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Goldsteins hierarchisches Modell
ОглавлениеDer Beitrag des Neurologen Kurt Goldstein war eine letzte Erweiterung des Gestaltmodells im Sinne der Entwicklung zu einer Persönlichkeits- und Psychotherapietheorie (Goldsteins Assistent war für kurze Zeit der Psychiater Friederich [später Fritz] Perls, dessen eigenen Beitrag ich im zweiten Kapitel erörtern werde). Goldstein war wie Lewin und Perls im Ersten Weltkrieg an der deutschen Front, und viel von der nachfolgenden Forschung wurde an hirnverletzten Veteranen und anderen Kriegsgeschädigten durchgeführt. Viele dieser »Stirnlappen«-Fälle, wie Goldstein sie später beschrieb, hatten nicht das Problem der Fähigkeit oder Unfähigkeit, auf diesen oder jenen Reiz nach der Art des Assoziationsmodells zu reagieren, sondern in vielen Fällen bestand ihr Problem in der Unfähigkeit, nicht auf bestimmte Reize zu reagieren (wie z.B. eine Metapher, eine offensichtliche Lüge oder eine sarkastische Bemerkung), die eine normale Person uminterpretieren oder zurückweisen oder einfach ignorieren würde (s.a. Sachs 1986). Das heißt, die hirngeschädigten Fälle, jedenfalls einige von ihnen, waren reizgebunden – genau wie man es, behauptete Goldstein, für Versuchspersonen nach dem alten Assoziations- oder Reaktionsmodell angenommen hatte. Sie konnten ihre eigenen Reaktionen nicht verlässlich auf bedeutungsvolle, zweckvolle, interaktive Weise im Feld organisieren. Das führte Goldstein zu seiner bemerkenswerten Formulierung, dass Verhalten bei normalen Personen immer organisiert ist und immer den ganzen Organismus einbezieht. Diese vorherrschenden Verhaltensmerkmale tauchen, wie Goldstein sie sah, nicht sehr deutlich in Experimenten an Gewebeproben oder bei anästhesierten Labortieren auf oder bei solchen, an denen eine Lobotomie durchgeführt wurde, und auch nicht bei statischen Wahrnehmungsexperimenten an Gestalt- oder bei Stirnlappen-Patienten. Bei tatsächlichen Lebensprozessen (und einer charakteristischen Gestaltformulierung zufolge) ist es nichtsdestoweniger die Organisation des Verhaltens, die die Teile steuert, und nicht andersherum (1939; 1940).
Goldstein verwendete die gleiche Argumentation und die gleiche Forschung, um dann alle Trieb- oder Spannungsreduktionstheorien besonders zu kritisieren, die nur diese »Teile« des Verhaltens isoliert betrachteten, ohne den ganzen Organismus, die organisierte Sequenz auf immer höheren Ebenen, dem die »einzelnen Verhaltensweisen« untergeordnet sind, einzubeziehen. Allgemein gesagt heißt das, wenn ein gegebenes Verhalten ausgesetzt, neu organisiert oder anderweitig im Dienst der Organisation für ein größeres Ziel untergeordnet werden kann, dann ergibt es keinen Sinn, von einem »Trieb« oder »Instinkt« für dieses Verhalten zu sprechen – zumindest nicht im üblichen Sinn eines Verhaltensmusters, das einem besonderen inneren oder äußeren Schlüssel folgt sowie immer die gleiche Reihenfolge bei der Präsentation dieser Schlüssel aufweist (s.a. Hilgard & Bower, 1966, bezüglich einer verwandten Kritik der »Instinkttheorie« für das menschliche Verhalten). Spannungsreduktion selbst ist auch, so argumentierte Goldstein, überhaupt kein sinnvoller »Trieb« und auch kein Ziel des Organismus, außer in Zuständen der Deprivation, die selbst pathologisch sind. Der einzige »Trieb« oder Instinkt, von dem man sinnvoller Weise im menschlichen Verhalten sprechen kann, ist der Trieb, mit der Umgebung selbst zu interagieren, die Fähigkeiten des subjektiven Systems einzusetzen – und diese Interaktion in Mustern zu ordnen, wobei eine Verhaltenssequenz von einer anderen abhängt (man vergleiche hier Winnicotts Behauptung, der einzige Instinkt sei derjenige nach sozialem Kontakt; zitiert bei Guntrip 1971).
Diesen Trieb nannte Goldstein den Trieb zur »Selbstaktualisierung«, wobei alle anderen Pseudo-Triebe und Verhaltensweisen des Organismus diesem in einer interaktiven und hierarchischen Weise bei- oder untergeordnet werden (1939, 197 ff.). Maslow übernahm dieses Modell später direkt und ausdrücklich von Goldstein (Maslow 1954), zusammen mit Goldsteins ergänzender Kategorisierung der Motivation in »Defizit-Bedürfnisse« und »Wachstums-Bedürfnisse«. Sowohl die psychodynamischen als auch die assoziationistischen Modelle waren Goldstein zufolge entstanden, indem man lediglich von den »Defizit-Bedürfnissen« oder deprivierten, reflexhaften Zuständen des Organismus ausgehend generalisierte, ohne die übergreifende, organisierende Funktion des Organismus als Ganzes oder das »Selbst« in Rechnung zu stellen, das für Goldstein die bedeutungsvolle »Gestalt« oder der organisierte Grund des Verhaltens war (1939, 369 ff.). Beide Modelle vernachlässigen also vor allem den Aspekt der Organisation, der das Verhalten im Normalfall steuert, sofern es sich nicht um extreme Zustände der Deprivation handelt.