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Оглавление„Er kommt zu sich“, hörte Martin eine weit entfernte Stimme. Er erkannte sie. Veronika beugte sich über ihn und hielt seine rechte Hand. Sogleich waren eine Krankenschwester und ein Arzt zur Stelle. Martin kam langsam wieder zu sich und erkannte seine Umgebung. Er lag im Universitätsklinikum Heidelberg in der Notaufnahme. Er verspürte ein Stechen im Kopf. Seine rechte Schulter war verbunden und sein Körper fühlte sich matt an. Er konnte sich nur schwer bewegen.
„Was ist passiert?“, flüsterte er mit schwacher Stimme.
„Du hattest einen Autounfall.“
Martin stöhnte.
„Aber du hattest Glück im Unglück. Am Kopf hast du eine Platzwunde und du hast mehrere Prellungen und Schürfwunden an Schulter und Armen. Die Wunden wurden bereits versorgt.“
Sie streichelte ihm über den Kopf. Martin blickte ihr in die Augen. „Ich habe unheimliche Kopfschmerzen.“
„Du musst auch hier über Nacht zur Überwachung bleiben. Wahrscheinlich hast du eine Gehirnerschütterung. Wenn es dir morgen besser geht, dann darfst du nach Hause gehen.“
„Aber was ist passiert?“ Martin konnte sich im Moment nicht an das Vorangegangene erinnern.
„Später wirst du dich wieder erinnern und dann kannst du mir alles erzählen. Das ist jetzt nicht so wichtig, ruh dich erst einmal aus.“
Er schloss die Augen und fiel in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen saß Veronika bereits neben ihm am Bett. Er öffnete die Augen und blickte sich um. Offenbar teilte er sich das Krankenzimmer mit zwei weiteren Patienten.
„Armin und Daniel sind gerade in der Cafeteria. Sie haben Besuch.“ Veronika nahm seine Hand. „Und wie geht es dir heute?“
„Ich weiß nicht. Ich denke, mir geht es etwas besser.“
„Hast du noch starke Kopfschmerzen?“
Martin fühlte in sich hinein: „Nein, ich habe fast keine Schmerzen. Außer die Schulter, die tut sehr weh, wenn ich mich bewege.“
„Das ist gut. Wenn du keinen starken Schwindel hast, dann nehme ich dich heute vielleicht schon mit nach Hause, wenn sie dich entlassen. Im Fotostudio habe ich dich erst einmal krank gemeldet. Alle sind sehr schockiert.“
Nach einer Pause fragte sie: „Kannst du dich wieder erinnern, was gestern Abend geschah?“
Martin blickte an die Decke. Ihm kamen Bilder in den Sinn: Er sah Ute vor sich und den aalglatten Verkäufer und die drei Sonnen. Ein bedrückendes Gefühl überkam ihn. Die schnell näher kommenden Autos und dann der laute Knall und die schwarze Leere. Das Gefühl der Ohnmacht. Ja, er erinnerte sich an den gestrigen Abend. Die Bilder wurden immer klarer.
„Ich hatte einen Unfall. Ich saß hinten im Wagen. Was, was ist mit dem Fahrer geschehen?“
„Das weiß ich nicht. Ich wurde informiert, dass du einen Unfall hattest und bin direkt in das Krankenhaus gekommen.“
„Hast du dein Handy dabei?“, wollte Martin wissen.
„Aber natürlich.“
„Dann schau bitte im Polizeiticker nach, ob der Unfall gestern gemeldet wurde, ja?“
Veronika rief die Seite mit den Heidelberger Polizeinachrichten auf. Und tatsächlich gab es einen Eintrag am gestrigen Abend. Sie las: „Es ereignete sich um 18.43 Uhr ein tödlicher Unfall in der Heidelberger Innenstadt. Ein Wagen kam von der Fahrbahn ab und rammte gegenüber parkende Autos. Der Fahrer war sofort tot. Der Beifahrer überlebte mit leichten Verletzungen. Die Unfallursache ist noch ungeklärt.“ Veronika sah Martin entsetzt an.
„Oh“, seufzte Martin. Er zuckte kurz mit seinem Kopf, stieß dabei aber einen schmerzlichen Laut aus. Beide schwiegen für einen Augenblick. Dann fragte Veronika schließlich: „Willst du mir erzählen, warum du gestern in diesem Auto mitgefahren bist?“
Martin erzählte in allen Einzelheiten von dem Paar, das ihn am Karlsplatz angesprochen hatte, über die Erlebnisse in dem Hotel und seinen Gefühlen, die ihn dort überkommen hatten. Veronika hörte ihm konzentriert zu. „Das ist ja eine Unverschämtheit“, resümierte sie. „Ist so eine Masche denn legal? Menschen auf offener Straße anzusprechen und unter falschen Versprechungen in ein Hotel zu locken?“
„Nicht falsch. Den Preis hätte ich sicher bekommen.“
„Ja, ein veraltetes Klapphandy. Würde mich nicht wundern, wenn sie dadurch versuchten, Kontakt zu dir aufzunehmen.“
„Ja, unfassbar.“ Nach einer Pause bat er Veronika: „Du, ich würde gerne auf die Beerdigung von diesem Mann gehen, der mit mir im Auto verstorben ist. Könntest du bei der Polizei anrufen und um die Kontaktdaten bitten? Ich weiß noch nicht einmal, wie er hieß.“
„Aber gerne, das mache ich gleich morgen früh. Bitte ruhe dich jetzt aus. Es ist wichtig, dass du wieder zu Kräften kommst.“
Martin schloss die Augen. Veronika hielt seine Hand und blieb die ganze Zeit bei ihm.
Am Nachmittag öffnete sich die Tür zum Krankenzimmer und zwei Streifenpolizisten kamen herein. Sie baten Armin und Daniel kurz draußen zu warten, da sie Martin einige Fragen zum gestrigen Unfall stellen wollten. Veronika durfte bei Martin am Bett sitzen bleiben. Nachdem die Personalien von Martin aufgenommen wurden, stellten die Polizisten sicher, dass es zuvor keine Verbindung zwischen Martin und dem Fahrer gegeben hatte. Beide waren sich zuvor noch nie begegnet. Martin beschrieb genau, wie er in das Hotel eingeladen wurde und weshalb er überhaupt mit in diesem Auto saß. Ganz wichtig waren Martins Schilderungen von der Fahrt vom Hotel in die Innenstadt von Heidelberg. Dabei sollte er in allen Einzelheiten erzählen, wie sich der Fahrer benommen hatte. Ob er etwas Auffälliges in seinem Verhalten bemerkt und ob er etwas Besonderes gesagt oder getan hatte. Aber Martin war nichts weiter aufgefallen. Der Fahrer machte einen gesunden und ruhigen Eindruck. Vielleicht dachte Martin, könnte der Fahrer etwas gestresst gewesen sein, man hätte das vielleicht in seinem Gesicht sehen können, aber mit hundertprozentiger Sicherheit könne er das nicht sagen. Die Polizisten bedankten sich bei Martin, wünschten gute Besserung und verließen den Raum. Veronika ging mit ihnen hinaus. Draußen bat sie die Polizisten nach dem Namen des Verunglückten oder ob sie wüssten, wann seine Beerdigung stattfinden würde. Sie erklärte ihnen, dass es für Martin wichtig wäre, an der Beisetzung teilnehmen zu können. Sie verwiesen Veronika an das Polizeirevier Heidelberg. Alles Weitere würden sie dort erfahren.
Die Beerdigung fand eineinhalb Wochen später statt, nachdem die Leiche von der Kriminalpolizei Heidelberg freigegeben wurde. Es waren nur wenige Menschen auf dem kleinen Leimener Friedhof zusammen gekommen, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Martin und Veronika standen abseits bei den älteren Frauen und Männer, die wahrscheinlich bei vielen örtlichen Beerdigungen Anteil nahmen und nicht zum näheren Familienumfeld dazu gehörten. Von seinem Platz aus sah Martin zu den Trauernden hinüber. Er sah in der Mitte eine ältere Frau, sie mochte zwischen siebzig und achtzig Jahre alt sein. Vielleicht war sie seine Mutter. Daneben standen ein Mann im mittleren Alter, seine Frau und zwei kleine Mädchen. Diese vier Menschen waren offenbar der Familienkern gewesen. Andere Angehörige gab es nicht. In den hinteren Reihen waren wohl seine Freunde und Bekannten. Eine traurige Szene, dachte Martin. Michael Hainsberger hatte offenbar keine große Familie und nur wenige Freunde gehabt. Auch vom Hotel war Martins Ansicht nach niemand da. Der Pfarrer hielt in der Grabkapelle die Andacht. Zwei Ministranten trugen Weihrauch und Schiffchen. Mit dem Lied: „So nimm denn meine Hände“, wurde die Prozession zum Grab begleitet. Dort angekommen weihte der Pfarrer das Grab und den Toten und sprach die abschließenden Worte, nahm eine Schaufel und schüttete eine Schippe Erde ins Grab: „Staub zu Staub und Asche zu Asche. Aus der Erde bist du gekommen, zur Erde wirst du wieder zurückkehren.“ Die Glocken läuteten. Anschließend durften alle Angehörigen und Mittrauernden eine Schippe Erde ins Grab streuen und Abschied vom Toten nehmen. Der Familie wurde kondoliert. Veronika und Martin hielten Abstand und beobachteten die Gruppe. Dann trafen sich die Blicke von Martin und einer älteren, trauernden Frau. Sie kam langsam zu den beiden hinüber gelaufen. Als sie vor Martin stand fragte sie mit matter Stimme: „Sie sind der Mann, der mit Michael in dem Auto saß?“
„Ja, das stimmt.“
„Ich habe Sie an Ihren Verletzungen erkannt. Ich bitte Sie, kommen Sie mit zu unserem Leichenschmaus. Sie und ihre Frau sind herzlich eingeladen.“
Martin und Veronika bedankten sich und nahmen die Einladung an.
Nach dem Seelenamt, das in der örtlichen katholischen Kirche abgehalten wurde, trafen sich alle in einem kleinen Nebenraum im Restaurant Sternenhöhe in Leimen.
Es gab Butterkuchen, Gebäck, Kaffee und Tee.
„Ich möchte Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen“, begann Martin mit gedämpfter Stimme.
Frau Hainsberger bedankte sich. Ihre Augen blickten matt in die Martins. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. „Es war kein Unfall, so wie wir alle dachten.“
Martin verstand nicht, was sie ihm damit sagen wollte. Er nickte langsam und gab ihr zu verstehen, dass sie ihm weiter berichten solle.
„Aber ich wusste ja nicht, dass er Drogen nahm! Nein, das wusste ich nicht. Es ist so traurig.“
In Martins Kopf blitzte es unaufhörlich. Sein linkes Auge zuckte heftig. Hatte er eben richtig gehört: Drogen? Hatte der Mann Drogen genommen? Aber das war ihm gar nicht aufgefallen. Nichts deutete darauf hin, dass der Mann nicht klar war im Verhalten und Denken. Er blickte Veronika an. Daraufhin fragte er: „Sagen Sie, Frau Hainsberger, was für Drogen sollte Ihr Sohn denn genommen haben?“
„Ich weiß nicht mehr, wie sie heißen. Ich glaube es war irgendetwas mit „Ekstase“. Sie wurde bei der Obduktion in seinem Blut gefunden. Ich kann es nicht glauben. Das passte so ganz und gar nicht zu ihm. Er war ein vernünftiger und ehrlicher Junge. Gewissenhaft behandelte er immer sich und andere. Nein, das ist für mich ganz unvorstellbar. Aber es muss ja so gewesen sein, denn sie haben es ja herausgefunden.“
Da kam der Mann mittleren Alters zu der Gruppe dazu. „Tante Edelgard, möchtest du noch eine Tasse Tee?“
„Nein danke Rudolf, das ist sehr lieb von dir. Darf ich vorstellen? Das ist mein Neffe, Rudolf Wegard.“ Rudolf nickte höflich und lächelte Veronika und Martin an. „Rudolf war der Cousin von Michael. Und das hier ist der Mann, der mit Michael im Auto saß und überlebte.“
Rudolf sagte mit gedämpfter Stimme: „Es ist unfassbar. Wir können es nicht glauben. So ein tragischer Unfall. Wer hätte gedacht, dass Michael Drogen genommen hatte. Das sah ihm gar nicht ähnlich.“
„Auch Ihnen mein Beileid“, Martin reichte ihm die Hand.
Rudolf nickte dankend. Er blickte sehnsüchtig zu der Frau hinüber, die mit ihren beiden Kindern noch am Tisch saß. Diese wich seinen Blicken aus. Schließlich kam sie mit ihren Kindern zur Gruppe dazu: „Tante Edelgard, wir müssen jetzt leider schon gehen.“
„Das ist in Ordnung meine liebe Carla.“ Die beiden Frauen umarmten sich.
„Bitte bleib noch ein bisschen“, bat Rudolf und strich ihr über den Arm.
Sie sah ihn nicht an, wies seine Hand von sich und sagte leise und bestimmt: „Lea und Paula, kommt, wir müssen jetzt nach Hause.“
Die beiden Mädchen verließen zusammen mit Carla den Leichenschmaus. Rudolf bekam einen tristen Gesichtsausdruck, drehte sich um und setzte sich wieder zu seinem Kaffee.
„Bitte entschuldigen Sie“, erklärte Edelgard Hainsberger, „wir sind alle sehr traurig heute.“
Martin und Veronika blieben noch einige Momente bei der Trauergesellschaft. Anschließend verließen sie das Restaurant und fuhren zusammen in ihre gemeinsame Wohnung nach Bruchsal.
Die gesamte Fahrt über sagte Martin kein Wort. Er schaute gedankenvoll aus dem Fenster. Veronika ließ ihm seine Ruhe und sagte ebenso nichts.
Zu Hause angekommen brühten sie sich einen heißen Weihnachtstee auf und setzten sich auf die Wohnzimmercouch. Nach einem kurzen Schweigen unterbrach Martin die Stille: „Das kann nicht sein. Irgendetwas kann da nicht stimmen, irgendetwas ist falsch.“
„Wie meinst du das?“
„Na, dieser Michael sah mir nicht aus, als ob er Drogen genommen hätte. Er benahm sich ruhig und normal. Da war nichts Auffälliges in seinem Verhalten. Außerdem würde mich interessieren, ob der Unfall die Todesursache war, oder die Drogen, die er genommen hatte.“
„Was macht das für einen Unterschied?“
„Einen ganz wichtigen sogar. Überleg doch mal. Wenn der Aufprall die Todesursache war, dann liegt es nahe, dass dieser Unfall wirklich ein Unfall und der Grund dafür der Drogenmissbrauch war. Wenn aber die Drogen die Todesursache waren und der Unfall die Folge daraus, dann bleibt unklar, ob er sich selbst eine finale Dosis verabreichte oder ob…“, er stockte kurz bevor er weitersprach, „oder ob ihm diese Dosis von außen verabreicht wurde.“
Veronika öffnete den Mund: „Du meinst doch nicht im Ernst, dass er vergiftet worden ist oder von jemanden dritten unter Drogen gesetzt wurde mit der Absicht, seinen Tod herbei zu führen?“
„Ich weiß es nicht. Es könnte sein. Es wäre eine Möglichkeit.“
„Aber wer sollte ihn denn töten wollen?“
„Das weiß ich nicht. Ich habe nur ein ungutes Gefühl.“
„Du willst dich doch nicht einmischen?“ Sie sah ihn bestimmt an.
Martin beschwichtigte Veronika: „Nein, wir überlegen erst einmal. Vielleicht finden wir ja einen Ansatzpunkt.“ Er nahm einen großen Schluck Tee. Veronika starrte aus dem Fenster. Während er sich ein paar Lebkuchenherzen nahm und sie genüsslich aufaß, sagte er: „Ich werde mich noch einmal bei Frau Hainsberger melden und versuchen, etwas über Michael herauszufinden. Mich interessiert, wer und wie er als Mensch war. Frau Hainsberger wird bestimmt offen sein und über ihren Sohn sprechen wollen. Ältere Menschen schwelgen gerne und oft in ihren Erinnerungen.“
Veronika nickte. „Ja, das ist eine gute Idee.“
Zwei Tage später saß Martin bei Frau Hainsberger zu Hause in Leimen bei Kaffee und Kuchen.
Sie blickte ihn freudig an: „Das ist aber nett von Ihnen, dass sie mich besuchen kommen. Ich freue mich über Ihre Anteilnahme.“ Ihr Blick trübte sich. „Es kamen sehr wenige Menschen zu mir und erkundigten sich, wie es mir geht. Jetzt, da ich alleine hier in diesem großen Haus lebe. Jetzt, da Michael nicht mehr ist.“
„Ich dachte, dass es Sie freuen würde, wenn ich Ihnen ein bisschen Gesellschaft leisten und sie vom Alltag ablenken würde.“
„Ja, das freut mich sehr.“
Martin sah, dass auf der Anrichte einige Fotos aufgestellt waren. Er ging hinüber, um sie anzuschauen. Er lächelte als er ein Bild betrachtete, auf dem ein sehr dickes Baby eingehüllt wie ein Buddha in ein großes Handtuch auf einem Wickeltisch saß. „Wer ist das Baby?“, fragte er.
Frau Hainsberger musste ebenso schmunzeln: „Das ist Michael. Er war damals knapp ein Jahr. Das Bild wurde noch in unserer alten Wohnung gemacht, kurz bevor wir hier in dieses Haus zogen.“
„Er war ein sehr kräftiges Kind“, befand Martin.
„Ja, das war er. Aber als er größer wurde verwuchs sich der Babyspeck und er wurde groß und schlank.“
„Stimmt, hier ist ein Bild, auf dem er mit seiner Schultüte zu sehen ist.“ Martin sah sich alle Bilder an. Ihm viel sofort auf, dass es nur Bilder von Michael waren.
„Ich habe die Bilder herausgesucht, um ihn nicht zu vergessen. Um die Erinnerung an ihn am Leben zu erhalten.“
Eine peinliche Pause entstand. Frau Hainsberger starrte vor sich hin. Dann, brach Martin die Stille: „Bitte, Frau Hainsberger, erzählen Sie mir von Michael. Wie war er als Mensch?“
„Er war ein lieber Junge. Und gutmütig war er.“
„War er glücklich?“
Frau Hainsberger schaute ihn an. „Glücklich? Das vermag ich nicht zu sagen. Ich weiß es nicht. Er lebte mit mir hier in diesem großen Haus. Er kümmerte sich um mich. Nein, ich weiß nicht, ob ihn das glücklich machte.“
Martin sagte nichts. Er wartete, bis sie von alleine weitersprach.
„Er war nicht verheiratet, wissen sie? Ich weiß es nicht, ob er je die Absicht hatte zu heiraten. Mir stellte er einmal ein Mädchen vor. Eine sehr nette junge Frau. Aber ich glaube, es ist nichts Ernstes daraus geworden. Nur eine Liebelei.“
„Dann hatte er auch keine Kinder?“
„Nein, er hatte keine Kinder.“ Sie seufzte. „Ich werde nicht weiterleben in meinen Kindern und meinen Enkeln. Wenn ich sterbe, stirbt meine Familie.“
„Und hatte er gute Freunde?“
„Ich weiß nichts von Freunden. Auf seiner Arbeit gab es einen Kollegen, mit dem er sich ab und an traf. Aber ich fand, dass er nicht gut zu ihm passte. Irgendetwas störte mich an ihm.“
„Bekam er denn genügend Anerkennung bei seiner Arbeit?“
Frau Hainsberger blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Er war ein Chauffeur. Und Mädchen für alles. Keine Rücksicht haben sie auf ihn genommen. Er musste Schicht arbeiten. Manchmal zwölf Stunden am Tag! Es gab Tage, da kam er erst spät nachts nach Hause. Ich sah es sehr ungern, dass er dort arbeiten ging.“
„Oh, das wusste ich nicht.“ Er ermunterte Frau Hainsberger, weiter von dessen Arbeit zu berichten.
„Er war ein ausgeglichener Junge als er dort anfing. Aber dann ging es ihm immer schlechter. Man konnte förmlich zusehen, wie er in sich zusammenfiel. Er war ungewöhnlich angespannt. So kannte ich ihn gar nicht. Ich nehme an, dass es einfach eine zu große Belastung für ihn war. Und dann…“ Sie brach ab.
„Ja? Was geschah dann?“
„Rudolf erzählte mir, dass Michael ihm eines Tags anvertraut hatte, dass es jemanden im Hotel gab, der ihn mobbte. Ist das nicht schrecklich?“
„Er wurde gemobbt?“, wiederholte Martin nachdenklich.
„Ja. Jemand aus dem Hotel konnte ihn nicht leiden. Ich sagte ja schon, ich mochte ihn nicht gerne dort sehen und das Hotel tat ihm nicht gut.“
„Das tut mir sehr leid.“ Betreten schaute Martin auf den Boden. „Sagen sie, Frau Hainsberger, wer kümmert sich denn jetzt um sie? Wer leistet Ihnen Gesellschaft?“
„Mein Neffe Rudolf schaut regelmäßig nach mir. Er geht auch einkaufen für mich und erledigt alle Hausarbeiten.“
Martin nickte. „Wenn Sie mögen, dann schaue ich auch ab und an bei Ihnen vorbei.“
Ein Lächeln glitt über ihren Mund: „Das würde mich sehr freuen. Sie sind ein netter junger Mann.“
Martin erwiderte das Lächeln und nahm sich noch ein weiteres Stück Marmorkuchen.
Am nächsten Morgen saßen Martin und Veronika beim gemeinsamen Frühstück. Martin hatte bisher nicht viel gesprochen. Er war in sich gekehrt und machte einen konzentrierten Eindruck. Die äußerliche Ruhe wurde nur durch sein Kopfzucken durchbrochen. Veronika beobachtete ihn gebannt, da sie wusste, dass er innerlich wohl sehr aktiv war und etwas ausbrüten würde. Plötzlich richtete er sich auf. Sein Körper war angespannt. Wie erwartet hatte er eine Idee und begann: „Ich brauche deine Hilfe“, seine Augen flackerten.
„Meine Hilfe?“, fragte Veronika ungläubig.
„Ganz recht. Frau Hainsberger erzählte gestern, dass Michael im Hotel schlecht behandelt, ja vielleicht sogar gemobbt wurde. Er hatte Stress. Und nun ist er tot, unter ungeklärten Umständen umgekommen bei einer geschäftlichen Fahrt. Das ist doch sonderbar, nicht? Ich möchte etwas mehr über das Hotel in Erfahrung bringen. Aber mich kennen sie in dem Hotel schon, denn ich war ja dort. Dich kennen sie noch nicht. Ich möchte gerne, dass du dich im Hotel näher umschaust.“
„Ich soll in das Hotel gehen?“ Veronika war bestürzt.
Martin hingegen war begeistert von seiner Idee: „Ja, ich habe mir eine Möglichkeit ausgedacht, wie du inkognito in das Hotel kommen und etwas ausspionieren kannst.“
„Soll ich mich ebenso auf dem Karlsplatz ansprechen lassen, wie du?“ Veronika blickte ihn fassungslos an.
„Nein, so würdest du nur die äußere Fassade kennen lernen. Du sollst in das Innere blicken und sehen, was intern vor sich geht. Also, pass auf: Du könntest dich dort vorstellen, als Mitarbeiterin. Wie findest du diese Idee?“
„Aber als was sollte ich denn dort mitarbeiten? Außerdem habe ich meinen Beruf als Kunstpädagogin in Karlsruhe.“
„Ich weiß. Aber als Kunstpädagogin verdient man nicht so viel und man könnte glaubhaft machen, dass du dir nebenbei auf 450 Euro-Basis noch etwas dazu verdienen möchtest. Wie wäre das?“
„Ich weiß nicht so recht.“ Veronika zögerte.
„Du könntest dich als Reinmachefrau bewerben. Die braucht man immer.“
„Als Putzfrau?“
„Wieso nicht, dafür braucht man keine Ausbildung und es ist zumindest eine realistische Möglichkeit. Sagen wir, du arbeitest zehn bis zwölf Stunden die Woche, abends nach deiner Arbeit in der Kunsthalle. Jetzt in der Weihnachtszeit gibt es bestimmt auch in einem so großen Hotel etwas zu tun.“
Veronika antwortete darauf nicht. Stattdessen sagte sie: „Lass mir etwas Zeit, um darüber nachzudenken.“