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1. Grundlage: Systemische Organisation



1.1 Die neue Qualität der wirtschaftlichen Entwicklung

Ein Bote des Teufels kommt von einem Besuch bei den Menschen zurück und berichtet dem Teufel: »Luzifer, bei den Menschen ist eine gute Idee entwickelt worden, die den Menschen Heilung und Glück bringen kann. Wir müssen etwas unternehmen. Was soll ich tun?« Da antwortet Luzifer: »Sorge dafür, dass die Idee organisiert wird!«

Organisationen haben durchaus etwas Zwiespältiges. Man kann eine gute Idee organisieren, damit aus ihr etwas wird. Eine Organisation kann aber auch zum Selbstzweck, zum Hemmschuh werden und die gute Idee ruinieren.

Organisationen sind so vielfältig wie die Menschen, die in ihnen arbeiten. [DAS VIELFÄLTIGE AN ORGANISATIONEN] Es gibt die Familienunternehmen, die schon seit vielen Generationen bestehen und auf Tradition und Beständigkeit aufbauen. Es gibt die Konzerne, die viele Zehntausend Menschen beschäftigen und oft eine ganze Region ernähren. Es gibt Verwaltungsapparate, an denen Luzifer seine wahre Freude hätte und es gibt die Start-Ups, die täglich neu gegründet werden und – da genügt ein Blick in den Bundesanzeiger – auch täglich wieder Pleite gehen. Trotz aller Bestrebungen, sich mittels Benchmarking an Messlatten von vermeintlich Besten zu orientieren und diese zu kopieren, sind die unterschiedlichsten Formen von Unternehmen erhalten geblieben und existieren nebeneinander. Aber alle haben einen gemeinsamen Kern: eine charakteristische Tiefenstruktur mit den dort wirksamen Dynamiken.

In diesem ersten Kapitel geht es um Grundfragen:

• Wie kann man aus der systemischen Perspektive die Organisation betrachten?

• Welche Systematik hilft, eine Organisation zu erfassen?

• Wie prägen die Dynamiken, die Organisationen entstehen lassen, das Handeln in Organisationen?

In sieben Schritten wird durch diese Fragestellungen geführt. Sie können sich selbst dem Thema nähern, indem Sie für sich klären, welche Bilder von Organisationen und anderen sozialen Systemen Sie selbst haben. Sie können für sich prüfen, worauf Sie die Entwicklung von Firmen, Institutionen und anderen Organisationen zurückführen.

Ein kritischer Punkt

Unternehmen sind an einem kritischen Punkt angelangt. Daten wie Umsätze, Gewinne und Aktienkurse beschreiben die tatsächlichen Verhältnisse in Unternehmen und ihre Leistungsfähigkeit nur noch unzureichend. Einerseits geben diese Daten aufgrund ihrer rückwirkenden Betrachtung nicht die entscheidungsrelevanten Informationen. Andererseits sind sie sehr interessengeleitet. Das zeigen Mogeleien an den Bilanzen, die immer wieder aufgedeckt werden und die Glaubwürdigkeit des Zahleninstrumentariums und sogar des unternehmerischen Tuns generell in Frage stellen.

Doch die Zahlen sind nicht das einzige Problem. [DER MEDIALE AUFFÜHRUNGSDRUCK] Nachrichten über eine Firma sind immer nur die Spitze eines Eisberges, selbst wenn sie bei Unternehmen, die stark in der öffentlichen Beobachtung stehen, fast täglich erscheinen. Der große Teil des Unternehmens ist das, was unter der Oberfläche verborgen bleibt, mit seinen so unterschiedlichen Dynamiken. Diese haben oft eine Qualität, dass man sich wundert, wie in diesen Organisationen tatsächlich Ertrag produziert wird.

Was hier über Wirtschaftsunternehmen gesagt wird, lässt sich auf andere Organisationen wie Behörden oder soziale Organisationen übertragen. Der Begriff Unternehmen bezeichnet jedoch einen wesentlichen Aspekt der hier betrachteten Dynamiksysteme. Eine Unternehmung ist das aktive Angehen einer konkreten Fragestellung mit dem Ziel, dabei Erfolg zu erlangen. Organisation beleuchtet zunächst mehr die gewählte Form des Zusammenwirkens mehrerer in Richtung auf ein größeres Ziel, das ein Einzelner nicht alleine erreichen kann. Mittlerweile haben sich beide Begriffe in der Praxis aufeinander zu bewegt.

Viele Nichtwirtschaftsorganisationen integrieren unternehmerisches Denken. [NEUE QUALITÄT DER WIRTSCHAFTLICHEN ENTWICKLUNG] Im Folgenden wird der Begriff Unternehmen für ein sehr weites Spektrum von Organisationen gebraucht. Dies beinhaltet Wirtschaftsunternehmen wie auch öffentliche und soziale Organisationen.

Global denken – lokal handeln

Die heutige Form der Globalisierung ist ein Faktum, das es in der jetzigen Form noch nicht gab. Die ihr zugrundeliegende technologische Entwicklung produziert im Gegensatz zu früheren internationalen Wirtschaftsentwicklungen neue Bedingungen. Denen kann sich heute kaum eine Organisation mehr entziehen. [WELTGESELLSCHAFT] Der Soziologe Ulrich Beck beschreibt das Kräftespiel, das sich entwickelt hat: »Wir leben in einer multidimensionalen, polyzentrischen, kontingenten, politischen Weltgesellschaft, in der transnationale und nationalstaatliche Akteure Katz und Maus miteinander spielen.« (Beck 1997, 195) Die Akteure sind Unternehmen, Staatsregierungen, überstaatliche politische Institutionen (EG, UNO, …), NGOs (Greenpeace, Amnesty International, attac, …). [NON GOVERNMENTAL ORGANISATION (NGO)] Das Gewicht einzelner Unternehmensleitungen im Vergleich zu beispielsweise demokratischen staatlichen Organen hat sich massiv verschoben. Der Einfluss der Unternehmen ist gewachsen.

Institutionen, die in der Lage sind, das Kräftespiel zu regeln, fehlen zur Zeit noch. Beck spricht davon, dass ein global desorganisierter Kapitalismus entsteht, für den es keine hegemoniale Macht und kein internationales Regime – weder ökonomisch noch politisch – gibt. Die Verwobenheit der Kräfte bringt auch neue Tätigkeitsfelder für Organisationen. Zum Teil können die NGOs Probleme anpacken, die sich Nationalstaaten aus Rücksichtnahme nicht zu benennen trauen. Insgesamt erhöht die aktuelle Globalisierung die Komplexität des Umfeldes für alle Organisationen.

1.2 Die Tiefenstruktur eines Organisationssystems

Eine Organisation entsteht, wenn ein Einzelner oder eine Gruppe von Personen sich entschließt, ein größeres Ziel zu erreichen, das ein Einzelner nicht schaffen kann. [EIN ORGANISATION ENTSTEHT] Dieser Prozess der Organisation lässt sofort zusätzlich ein System von Beziehungen entstehen. Der Begriff System bedeutet ein wechselseitiges Aufeinanderwirken der Menschen in einem Beziehungsnetz. Dies betrifft auch die unterschiedlichen Zielvorstellungen, Herkünfte und Interessen der Menschen. All diese Aspekte sind für die Beteiligten nur zu einem Teil wahrnehmbar. Die systemische Wirkung dieser Verschiedenheit und Vielschichtigkeit ist jedoch der Startpunkt einer Tiefenstruktur der Organisation. Unbewusst vereinbart man sich quasi, dass bestimmte Dinge offen verhandelt werden. Andere werden außen vor gelassen, wieder andere sind gar nicht im Blickfeld, so dass sie automatisch ausgeblendet werden. [EINE TIEFENSTRUKTUR AUS MUSTERN UND DYNAMIKEN] Diese Struktur der Organisation aus teils in der Aufmerksamkeit und teils nicht direkt im Fokus stehenden Elementen ergibt eine für jede Organisation charakteristische Mischung. Neben der offenen Oberflächenstruktur gibt es eine Tiefenstruktur, die auch aus Mustern und Dynamiken besteht, die das Denken und Fühlen und daraus resultierend das Handeln der Systemmitglieder bestimmen. Wer neu in eine Organisation kommt, hat oft noch einen verwunderten Blick für diese als »Selbstverständlichkeit« existierenden Muster. Wenn man ein Organisationssystem tatsächlich beeinflussen will, muss man an die Tiefenebene heran. [DIE TYPISCHE CHARAKTERISTIK] Die Tiefenstruktur und auch die Relation zwischen der offiziell in Verlautbarungen gepflegten Oberflächenstruktur und der Tiefenstruktur bestimmen jenseits aller Organisationsdiagramme, Firmenbroschüren und Leitlinien die eigentliche Dynamik eines Unternehmens- oder Organisationssystem. Wie bei einem Eisberg sind für ein Unternehmen sehr unterschiedliche Tiefenschichten relevant.

Das System als eigenständiger Beziehungspartner

Insbesondere für größere Unternehmen gilt, dass sogar das System ein eigenständiger Beziehungspartner jenseits der einzelnen Personen wird. Die im Unternehmen Arbeitenden bauen eine Beziehung zu der Gesamteinheit Unternehmen auf. Aus den unterschiedlichen Perspektiven jedes Beteiligten wird eine Ganzheit des unternehmerischen Systems wahrgenommen und »das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«, wie Aris toteles vermerkte. Die Tiefenstruktur kann von unterschiedlichen Personen unterschiedlich bewertet werden. Ein Humansystem selbst entwickelt bestimmte Gewohnheiten und sogar eine bestimmte »geistige Kraft«. Diese trägt sich weiter, auch wenn einzelne Personen wechseln. Dieser Geist der Tiefenstruktur wird zwar geschaffen durch die beteiligten Kräfte, er ist aber auch unabhängig von ihnen. Auch beispielsweise ein Wechsel im Topmanagement hat hier kurzfristig nur begrenzten Einfluss. [DIE ESSENZ DES HUMANSYSTEMS] Manchmal scheint es sogar so, als wäre einem Unternehmen die geistige Kraft regelrecht abhanden gekommen. Wenn man in diese Firmen kommt, wirken alle bezüglich des Unternehmens hoffnungslos. Man macht zwar sein Tagwerk, aber ein »wofür« ist nicht mehr klar. Es ist keine geistige Kraft mehr für das Unternehmen da. Alle versuchen noch irgendwie durchzuhalten, aber das Leben und die Ausstrahlung ist verloren gegangen. Die geistige Kraft eines Unternehmens kann mehr oder weniger stark sein. Sie kann sogar zum Erlöschen gebracht werden. Dies ist manchmal sehr schnell spürbar, wenn Menschen über ihr Unternehmen sprechen.

Jeder Mensch, der an einem Organisationssystem in irgendeiner Weise beteiligt ist, gestaltet mit an der gemeinsamen Ausstrahlung dieses Systems. Er bringt sich selber als Person mit seiner Persönlichkeitsstruktur ein. Dabei hat natürlich nicht jeder den gleichen Einfluss. Macht ist ein sehr wirksames Systemphänomen in Organisationen (siehe dazu auch Kap. 2.3). Sie kann genutzt oder missbraucht werden. Der Geist eines Systems kann eine Zeitlang von einer führenden Person bestimmt werden. Diese bestimmt dann alles, aber nur, wenn die anderen sie gewähren lassen.

1.3 Organisationssysteme im Unterschied zu anderen Systemen

Ein Organisationssystem unterscheidet sich von anderen Systemen, etwa der Familie. [VERTRÄGE ALS CHARAKTERISTIKUM EINES ORGANISATIONSSYSTEMS] Die Zugehörigkeit im Organisationssystem beruht auf Verträgen, nicht auf Verwandtschaft oder Elternschaft. Dennoch ist schon dieser Aspekt oft kaum zu spüren, da genau das Familienbild für die meisten Menschen die erste Erfahrung eines Systems ist und deshalb zur Übertragung reizt. Das »unternehmerische« am Organisationssystem legt den Fokus auf das größere Ziel, eine Dienstleistung zu kreieren, ein Produkt herzustellen oder eine andere Aufgabenstellung gemeinsam anzugehen. [DAS UNTERNEHMERISCHE EINES ORGANISATIONSSYSTEMS] Die sogenannten Nonprofit-Unternehmen werden heute ihrem Pendant, den Profitunternehmen, die offen Gewinnerzielung propagieren, zunehmend ähnlicher. Nonprofit-Unternehmen versuchen sich klarer an bestimmten Zielen zu orientieren und versuchen auch ihre Geld- und Ressourcenströme mehr an betriebswirtschaftlichen Prinzipien zu orientieren.


Abb. 1

Erwartungen an Organisationen

Von Organisationen handelt auch die Geschichte des indischen Weisheitslehrers Jiddu Krishnamurti. [ORGANISATIONEN UND DAS SEELENHEIL] Die theosophische Gesellschaft war Anfang des 20. Jahrhunderts eine große spirituelle Gemeinschaft, die das Gemeinsame der großen Religionen verbinden und dadurch den einzelnen Menschen zum Heil führen wollte. Krishnamurti wurde als junger Mann in Indien aufgrund seiner Ausstrahlung, die er schon als Kind und Jugendlicher besaß, von der theosophischen Gesellschaft entdeckt und dann an den besten Schulen Englands ausgebildet. Man versprach sich von ihm, dass er ein zweiter Messias werden könnte. Als er dann später in den 1920er Jahren zum Präsidenten der theosophischen Gesellschaft gewählt worden war, richtete man einen großen Kongress aus. Auf diesem Kongress stand Krishnamurti auf und sagte: Erstens bin ich kein Messias. Davon müsst ihr euch verabschieden. Zweitens löse ich kraft meines Amtes als Präsident der theosophischen Gesellschaft diese auf, denn eine Organisation kann nicht das Seelenheil des einzelnen erreichen. Dies kann er nur selbst tun.

In Krishnamurtis Organisation wurde seine Botschaft nur von der Hälfte der Mitglieder begeistert aufgenommen. Die andere Hälfte nahm ihm das sehr übel und setzte ihre Organisationsaktivitäten fort. Die Anhänger Krishnamurtis fanden eher zu besonderen Anlässen und in loser Form zueinander. Heute würde man von einem Netzwerk sprechen, auch eine Form von Organisation.

Wesentlich daran ist die Aussage, dass die Organisation dem Individuum nicht seine Verantwortung abnehmen kann. Dennoch können Organisationen sehr viel dafür tun, dass das Leben von Menschen reichhaltiger wird. Organisationen haben eine hohe Verantwortung für die Menschen. Sie auf das reine Jonglieren von Zahlen zu begrenzen, wie es bestimmte Wirtschaftstheorien – gut gemeint zur Komplexitätsreduktion – suggerieren, blendet wesentliche Auswirkungen von Organisationen aus. [DAS LEBEN REICHHALTIGER MACHEN] Schließlich verbringen Menschen in Organisationen eine Menge Lebenszeit. Dort werden Beziehungen gepflegt, wird Selbstbewusstsein bezogen und Lebensunterhalt erwirtschaftet. In diesen Bereichen können Organisationen für die Menschen sehr viel bewirken. Dies betrifft Mitarbeiter wie auch Kunden der Organisation, bei großen Organisationen ganze Staaten.

1.4 Das Modell der Organisationssysteme

Um die Komplexität im Unternehmen, um die Dynamik des Systems fassen und beeinflussen zu können, ist eine Klassifizierung hilfreich. Vier Kategorien von Betrachtungsperspektiven helfen bei Organisationssystemen:


Abb. 2

– die Systemstruktur

– die Systemprozesse

– die Systembalancen

– die Systempulsation

Die Systemstruktur: Aufmerksamkeit, Rollen und Systembeziehungen (A, R und S)

[AUFMERKSAMKEIT] Die Systemstruktur enthält die Systemaspekte, die als strukturelle Bedingungen wirken. Wir beginnen mit der grundlegenden Dimension der Aufmerksamkeit: Wohin wird in einer Organisation die Aufmerksamkeit gerichtet? Jede Organisation hat zu einem bestimmten Zeitpunkt ihre wesentlichen Themen. Dort geht die Aufmerksamkeitsenergie hin. Insgesamt entsteht eine herrschende Wirklichkeitskonstruktion in diesem Unternehmen. Die kann richtig oder falsch, einheitlich oder chaotisch, klar oder nebulös sein. Auch die Elemente des normativen, strategischen und operativen Managements bekommen je nach Unternehmen ihre spezifische Aufmerksamkeit. Offizielle Struktur und Identitätsvorgaben stehen mehr oder weniger mit der tatsächlich gelebten Kultur im Spannungsverhältnis. Die herrschende Aufmerksamkeit ist der härteste Investitionslenker in Organisationen.

Die Struktur eines Unternehmen findet außerdem ihren äußeren Ausdruck in den vorhanden Rollen. [ROLLEN] Sie zeigen eine für jeden sichtbare Oberflächenstruktur einer Organisation. Die Rollen werden durch Personen ausgefüllt und werden dadurch in ihrer Qualität durch die Personen und ihre spezifischen Persönlichkeitsstrukturen mit Leben gefüllt. Andererseits wird auch eine Persönlichkeit in einer Organisation nur so wirksam, wie sie mit einer bestimmten Rolle verbunden wird.

Neben den Rollen charakterisieren die spezifischen Beziehungsstrukturen ein System. [SYSTEMBEZIEHUNGEN] Beziehungen bestehen zunächst auf der Rollenebene, sind aber ebenfalls auf der Ebene der Persönlichkeiten relevant. Wie stark die Rollenebene die Beziehungen und die Persönlichkeitsebene prägt, charakterisiert wiederum die einzelne Organisation. Hier gibt es sehr unterschiedliche Kulturen.

Die Systemprozesse: Kommunikation, Problemlösung und Erfolg (K, PL und E)

Es existieren drei grundlegende Prozesse, die in jedem unternehmerischen System beherrscht werden müssen. Alle Veränderungen und alle Beziehungen werden durch Kommunikation praktisch in Szene gesetzt und gestaltet. [KOMMUNIKATION] Ohne Kommunikation läuft in einem Unternehmen nichts. Der Organisationssoziologe Niklas Luhmann definiert Organisationen gar als Kommunikationszusammenhänge. Dennoch zeigt die Praxis: Wenn man gerade Veränderungsprozesse betrachtet, wird der Dynamik von Kommunikationsprozessen oft zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Der zweite grundlegende Prozess ist die Problemlösung. [PROBLEMLÖSUNG] Organisationssysteme haben die zentrale Aufgabe der Problemlösung. Dies beginnt schon bei der grundlegenden unternehmerischen Leistung, Lösungen für die Herausforderungen des Marktes zu produzieren. Dabei etablieren sich in jedem Unternehmen spezifische Muster, wie an Probleme heran gegangen wird. Ein Extrembeispiel dazu ist die Haltung »Bei uns gibt es keine Probleme«. Die Art, Entscheidungen zu fällen, genauso wie die Art, mit Konflikten umzugehen, sind charakteristische Problemlösungsmuster für eine Organisation.

Im dritten Systemprozess spiegelt sich die Erfahrung: [ERFOLG] »Keine Organisation kommt langfristig ohne Erfolge aus.« Alle Zielsetzungsprozesse machen nur im Zusammenhang mit Erfolgsprozessen Sinn. Die Handhabung der Erfolgsdynamik ist ein zentraler Ansatzpunkt für Energie und Motivation im unternehmerischen Handeln.

Die Systembalancen: Gleichgewicht und Rekursivität (Gg und R)

Lebende Systeme zeigen ein grundlegendes Streben nach Ordnung, Sicherheit und Überleben. [INNERE BALANCE-MUSTER VON ORGANISATIONEN] In Gleichgewicht und Rekursivität (dem sich Wiederholen von Mustern auf unterschiedlichen Ebenen der Organisation) werden wesentliche Prinzipien der Entwicklung von unternehmerischen Systemen deutlich. Diese Grundtendenz sagt noch nichts über die Qualität des Gleichgewichts aus. Die zuletzt so oft beschworene stetige Veränderung muss den Menschen immer wieder nahegebracht werden. Es ist nur die eine Seite der Entwicklung und viele erhoffen bei Veränderungen eigentlich nur die Ruhe danach. Möglichst ein Gleichgewicht zu erringen, ist eine Kraft in Systemen. Auch Visionen und Zielpunkte sind vorgestellte Gleichgewichte. Man macht sich mit diesen Instrumenten die Gleichgewichtstendenz zunutze. Häufig sind Gleichgewichte auch rückwärtsgewandt. Das, was einmal war, wird verklärt und erscheint als nostalgisches Gleichgewicht in der Erinnerung.

Die Rekursivität bezieht sich auf den Aspekt, inwieweit Systeme auf unterschiedlichen Ebenen gleiche Prinzipien zeigen. [REKURSIVITÄT] Wie eine russische Puppe, die in sich mehrere jeweils kleinere Spiegelbilder ihrer selbst enthält, zeigen Systeme auf unterschiedlichen Ebenen ähnliche Strukturen. Man muss nicht immer das Ganze erfassen, auch viele Teile beinhalten die wesentlichen Aspekte. Die »fraktale Beratung«, die einen Zipfel des Systems anpeilt, aber darin alle wesentlichen Aspekte zu berühren versucht, macht sich dies zunutze.

Die Systempulsation: Äußere Pulsation und innere Pulsation (ÄP und IP)

Pulsation ist die Veränderung der äußeren und inneren Grenzlinien eines Systems. [PULSIERENDE BEWEGUNGEN] Organisationssysteme zeigen über die Zeit pulsierende Bewegungen an inneren und äußeren Grenzlinien. Dabei gibt es sehr viele Möglichkeiten die äußere Grenzlinie zu ziehen. Ein Trend ist heute die Flexibilisierung der Grenzziehungen. Organisationen schöpfen gegenüber ihren Mitgliedern ein breites Spektrum an Arbeits-, Dienst-, Werk- und Beratungsverträgen aus. »Föderale« Organisationsstrukturen mit unterschiedlichen Mitarbeitergruppen, wie der Organisationsforscher Charles Handy sie nennt, sind die Folge. Offenheit bezeichnet die Grundfähigkeit eines Systems mit seinem Innen und dem Außen in Beziehung zueinander umzugehen.

Die inneren Grenzlinien haben in der Dynamik zwischen den Subsystemen entscheidende Folgen. Bereiche, Abteilungen und Gruppen stellen Subsysteme im Unternehmen dar. Aber auch Frauen und Männer, die Alten und die Jungen, die in der Zentrale und die »am Markt« können eigene Subsysteme bilden. Große Umstrukturierungen, strategische Neupositionierungen der Gesamtorganisation erzeugen neue Subgruppen. Im schlechten Fall stehen einigen Gewinnern viele Verlierer gegenüber. Subsysteme entstehen aber immer durch die Kategorien der Beobachter und Gestalter von Unternehmen.

Die vier Dynamikfelder beinhalten so insgesamt zehn Dimensionen. Der Stern zeigt die wichtigsten Perspektiven, ein unternehmerisches System zu betrachten.


Abb. 3


Abb. 4

Man kann die Betrachtung an einer beliebigen Stelle der folgenden Punkte beginnen. Die folgende Tabelle zeigt einzelne Fragen, wie man sich die Dimensionen im praktischen Beispiel erschließen kann.



1.5 System Design und System Emergence

Das Denken über Unternehmen und Organisationen hat durch die Forschung über lebende biologische Systeme wesentliche neue Impulse erhalten. Insbesondere die Eigenbezogenheit von Systemen und die daraus resultierenden Konsequenzen dafür, wie man überhaupt ein Humansystem beeinflussen kann, gaben hier wichtige Erkenntnisse. Die Übertragung auf Humansysteme wie Organisationen und Unternehmen konnte davon profitieren. Dabei haben der Engländer Stafford Beer und der Amerikaner Peter Senge dem Phänomen des »Systems« beziehungsweise dem »Systemischen« in Bezug auf Unternehmen große Aufmerksamkeit geschenkt. Peter Senge unterscheidet zwischen »System Design« und »System Emergence«.

System Design

Beim »System Design« geht es um die bewusste Planung und aktive Gestaltung von Organisationssystemen. Diese Sichtweise, dass man eine Organisation aktiv planen und gestalten kann, ist sehr verbreitet. Zahllose Unternehmensberater leben davon, lineare Gestaltungspläne zu entwerfen. Eine Firma wird analysiert, ein Plan entworfen und dann wird versucht, diesen Plan detailliert umzusetzen.

System Emergence

»System Emergence« ist die Entwicklung aus der jedem System innewohnenden Eigendynamik. Denn die Erfahrung zeigt, dass in Unternehmen viele maßgebliche Entwicklungen nach John Lennons Satz »Life happens while we make other plans« geschehen.

Eine Frage ist dabei, ob und wie Unternehmen aus sich selbst heraus einen erfolgreichen Pfad beschreiten können. Auf der volkswirtschaftlichen Ebene unterstellte der theoretische Vater der Marktwirtschaft, Adam Smith, eine »unsichtbare Hand« (»invisible hand«), die dafür sorgt, dass sich eine langfristig gute Entwicklung vollzieht. Er postulierte, dass im Eigeninteresse liegendes Handeln rational ist und dadurch das Gesamte optimiert. [DIE »INVISIBLE HAND« LENKT DEN MARKT] Die Voraussetzungen, die er dafür annahm, waren außerdem, dass Menschen grundsätzlich moralisch handeln und dass Freiheit des wirtschaftlichen Agierens besteht. Verfolgt man die wirtschaftspolitischen Diskussionen, so scheinen die meisten Wirtschaftstheoretiker und Wirtschaftspolitiker weiter an die »invisibile hand« zu glauben.

Vielleicht gibt es in Unternehmen auch eine unsichtbare Hand, die als unmerklicher Bereinigungsprozess wirkt, der aber im Extremfall auch zur Auflösung der Organisation führen kann. Mehr zur Vorstellung der »invisible hand« in Kap. 2 bei »Radikale Marktwirtschaft«.

Eigendynamik und »große Männer«

Jedes Unternehmen hat eine Eigendynamik, eine eigengesteuerte, unabhängige Entwicklung (System Emergence). Die Beachtung dieser Eigendynamik ist wichtig für jede beabsichtigte Einflussnahme. Aber wie kommt die Eigendynamik genau zustande? Hier hat der Satz »Menschen machen Wirtschaft« besonderen Sinn. Aber es sind nicht »die großen Männer«, wie manch individualistische Unternehmenstheorie vorgibt, sondern das spezifische systemische Zusammenwirken der Kraftfelder eines Unternehmens. Selbst wenn einzelne Personen großen Einfluss auf soziale Systeme haben, ist dies nur durch eine flankierende oder unterstützende Haltung anderer Systemkräfte möglich. [DAS ENDE DER GROSSEN MÄNNER] Beispielsweise kann der Vorstandsvorsitzende nur dann seine charismatische Seite in Gefolgschaft umsetzen, wenn andere Systemkräfte wie die Vorstandskollegen oder die anderen Manager ihn dabei unterstützen. Die Auswirkungen dieser Eigendynamik werden häufig erst im Nachhinein deutlich. In den Unternehmen regieren Menschen, die Entscheidungen treffen und Strategien vorgeben. Doch auch wenn nach einem Skandal mancher seinen Chefsessel räumen muss und die Vorstände ausgetauscht werden, ändert sich damit meist nicht das System. So musste sich der Aufsichtsrat eines großen Industriekonzerns wundern. [DER GORBATSCHOW-EFFEKT] Er hatte gerade für den ausscheidenden charismatischen Vorstandsvorsitzenden einen jungen, starken Nachfolger bestimmt. Der versprach alles zu ändern, war aber nach kurzer Zeit genauso weit weg von den realen Erfordernissen wie der alte Chef, der zuletzt nur noch sein Lebenswerk unbefleckt und unbeschadet erscheinen lassen wollte. Äußerst selten findet man den Gorbatschow-Effekt, dass einer, der im System langsam nach oben gestiegen ist, plötzlich das ganze System von oben verändert.

Es gilt, die beiden Perspektiven, System Design und System Emergence, zusammen zu bringen. Das heißt heraus zu finden, welche Steuerungsdimensionen ein Unternehmen in seiner inneren Dynamik charakterisieren und wie sich darauf Einfluss nehmen lässt.

Das Chaotische an komplexen Systemen

Zunächst sollen Sie einmal alle Standardperspektiven auf Unternehmen beiseite lassen. Vergessen Sie Hierarchiediagramme und Charts. Stellen Sie sich vor, Sie kommen von einem anderen Stern und begegnen einer Firma oder einer anderen Organisation, die Sie kennen. Gehen Sie ganz unvoreingenommen an das unternehmerische System heran!

Ein unternehmerisches System ist ein komplexes System. [JE NACH PERSPEKTIVE FÄLLT ETWAS ANDERES INS AUGE] Es zeigt sich zunächst in sehr vielen verschiedenen Aspekten. Je nach dem, worauf man schaut, gewinnt ein anderer Gesichtspunkt die Aufmerksamkeit. Bei der Zusammenschau der vielen Aspekte erscheint es zuweilen chaotisch.

Man versucht Ertrag und Umsatz zu erreichen. Zahlen und Zeiten spielen eine große Rolle. Menschen verbringen Zeit miteinander, bewegen sich in Räumen, begegnen sich manchmal. Es gibt Erfolge und Niederlagen. Es wird gefeiert und man giftet sich an. Einige Themen enthalten Sprengstoff, andere sind tödlich langweilig. Manche Beteiligte haben mehrere Rollen, »tragen eine Menge Hüte« und jonglieren mit diesen herum. Andere fühlen sich eher am Rande, manchmal sogar außerhalb, als hätten sie mit der ganzen (Unternehmens-)Sache nichts zu tun. Technik ist allenthalben zu sehen. Waren gehen rein und raus, Datenströme fließen umher. Verschiedene Sprachen werden gesprochen: »betriebswirtschaftlich«, »technisch«, »IT-isch«, »umgangssprachlich«, »fremdsprachlich«. Es gibt Zusammenkünfte von Menschen, ganz so wie sich Menschen schon seit Tausenden von Jahren gerne in größeren Gruppen versammeln.

Aber gibt es denn dann die Möglichkeit ein unternehmerisches System auch zu steuern? Mit welchen Phänomenen muss man umgehen, um das Organisationssystem zu steuern? Wie sind die Aspekte zu identifizieren, die relevant sind für das Verhalten, Denken und Fühlen der Menschen im unternehmerischen System?

1.6 Systemdynamiken ordnen das Chaos

Ausgetretene Pfade

Viele versuchen ein Unternehmen zu erfassen, indem sie sich mit Standardbegriffen nähern:

– »Welche Bilanz hat das Unternehmen?«

– »Wie ist sein Cash Flow?«

– »Welche Erträge werden erwirtschaftet?«

– »Wie ist das Organigramm?«

Alles keine schlechten Fragen. Aber sind sie relevant, wenn man auf den Erfolg wirklich Einfluss nehmen will? Gerade Topmanager, die diese Informationen kennen, klagen über die unzureichende Beeinflussbarkeit ihres eigenen Unternehmens. Man müsse es nur schlanker machen, dann gehe es wieder. Vom großen Tanker ist die Rede. Darin steckt leider nur manchmal die Demut, nicht alles zu können. Häufiger ist es aber die innere Distanz zum wirklichen Geschehen, die den Manager wie einen Feldherrn im Sandkasten Schlachten schlagen lassen, Truppenverbände bewegen und auch manchmal ganze Bereiche opfern lässt.

Die Distanz der betriebswirtschaftlichen Messgrößen

Bisher ist es üblich, auf den ausgetretenen »Zahlen«-Pfaden mit sehr viel Distanz auf die lebendigen Prozesse in Unternehmen zu schauen. Vermeintlich scheinen sie einen Überblick zu geben, tatsächlich erzeugen sie lediglich einseitige Grobmarkierungen, so als ob man Länder nur nach ihren Höhenunterschieden bemisst. Welche »Bodenschätze« vorhanden sind, welche »Temperaturen« herrschen, welches Leben festzustellen ist, bleibt unberücksichtigt. [»KÄSTCHEN« DES ORGANIGRAMMS] Ob also die betriebswirtschaftlichen Zahlenkolonnen für das Unternehmen gute Abbildungen sind, ist fraglich. Dennoch, interne und externe Revisoren, Controller, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Unternehmensberater und Analysten, alle schauen auf die Magie einer recht überschaubaren Reihe von Zahlen. Eine Lösung wird häufig in derselben Logik gesehen: Man kreiert noch mehr Zahlen. »Kennzahlen müssen her«, heißt dann die Devise. Der Effekt ist, man erfasst noch mehr desselben. Dynamische und qualitative Aspekte bleiben weiter außen vor. Es gilt eine bessere Landkarte für Unternehmenssysteme zu finden.

[KRISE DES BENCHMARKING] Auch die bisher herrschenden deutlich auf die Aufbaustrukturen ausgerichteten Beschreibungen für Unternehmen wie die Kästchen des Organigramms haben sich als wenig aussagefähig erwiesen. Sie geben scheinbar ein vergleichbares Bild einzelner Teile des Unternehmens wieder. Beunruhigenderweise scheint es keine idealtypische Organisationsform zu geben. Die Methode des Benchmarking kommt in die Krise. Das Schielen nach dem anderen, dem Optimalen ist nur eine Kerze im Nebel der Komplexität. Der Erfolg einer Organisation scheint relativ unabhängig von beispielsweise Zentralisierung oder Dezentralisierung zu sein. Wirkliche Entwicklungen in eine erfolgreiche oder nicht erfolgreiche Richtung liegen nicht auf dieser Ebene. Viel interessanter ist: Wie kommt die Struktur zustande und welche Dynamiken stehen dahinter?

Spürbare Dimensionen

In Bezug auf Organisationssysteme gilt es, die für die Menschen wirksamen Dimensionen zu erfassen. [DIE LEBENSENERGIE EINES UNTERNEHMENS] Die hier vorgestellten Dimensionen richten dabei den Fokus auf die tatsächliche Situation der Lebensenergie eines Unternehmens. Es geht um die für Menschen direkt spürbaren, erfahrbaren und dadurch entscheidenden Fragen:

– Worauf richten die Menschen tatsächlich ihre Energie und Aufmerksamkeit?

– Wie wirken sich die Menschen und die Beziehungen aus?

– Wie schafft die Firma die Verbindung zu den Bewegkräften der Menschen?

– Wie geht man mit veränderten Szenarien um?

Bewegungskräfte

Die zentralen Aspekte einer Unternehmensorganisation sind die Bewegungskräfte. Struktur, Abläufe und Dimensionen der »weichen Daten«(wie Kultur, Kommunikation, Leistungsmotivation) sind nicht statisch, sondern in Bewegung begriffen. Deshalb sind hier dynamische Kräfte am Werk. Dynamik zeigt Lebendigkeit an. [DYNAMISCHE DIMENSIONEN] Dabei bedeutet Dynamik keineswegs hektisches Zappeln und Strampeln. Sie kann eine ruhige, kraftvolle Bewegung sein. Sie kann aber auch eine schnelle Veränderung sein. Egal ob es sich um ein Großunternehmen, einen Handwerksbetrieb, eine politische Partei oder einen Fußballverein handelt, bestimmte Dynamiken sind im inneren Zusammenspiel immer wirksam. Die entscheidende Frage ist, wie auf ein Unternehmenssystem so Einfluss genommen werden kann, dass die Menschen tatsächlich ihre Ziele und Werte mit denen des Unternehmens verbinden können.

Das Wort »Unternehmen« bezeichnet schon das Gegenteil von Stillstand. Es sollte etwas »unternommen« und nicht »unterlassen« werden. Die dynamischen Dimensionen im Organisationssystem betreffen das tatsächlich gelebte Leben in Unternehmen. Wohin wird die Aufmerksamkeit der Unternehmensangehörigen gelenkt? [LENKUNG DER AUFMERKSAMKEIT] Dies wird häufig im Kontrast der großen strategischen Vorgabe und dem konkreten Handeln – beispielsweise eines Mitarbeiters im direkten Kundenkontakt vor Ort – deutlich. So befassen sich Unternehmenslenker wie Vorstände und Geschäftsführer statistisch gesehen sehr viel mit taktisch-politischen Einzelfragen. Dabei machen diese nur ca. zehn Prozent des Erfolges aus, während die strategische Gesamtausrichtung zu fast 70 Prozent den Erfolg bestimmt (Schwaninger 2001).

Dynamiken sind das, was ständig lebendig und in Veränderung begriffen ist. Dadurch liegen stetige Aufgabenfelder vor. Dies macht auch Führung zu einem kontinuierlichen Prozess der Einflussnahme auf dynamische Vorgänge. [DYNAMIKEN ALS FRÜHINDIKATOREN] Denn die Dynamiken haben einen entscheidenden Einfluss auf die betriebswirtschaftliche Zahlenebene. In lebenden Systemen gibt es immer eine Entwicklungsgeschichte und einen Trend der Entwicklung. Jedoch werden Unternehmen noch von Menschen gemacht. Es sind Menschen, die außer zu dem System Unternehmen auch zu anderen Systemen gehören. Aber auch viele Führungskräfte haben die Grundaufgabe ihres »Berufes Führungskraft« noch nicht bemerkt. [DER BERUF FÜHRUNGSKRAFT] Sie besteht im aktiven, stetigen Bemühen, eine größtmögliche Überschneidung der Ziele der Menschen mit den Zielen des Unternehmenssystems zu erreichen.

Kontext erzeugt Verhalten

Für Organisationen ist ein weiteres Phänomen wichtig. Eine Gruppe von Menschen zeigt nur dann ein bestimmtes Verhaltensmuster, wenn sie in einem bestimmten Kontext zusammenkommt. [DIE VERHAKTE VORSTANDSCREW] So verhakte sich eine Vorstandscrew regelmäßig in einem destruktiven Kommunikationsmuster, wenn sie in ihrem gediegenen »11. Stock« tagte. Als diese Vorstandsmitglieder einmal in einer völlig anderen Umgebung andere Aufgaben zu bewältigen hatten, zeigte sich ihre Kommunikation kurzzeitig kreativ und lösungsorientiert. Zurückgekehrt in den üblichen Kontext waren sie jedoch sofort wieder im alten Fahrwasser.

Auch ein berühmtes sozialpsychologisches Experiment von Philip Zimbardo zeigte die Kraft des Systems. [EIN EXPERIMENT] Er installierte im psychologischen Institut der Universität auf einer Etage ein simuliertes Gefängnis. Eine Gruppe von Studenten wurde als »Gefangene« deklariert, eine andere als »Wärter«. Das Experiment war für eine Dauer von einer Woche geplant. Zimbardo musste es nach vier Tagen abbrechen, weil die »Wärter« begonnen hatten, die »Gefangenen« körperlich zu bestrafen und anzugreifen. Daraufhin wurden Zimbardo methodische Fehler vorgeworfen. Er habe die Auswahl der »Gefangenen« und der »Wärter« nicht genügend nach dem Zufallsprinzip organisiert. Das Ergebnis sei das Resultat methodischer Fehler. Zimbardo gab nicht auf. Er korrigierte die kritisierten Punkte und begann das Experiment nach einem Jahr noch einmal. Diesmal musste er nach viereinhalb Tagen das Experiment beenden. Der Grund war der gleiche wie beim ersten Mal. Das Experiment zeigt eindeutig die Bedeutung des Kontextes für das Verhalten. Und mit dem Kontext ist meist die Installierung bestimmter Rollen aufs Engste verbunden.

Produziertes Gut und Systemdynamiken

Systemdynamiken werden in einem Zusammenspiel der verschiedenen Kraftfelder in einem System erzeugt. [DAS PRODUZIERTE GUT BEEINFLUSST DIE SYSTEMDYNAMIK] Dies passiert gerade im Organisationssystem. Wie die Systemdynamiken sich konkret ausformen, hängt natürlich auch vom»produzierten Gut« ab. Das Gefängnisexperiment von Zimbardo macht dies sehr deutlich. Aber auch in anderen Branchen nimmt der »Charakter« der produzierten Güter starken Einfluss auf die Prozesse. Es gibt dabei sogar interessante Parallelen. So ist der Umgang mit dem Thema Sicherheit und Kontrolle in einer Drogenklinik und in einer Bank recht ähnlich. In der Drogenklinik ist man permanent auf der Hut, Regelverstöße innerhalb der Klinik aufzuspüren, die mit Drogenmissbrauch in Zusammenhang stehen. In der Bank ist man permanent auf der Hut, Vergehen im Zusammenhang mit Geld und Geldtransaktionen aufzuspüren. Beide Male steht nämlich die Glaubwürdigkeit des produzierten Gutes Vertrauen auf dem Spiel.

Interne und externe Wirkungsweise

Die zunächst interne Wirkungsweise von Systemdynamiken ist interessant, obwohl der offizielle Zweck unternehmerischer Systeme in der Regel auf einen Markt gerichtet ist, der außerhalb des Unternehmens liegt. [INTERNE UND EXTERNE PERSPEKTIVE] Dass die Abgrenzung zwischen innen und außen nicht immer so ganz einfach und eindeutig ist, wird die Betrachtung der Dynamik »Systempulsation« (Kapitel 5) zeigen. Die Leistungsfähigkeit des Unternehmens nach außen wird zwar durch seine internen Dynamiken bestimmt. Dabei ist aber der Abbildungsprozess der äußeren Faktoren im Inneren ein wichtiger Aspekt. Daraus resultiert dann die Leistungsfähigkeit des Unternehmens bezüglich Kriterien wie Marktleistung, aber auch bezüglich des Outputs für die interessierten Gruppen wie Aktionäre und Mitarbeiter. Das ist letztlich das wesentliche Messkriterium. Denn die Aufgabe von unternehmerischen Systemen ist es, etwas zu erstellen, das über die Möglichkeiten des Einzelnen hinausgeht.

Innen und außen

[DYNAMIKEN SIND NACH INNEN UND AUSSEN WIRKSAM] Die Pfeile, die die Dynamiken des unternehmerischen Systems anzeigen, zeigen zuerst nach innen, weil ein lebendes System, und dies gilt auch für das Zusammenwirken von sozialen Humansystemen, zentral an seinem Eigenerhalt interessiert ist. Die Dynamiken haben immer Bezug nach innen und außen. Dies resultiert schon allein aus der Tatsache, dass alle Systemmitglieder eines unternehmerischen Systems auch zu anderen Systemen gehören. Dennoch entstehen die Probleme von Unternehmen im Wesentlichen bei innerer Unfähigkeit, sich äußeren Gegebenheiten anzupassen.


Abb. 5

Ein Unternehmen schafft es beispielsweise innen nicht, sich äußeren Marktveränderungen anzupassen. Die inneren Systemdynamiken verändern sich dann zu langsam in Relation zu äußeren Anforderungen. Letztlich wird die Erfolgsrückmeldung von außen gegeben. Der Erfolgsprozess wird trotzdem innen gestaltet.

Die Außenwirkung der Dynamiken lässt drei Perspektiven zu. Man kann eine qualitative Diagnose des Systems aufstellen. Steuernde Interventionen werden möglich. Als drittes lassen sich auch Aussagen über die Leistungsfähigkeit des Systems machen.

Beispielsweise bei Fusionen, Firmenkäufen, für die Kreditvergabe oder die Eigenkapitalausstattung an ein Unternehmen ist dessen zukünftige Performance sehr wichtig. Es geht hier darum, Kriterien zu finden, die etwas darüber aussagen, wie leistungsfähig eine Organisation in Zukunft sein wird. In der Bilanzanalyse ermittelt man die Vergangenheitsdaten. Viel wichtiger ist allerdings die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens.


Abb. 6

Die Dimensionen machen ebenso eine Qualitätseinstufung möglich. [QUALITÄT EINER ORGANISATION] Wie wird die Qualität auf den einzelnen Dimensionen in Bezug auf vorher festzulegende Kriterien eingeschätzt?

In dieser Weise kann man eine Organisation bezüglich der aktuellen Qualität ihrer Dynamikdimensionen auf Skalen einschätzen. Hier sind entsprechende Skalierungssysteme erforderlich. [BEEINFLUSSUNG EINER ORGANISATION] Eine grobe Orientierung der Einflussnahme auf ein Organisationssystem gibt folgende Regel: Will man ernsthaft Einfluss auf ein Organisationssystem nehmen, sollte man aus jedem der vier Felder mindestens eine Dynamik aktiv strategisch angehen.

Eine gute Konzeption für eine Organisation

Systemdynamiken zu betrachten heißt auch theoretisch konzeptionell über ein Unternehmen nachzudenken. Zwar sagt der Volksmund »Grau ist alle Theorie.« Aber es gilt auch der Satz des Altmeisters der Sozialpsychologie Kurt Lewin: »Eine gute Theorie ist die beste Praxis.« Dies verweist darauf, wie wichtig die konzeptionelle Ausrichtung für das Vorgehen ist. So unentbehrlich die Intuition für unternehmerisches Vorgehen ist, so wichtig ist ein bewusstes und durchdachtes Konzept. Sonst wird das Unternehmen nur ein kurzes Aufflackern im wirtschaftlichen Geschehen sein. Zahlreiche Unternehmen der New Economy hatten ein zu wenig durchdachtes Konzept, wurden schnell zu hoch bewertet und sind deshalb gescheitert, nicht wegen der umschlagenden Konjunktur.


Erfassung und Einflussnahme

Mit dem Modell der Systemdynamiken ist die Beschreibung jedes Systems möglich. Man erhält die konkrete Beschreibung der Charakteristik eines Unternehmens- oder Organisationssystems. Dabei sind entsprechend des Arbeitsziels weitere spezifische Fragestellungen hilfreich:

– Von wo kommt die Organisation auf den einzelnen Dimensionen?

– Wie entstehen die spezifischen Ausprägungen?

– Was hält sie aufrecht?

– Wie ist der aktuelle Status auf den Dimensionen?

– Wo will die Organisation hin?

– Wo sollte die Organisation hin?

Identifiziert man diese Dynamiken, so erhält man wesentliche Information für drei Handlungsfelder:

– die diagnostische Einschätzung eines unternehmerischen Systems (z.B. für die Unternehmensbewertung).

– die Ansatzpunkte für Interventionen zur konstruktiven Entwicklungsunterstützung für ein unternehmerisches System. In diesem Zusammenhang wird auch die Evaluation von Organisationsentwicklungsprojekten möglich.

– die Messung des Zukunftspotenzials und des Performancepotenzials eines unternehmerischen Systems.

Im Kleinen kann man in jedem Organisationsveränderungsprogramm die zu jeder Dimension schon erreichten Fortschritte erfragen.

Nach derlei theoretischen Betrachtungen macht eine nähere Betrachtung Ihrer Erfahrung mit Organisationen einen Sinn:

1.7 Erkundungsreise

Nun können Sie eine kleine Reise starten, mit der wir in die praktische Unternehmenswelt einsteigen.





Systemische Organisationsanalyse

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