Hauptbuch der Familie« an, in dem durch Unrecht und Nichtbeachtung immer wieder buchhalterisch offene Posten entstehen, die von späteren Generationen ausgeglichen werden. Der Psychiater Helm Stierlin (1978) prägte die Vorstellung der »Delegate« in den Familien, der emotionalen Vermächtnisse, die über die Generationen weitergegeben werden. Der wegen seiner wenig einfühlsamen Ansprachen umstrittene Familientherapeut Bert Hellinger (2003) und seine Schüler konnten eindrucksvoll die Kraft des Mehrgenerationalen zeigen. Jeder Mensch besitzt ein tiefes Bewusstsein über Familiensysteme, das sich in der teilhabenden Beobachtung in den Familienaufstellungen beweist. Die Mexikanerin Gloria Noriega (2004) belegte die psychische Wirksamkeit der Themen der vorvorgehenden Generation in ihren Studien. In asiatischen Ländern wird dieses Bewusstsein noch um ein weiteres Element ergänzt, das über Familie, Sippe und Kultur hinausgeht, den Glauben an die Reinkarnation (Lama Govinda 2007; Ricard 2007). Reinkarnation ist etwa in Indien ein ganz selbstverständlicher Bestandteil des kollektiven und individuellen Bewusstseins. Konfrontiert mit den Zweifeln der westlichen Welt findet Tendzin Gyatsho, der 14. Dalai Lama, allerdings genauso viele Belege für die Reinkarnation wie er Argumente gegen die Existenz dieses Phänomens sieht (Tendzin Gyatsho, 14. Dalai Lama, 2009).
Nonduale Aufmerksamkeit
Erfahren der Verbindung von Allem, Erfahren der Einheit von Allem, Erfahren der »Leerheit« aller Formen, …
Die oberste Treppenstufe ist die nonduale Aufmerksamkeit. Nondual heißt »nicht zwei« und ist die Aufmerksamkeitsstufe, in der man die Welt stimmig, integriert, nicht mehr in irgendwelche Kategorien getrennt erlebt. Sie zeigt sich den Menschen auf sehr unterschiedlichen Wegen, manchmal in der Meditation, aber auch in der Tiefenentspannung, nach intensiver körperlicher Betätigung, durch Musik, durch die Wirkung einer Landschaft oder eines Gebäudes, aber auch in mancher Alltagsversunkenheit in einem Tagtraum oder im Gebet. Normalerweise führen die Menschen die nonduale Aufmerksamkeit auf das Äußere zurück. Es ist aber nicht das Äußere, sondern das, was in dem Moment innen zur Resonanz kommt. Der Begriff »nondual« vermeidet das Wort »spirituell«, das explizit oder implizit mit bestimmten Religionsvorstellungen assoziiert wird. Denn es geht um eine erfahrbare Ebene und nicht um die Glaubens- (= Denk-) Konstrukte von Religionen. Sicher bemühen sich die mystischen Richtungen aller Religionen, genau diese Ebene zu trainieren. Der Weisheitslehrer Willigis Jäger sieht im Nondualen den übergreifenden, essenziellen Bezug zum großen Ganzen, den alle Weisheitslehren und Religionen auch enthalten. Er unterscheidet dies aber deutlich von den beiden anderen Ebenen der Religion, der um Emotion bemühten Volksreligion sowie der im Denken verwurzelten Theologie und Theodizee (Jäger 2005). So zeigt die nonduale Erfahrungsebene das, worum sich alle Weisheitslehren bemüht haben: diejenigen, die auf einem Gott aufbauen, die, die ohne ihn auskommen und sogar die, für die er tot ist (z. B. Nietzsche), was aber hieße, dass er schon mal gelebt haben müsste. Pragmatisch kann man im erfahrbaren Teil des Nondualen auch die Verbindung zum Strom des Lebens insgesamt sehen, wie ich es in »Coaching und Selbstcoaching« (Mohr 2008) beschrieben habe. Ohne die Einbeziehung der nondualen Aufmerksamkeit gibt es keine Achtsamkeit und keine innere Ruhe. Diese Ebene ist aber zugegebenermaßen nicht so leicht zu beschreiben, weil sie jenseits der Formenwahrnehmung liegt und eher durch längere Übung – etwa in der Meditation – zum Vorschein kommt. Jede Beschreibung stellt bereits eine Form dar, lässt ein inneres Bild entstehen. Sie zeigt sich auch im Alltagsleben, wenn auch nicht laut, sondern eher als zarte Regung und wird dadurch oft nicht bemerkt.
2. Achtsamkeit – Was sie ist und was sie nicht ist
Achtsamkeit ist keine bloße Verlängerung oder Vertiefung der Sinneswahrnehmung, wie sie in zahlreichen Übungen trainiert werden kann. Sie umfasst mehr. »Mindfulness«, wie Achtsamkeit im Englischen heißt, bedeutet, mit dem ganzen Geist (»Mind«) etwas zu erfassen. Dies betrifft das Wesen einer Person, ihre Eigenart, ihren Genius, die oft überhaupt nicht auf der Hand liegen. Insofern ist Achtsam-Werden eine sehr individuelle und für jeden Einzelnen spezifische Aufgabe.
Achtsamkeit
Für Achtsamkeit findet man verschiedene Definitionen. Der Erfinder des MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction), John Kabat Zinn, nennt sie
»offenes, nichturteilendes Gewahrsein von Augenblick zu Augenblick« (Kabat-Zinn 2006, S.35, zit. nach Weiss et al. 2010)
Die »rechte Achtsamkeit« im buddhistischen »edlen achtfachen Pfad« lässt sich nach Auffassung von Weiss et al. (2010) sehen als
»das aufmerksame und unvoreingenommene Beobachten aller Phänomene, um sie wahrzunehmen und zu erfahren, wie sie in Wirklichkeit sind, ohne sie emotional oder intellektuell zu verzerren« (Sole-Leris 1994, S. 26, zit. nach Weis et al. 2010)
Weiss et al. unterscheiden einige Komponenten von Achtsamkeit:
1. Verbunden mit einem bestimmten Modus des Seins
– | Rezeptives Beobachten und Gewahrsein. Innere und äußere Reize werden bewusst bemerkt und wahrgenommen |
– | Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment |
– | Automatische Reaktionen auf innere und äußere Erfahrungen werden unterlassen, im Gegensatz zum »Autopilotenmodus« (Kabat-Zinn 2006) |
2. Eine bestimmte Haltung Erfahrungen gegenüber
– | Akzeptanz: Erfahrungen so akzeptieren, wie sie sind |
– | Nicht-Bewertung: kein gut oder schlecht |
– | Kein konzeptionelles Denken: keine Einordnung der aktuellen Erfahrungen in bestehende Konzepte, auch nicht in vergangene Erfahrungen |
– | Anfängergeist: Dinge betrachten, als würden man sie zum ersten Mal sehen |
– | Zulassen und Erlauben als Gegensatz zu Vermeidung und Unterdrückung von Erfahrungen |
– | Kein Veränderungswunsch |
– | Intentionalität: vorhandene Absicht, achtsam zu sein |
3. Techniken
– | Konzentration und Fokussierung zu innerer Ruhe als Voraussetzung für Achtsamkeit |
– | Etikettieren – Benennen der Erfahrung in einfachen Worte, nicht Konzeptionen |
4. Ziele und Wirkungen
– | Einsicht und Klarheit – Wahrnehmung der Welt |
– | Ruhe, innerer Frieden und Gleichmut |
– | Entwicklung von Freiheit; Befreiung von Leid im umfassenden Sinne |
– | Entwicklung von liebender Güte, Mitgefühl und Mitfreude |
– | Selbstregulation |
– | Präsenz |
– | Ermöglichung neuer Erfahrungen. |
(Weiss et al. 2010, S. 20 ff.)
Manche Menschen erreichen plötzlich Achtsamkeit, ohne viel geübt zu haben. Bei anderen ist es mühsamer, wie es die Zen-Geschichte des großen Meisters Akoshi verdeutlicht.
Er hatte als Zen-Schüler 15 Jahre lang jedes Koan (Rätsel zur Schulung der Geisteskraft) gelöst und während dieser ganzen Zeit asketisch gelebt. Er galt als Vorbild aller Übenden. Allerdings spürte er, dass er die Erleuchtung nicht erreicht hatte. Dies musste auch sein Meister konstatieren. So beschlossen sie, dass er das Kloster verlassen sollte. Er fühlte sich, als wäre er gescheitert. Als er den Klosterbezirk, der direkt neben dem Bordellviertel lag, verließ, dachte er, jetzt komme es auch nicht mehr drauf an und ging zu einer der schönen Frauen, die sich dort anboten. Und als er mit der Frau zusammen war, fühlte er die Erleuchtung. Er wurde ein großer Meister.
Achtsamkeit kennt also viele Wege und sie ist individuell. Achtsamkeit wird sehr unterschiedlich erlebt. Für den einen ist sie tatsächlich Beruhigung, Entspannung, innere Ruhe, und den anderen kratzt sie auf, er bekommt endlich die Energie, seiner Berufung zu folgen. Achtsamkeit ist kein Wellnessprogramm, das auf die bürgerliche Sicherheit aufgesetzt wird. Im Beruf sind wir erfolgreich, die Kinder sind aus dem Haus, das Haus ist abbezahlt, jetzt besorgen wir uns noch Achtsamkeit. Achtsamkeit ist keine Fortsetzung eines unendlichen Entspannungsprogramms. Es ist nicht das permanente »Om« auf den Lippen. Denn der skurrile Auftritt, den manche mit Achtsamkeit verwechseln, trennt von anderen Menschen und lässt so ein wesentliches Moment von Achtsamkeit, die Beziehung zu anderen Menschen, außer Acht.
Achtsamkeit besteht nicht in einem Rückzug aus der Welt. Der Mensch ist ein grundlegend soziales Wesen. Achtsamkeit ist von Mitgefühl oder dem christlichen Begriff »Nächstenliebe« nicht zu trennen. Zur Achtsamkeit gehört die Erkenntnis, dass ausgeprägter Individualismus eine sich zwar verbreitende, aber merkwürdige und unrealistische Sichtweise ist. Ohne andere Menschen, ohne die Beiträge früherer Generationen und auch ohne unsere Umwelt wären wir nichts. Deshalb bedeutet Achtsamkeit auch achtsames Eingreifen in die Welt, jedoch aus einer ›geläuterten‹ Perspektive heraus, die weder gedankenlos noch blind oder etwa hysterisch durch die emotionale Ebene getrieben agiert.
Ab dem mittleren Erwachsenenalter interessieren sich viele Menschen für Spiritualität oder Religion. Vielleicht ist der näher rückende Tod für diese Hinwendung verantwortlich. Das ist in allen Kulturen so. In der traditionell sehr spirituell geprägten Kultur Indiens widmen sich gläubige Hindus nach einem erfolgreichen Berufsleben im dritten Lebensdrittel der Spiritualität. Achtsamkeit ist aber auch hier die intensive Auseinandersetzung mit den kindlich geprägten religiösen Vorstellungen. Da ist vieles auszusortieren, was noch ungeprüft im Unbewussten als wirksame Vorstellung schlummert.
Nach allen Erklärungen, was Achtsamkeit nicht ist, kann man sie viel knapper folgendermaßen beschreiben: Achtsamkeit ist ein ganzheitlicher, bewusster Einsatz der Aufmerksamkeitsebenen. Mit seinem ›inneren Beobachter‹ oder ›inneren Zeugen‹ sieht man das gute Zusammenwirken seiner Aufmerksamkeitsebenen zu einer integrierten Achtsamkeit. Achtsamkeit ist mehr Akzeptanz als Bewertung und Veränderung. Aber akzeptiert man sich erst einmal so wie man ist, entstehen Entwicklung und Veränderung sehr viel leichter. Man hält sich dann nicht mehr mit überlagernden Mustern auf. Der Mensch erfährt seinen individuellen Weg.
Achtsamkeit ist gerade heute ein Weg gegen Burn-out. Achtsamkeit steht dem Sich-Verlieren in der totalen Reizwelt der vielen Pseudoannehmlichkeiten und vermeintlichen Sachzwänge gegenüber.
Übung: »The first appointment of the day«
Mach den ersten Termin morgens mit dir und deiner Aufmerksamkeit. Hol’ dich selbst für den Tag ab. Nimm dir mindestens eine halbe Stunde Zeit, um mit deinem Innersten in Kontakt zu kommen und dich zu zentrieren. Du kannst die verschiedenen Aufmerksamkeitsebenen zu Wort kommen lassen.
Wenn ich diese Übung in Gruppen vorschlage, höre ich vielfältige Proteste, warum das nicht geht. Einer muss Kinder versorgen oder früh zur Arbeit oder ist morgens schlecht drauf oder, oder, oder. Meine Antwort darauf ist: Es geht. Man kann es realisieren. Zur Not geht man abends früher ins Bett.
Mit dem Eigenen zu beginnen, vor allem anderen am Tag, hat viele Vorteile. Man bekommt das Gefühl, schon etwas für sich getan zu haben und jagt dem nicht den ganzen Tag hinterher. Dieser Tagesbeginn mit innerer Aufmerksamkeit ist keine neue Erfindung. In allen Weisheitslehren, ob im Christentum oder im Buddhismus, wird für praktizierende Mönche der Tag mit einer solchen Zentrierung begonnen, bevor die jeweiligen Rollen (Mutter, Berufstätiger, Schüler) den Menschen einnehmen. »So make the first appointment of the day with yourself“
Eine zweite ganz einfache Übung geht in eine ähnliche Richtung.
Übung: Innehalten
Für ein paar Sekunden setzen wir uns aufrecht hin oder, wenn wir unterwegs sind, bleiben stehen oder gehen bewusster, atmen bewusster und konzentrieren uns auf die Freude in unserem Leben. Wir können uns beispielsweise die Menschen vorstellen, die wir lieben.
(nach Matthais Ennenbach)
3. Die Vorteile der Perspektive der Aufmerksamkeitsebenen
Welche Vorteile bietet die Betrachtungsweise der verschiedenen Aufmerksamkeitsebenen? In erster Linie wird der eigene Horizont erweitert. Die Erkenntnis, dass mögliche Aufmerksamkeitsebenen über das übliche Betrachten hinausgehen, ist für viele Menschen neu. Vor allem das Hinnehmen der transgenerationalen und der nondualen Aufmerksamkeitsebene ist ungewohnt und fremd. Für die meisten ist beim Ich Schluss. Andere oder das Ganze sollen Einfluss auf mich haben? Jeder ist doch seines Glückes Schmied. Da ist auch etwas dran, denn jeder liefert seinen Beitrag. Dennoch ahnen viele Menschen, dass es noch mehr gibt.
Zweitens werden Unterschiede und Konflikte verstehbar. Themen des Alltags, des Berufs und der Politik werden von einzelnen Menschen mit sehr unterschiedlichen Aufmerksamkeitsebenen wahrgenommen und mit unterschiedlichem Bewusstsein diskutiert. Die eine Seite argumentiert logisch und rational, etwa mit Zahlen, die andere Seite hat einen emotionalen Bezug, vielleicht aus einem persönlich biografischen Erleben heraus. Treffen solche Menschen aufeinander, können sie in der Kommunikation Probleme bekommen. Man spricht nicht dieselbe Sprache, hat nicht dieselbe Wellenlänge, versteht sich nicht.
Drittens wird eine Perspektivenergänzung ermöglicht. Wer sich die sechs Aufmerksamkeitsformen vor Augen führt, kann manche Fragestellungen differenzierter und klarer auftrennen. So dringt auch die häufige Vermischung von Körper und Gefühl ins Bewusstsein. Körperempfindungen und Gefühle sind etwas deutlich Unterschiedliches, wie der portugiesische Hirnforscher António Rosa Damásio herausgefunden hat (Damásio 2000). Vielen fällt es aber schwer, zwischen Gedanken und Gefühlen zu unterscheiden. Dies ist aufgrund der häufigen Musterbildung aus Körperempfindungen, Gefühlen und Verhalten sowie der oft früh konditionierten Prägung einzelner Verknüpfungen verständlich. Man ›fühlt‹ sich benachteiligt, merkt nicht, dass dies schon eine Bewertung ist, die auf die Gefühlsebene, vielleicht auch auf die körperliche Ebene durchgeschlagen hat. Achtsamkeit bedeutet, dies auseinander zu halten.
»Der größte Trick ist: Sei du selbst«. Dieser Satz stammt von Ruth Cohn, der großen Psychologin und Begründerin der Themenzentrierten Interaktion (TZI), als sie schon alt und weise war. »Sei du selbst!« Das klingt für viele zunächst einfach, wird dann bei näherem Hinsehen aber schwierig. Es führt nämlich zu der Frage: »Wer bin ich denn selbst?«
Die folgende Übung ist eine Annäherung an die oben dargestellten Aufmerksamkeitsperspektiven. Wir stellen uns zu einer bestimmten Lernaufgabe jeweils einen inneren Aspekt der Persönlichkeit vor, wir geben ihm einen Namen und betrachten den Teil, den er zu unserem Leben beiträgt. Die inneren Aspekte können sowohl aktuell in uns vorhanden sein oder aus dem Vermächtnis früherer Generationen stammen oder aus dem eigenen imaginierten Erbe hervorkommen. Hinzu kommt die »weise Person«, die einen Teil der nondualen Ebene verkörpert.
Übung: Wie man die eigene Aufmerksamkeit erfasst
Füge entsprechende Antworten ein.
Formuliere eine Lernaufgabe, die im Moment für dich ansteht:
Stelle dir weiter vor: Wer lernt mit mir?
Welche inneren Ressourcen (deine Stärken, deine Fähigkeiten) hast du beim Lernen? Und stelle dir diese innere Ressourcen als Personen vor.
A. Innere Ressource 1:
Personifiziert (mit einer wesentlichen Eigenschaft):
Name (falls eine Idee dazu da ist):
Welchen positiven Dienst liefert dir dieser Teil in dir?
B. Innere Ressource 2:
Personifiziert (mit einer wesentlichen Eigenschaft):
Name (falls eine Idee dazu da ist):
Welchen positiven Dienst liefert dir dieser Teil in dir?
C. Innere Ressource 3:
Personifiziert (mit einer wesentlichen Eigenschaft):
Name (falls eine Idee dazu da ist):
Welchen positiven Dienst liefert dir dieser Teil in dir?
D. Eine eher problematische Größe, deren Ressourcencharakter noch zweifelhaft ist.
Personifiziert (mit einer wesentlichen Eigenschaft):
Name (falls eine Idee dazu da ist):
Welchen positiven Dienst liefert dir dieser Teil in dir?
E. Eine Person aus deiner Familie, mindestens zwei Generationen zurück, die für dich Lernen verkörpert.
Personifiziert (mit einer wesentlichen Eigenschaft):
Name (falls eine Idee dazu da ist):
Welchen positiven Dienst liefert dir dieser Teil in dir?
F. Eine Person zwei Generationen nach dir, die von deinem »Erbe« profitiert.
Vielleicht gibt es diese Person noch nicht, dann stelle dir jemanden vor. Vielleicht hast du doch ein Bild von ihr.
Personifiziert (mit einer wesentlichen Eigenschaft):
Name (falls eine Idee dazu da ist):
Welchen positiven Dienst lieferst du diesem Teil in dir?
G. Eine weise Frau, ein weiser Mann, von dem du dir vorstellst, dass sie/er dich im Leben begleitet.
Vielleicht hast du noch kein Bild von dieser Gestalt, dann stelle dir jetzt jemanden vor.
Personifiziert (mit einer wesentlichen Eigenschaft):
Name (falls eine Idee dazu da ist):
Welchen positiven Dienst liefert dir dieser Teil in dir?
Setz dich ruhig hin und lass diese inneren Teile von dir in ein Gespräch eintreten.
Einige Leitfragen zur Auswertung dieser Übung:
Wie laut oder stark kommen einzelne Aspekte zum Ausdruck?
Welcher Aspekt korrespondiert mit welchem anderen, reagiert auf diesen?
Welche Aspekte ›arbeiten gut zusammen‹?
Welches Klima entsteht insgesamt?
Welche Änderungen könnten sinnvoll sein?
Welche Aspekte sollen deutlicher hervortreten, welche sollen sich mehr zurückziehen?
Der Südafrikaner Woltemade Hartmann betrachtet die verschiedenen inneren Anteile einer Person kulturübergreifend, sowohl in der westlichen als auch beispielsweise in der afrikanischen Kultur. Er formuliert sieben Fragen, die die Qualität des Zusammenspiels der inneren Persönlichkeitsanteile charakterisieren (Fritzsche und Hartman 2010, 118; Hartman 2011).
1 Kennen die einzelnen inneren Teile einander?
2 Können sie miteinander kommunizieren?
3 Können sie zueinander Empathie zeigen?
4 Können sie Verständnis füreinander äußern?
5 Können sie Erfahrungen zusammen erleben?
6 Gibt es Co-Bewusstheit, gemeinsame integrierte Bewusstheit?
7 Können Erfahrungen – wie in einem guten Team – »in einer Energie« gemacht werden?
Diese Fragen sind vor allem wichtig, wenn erst noch geklärt werden muss, ob und in welcher Form die Anteile als positive Ressourcen taugen. Die innere Achtsamkeit ist die Voraussetzung für äußere Achtsamkeit anderen Menschen gegenüber.
4. Achtsamkeit entwickeln
Die sechs Aufmerksamkeitsebenen (Körper, Gefühle, Denken, Ich-Konstrukt, transgenerational, nondual) sind für die Entwicklung des Bewusstseins ganzheitlicher Achtsamkeit relevant. Wer in seinem Leben an den Punkt kommt, dass er sich selbst weiter entwickeln möchte, der sollte sich all diesen Dimensionen stellen. Menschen können und sollen sich auf allen Ebenen entwickeln. Im Alter bekommen die transgenerationale und die nonduale Perspektive häufig mehr Gewicht. Das ist gut so. Der Zugang zum Bisherigen bleibt erhalten. Was wegfällt, ist eine einseitige Identifikation mit bestimmten Ebenen und das Abwerten anderer Ebenen. Die wesentliche Erkenntnis ist das Erwachen aus der automatischen Fixierung an Körper, Gefühle, Denken und Ego. Insofern findet im Entwicklungsprozess eine Schwerpunktverlagerung statt. Integrative Achtsamkeit benötigt alle Ebenen. Und auf allen sechs Ebenen ist Fortschritt, aber auch Rückschritt möglich.
Abb. 2: Rückentwicklung und Positiventwicklung auf den Aufmerksamkeitsebenen
Es ist auch eine gleichzeitige Entwicklung auf mehreren Ebenen möglich und sogar sehr sinnvoll.
Achtsamkeit ist mehr als Wahrnehmung. Wenn im MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction), einer sehr empfehlenswerten Methode von John Kabat-Zinn, die Menschen eine Rosine bewusst wahrnehmen und genießen lernen, ist das erst einmal Wahrnehmung. Ob es achtsam ist, hängt davon ab, ob die Rosine für den einzelnen gerade wirklich »dran« ist. Achtsamkeit bedeutet, sich darin zu üben, zu erkennen, was im Moment wirklich dran ist. Um das zu bearbeiten, was beim Einzelnen gerade Thema ist, was Achtsamkeit verdient, dafür braucht man alle Ebenen.
Das kann man sich in der Veränderungsarbeit zu Nutze machen. Man stößt auf verschiedenen Ebenen Entwicklungen an und beobachtet das Ergebnis. So wie bei einer Problemlösung häufig nicht die Fokussierung auf das Problem und dessen Ursache hilfreich ist, sondern eine neue Perspektive. Schon Albert Einstein sagte: »Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.« Es gibt auch jede Menge möglicher Kombinationen. Körperliche Probleme bedingen eine Verhaltensänderung und brauchen einen Anreiz auf der emotionalen Ebene. Rückwärtsentwicklungen sind meist Übersteigerungen einer Ebene, die mit der Ausblendung anderer verbunden sind.
5. Bewusstes, Unbewusstes und die Aufmerksamkeit
Grundsätzlich gilt, dass Menschen das Bewusste im Vergleich zum Unbewussten maßlos überschätzen. Der Mensch hält das, was er wahrnimmt, für Realität. Dabei ist das bei näherem Hinsehen nur ein kleiner Ausschnitt und ausschließlich durch die Fähigkeit seines äußeren und inneren Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsapparates bedingt. Menschen kennen sich nicht. Ihnen ist ihr Selbst allenfalls in Ausschnitten bewusst. Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk hat dies mal mit dem Fahrverhalten eines Lastzuges, bestehend aus Lastwagen und Anhänger, verglichen. Man lernt das Verhalten des Anhängers, des Selbst, erst kennen, wenn man mit ihm in die Kurven geht, also das Leben tatsächlich lebt (Stasiuk 1998). Auch die Eltern erkennen nicht ohne Weiteres das Besondere des kleinen Menschen, der ihnen anvertraut wurde. In den meisten Fällen werden die Kleinen mit anderen verglichen und an den Standardaufgaben gemessen: Er läuft früh; er spricht spät; er ist gut im Rechnen und er spielt ganz gerne alleine. Es entsteht der normengerechte Mensch. Der Genius des Einzelnen bleibt oft verborgen.
Es gibt verschiedene Ebenen des Unbewussten, die eine Rolle spielen: das normale Alltagsunbewusste, das, was wir automatisch tun und gar nicht bemerken wie etwa bestimmte Körperbewegungen (Mohr 2008), das implizite Wissen unserer vorsprachlichen Zeit, die großen Lernschritte, die wir persönlich absolviert haben (Allen 2003; Erickson, Rossi und Rossi 2009), das Vergessene und Verdrängte des personalen Unbewussten in den Traumata oder ungelösten Konflikten zwischen eigenem Bedürfnis und Normen (Freud 1999) bis hin zum kollektiven Unbewussten, der langen Reihe von Erfahrungen unserer Sippe, kulturellen Gruppe und der Menschen insgesamt (Jung 1995).
Menschen können offensichtlich nur einen Teil der Aufmerksamkeitsebenen gleichzeitig verarbeiten. Für alles reicht ihre Kapazität nicht. Sie müssen immer fokussieren. Bei Erwachsenen kann man davon ausgehen, dass nur wenige Wahrnehmungen der fünf Sinne im ursprünglichen Sinne rein sind. Sie tendieren dazu, sie immer sofort mit vermeintlich wichtigen inneren Verknüpfungen – sprich früheren Erfahrungen – zu verbinden. Der Schotte Ian Stewart zeigte, dass es bei Erwachsenen eigentlich keine ungetrübten Reaktionen im Sinne des sogenannten natürlichen Kind-Ichs mehr gibt (Stewart 2002). Erwachsene Menschen haben in der Regel zu fast allen Situationen schon Erlebnisse gehabt und Erfahrungen gesammelt. Diese werden dann innerlich ›zu Rate gezogen‹. Deshalb macht es Sinn, die innere Aufmerksamkeit, letztlich das implizit wirksame Gedächtnis, als weitere Wahrnehmungsfläche zu den üblichen Sinnen Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Tasten hinzuzufügen. Dies hatte im Übrigen schon der Buddha vor 2600 Jahren erkannt, wie Paul Köppler (2008) es in seiner Sammlung der Originaltexte von Buddha darstellt. Das Ziel der Achtsamkeitsarbeit ist, die Aufmerksamkeitsebenen wieder möglichst rein, das heißt ohne emotionale Wertung und intellektuelle Einordnung, zu registrieren: Was ist überhaupt da? Was ist davon ein gefühlsmäßiges Bedürfnis und was ist nur ein gelernter Denkprozess?
Auch die moderne Hirnforschung fand heraus, dass bei einer äußeren Sinneswahrnehmung der größte Anteil durch schon vorhandene innere Informationen bestimmt wird. Bei der Verarbeitung einer äußeren Sinneswahrnehmung sind vier von fünf Nervenzellen nach innen auf bisherige schon gespeicherte Informationen bezogen. Dies zeigt sich auch in den unbewussten Gedanken, Bildern und durch Symbolsprache, zum Beispiel im Traum. Alle sechs Aufmerksamkeitsebenen haben bewusste, aber vor allem sehr stark unbewusste Anteile. Dies beginnt schon beim Körper. Viele unserer körperlichen Vorgänge bemerken wir gar nicht. Was in den Zellen des menschlichen Körpers passiert, ist für uns nicht detailliert wahrnehmbar und schon gar nicht unmittelbar beeinflussbar. Viele Körperprozesse passieren von selbst. Wir bemerken sie erst, wenn sie in irgendeiner Form haken und nicht mehr automatisch vonstatten gehen. Generell geht es bei der Arbeit mit den Aufmerksamkeitsebenen darum, das Unbewusste, das sich entwickelt hat, von Überlagerungen zu befreien, quasi zu enthüllen und ins Bewusstsein zu bringen. Das können angenehme Aspekte und Talente sein, die lange schlummern oder sich durch Lebenserfahrung langfristig angesammelt und verdichtet haben. Es zeigen sich aber auch durchaus unangenehme Aspekte des Lebens wie die eigenen Grenzen, vermeintliche Versäumnisse, ungenutzte Chancen. Sogar traumatische Erlebnisse offenbaren sich wieder und es gilt, einen neuen Bezug zu ihnen zu finden. Der Naturwissenschaftler Heinz Hilbrecht hat dies in seiner Analyse von Meditation und Gehirn als »innere Umkehr« bezeichnet (Hilbrecht 2010). Sie kann ein Schritt der Achtsamkeitsentwicklung sein. Auf dem Weg erfährt man in der Meditation verschiedene sogenannte Versenkungsstufen. Aber es tauchen auch die schmerzlichen Anteile des Lebens auf. Parallel dazu müssen die Erfahrungen der sozialen Umwelten und Lebensbühnen (Arbeit, Partnerschaft, Erziehung) verarbeitet werden. Für beides, die innere Einkehr wie die Außenwelt, gilt: Wenn man sich dem Leben und seinen Aufgaben darin stellt, seine Person darin einbringt und dies mit gescheiten und weisen anderen Menschen zusammen auswertet, trägt man zur Achtsamkeit bei und lernt unweigerlich.
Abb. 3: Der Mensch in verschiedenen Situationen
6. Die westliche und die östliche Weisheit
Der indische Adelige Siddhartha Gautama hatte sich, nachdem er Askese, Yoga und viele andere Techniken letztlich ohne den erhofften Erfolg ausprobiert hatte, so lange zur Meditation unter einen Baum gesetzt, bis er die Erkenntnis erlangte. So wurde er der Buddha. Aber diese Erfahrung und Erkenntnis ist nicht nur den großen Weisheitslehrern oder Meistern wie Ramana Maharshi oder Jiddu Krishnamurti oder den westlichen Berichterstattern wie Karl Graf Dürckheim, Willigis Jäger oder Hugo Makibi Enomiya-Lassalle – alle drei hatten aus Aufenthalten in Fernost ihre Erfahrungen mitgebracht – vorbehalten. Jeder kann die Erkenntnis gewinnen. Im 19. Jahrhundert wurde Buddhismus im Westen noch belächelt. Ernst Lothar Hoffmann, der später als buddhistischer Lehrer den Namen Lama Govinda annahm, beschreibt dies in seinem Buch »Der Weg der weißen Wolke« sehr eindrücklich. Heute erkennt man den großen Erfahrungsschatz des Buddhismus, der einer 2600-jährigen Überprüfung durch große Denker und ›Lebenspraktiker‹ standgehalten hat. Zunehmend wird die Ähnlichkeit der Erkenntnisse in westlichen wie östlichen Denkmodellen offenkundig, wie drei Therapeuten im »Achtsamkeitsbuch« beschreiben (Weiss, Harrer, Dietz 2010). Und gerade die Studien neuerer westlicher Wissenschaften wie Psychologie und vor allem Neurophysiologie machen deren Wahrheit auch für den Skeptiker nachvollziehbar. Durch aktive Begegnung hat auch eine Integration in der anderen Richtung stattgefunden. In Asien haben die großen Länder China und insbesondere Indien Elemente der viel stärker zielorientierten und aktiven westlichen Herangehensweise genutzt, um Fortschritte für ihre wirtschaftliche Entwicklung und den Aufbau von Wohlstand für ihre Menschen zu erzielen. Die Welten begegnen sich mit großer Kraft. Das Modell der Aufmerksamkeitsebenen ist insofern inspiriert durch meine eigenen Erfahrungen in der westlichen, wissenschaftlich geprägten Praxis, aber auch durch das Training in der fernöstlichen Betrachtungsweise und in 30 Jahren Meditation und Übung.
7. Die Beziehung der Bewusstseinsebenen
Die Ebenen des Bewusstseins sind miteinander verbunden, können aber auch eindeutige Fokussierungen zeigen. Wenn man körperliche Schmerzen hat, wird diese Ebene sofort dominant und es fällt uns schwer, andere Gedanken zu fassen. Auch eine aus der Familie stammende Vorschrift oder Erwartungshaltung (transgenerationale Ebene) kann so stark sein, dass andere emotionale Gestimmtheiten des Menschen zurücktreten müssen. Jede Ebene hat ihren Wert im menschlichen Leben. Es liegt weitgehend außerhalb und jenseits der Verantwortung des Einzelnen, mit welchen Ebenen er in seinem Leben in Kontakt kommt und welche Form dieser Kontakt hat. Hier spielen seine Lebensumstände eine große Rolle. Und dies gilt sowohl biografisch bezüglich seiner Herkunft, Schicht und Bildungsmöglichkeiten, aber auch bezüglich des aktuellen Kontextes, der einen Sog für die Aufmerksamkeit ausübt. Wenn ich mich mit hundert Prozent meiner Energie auf ein berufliches Projekt konzentriere, werde ich von dieser Logik voll und ganz bestimmt. Wohl gemerkt, es ist nicht falsch, im Beruf positiv wirksam zu sein. Aber durch einseitige Fixierung auf den Beruf findet man nicht zu integrierter Achtsamkeit und ganzheitlicher Erkenntnis. Dies gilt genauso für andere einseitige Orientierungen. Gerade Weisheitslehren verordnen gerne Askese. Der Zölibat der katholischen Priester beispielsweise fußt auf der Idee, dass dann die Konzentration auf den spirituellen Auftrag leichter fällt. Ganz im Gegensatz dazu wird von einem jüdischen Rabbi erwartet, dass er Erfahrung in Familie und Kindererziehung hat, da er nur dann für diesbezügliche Fragen ganzheitliche Achtsamkeit entwickeln kann.
Gelingt uns wirkliche, ganzheitliche Erkenntnis, so wird sie Einfluss auf die gesamten Ebenen haben und etwa den Umgang mit dem eigenen Körper positiv beeinflussen. Man wird sich vielleicht gesünder ernähren, sich angemessen bewegen und auf seinen Körper hören. Aber auch die transgenerationale Ebene muss mitspielen. Denn solange beispielsweise ein neues Verhalten einen Verstoß gegen die Regeln der »Ahnen« darstellt, besteht ein Hindernis. Wenn etwa in früheren Generationen gehungert wurde, wird es einem Menschen – obwohl es für ihn gesünder wäre – vielleicht ungeheuer schwer fallen, Essen einmal stehen zu lassen. Ein anderes Verhalten wird zunächst kaum eine Chance im Verhaltensspektrum eines Menschen haben. Eine große innere Kraft wirkt dem entgegen. Erst wenn die Aufmerksamkeit auf die transgenerationale Ebene gelenkt wird und auf dieser Ebene eine Verständigung erreicht wird, kann es auch auf den aktuell konkreten Ebenen wie Körper/Verhalten und Denken vorangehen.
Grundsätzlich gilt: Persönlichkeitsentwicklung funktioniert nur durch die Kombination unterschiedlicher Ebenen und auch durch einen deutlichen Perspektiv-Wechsel auf eine höhere Ebene.
8. Vom Umgang mit anderen
Der auf Beziehungen spezialisierte Religionsphilosoph Martin Buber hat einmal darauf hingewiesen, dass es wenig echte Begegnung zwischen Menschen gibt. Menschen verbringen zwar oft sehr viel Zeit miteinander. Sie interessieren sich aber nicht wirklich für den anderen. Sie wollen sich oft nur mit dem anderen vergleichen (Buber 1983). Das fühlt sich vielleicht manchmal gut an, wenn man sieht, dass es einem nicht schlechter geht als dem anderen. Aber dieses Vergleichen akzeptiert weder die Einzigartigkeit der Menschen noch lässt sie eine Begegnung auf der gemeinsamen Tiefenebene zu.
Der berühmte Dirigent des Bostoner Symphonieorchesters Benjamin Zander hat all seinen Schülern die Note Eins gegeben. Das wäre ein gutes Vorbild für den Umgang mit anderen. Denn wenn man alle Menschen vorbehaltlos annimmt und ihnen die Note Eins gibt, kann man die Schönheit des anderen in seinem Tun erkennen. Man kann zusehen, wie sie wachsen und bekommt in der Regel Dank zurück. Aber Zander hat seinen Studenten dazu eine kleine Aufgabe gestellt: Was müsstest du im Semester tun, damit die Eins gerechtfertigt ist? Die Studenten haben dann ihren eigenen Weg zur Eins erarbeitet und – man höre und staune – auch eingehalten.
Anteilnahme und Interesse an der Lebensgestaltung anderer wäre eine lohnende Einstellung, insbesondere für Führungskräfte. Diese Eigenschaften zeigen aber nur ganz wenige, weil sie sich eigentlich nicht für Menschen und deren Lebendigkeit interessieren, sondern nur für Abstraktes wie Zahlen und Fakten.
Aber Vorsicht: Es geht nicht um Identifikation. Mitgefühl bedeutet nicht, sich im Gefühl des anderen zu verlieren. Bleib bei dir, während du mit dem anderen bist, so heißt die Devise. Die eigene Achtsamkeit sollte weiterhin im Fokus stehen. Das heißt, es gilt immer wieder, zu den eigenen Bedürfnissen und eigenen Gefühlen zurückzukommen. Die geben den Standort an. Was fühle ich gerade? Welches Bedürfnis zeigt sich darin? Dann kehrt man zu sich selbst zurück, nimmt sich selbst achtsam wahr. Man verschwimmt nicht mit dem anderen, sondern kann ihm gegenüber einfühlsamer, gelassener und besonnener reagieren.
Gerade im Arbeitsleben werden integrierte Achtsamkeit und innere Ruhe immer wieder auf eine harte Probe gestellt. Ich habe in dem Buch »Systemische Organisationsanalyse« (Mohr 2006) ausführlich beschrieben, was in Organisationen alles denkbar ist. Sie können für die beteiligten Menschen sorgen, ihre Kreativität fördern und ihnen befriedigende Arbeitsplätze bieten. Sie können aber auch Menschen ausbeuten, wenn sie als reine Produktionsfaktoren betrachtet werden. In Organisationen passiert eine Menge, was man als Zeitvertreib und Beschäftigungstherapie bezeichnen könnte. Organisationen sind wie Gesellschaftsspiele. Es gibt Regeln und Figuren, die bestimmte Züge vollziehen dürfen. Andere hingegen dürfen nicht dieselben Spielzüge nehmen. Die Regeln können sich abrupt und mehrmals ändern – auch diese Vorstellung ist durchaus noch real. Es erinnert an das große Lebensspiel Leela, wie es im Hinduismus für das gesamte Zusammenspiel der Menschen beschrieben ist. Menschen mit unterschiedlichsten Persönlichkeiten werden in einen Kontext gestellt und man schaut, was dabei herauskommt. Das versucht man in Organisationen natürlich durch strukturelle, formale und rechtliche Regelungen zu kanalisieren. Dennoch bleibt der Spielcharakter erhalten. Das Ziel in Organisationen ist oft viel eher die Profilierung Einzelner als der Gewinn oder der Fortschritt des Ganzen. Organisationen sind auch nicht vor Verrücktheit geschützt (Ahlers-Niemann et al. 2008). »All organizations are crazy.« (»Alle Organisationen sind verrückt.«), so formulierte es mir gegenüber einmal ein Mensch aus dem Orient. Meine deutsche, ordnungsliebende, transgenerationale Aufmerksamkeit wollte schon protestieren: So kann man das doch nicht sehen! Aber wenn eine Firma beispielsweise eine sehr kriegerische Mentalität hat, dann wird ein echter Kampf geführt und jeder, der intern nicht stromlinienförmig mitzieht, wird bedroht. Die Regeln des jeweiligen Spiels können eine gleichzeitig vom Menschlichen verschobene und sehr bindende Form haben. Die Frage ist: Wie verhält man sich in einer solchen Organisation, wenn man das Spiel durchschaut, aber dennoch gezwungen ist, weiter mitzumachen? Natürlich nimmt man weiter am Spiel teil. Schließlich müssen sich die meisten Menschen durch Arbeit in Organisationen materiell versorgen und absichern. Aber man sollte sich weder innerlich noch äußerlich (z. B. durch finanzielle Verschuldung im Privatbereich) abhängig von einem bestimmten Arbeitsplatz machen. Und man sollte deutlich zwischen Arbeitsplatz und ›Einkommensplatz‹ unterscheiden. Menschen brauchen einen Einkommensplatz. So war es immer. Dafür haben Menschen lange Zeit sogar Sklaverei in Kauf genommen. Ob sie dort auch ihre persönliche Produktivität zeigen können, hängt von der Anerkennung ab, die sie durch diese Tätigkeit erfahren. Vielleicht kann der eigene Genius besser auf anderen Lebensbühnen gezeigt werden. Dies haben Menschen immer gemacht, sobald sie die Chance zu ›kleinen Fluchten‹ hatten.
Hinzu kommt, dass sich viele aus dem Gemeinschaftsbedürfnis und dem Sicherheitsbedürfnis, das Menschen mitbringen, mit »ihrem« Unternehmen oder »ihrer« Institution identifizieren. Firmen fordern das immer wieder. Aber es ist ein Fehler. Aus der Perspektive der integrierten Achtsamkeit heraus ist einseitige Identifikation, gar mit einem künstlichen Konstrukt wie einer Organisation, falsch. Engagement ja, aber keine Identifikation, sondern konstruktiv-kritische Distanz ist angesagt. Gerade die Identifizierten sehen oft nicht die ›Kollateralschäden‹, die Organisationen verursachen. Ihr eigenes Burn-out ist zum Beispiel so ein ›Nebeneffekt‹. Wenn man spürt, dass es auf Dauer nicht gut tut, in einer Firma zu bleiben, dann sollte man eine Organisation verlassen. Der Verstand wird nicht nur durch Arbeit stimuliert, sondern beschäftigt sich auch ständig damit, dass man sich die täglichen Verrücktheiten vom Hals halten muss. Hier den Helden zu markieren, macht wenig Sinn. Die Cleveren formulieren Lippenbekenntnisse. Die Überlegten bleiben innerlich in angemessener Distanz und sorgen dafür, dass ihr Frieden nicht genommen wird. Die neuere Reifeforschung für das Erwachsenenalter zeigt, dass man sich über das Niveau bestimmter Organisationen menschlich hinausentwickeln kann, sodass man dort nicht mehr arbeiten kann (Loevinger 1985; Binder 2010). Jane Loevinger verdanken wir eine wissenschaftliche Analyse der Entwicklung von erwachsenen Menschen. Interessant ist, dass diese kaum eine Differenz zu alten Weisheitsentwicklungswegen ergibt. Aber: Man kann persönlich zu weit sein, um in bestimmten Organisationen zu arbeiten. Es geht nicht mehr alles. Grob ausgedrückt: Bestimmte Organisation sind für einen selbst dann quasi zu blöd.
Übung: Wie man die eigene Aufmerksamkeit erfasst
Nun übe noch einmal den Zugang zu deinen Aufmerksamkeitsebenen, indem du dir verschiedene Themen wachrufst. Nimm dir folgende Leitsätze zu Hilfe oder wandele sie so um, dass sie für dich stimmen.
Zunächst kehre zur nondualen Aufmerksamkeit zurück:
Ich bin Teil des ganzen Lebens. Und das Leben durch das Fenster des Menschen zu sehen, ist ein kostbares Geschenk. Ich weiß nicht genau, was auf mich zukommt. Aber der Tag gibt mir Möglichkeiten, mich dabei zu erleben und einzubringen. Es wird für mich gesorgt. Ich bin nicht allein. Ich bin verbunden mit allen Lebewesen. Wir wirken alle zusammen. Im Grunde will alles Leben das Leben fördern. Ich begegne auch anderen Menschen so, dass ich das Schöne, das Leben in ihnen sehe. Das ist der Kern von »Ich bin o.k. Du bist o.k.«
Aufmerksamkeit auf der mehrgenerationalen Ebene:
Ich bin mit meiner Mutter und bin mit meinem Vater. Sie sind bei mir. Alle stehen hinter mir, auch die Ahnen der Familie. Viele stehen hinter mir und viele werden kommen. Es ist eine große vertikale Verbindung.
Aufmerksamkeit auf der Ich-Ebene, meinem Persönlichkeitskostüm:
Ich nehme mich mit den Fähigkeiten und Begrenzungen, die ich habe, an. Ich nehme meine Ich-Stärke, die mich auch schützt. Ich freue mich über meine Fähigkeiten, hadere nicht mit meinen Grenzen und entdecke mich selbst. Ich liebe mich.
Aufmerksamkeit auf der Denk-Ebene:
Ich nehme meine Fähigkeit an, zu denken und logische Zusammenhänge zu erschließen. Ich werde in meinen Fähigkeiten, mich aufmeine Lebensbühnen und Rollen welten zu beziehen, weiter dazulernen.
Aufmerksamkeit auf der Gefühls-Ebene:
Ich nehme meine Sensibilität an und bekämpfe sie nicht. Sie ist Teil meiner Art. Ich registriere Gefühle, hafte aber nicht an ihnen.
Aufmerksamkeit auf der Körper-Ebene:
Ich nehme meinen Körper so, wie er im Moment ist. Ich pflege meinen Organismus als das körperliche Fahrzeug, mit dem ich mich durchs Leben bewege.