Читать книгу Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer - Страница 10
Оглавление1 Einführung
1.1 Psychotraumatologie als Forschungs- und Praxisfeld
Ideen liegen manchmal in der Luft – und Namen dafür auch. Seit einigen Jahren hatten wir, eine Gruppe von Kolleginnen und Kollegen aus Psychologie, Medizin, Rechtswissenschaft und vor allem aus Psychoanalyse und Psychotherapie, uns Gedanken gemacht über die Notwendigkeit, psychische Traumata näher zu erforschen. Da dieses Thema unseren sonst recht unterschiedlichen Praxisfeldern gemeinsam war, entstand die Idee, ein Forschungsinstitut zu gründen, das sich mit der Auswirkung von psychischer Traumatisierung auf Entstehung und Verlauf von Krankheiten, psychischen und psychosomatischen Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten beschäftigen sollte. Die Frage war, wie sollte dieses Institut heißen. Unsere ersten Ideen knüpften an schon etablierte Fachdisziplinen an mit Vorschlägen wie Institut für „medizinisch-psychologische Forschung“ oder bewegten sich in noch weiteren Wortkombinationen wie Medizinisch-Psychologisch-Psychosomatisches Forschungsinstitut usf. Wir verblieben also mit unserer Namenssuche zunächst innerhalb der schon etablierten Disziplinen. Eher zufällig fanden wir dann einen Namen für das, womit wir uns in den praktischen Projekten, die wir damals schon betrieben, auch tatsächlich beschäftigen: eine interdisziplinär ausgerichtete Lehre von psychischen Verletzungen und ihren vielfältigen negativen Folgen für die davon Betroffenen. So entstand schließlich die Bezeichnung Psychotraumatologie, ohne dass wir bewusst eine Wortneuprägung angestrebt hätten. Uns war dabei auch nicht klar, dass dieser Ausdruck bisher noch gar nicht eingeführt war. Er gab ganz selbstverständlich das wieder, womit wir uns befassten: Fragen der Auswirkung von Kindheitstraumen in psychotherapeutischen und psychoanalytischen Behandlungen, Therapie von Exilanten und Opfern von Krieg und politischer Verfolgung, Folgen sexueller Übergriffe in Psychotherapie und Psychiatrie, Diagnosemitteilung bei lebensbedrohlichen Krankheiten, seelische Belastungen bei Katastrophenhelfern und Schadensersatzansprüche nach Verkehrs- oder Arbeitsunfällen. Der Ausdruck Psychotraumatologie bot sich an als gemeinsamer Nenner all dieser Themenbereiche. Am 19.5.1991 gründeten wir nach etwa eineinhalbjähriger Vorbereitung in Freiburg das „Institut für Psychotraumatologie“, um einen Rahmen zur Koordinierung der verschiedenen Forschungsinteressen zu haben. Die Vorsilbe „Psycho“-Traumatologie hatten wir gewählt zur Abgrenzung von der chirurgischen Traumatologie, ein Fach, das an fast allen Universitätskliniken der Bundesrepublik als klinische Einheit und Unterrichtsfach vertreten ist.
Es ist nun interessant zu sehen, dass sich in den USA eine ganz ähnliche Diskussion ergeben hatte und ähnliche Überlegungen zu einer vergleichbaren Benennung führten. Dort befasst sich schon sehr viel länger als in Deutschland ein Kreis von Wissenschaftlern systematisch mit der Erforschung von schweren und schwersten Stressphänomenen. Wegweisend war die Publikation „Stress-Response-Syndromes“ von Mardi Horowitz, einem Psychiater und Psychoanalytiker aus San Francisco (1986). Eine Akzentverschiebung auf „traumatischen“ Stress, die bei Horowitz schon angelegt ist, führte schließlich zur Bezeichnung der so genannten nach-traumatischen Belastungsstörung, dem „posttraumatic stress disorder“, wie sie in das „Diagnostische und Statistische Manual“ (DSM) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (1994 in seiner vierten Fassung erschienen) eingegangen ist. Hier werden die Begriffe Stress und Trauma eng miteinander verbunden, was vom intuitiven Sprachgefühl her nicht ganz unproblematisch ist. Wir werden später auf Fragen der Terminologie zurückkommen. Hier sei nur soviel angemerkt: Im täglichen Sprachgebrauch unterscheiden wir deutlich zwischen Trauma und Stress. Trauma wird eher als seelische Verletzung verstanden, während Stress eine recht alltägliche Erscheinung ist. Jeder leidet bisweilen darunter und kommt doch irgendwie damit zurecht. Trauma nimmt eher die Konnotation von Leiden und Kranksein an.
Möglicherweise aus dieser sprachlichen Intuition heraus verwandten die Kinderpsychiater Donovan und McIntyre in einer Veröffentlichung mit dem Titel: „Healing the hurt child: A Developmental-contextual approach“ im Jahre 1990 weltweit zum erstenmal den Ausdruck „Traumatology“, wie eine Computerrecherche ergab. Donovan war sehr erstaunt, als er später als Vater dieser Wortprägung entdeckt wurde. Er und sein Kollege McIntyre hatten gar nicht die Absicht gehabt, einen neuen Terminus einzuführen. Sie befassten sich mit den verheerenden Langzeitfolgen psychischer Traumatisierung bei Kindern und bezeichneten ihre Arbeit ganz selbstverständlich als Beitrag zur „Traumatology“ (Donovan 1991, 433). „Healing the hurt child“: das verletzte Kind zu heilen und als Voraussetzung für die Heilung die seelischen Verletzungen und Wunden zu beschreiben, darum war es den beiden Kinderpsychiatern gegangen. Die Wortfindung war hier ebenso „natürlich“ und intuitiv verlaufen wie bei unserer Freiburger Institutsgründung. Für eine wissenschaftliche Disziplin muss das nicht unbedingt ein Nachteil sein. Deutlicher als bei „ausgedachten“, mühsam entwickelten Kunstwörtern können wir in solchen Fällen von einem terminologischen Bedarf ausgehen, der aus der Praxis entsteht und auch in praktischen Anforderungen begründet ist.
Für Donovan hat der Ausdruck „Traumatology“ programmatischen Charakter. Er grenzt ihn zunächst von der chirurgischen Traumatologie ab und kommt dann auf das erweiterte besondere Forschungsfeld zu sprechen, das der Ausdruck bezeichnen soll:
„Der Ausdruck ,Traumatologie‘ ist nicht neu in der Medizin. Traditionellerweise bezeichnet er einen Zweig der Chirurgie, der sich beschäftigt mit Wunden und Behinderungen, die von einer Verletzung stammen. Unsere Verwendung jedoch spiegelt das Entstehen eines genuinen Forschungsfeldes wider, das aus Bemühungen entstanden ist, die früher als disparat wahrgenommen wurden. Bei allem Respekt, den wir den vielfältigen mikrokosmischen Universen des menschlichen Körpers schulden und der Komplexität seiner Reaktion auf physische Verletzungen, so bezeichnet unsere Verwendung des Begriffs Traumatologie doch ein viel breiteres, ein wirklich umfassendes Feld, ein schon existierendes Forschungsfeld, das darauf wartet, erkannt, organisiert und entwickelt zu werden – ganz ähnlich wie ein Land darauf wartet, entdeckt zu werden“ (Donovan 1991, 433, Übersetzung G. F.).
Für Donovan stellt also Traumatologie ein übergeordnetes Gebiet dar, das die chirurgische Traumatologie als ein besonderes Fach einschließt. Er kommt zu folgender Definition:
„Traumatologie ist das Studium der natürlichen und vom Menschen hervorgerufenen Traumata (vom ,natürlichen‘ Trauma, von Unfällen und Erdbeben bis hin zu den Schrecken unbeabsichtigter oder auch beabsichtigter menschlicher Grausamkeit), von deren sozialen und psychobiologischen Folgen und den prädiktiven/präventiven/interventionistischen Regeln, die sich aus diesem Studium ergeben“ (434).
Donovan betont, dass die Traumatologie seiner Meinung nach ein neues, in sich zusammenhängendes Forschungsfeld darstelle und als solches betrieben werden sollte. Er führt einige Ansätze an, die als Vorläufer dieser künftig zu entwickelnden Disziplin betrachtet werden können, die aber bezeichnenderweise im etablierten Wissenschaftsbetrieb mehr oder weniger untergegangen seien, so etwa die Erforschung traumatischer Sozialisationserfahrungen, die in der modernen „biologischen Psychiatrie“ heute kaum noch Beachtung finde. Ein ähnliches Schicksal hätten viele Bereiche traumatologischer Forschung erfahren. In verschiedenen Disziplinen führen sie eine Rand- oder Schattenexistenz. Sie haben sich bisher nicht zu einer konsistenten Theorie und Bestimmung eines Forschungsfeldes zusammengefunden. Desto notwendiger erscheint Donovan ein transdisziplinärer Forschungsansatz „Traumatologie“, der in sehr unterschiedliche Felder hineinreicht. Traumatologie sei notwendigerweise so komplex, dass sie sehr unterschiedliche Bereiche von Forschung und klinischer Erfahrung einbeziehen müsse, wie etwa: „Cognitive studies; developmental, clinical and research psychology; medicine, anthropology; epidemiology; and even education research“ (loc. zit.).
Eine so umfassende Konzeption des neuen Forschungsgebietes blieb nicht unwidersprochen. Schnitt (1993) argumentiert zunächst, dass der Begriff „Traumatologie“ schon von der Chirurgie belegt sei. Er äußert im Übrigen die Befürchtung, eine neue Bezeichnung und die Abgrenzung eines neuen Forschungsgebietes könne die von Donovan beklagte Aufsplitterung des traumatologischen Wissens sogar noch weiter fördern und zu Separatismus führen. In seiner Erwiderung hält Donovan (1993) an Programmatik und Namen der neuen Disziplin fest und betont vor allem die Chance, bisher verstreute Wissensbestände zu integrieren. Ein weiterer Diskussionspunkt ist die Frage, ob angesichts der Komplexität des Wissens und der Dringlichkeit seiner praktischen Umsetzung nicht möglicherweise auch eine eigene Berufsgruppe ausgebildet werden sollte. Donovan beurteilt eine solche Möglichkeit grundsätzlich positiv, während Schnitt Dilettantismus befürchtet und den Berufsabschluss in einer traditionellen Disziplin als Voraussetzung für praktische traumatologische Tätigkeit betrachtet.
Zumindest für den deutschen Sprachraum scheint es uns sinnvoll zu sein, den Ausdruck Psycho-Traumatologie zu verwenden, unter anderem in Abgrenzung von der Chirurgischen Traumatologie. In ihrem Lehrbuch beschreiben Kuner und Schlosser (1988) die Geschichte der chirurgischen Traumatologie folgendermaßen:
„Die Erkennung und Behandlung von Unfall- und Verletzungsfolgen gehört zu den ältesten Zweigen ärztlicher Tätigkeit. Verletzungen des Menschen durch Unfälle als Folge menschlicher Auseinandersetzungen sind so alt wie die Menschheit selbst, und in der Notwendigkeit, dem verletzten Mitmenschen zu helfen, liegt die Wurzel jeder Traumatologie“.
Psycho-Traumatologie, die Untersuchung und Behandlung seelischer Verletzungen und ihrer Folgen hat sicher ein ähnliches therapeutisches Ziel wie die chirurgische Traumatologie. Es ist aber aufschlussreich, dass sich eine solche Disziplin erst heute, also sehr viel später als die Wissenschaft von den körperlichen Wunden zu bilden beginnt. Haben die Menschen ihre seelischen Wunden bisher vernachlässigt, vielleicht schon deshalb, weil sie im Unterschied zu den körperlichen unsichtbar sind? Wir kommen im Folgenden Abschnitt auf diese Frage zurück. Jedenfalls stellt eine explizit psychologische und psychosomatische Traumatologie in der Geschichte der Medizin ein Novum dar. Dies sollte in der Bezeichnung auch zum Ausdruck kommen und terminologisch nicht mit der traditionellen medizinischen Traumatologie konfundiert werden. Eine Gefahr dieser Begriffswahl besteht vielleicht darin, das Gebiet zu stark zu verengen, so dass der fächerübergreifende Bezug, den Donovan mit seiner Programmatik fördern möchte, gefährdet wird. Diese Gefahr erscheint uns allerdings geringer als die komplementäre einer erneuten Vernachlässigung der menschlichen Erlebnissphäre, wie sie leider in der Medizin und sogar in der Psychologie lange Zeit zu beklagen war. Als terminologisches Anhängsel einer erweiterten medizinischen „Traumatologie“ sähe die neue Disziplin einem ungewissen oder, angesichts der bisherigen Erfahrungen, wohl sogar gewissen Schicksal entgegen. Der Ausdruck Psycho-Traumatologie soll die Aufmerksamkeit auf die menschliche Erlebnissphäre richten. Dabei dürfen die somato-psychischen und psycho-somatischen Wechselbeziehungen natürlich nicht vernachlässigt werden. Ebenso wenig die sozialen Bezüge der menschlichen Erfahrungswelt. Die Verletzungen jedoch, von denen das neue Gebiet handeln soll, liegen nicht primär im körperlichen und auch nicht vage in einem irgendwie konzipierten „sozialen Bereich“. Betroffen ist auch keine behavioristische „black-box“ oder sonst ein „Konstrukt“, sondern das verletzbare, sich-empfindende und sich-verhaltende menschliche Individuum, wenn es in seinen elementaren Lebensbedürfnissen bedroht und verletzt, in seiner menschlichen Würde und Freiheit missachtet wird. Psychologie als die Wissenschaft vom menschlichen Erleben und Verhalten kann hier zentrale Beiträge leisten, wenn sie sich nicht schon im Vorhinein ihres eigentlichen Gegenstandes entledigt, wie dies der → Behaviorismus tat. Von einer „Verhaltens-Traumatologie“ zu reden, wäre zumindest im deutschen Sprachverständnis einigermaßen widersinnig. Das Festhalten dagegen am Bezugspunkt einer je besonderen, individuellen Erlebnissphäre schafft erst die begriffliche Voraussetzung für eine Lehre von den psychischen Verletzungen, ihrem „natürlichen“, unbehandelten Verlauf und den Möglichkeiten ihrer therapeutischen Beeinflussung. Wie in den folgenden Abschnitten noch deutlich wird, verstehen wir den Ausdruck „Psycho-“ in Psychotraumatologie im Rahmen eines „Mehr-Ebenen-Konzepts“ von der psychosozialen und physischen Wirklichkeit. Die psychische Ebene wird darin als eine Differenzierungsform der körperlich-physischen gesehen. Sie stellt zugleich eine Individuierung, eine Besonderung der gesellschaftlich allgemeinen Kommunikations- und Beziehungsformen dar. Von daher muss die Psychotraumatologie unter sozialen und physiologisch-somatischen Gesichtspunkten zugleich betrieben werden. Ihr zentraler Bezugspunkt ist jedoch die menschliche Erlebnissphäre, die nicht weniger verletzbar, in ihren Funktions- und Regulationsbedingungen nicht weniger stör- und „kränkbar“ ist als die körperliche Ebene des psychophysischen menschlichen Weltverhältnisses.
Mit Donovan sind auch wir der Meinung, dass das „Stress“-Konzept, so große Verdienste es in Psychologie, Psychosomatik und innerer Medizin hat, nicht ausreicht, um das zu bezeichnen, was speziell den Gegenstand einer psychosozialen und psychosomatischen Traumatologie bildet: die Störung bzw. Zerstörung psychischer Strukturen und Funktionen, die in gewissem Sinne analog zu jenen Zerstörungen gesehen werden kann, mit denen sich die chirurgische Traumatologie befasst. Handelt es sich beim Vergleich von körperlichen und seelischen Verletzungen nur um ein Wortspiel, allenfalls eine Metapher? Oder können wir von strukturellen Entsprechungen beider Bereiche ausgehen? Und wenn, wo beginnt und wo endet eine solche Analogie? Mit diesen Fragen werden wir uns im Folgenden Abschnitt befassen.
1.1.1 Psychisches Trauma in einem polyätiologischen Modell
Wir wissen heute, dass psychotraumatische Erfahrungen zu seelischen Folgeschäden führen können, ohne dass zusätzliche Bedingungsfaktoren erforderlich sind. Psychische Traumatisierung ist demnach als eine eigenständige ätiologische (von altgr. = ursächliche) Kategorie der psychologischen Medizin zu betrachten. Darüber hinaus sollten bei Verursachung psychischer Störungen mindestens noch drei weitere typische Einflussgrößen berücksichtigt werden: Übersozialisation (z. B. zu strenge, rigide Erziehung), Untersozialisation (z. B. Verwöhnung oder Vernachlässigung) sowie biologische Faktoren genetisch angeborener, aber auch früh erworbener Art. Abbildung 1 gibt eine Übersicht über ein polyätiologisches Modell, das vier ätiologische Einflusssphären und ihre wechselseitigen Verflechtungen umfasst. Im Folgenden werden die einzelnen Größen und ihr Zusammenspiel diskutiert.
Psychotraumatische Einflüsse. Traumastörungen bilden eine der wenigen nosologischen (von altrg. nosos = Krankheit und logos = Lehre: Lehre von den Krankheitsbildern) Einheiten, deren Verursachung bekannt ist. Aus Forschungen zur Kriegstraumatisierung beispielsweise geht hervor, das PTBS umso eher auftritt, je enger ein Soldat am Zentrum des Kampfgeschehens eingesetzt wird. Allgemein üben Erbfaktoren zwar einen modifizierenden Einfluss aus, es ist bisher aber nicht gelungen, einzelne Gene zu identifizieren (Cornelis 2010). Dem psychotraumatischen Einflussfaktor entspricht nosologisch das Traumaspektrum psychischer Störungen, das über das basale PTBS hinaus die Syndrome der speziellen Psychotraumatologie umfasst sowie dissoziative Störungen, einen Teil der Borderline-Störungen und somatoforme Störungsbilder. Neben einer spezifischen Ätiologie weisen Traumastörungen eine spezifische Pathogenese auf (von altgr. pathos = Krankheit und genesis = Entstehung: Entstehungsverlauf eines Störungsbildes), die sich u. a. aus der Dynamik von Traumaschema und traumakompensatorischem System ergibt.
Übersozialisation. Dieser Einflussfaktor entspricht einem übermäßig strengen, rigiden und einengenden Erziehungsstil. Die Vitalität der Persönlichkeit wird unterdrückt. Triebimpulse und Phantasiesysteme werden durch die rigide Prägeform gewissermaßen „ausgestanzt“. Traditionell konservative Sozialisationsmuster üben hier ihren Einfluss aus, ebenso gibt es modernere, streng leistungsbezogene, aber nicht minder asketische Varianten dieses Sozialisationstyps. Die Pathogenese lässt sich oft nach dem psychodynamischen (Trieb-) Wunsch/Abwehr-Modell beschreiben. Es ließe sich zwar diskutieren, ob und wieweit ein übertrieben strenger und rigider Erziehungsstil im Ganzen als „traumatisch“ bezeichnet werden kann. Jedoch ist von einer Überdehnung des Traumabegriffs abzuraten, da traumatische Ereignisse und Lebensumstände im engeren Sinne unter dieser Voraussetzung ihre Besonderheit verlören und Trauma, ähnlich wie Stress, zu einem „Passepartout“ geriete. Allerdings besteht eine „Schnittmenge“ (A–B) zwischen beiden Bereichen, in die z. B. ein übersozialisativer Erziehungsstil sicher dann hineinreicht, wenn rigide Erziehungsnormen mit brutalen körperlichen Strafen durchgesetzt werden.
Abbildung 1: Polyätiologisches Modell psychischer Störungen (Fischer 2000b, 168). Die ätiologischen Einflussgrößen sind durch vier Kreise veranschaulicht, die bilaterale Schnittmengen aufweisen sowie eine Gesamtschnittmenge im Mittelbereich.
Vom Störungsbild her entsteht unter den genannten Bedingungen die klassische neurotische Persönlichkeit mit ausgeprägter Identität, vertikaler Abwehrorganisation, relativ kohärentem Ich-Selbst-System, die an der übermäßigen Verdrängung vitaler Impulse neurotisch erkranken kann. Es wäre zu untersuchen, wieweit die traditionellen Geschlechtsrollenstereotypen neurotogene Faktoren enthalten, möglicherweise unterschiedlich für beide Geschlechter. Die traditionell von Mädchen erwartete Bravheit, Sittsamkeit, altruistische Hilfsbereitschaft und Unterordnung enthält zweifellos pathogene Elemente aus dieser ätiologischen Einflusssphäre.
Biologisch angeboren und biologisch erworben. Erbgenetische Faktoren verbinden sich mit den übrigen ätiologischen Strömungen in unterschiedlicher Weise, beispielsweise im Sinne der von Freud formulierten „Ergänzungsreihe“ zwischen somatischen und psychischen Einflussgrößen. Die geringste Rolle scheint die genetische Disposition bei psychotraumatischen Situationsfaktoren von mittlerem und hohem Schweregrad zu spielen. Neben den genetisch angeborenen Dispositionen rücken erworbene, gleichwohl physiologisch verankerte Dispositionen neuerdings immer deutlicher ins Blickfeld. Dazu gehören einmal die verschiedenen zentralnervösen, neuromuskulären und neurovegetativen Folgen des Traumas, zum anderen in der Kindheit früh erworbene Veränderungen hormoneller und neuroendokriner Regulationssysteme, z. B. eine Dysregulation des Serotoninhaushalts infolge frühkindlicher Deprivation, die für depressive Erkrankungen im Erwachsenenalter disponiert (vgl. Abschnitt 3.4.1). Bei den erworbenen, traumabedingten physiologischen Dispositionen steht die Forschung erst in den Anfängen.
Untersozialisation. Prototyp sind sog. „verwöhnte“ Kinder, die eine „Laisser-faire“-Erziehung und zu geringe oder auch einseitige normative Strukturierung erfahren. Ein Beispiel sind Eltern, die ihren Kindern immer „Recht geben“, wenn es zu Konflikten mit anderen Kindern oder außerfamiliären Personen oder Instanzen kommt, unabhängig vom realen Konfliktanteil der Kinder. So entsteht ein Mangel an Empathie, Normenverständnis und Verständnis für die fundamentale „Wechselseitigkeit“ (vgl. Fischer 1981) sozialer Beziehungen, die den Kern des kommunikativen Realitätsprinzips (Uexküll u. Wesiack 1988) bildet. Parallel entsteht ein Lerndefizit in Bezug auf soziale Fertigkeiten, die einen wechselseitig befriedigenden Umgang mit anderen Kindern oder außerfamiliären Erwachsenen gewährleisten. Kommen weitere negative Bedingungen hinzu, so kann dieses Sozialisationsmuster in eine dissoziale oder antisoziale Karriere münden. Auch bei diesem Sozialisationstyp können psychotraumatische Faktoren hinzutreten. Sie tragen dann zu einer Verschärfung der Verhaltensdefizite und antisozialen Tendenzen bei. Auch eine erbgenetische Disposition wird diskutiert, welche zu Veränderungen in der Verarbeitung von Angst und Bedrohung und einer veränderten „startle-response“ (= angeborene Schreckreaktion auf ungewöhnliche Umgebungsreize) führt (Patrick 1993, Vaidyanathan 2011, Newman 2010). Daraus resultierende Impulsivität und Schwererreichbarkeit durch Erziehungsmaßnahmen, ist beim „harten Kern“ der antisozialen, soziopathischen Persönlichkeit zu berücksichtigen und kann sich im Sinne einer Interaktion zwischen Erbfaktoren und Umwelteinflüssen aufschaukeln.
Es ist nun aufschlussreich, diese 4 ätiopathogenetischen Muster zu therapeutischen Vorgehensweisen in Beziehung zu setzen, die sich in der Geschichte der Psychotherapie „spontan“ herausgebildet haben. Vereinfachend gesagt, hat die Freudsche Psychoanalyse eine besondere Nähe zu Feld B, die Verhaltenstherapie, schon ihrer historischen Entwicklung aus der Pädagogik nach, zu Feld D, Psychopharmakotherapie und körperbezogene Psychotherapie zu Feld C und Traumatherapie zu Feld A. Insofern bietet die Übersicht zugleich Anhaltspunkte für ein an einer differenziellen Ätiopathogenese orientiertes Vorgehen in der Psychotherapie. Wir kommen in Kapitel 4 darauf zurück. An dieser Stelle kann festgehalten werden:
Psychotraumatologie erforscht und behandelt eine ätiologisch relevante und pathogenetisch spezifische Gruppe von Störungsbildern der psychologischen Medizin. Als weitere ätiologische Einflussgrößen für die Entstehung psychischer Störungen sind Über- und Untersozialisation sowie angeborene oder erworbene biologische Dispositionen zu berücksichtigen.
1.2 Seelische und körperliche Verletzungen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
In einer ersten Arbeitsdefinition können wir psychisches Trauma als seelische Verletzung verstehen (von dem griechischen Wort traûma = Wunde, Verletzung). Wie die verschiedenen somatischen Systeme des Menschen in ihrer Widerstandskraft überfordert werden können, so kann auch das seelische System durch punktuelle oder dauerhafte Belastungen in seinen Bewältigungsmöglichkeiten überfordert und schließlich traumatisiert/verletzt werden. Von dem, was geschieht, wenn eine solche Verletzung eingetreten ist, oder was zur Heilung geschehen sollte, davon handelt eine psychologische und psychosomatische Traumatologie als Lehre von Struktur, Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten seelischer Verletzungen und ihrer Folgen. Die Analogie zwischen seelischen und körperlichen Verletzungen ist in einigen umgangssprachlichen Wendungen ausgedrückt, wenn wir etwa sagen: „das hat mich sehr verletzt“ oder „getroffen“ usf. Hier werden bildlich/metaphorisch seelische und körperliche Verletzungen miteinander gleichgesetzt. „Etwas macht mich kaputt, zerreißt mich in Stücke“, oder jemand fühlt sich „gekränkt“ sind weitere Beispiele. Die Metaphern verdeutlichen, dass wir seelische Verletzungen sehr stark vom körperlichen Erleben her interpretieren, dass – wie Freud formuliert hat – das Körper-Ich der Kern auch des psychischen Ich, des seelischen Erlebenszentrums ist.
Es gibt eine zweite Gruppe von umgangssprachlichen Wendungen zur Analogie zwischen körperlichen und seelischen Verletzungen, so etwa: „Zeit heilt alle Wunden“. Hier sind die körperlichen und die seelischen Wunden gleichgesetzt. Wir wissen aus dem Umgang mit körperlichen Erkrankungen/Wunden, dass Heilvorgänge Zeit brauchen. Diese Erfahrung wird auf seelische Verletzungen übertragen. Das Gegenteil stimmt aber auch: Zeit allein heilt nicht alle Wunden, weder die körperlichen noch die seelischen. Vielleicht hat der Organismus eigene, übergreifende Selbstheilungsstrategien entwickelt, die für den körperlichen Bereich ebenso gelten wie für den seelischen. Wahrscheinlich müssen wir die seelischen Verletzungen und deren natürliche Wundheilungsmechanismen mit gleicher Aufmerksamkeit studieren wie die körperlichen. Wir lernen dann unterscheiden nach der Art des verletzten seelischen „Gewebes“, verstehen seelische Vorgänge wie Trauerarbeit oder die verschiedenen Abwehr- und Bewältigungsmechanismen als Selbstheilungsversuche des psychischen Systems und können diese Prozesse gezielt unterstützen bzw. Fehlentwicklungen rechtzeitig erkennen und verhindern. Auf die psychische Traumatologie warten Aufgaben, die nicht geringer sind als in der somatischen Traumatologie und Krankheitslehre.
Gibt es psychische Analogien zur Selbstheilungstendenz des Organismus? Wie versucht der Organismus, schädliche psychische Reize, die seine Abwehr durchbrochen haben, zu eliminieren? Grundsätzlich wäre es nicht verwunderlich, wenn sich bestimmte Selbstheilungsstrategien wie etwa die „Sequestrierung“ als Versuch, einen eingedrungenen Fremdkörper einzukapseln und zu eliminieren, auch auf der psycho-physiologischen Ebene wiederfinden ließen. Ist vielleicht der Trauervorgang einem Eliminierungsprozess analog zu verstehen, wie ihn das Eitern einer Wunde darstellt? Wird – wie in einer psychoanalytischen Metapher – ein Introjekt durch Trauerarbeit aus dem psychischen Organismus gleichsam „ausgeschieden“?
Die Beispiele verdeutlichen vielleicht, dass die Analogie zwischen körperlicher und psychischer Traumatologie durchaus fruchtbar sein kann. Wir müssen allerdings auch auf ihre Grenzen aufmerksam werden. Darauf stoßen wir beispielsweise, wenn wir fragen, weshalb die chirurgische Traumatologie ein wissenschaftliches Fach ist, das auf eine mehrtausendjährige Geschichte zurückblickt, während Psychotraumatologie sich immer noch konstituiert. Wir möchten hierfür eine Erklärungshypothese vorschlagen, die an die sinnliche Gegebenheitsweise körperlicher versus seelischer Verletzungen anknüpft: körperliche Verletzungen kann man sehen und anfassen (behandeln), seelische dagegen nicht. Körperliche haben eine physische Repräsentanz, seelische Verletzungen sind unsichtbar – wenn darum auch nicht weniger real und wirksam als die körperlichen Verletzungen und in letzter Zeit durch Bildgebungsverfahren auch physiologisch nachweisbar.
Nun fällt es den Menschen wohl immer schon leichter, sichtbare Phänomene als wirksam einzuschätzen im Vergleich mit unsichtbaren. Möglicherweise ist die Menschheit in ihrer geistesgeschichtlichen Entwicklung noch nicht sehr lange dazu im Stande, auch unsichtbare Größen wissenschaftlich zu erforschen. Piaget (1947) hat in seiner „genetischen Erkenntnistheorie“ gezeigt, dass vor allem der menschliche Egozentrismus verhindert, die eigene psychische Aktivität als solche zu erfassen. Das Kind in den so genannten voroperationalen und frühen operationalen Stadien (bis 7. Lebensjahr etwa) ist auf die Welt der sichtbaren und manipulierbaren Dinge ausgerichtet. Seine Ontologie beschränkt sich auf eine naive Physik. Seelische Phänomene können in dieser Welt nicht erfasst werden. Sichtbar sind die Gegenstände und Handlungen, nicht aber das Sehen selbst. Die Wahrnehmung als solche ist unsichtbar und daher weniger „real“ – für Kinder oder auch für Erwachsene, die auf das konkret-operationale Stadium der kognitiven Entwicklung fixiert sind. Watson, der Begründer des amerikanischen Behaviorismus, hat die Forschungsstrategie propagiert, alle „mentalen“ Begriffe in Verhaltensbegriffe zu überführen. Mit dieser kognitiven Regression hatte der Behaviorismus als herrschende Richtung in der westlichen Psychologie (analog zu der Pawlowschen Variante von „Psychologie“ im Stalinismus) lange Zeit den psychologischen Gegenstand, nämlich das „unsichtbare“ psychische Erlebniszentrum aus der Wissenschaft verbannt. Die seelischen Verletzungen blieben damit ebenfalls unsichtbar. Auch im täglichen Leben begegnen uns viele Menschen, die sich in einem „vorpsychologischen“ Stadium ihrer seelischen Entwicklung befinden. Sie pflegen manchmal heftige Vorurteile gegen die „Psychologie“. Diese sei keine Wissenschaft und könne auch keine werden, da ihr Gegenstand „nicht greifbar“ sei.
Das naive „Alltagsbewusstsein“ ist zumeist auf die Gegenstände der äußeren Wahrnehmung gerichtet und nicht auf seine eigene Tätigkeit des Wahrnehmens, Beurteilens und Denkens selbst. Die Einsicht in die Realität seelischer Verletzungen setzt jedoch die Einsicht in die Realität seelischer Vorgänge, Prozesse und Strukturen voraus. Zu dieser Erkenntnis gelangen wir, wenn wir uns fragen, was ist eigentlich „realer“, der Gegenstand des Denkens oder das Denken selbst? Oder, um ein anderes Thema der allgemeinen Psychologie anzusprechen: was ist „realer“, die Wahrnehmung oder der Wahrnehmungsgegenstand? Hier wird deutlich, dass beides gar nicht voneinander getrennt werden kann. Die Wahrnehmung ist ohne den Wahrnehmungsgegenstand nicht denkbar, aber auch umgekehrt setzt jeder Wahrnehmungsgegenstand als solcher ein Subjekt voraus, das den Wahrnehmungsakt ausführt. Der subjektive Faktor, die Konstitution des Wahrnehmungsgegenstandes im Akt der Wahrnehmung ist aber häufig demjenigen unzugänglich, der in einer „naiv“ empirischen, alltäglichen Einstellung auf die Gegenstände seiner Wahrnehmung und Handlungen ausgerichtet ist und dabei sich als den Handelnden und Wahrnehmenden vergisst.
Diese reibungslose Ausrichtung auf Gegenstände und alltägliche Geschäfte wird nun durch seelische Verletzungen gefährdet. Eine Abwehrstrategie psychischer Traumatisierung besteht im Ignorieren und einer besonders intensiven Zuwendung zu den äußeren Geschäften des Alltagslebens. Das verletzte psychische System/die psychisch verletzte Persönlichkeit sucht die Verletzung nach Möglichkeit auszublenden und betreibt „business as usual“. Dieser Umgang mit psychischen Verletzungen und Kränkungen findet sich bei vielen traumatisierten Persönlichkeiten. Er scheint aber auch charakteristisch zu sein für den Umgang in der täglichen Lebenswelt mit dem Problem seelischer Verletzungen und spiegelt sich in einem „vulgärmaterialistischen“ Wissenschaftsverständnis ebenso wider wie im methodologischen Behaviorismus, einer Forschungsstrategie, die von Erlebnisphänomenen grundsätzlich absehen zu können glaubt. Das psychische Erlebniszentrum als Zentrum zugleich der seelischen Schmerzempfindung wird für unerkennbar, zur „black box“, erklärt. So beruhen auch manche Konzepte der in sich ja sehr heterogenen „wissenschaftlichen Gemeinschaft“ auf Abwehrvorgängen gegen seelische Verletzungen und bedienen sich dabei ähnlicher Abwehrstrategien, wie verletzte Individuen, die sich reflexhaft vor der Wahrnehmung seelischer Schmerzen schützen.
„Unsichtbarkeit“ des Gegenstandes und reflektorische Abwehr erschweren manchen Menschen den Zugang zur Psychotraumatologie als einer Wissenschaft, die speziell die Verletzlichkeit psychologischer und psychosozialer Systeme untersucht. Psychotraumatologie muss aber vor allem gewisse Eigenheiten des seelischen Systems berücksichtigen, die sich auf der Ebene der physikalischen und biologischen Systeme im engeren Sinne noch nicht antreffen lassen. Solche Eigenheiten lassen sich beschreiben mit dem Begriff einer Regel bzw. Norm, die über verschiedene ontologische Ebenen hinweg, von der physiko-chemischen über die biologische bis hin zur psychosozialen, bestimmte Besonderheiten annimmt. Dies wird deutlich, wenn wir als das Gegenstück zu Norm den Begriff des Abnormalen oder Krankhaften verwenden. Krankheit lässt sich als Abweichung definieren von einer Regel oder Norm, die ihrerseits wiederum das gesunde oder normale Funktionieren des Organismus bzw. des Individuums festlegt. Nun deckt dieser Begriff der Regel oder Norm sehr unterschiedliche Phänomene ab, je nachdem wie wir ihn definieren und auf welchen ontologischen Bereich wir ihn anwenden. Tabelle 1 gibt eine Übersicht über Typen von Normen und ordnet sie verschiedenen ontologischen Ebenen zu.
Tabelle 1: Normen und Ebenen der Wirklichkeit
Die einzelnen Elemente von Tabelle 1 wollen wir schrittweise erörtern. Zunächst zur Norm. Dabei unterscheiden wir drei unterschiedliche Normbegriffe: 1. die funktionelle Norm; 2. die statistische Norm; 3. die Idealnorm. Diese Unterscheidung ist in psychosozialen Fächern, wie der medizinischen oder klinischen Psychologie, weitgehend geläufig. Funktionelle oder strukturelle Normen vergleichen einen Ist-Zustand mit einem vorgegebenen Sollwert. Hierzu gehören z. B. die Blutdruckregulierung und viele andere Normwerte der körperlich-biologischen Selbstregulierung. Bei Abweichung von diesen Normwerten, bei einem Blutdruck über 140 zu 90 (systolisch vs. diastolisch), liegt ein Verdacht auf Hypertonie nahe, auf passager oder chronisch erhöhten Blutdruck. Dieser Wert kann ein Alarmsignal sein, das ein Eingreifen verlangt.
Die meisten funktionalen Normen der biologischen Regulationsebene weisen größere interindividuelle Schwankungen auf innerhalb einer noch als „physiologisch“ zu bezeichnenden Schwankungsbreite. Funktionelle Normen beruhen im subatomaren Bereich auf statistischen Normen (2). Die funktionelle Norm setzt aber der statistischen Schwankungsbreite klare Grenzen. Eine Abweichung von diesen Grenzwerten ist dann potenziell pathologisch.
Die Idealnorm (3) dagegen entspricht einer idealen Setzung, die weniger im biologischen und physikalischen, als vielmehr im psychosozialen Phänomenbereich anzutreffen ist. Ein Beispiel dafür sind Normen, Ziele und Verhaltensregeln, die eine Gesellschaft oder soziale Gruppe für ihre Mitglieder definiert bzw. die – handlungstheoretisch betrachtet – sich die Gesellschaftsmitglieder selbst auferlegen. Solche Normen können mehr oder weniger variabel sein. Es gibt ethische Normen, die man gleichsam zur „hardware“ gesellschaftlicher Systeme zählen muss. Man könnte sie als die „funktionale“ Norm einer Gesellschaft bezeichnen. So etwa die „goldene“ ethische Regel: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“. Auch Kants kategorischer Imperativ stellt eine Variation dieser Regel dar. Die „funktionalen“ Normen der Gesellschaft sind aber – im Gegensatz zu den biologischen – nicht im genetischen Code verankert, sondern existieren in der Idee einer gerechten Gesellschaftsordnung als ideale Setzung und müssen auf dieser Ebene verwirklicht werden. Andere Vorschriften einer „idealen Norm“ erscheinen als mehr oder weniger willkürliche Setzungen und sind historisch und interkulturell variabel. Ein Beispiel ist der Umgang mit Homosexualität in der abendländischen Geschichte und in unterschiedlichen Kulturen. Während homosexuelle Beziehungen im griechischen Altertum unter gewissen Bedingungen als sozial wertvoll geschätzt wurden, wurde diese Form der Erotik später immer stärker diskriminiert bis hin zur Ermordung zahlreicher Homosexueller durch die Nazis.
Da Idealnormen kulturgebunden sind, kann eine interessante Wechselwirkung mit statistischen Normen entstehen, die sich am Beispiel des Kinsey-Reports zum Sexualverhalten der Nordamerikaner zeigen lässt. Als Kinsey (der übrigens von Haus aus Bienenforscher war) seine Befragung in den USA durchführte, waren in vielen nordamerikanischen Staaten sexuelle Verhaltensweisen, nach denen Kinsey fragte, im Sinne einer „idealen“ normativen Setzung mit strafrechtlichen Sanktionen belegt. Oral-genitale Kontakte (Cunnilingus und Fellatio) wurden in einigen Staaten mit Zuchthaus geahndet. Kinsey fand heraus, dass die überwiegende Mehrheit der Erwachsenen solche Liebestechniken pflegte. Als in der Öffentlichkeit deutlich wurde, dass eine Bevölkerungsmehrheit demnach Zuchthausstrafen verdient hatte, wurden nun umgekehrt rechtliche Bestimmungen, die aus der unreflektierten Übernahme sexualfeindlicher religiöser Normen in das politische System eingegangen waren, mehr und mehr in Frage gestellt. Ideologen des jeweils herrschenden Gesellschaftssystems sind bemüht, ihre Interessen oder magischen Vorstellungen ihre „Idealnormen“ als unveränderliches „Naturgesetz“ hinzustellen und deren Anpassung an reale gesellschaftliche Lebensbedürfnisse zu verhindern.
Bezüglich der verschiedenen Normtypen können wir festhalten: In den funktionellen oder strukturellen Normen wird ein Ist-Zustand verglichen mit einem vorgegebenen Soll-Wert. In der statistischen Norm wird der Ist-Zustand relativ zu einem Messwert bestimmt, zumeist in Abweichungseinheiten vom Mittelwert einer statistischen Verteilung. In dieser Verteilung von Messwerten müssen aber keineswegs Naturgesetze oder funktionale Normwerte zum Ausdruck kommen, ebenso gut können Zufallsphänomene oder gesellschaftliche Setzungen der beobachteten Verteilung zugrunde liegen. Bei der Idealnorm wird der Ist-Zustand verglichen mit einem gewählten Soll-Wert. Hierbei können Vorurteile oder auch rational begründete Idealvorstellungen wirksam sein. Ordnen wir die Normtypen unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen zu, wie dies in Tabelle 1, Abschnitt B geschieht, so gelten auf der physiko-chemischen Ebene die so genannten „Naturgesetze“ und entsprechend vor allem die Normen 1 und 2, die funktionelle und statistische Norm jeweils mit vorgegebenem Sollwert. Auf der biologischen Ebene gelten ebenfalls die Normen vom Typ 1 und 2; es kommen jedoch selbstregulative Systemeigenschaften bei vorgegebenem Sollwert hinzu, die sich auf der physiko-chemischen Ebene 1 noch nicht finden. Und schließlich tritt auf der psychosozialen Ebene zu den übrigen noch Regeltyp 3 hinzu, die Fähigkeit zur individuellen oder gesellschaftlichen Setzung von Sollwerten.
Das Verhältnis der Wirklichkeitsebenen zueinander kann nun aufgefasst werden im Sinne der Emergenz (= Auftauchen) neuer Systemqualitäten oder der Supervenienz (= Überlagerung) der nächstniederen durch Systemeigenschaften der nächsthöheren Wirklichkeitsebene. Emergenz betont stärker die Diskontinuität im Übergang zwischen den Ebenen, das Supervenienzkonzept eher die Kontinuität im Wandel. Sucht man z. B. im Sozialverhalten von Tieren nach Vorläufern menschlicher Verhaltensnormen, so trifft man auf eine breite Palette strukturell paralleler angeborener und auch erlernter Verhaltensweisen. Durch die Fähigkeit des Menschen, in Gruppenentscheidungen oder Gesetzgebungsverfahren bewusst überlegte Regeln zu setzen, gewinnen jedoch auch die angeborenen sozialen Verhaltensweisen beim Menschen eine neue Systemqualität. Sie können zu deren gestaltbildenden Prinzipien beispielsweise in Widerspruch treten und dadurch konflikthafte Verhältnisse schaffen, die auf der biologischen Ebene noch nicht möglich waren. Ein Bewertungskriterium stellt die mehr oder weniger gelungene Integration der Ebenen dar. Es gelten auf den höheren immer auch die Regeln und Gesetzmäßigkeiten aller niedrigeren Ebenen. Diese werden jedoch in die neue Systemqualität einbezogen, in ihrer bisherigen Geltung relativiert und können mit dem neuen system- oder „gestaltbildenden“ Prinzip (im Sinne der Gestalttheorie) in ein integratives bzw. mehr oder weniger widersprüchliches Verhältnis treten.
Da der Mensch die Fähigkeit zu einer Wahl von „Sollwerten“ besitzt, entstehen auf der psychosozialen Ebene zwei Varianten von funktionellem Fehlverhalten: die Dysfunktionalität von Mitteln gegenüber gesetzten Zielen und die Dysfunktionalität oder Irrationalität von Zielsetzungen selbst. Im neurotischen → Wiederholungszwang beispielsweise werden oft wohlbegründete und wertvolle Ziele verfolgt, jedoch mit Mitteln und Verhaltensweisen, die systematisch das Gegenteil des bewusst Intendierten bewirken. Auf der anderen Seite gibt es die zweckrationale Verwirklichung noch der irrationalsten Zielsetzungen wie beispielsweise die perfekte Organisation des Holocaust und anderer Genozide. Irrationale Zielsetzungen können in Motiven begründet sein wie bei antisozialem Verhalten und manchen Perversionen, die sich der bewussten Selbstwahrnehmung der Persönlichkeit entziehen. Mit der Zunahme von Möglichkeiten der Handlungsplanung und Entscheidungsfreiheit beim Menschen entsteht zugleich ein neuartiges Spektrum seelischer Störungen und Verletzbarkeiten.
Tabelle 1 beruht auf einer Zuordnungsregel zwischen Normen und Wirklichkeitsebenen, die gewissermaßen von „oben“ nach „unten“ gelesen werden muss. Naturwissenschaftlicher → Reduktionismus (Annahme C) verstößt gegen diese Zuordnungsregel und besteht in der Annahme, dass sich die Systemebenen 3 bzw. 2 ohne Informationsverlust auf die Ebenen 2 bzw. 1 zurückführen oder reduzieren lassen. Ein solcher epistemiologischer Reduktionismus folgt der verbreiteten Tendenz zur Reduktion komplexer Fragestellungen. Eine Form davon ist der sog. „Vulgärmaterialismus“, die Annahme, dass unsere psychische Informationsverarbeitung identisch sei mit den physiko-chemischen Prozessen der Gehirnfunktion (Reduktion von Psychologie auf Physiologie, Biochemie und Biophysik).
Wir wollen jetzt diese Überlegungen zum Aufbau der Wirklichkeit und zur Eigenart jener Regeln, welche die unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen beherrschen, kritisch auf die früher erwähnte Analogie von körperlichen und seelischen Verletzungen anwenden. Betrachten wir seelische Verletzungen ausschließlich oder vorwiegend analog zu körperlichen, so entspricht dies einer Kurzführung oder – bild-lich gesprochen – einem „Kurzschluss“ zwischen den Ebenen 3 und 2. Damit würden wir die Eigengesetzlichkeit der Ebene 3 verfehlen. Der Gesichtspunkt andererseits, der Emergenz oder Supervenienz bzw. der einer dialektischen „Integration“ der niedrigen in die höhere Systemebene, berechtigt uns dazu, der Analogie zwischen somatischen und psychischen Verletzungen eine relative Berechtigung zuzuschreiben. Wollen wir allerdings der spezifisch menschlichen Qualität von Verletzbarkeit, der → Psychotraumatologie im engeren Sinne, Rechnung tragen, so müssen wir das spezifisch menschliche Welt- und Selbstverhältnis zentral in unsere Überlegungen einbeziehen. Definitionen und Konzepte, die dieses leisten, sind in der Psychotraumatologie den „organologischen“, körperbezogenen Analogien und Metaphern, so wertvoll diese als Verständnisbrücken auch sein mögen, vorzuziehen. Wir müssen beispielsweise berücksichtigen, dass die Verletzung der menschlichen Fähigkeit zur Selbstbestimmung – ein Konzept der „psychosozialen Ebene“ (3) – eine spezifische traumatische Erlebnisqualität besitzt, die wir auf Ebene 2 möglicherweise noch nicht in gleicher Form antreffen. Eine Frau, die Opfer einer Vergewaltigung wurde, wird nicht nur in den Bereichen der biologischen Selbstregulierung gestört und verletzt, sondern auch und vor allem in ihrem Recht auf und ihrer Fähigkeit zu sexueller Selbstbestimmung. Eine nicht-reduktionistische Definition von Trauma muss daher dem Entfaltungsspielraum der menschlichen Individualität und der menschlichen Fähigkeit zur sozialen Setzung, Einhaltung, aber auch Überschreitung normativer Regelungen Rechnung tragen. Traumatische Ereignisse und Erfahrungen führen beim Menschen zu einer nachhaltigen Erschütterung seines Welt- und Selbstverständnisses (→ Trauma). Die Reorganisation und Restitution von Selbst- und Weltverständnis ist wesentlicher Bestandteil der spezifisch menschlichen Traumaverarbeitung. Dieser Prozess folgt Gesetzmäßigkeiten, die sich bei Tieren nicht identisch beobachten lassen, obgleich traumatogene Situationen im Tiermodell in erstaunlicher Weise den menschlichen gleichen (s. Kap.3.1.2, Situationstypologie im Tierversuch). Organische Metaphern, die nicht in einem Mehr-Ebenen-Modell zugleich auch relativiert werden, besitzen oft eine Pseudoplausibilität und können nähere Verständnisbemühungen vorzeitig abblocken. Fortschritte der Psychotraumatologie sind insbesondere vom Bemühen zu erwarten, die menschliche Perzeption, Beantwortung und Verarbeitung traumatischer Situationen in ihren kognitiven, emotionalen und motivationalen Aspekten immer genauer zu verstehen.
Erklärung: Doppelpfeil für Übersetzungsprozesse, einfacher Pfeil für Aufwärts- bzw. Abwärtseffekte. Weitere Erläuterungen im Text.
Abbildung 2: Das Modell der Systemhierarchie
Neben der begrenzten Geltung somatischer Metaphern muss die Psychotraumatologie so genannte „Mehr-Ebenen-Effekte“ berücksichtigen, die sich über die physiko-chemische, biologische und psychosoziale Ebene hinweg fortpflanzen, und zwar in beide Richtungen. Thure von Uexküll und Paul Wesiack sprechen in ihrer Arbeit zur „Theorie der Humanmedizin“ (1988) von Aufwärts- und Abwärtseffekten. Abbildung 2 zeigt das Modell der Systemebenen nach Thure von Uexküll (1988, 171, modifiziert von uns).
Ein psychosoziales Trauma, etwa ein → Beziehungstrauma, kann physiologische Regelkreise einbeziehen und einen dauerhaften Überlastungszustand dieser Systemebene unter Einschluss biochemischer und biophysikalischer Subsysteme nach sich ziehen. Umgekehrt können sich in traumatischen Überlastungssituationen und im Anschluss daran die Funktionsbedingungen von ZNS und autonomem Nervensystem derart verändern, dass es relativ unabhängig vom im engeren Sinne psychischen Prozess der Traumaverarbeitung zu einem „Kurzschluss“ zwischen den Ebenen 1, 2 und 3 kommt: die physiologische Reaktionsebene wird von der psychischen weitgehend abgekoppelt. In diesem Sinne sprach schon Abraham Kardiner (1941) von der traumatischen Neurose als einer „Physioneurose“ (im Unterschied zu den sog. Psychoneurosen).
Eine interessante Hypothese ist, dass extreme traumatische Belastungssituationen regelmäßig einen solchen „Kurzschlusseffekt“ ausüben, indem sie die Ebenen des ontologischen Stufenmodells in pathologischer Weise zusammenführen. Die Folge ist, dass Naturgesetze und funktionale Normen, die normalerweise nur auf den Ebenen 1 und 2 Geltung haben, nun plötzlich auch die psychosoziale Ebene regieren. Das Trauma kann eine künstliche „Physiologisierung“ der psychosozialen Systemebene bewirken. Die Fähigkeit zur freien Bestimmung von Sollwerten und Handlungszielen wird dann tendenziell außer Kraft gesetzt. Im engeren, vom Trauma bestimmten und verzerrten Persönlichkeitsbereich folgt das Individuum funktionellen bzw. statistischen Normen und wird durch die traumatische Reizkonstellation so vollständig beherrscht, wie es das Reiz-Reaktions-Schema im klassischen → Behaviorismus vorsieht. Dies insbesondere in Erlebens- und Verhaltensbereichen, die vom → Wiederholungszwang betroffen sind und Tendenzen der → Traumatophilie unterliegen. Die Erklärung kann hier aber immer nur eine quasi-physiologische sein. Auch hier setzt die umfassende Erklärung an bei der traumabedingten Modifikation von Qualitäten der psychosozialen Systemebene. Die Möglichkeit, Handlungsziele und Werte innerhalb des von den Ebenen 1 und 2 freigelassenen „Spielraums“ unseres Verhaltens (Waldenfels 1980) zu entwerfen und diese mit adäquaten Mitteln zu verwirklichen ist (partiell) verloren. Traumatisch gebrochene Orientierungs- und Verhaltensschemata sind häufig durch eine veränderte Zielorientierung bestimmt, in der Sphäre der Mittel zur Zielverwirklichung wie auch der gesetzten Ziele selbst (vgl. die beiden Typen von „Dysfunktionalität“ in Tabelle 1, Abschnitt B3). Sie erwecken den Anschein rein „biologisch“ gesteuerter Abläufe und könnten dem biologischen Reduktionismus Vorschub leisten. Unser Mehr-Ebenen-Modell kann aber verdeutlichen, dass der biologische Determinismus keine primäre Gegebenheit ist, sondern sich dem traumatischen Verlust selbstregulativer Eigenschaften der psychosozialen Ebene verdankt.
Aus den Überlegungen dieses Abschnitts folgt für die Psychotraumatologie, dass sie mit Begriffen arbeiten muss, die der psychosozialen Ebene und ihrer Verletzlichkeit in besonderer Weise angemessen sind. Wir werden dafür später einige Konzepte vorschlagen wie „Traumaschema“, „traumakompensatorisches Schema“ oder „Desillusionierungsschema“, um die Desorientierung und die Versuche zur Reorientierung zu analysieren, die traumatische Erfahrungen in der Regel auslösen. Organische Metaphern und parallel zu ihnen die Ansätze biologischer Traumaforschung zeigen die verletzten funktionalen Normen der biologischen Wirklichkeitsebene auf und sind insofern für die Traumaforschung unentbehrlich. Als Rahmenkonzepte hingegen eignen sie sich nicht. Letztere müssen der psychosozialen Ebene entstammen und deren Eigenheiten zum Ausdruck bringen. Andernfalls würde Psychotraumatologie auf (somatische) Traumatologie reduziert und es ergäbe sich eine weitere Variante des naturwissenschaftlichen Reduktionismus. Psychotraumatologie verlangt, seelische Verletzungen des Menschen bis in seine Biosphäre hinein zu verfolgen und die Erscheinungen des Traumas auch aus der Verletzung der dort geltenden Regelsysteme zu erklären. Als Psycho-Traumatologie erhält die Traumaforschung jedoch den umfassenderen Bezug zum Welt- und Selbstverhältnis des Menschen aufrecht und thematisiert damit zugleich die spezifisch menschliche Form von Verletzlichkeit.
1.3 Zur Geschichte der Psychotraumatologie
Seelische Verletzungen als Folge von Katastrophen, Verlusten und Kränkungen sind so spektakuläre Erscheinungen, dass sie der Aufmerksamkeit der Menschen zu keiner Zeit entgangen sein dürften. Die „natural history“, gewissermaßen die „Naturgeschichte“ der Psychotraumatologie enthält zahlreiche Belege, dass die Menschen seit frühester Zeit über Kenntnisse und Praktiken zur Milderung traumatischer Erfahrungen verfügten. Wilson (1989) beschreibt Rituale verschiedener Völker, die diesen Zweck erfüllen sollen. Zu unterscheiden von dieser naturwüchsigen Geschichte der Psychotraumatologie ist die Geschichte der modernen Wissenschaft und ihrer Beiträge zur Begründung explizit traumatologischer Konzepte psychologischer oder psychosomatischer Art. In die „natural history“-Forschung fallen folgende Fragen: Wie sind die Menschen in ihrer Geschichte und im interkulturellen Vergleich mit psychischer Traumatisierung umgegangen? Wie haben sie das Phänomen und die Folgen zu beschreiben versucht und welche natürlichen, „intuitiven“ Maßnahmen haben sie gegen Traumata entwickelt? Die wissenschaftlichen Ansätze unterscheiden sich von diesen intuitiven Versuchen durch bewusste Reflexion, Klassifikationsversuche und systematische Forschung. Weder die natürliche Geschichte der Psychotraumatologie noch ihre wissenschaftliche aber sind allein aus sich heraus zu verstehen. Sie müssen vielmehr untersucht werden im Zusammenhang mit erschütternden Ereignissen in der Sozialgeschichte.
Verschiedene wissenschaftliche Konzepte zur Erklärung und Heilung psychischer Traumata sind bei historischen Anlässen entstanden. Das Konzept der „traumatischen Neurose“ wurde im 19. Jahrhundert entwickelt und im 1. Weltkrieg ausgebaut, als die Psychiatrie mit den Opfern von Kriegsneurosen konfrontiert war. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit psychischer Traumatisierung wurde nach dem 2. Weltkrieg durch Überlebende des Holocaust angeregt. In den Entschädigungsverhandlungen vertraten vor allem deutsche Psychiater die These, KZ-Folgeschäden seien maßgeblich auf die erbliche Veranlagung der Betroffenen zurückzuführen. Pross (1995) hat dieses unrühmliche Kapitel der deutschen Nachkriegspsychiatrie unter dem Titel „die Verfolgung der Verfolgten“ medizingeschichtlich aufgearbeitet. Die unsinnige Argumentation hat in der Folgezeit jedoch zu verstärkten Forschungsbemühungen geführt, die unsere Kenntnis der Traumafolgen allmählich auf ein wissenschaftliches Fundament stellen.
Ein weiteres historisches Ereignis, das zur Entwicklung der Psychotraumatologie beitrug, war der Vietnamkrieg. Viele Kriegsveteranen entwickelten psychopathologische Auffälligkeiten. Sie mussten in eigenen Anlaufstellen und „veteran-centers“ betreut werden. Aus der Arbeit der Psychologen, Ärzte, Sozialarbeiter und Pädagogen mit dieser Klientel erwuchs allmählich ein immer detaillierteres Wissen über den Zusammenhang zwischen Kriegssituation und Verarbeitung traumatischer Erlebnisse, das u. a. zur Formulierung des sog. „posttraumatischen Stresssyndroms“ (Posttraumatic Stress Disorder, PTSD) geführt hat. Auch Naturkatastrophen haben die Traumaforschung verstärkt, wie etwa die Flutkatastrophe bei Buffalo Creek in West-Virginia im Jahre 1972. Aus der ersten Hilflosigkeit gingen intensive Forschungsarbeit und therapeutische Bemühungen um die Opfer hervor.
Neben Naturkatastrophen und Kriegen sind als Anstoß für die psychotraumatische Forschungsarbeit auch soziale Bewegungen zu nennen, vor allem solche, die sich gegen Unterdrückung und Ausbeutung wenden. Die Arbeiterbewegung und andere emanzipatorische Strömungen haben ausbeuterische Arbeitsverhältnisse angeprangert, zur Humanisierung der Arbeit beigetragen und zusammen mit den geistigen Kräften der Aufklärung die Abschaffung der Kinderarbeit in Europa erreicht. Seit der Französischen Revolution wurde die Folter in aller Welt geächtet. Die Frauenbewegung hat immer wieder verdeckte Gewaltverhältnisse gegen Frauen und Kinder an die Öffentlichkeit gebracht. Initiativen gegen Kindesmisshandlung und sexuellen Kindesmissbrauch sowie allgemein gegen Unterdrückung und Benachteiligung von Kindern sind zu erwähnen, ferner Befreiungsbewegungen sozial unterdrückter Minderheiten und Völker oder Initiativgruppen, die sich mit diesen Befreiungskämpfen solidarisierten. Im Folgenden wenden wir uns zunächst der „natural history“ zu und kehren dann zur wissenschaftlichen Traumadiskussion zurück.
1.3.1 Naturgeschichte der Psychotraumatologie
Um diese Geschichte zu schreiben, müssen wir uns vor allem mit den kulturellen Erfindungen der Menschheit befassen. Manche Rituale, Sitten und Gebräuche entstammen der Not, mit psychischer Traumatisierung zurechtzukommen. Trauerrituale, die in allen Zeiten und bei allen Völkern verbreitet sind, können hier als Beispiel gelten. Mythen, Religionen, später auch Literatur und Philosophie sind voll von Auseinandersetzung mit Leiden und Tod und dem Eindruck, der Prägewirkung, den diese bei den betroffenen Menschen hinterlässt (→ Todesprägung). Letztlich sind die Menschen in ihren kulturellen Schöpfungen bemüht, eine Antwort zu finden auf die Sinnfrage, welche Leiden, Tod, soziale Gewalt und Naturkatastrophen aufwerfen. Vor allem vom Umgang der Dichterinnen und Dichter mit diesen Problemen kann eine wissenschaftliche Psychotraumatologie lernen. Dichter haben immer wieder traumatisierende Lebensumstände beschrieben und Möglichkeiten der Betroffenen, in ihnen zu überleben. Oft hatte die Darstellung aufrüttelnde und sozial verändernde Auswirkungen. Ein Beispiel ist der Roman „Oliver Twist“ von Charles Dickens. Darin wird einmal die psychische Situation eines Jungen beschrieben, der seine Eltern verloren hat. Sozialkritisch wird zudem dargestellt, wie soziale Einrichtungen, die diese schwere Lebenslage mildern sollen, zusätzlich noch zur Erniedrigung und Traumatisierung der Betroffenen beitragen können. Viele Märchen handeln vom Umgang mit Traumen und von Möglichkeiten ihrer schrittweisen Überwindung (vgl. etwa die Untersuchung von „Prinz Eisenherz“ bei Holderegger 1993)
Ein anderer Zugang zur Kulturpsychologie des Traumas besteht darin, das Lebenswerk kreativer Künstler, von Dichtern und Schriftstellern etwa, auf die Traumabewältigung hin zu untersuchen, die in ihrer literarischen Schöpfung zum Ausdruck kommt. Der Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre beispielsweise hatte um das erste Lebensjahr ein schweres → Deprivationstrauma erlitten, dessen Auswirkung sich bis in seine berühmte Autobiographie „les mots“ (1965) und die Entwürfe seiner Philosophie aufzeigen lässt (Fischer 1992). Wie viele andere Künstler ist Sartre ein Beispiel für kreative Traumabewältigung. Solche Beispiele werfen ein Licht auf die soziale Funktion von Kunst und Philosophie, deren Beitrag zu einem kreativen und kulturell tradierbaren Umgang mit Traumatisierung von den Kulturwissenschaften gerade erst entdeckt wird. Aus der psychoanalytischen Literaturwissenschaft kann die Methode des „traumaanalogen Verstehens“ von Vietighoff-Scheel (1991) erwähnt werden. An Texten von Kafka zeigt die Autorin in sehr subtiler Weise Mechanismen literarischer Traumadarstellung und -verarbeitung auf. Eine Übersicht über psychoanalytische Beiträge zur Literaturtheorie und -forschung bietet das Kompendium von Pfeifer (1989). Psychologisch-historische Forschungsansätze wie etwa die „Geschichte der Kindheit“ von DeMause (1977) haben unser historisch vergleichendes und systematisches Wissen über traumatische Lebensbedingungen in der Kindheit sehr erweitert.
An der „Ilias“, einem Kriegsbericht aus dem europäischen Altertum lässt sich zeigen, dass Homer, der „Geschichtsschreiber“ und Dichter, traumatische Reaktionen eindringlich zu schildern verstand. Shay (1991) macht darauf aufmerksam, dass die Ilias ein Kriegstrauma detailliert beschreibt und auch Wege zu seiner Überwindung aufzeigt. Der bedeutendste Held der Griechen, Achilles, entwickelt im Kampf vor Troja psychotraumatische Symptome, die recht genau denen, die wir heute kennen, entsprechen.
Shay nennt folgende Merkmale dieser besonderen Form von Kriegstraumatisierung: ein Erlebnis von Verrat oder ein Verstoß gegen das, was der Soldat als sein gutes Recht betrachtet; enttäuschter Rückzug auf einen kleinen Kreis von Freunden und Kameraden; Trauer- und Schuldgefühle wegen des Todes eines besonders befreundeten Kameraden; Lust auf Vergeltung; nicht mehr heimkehren wollen; sich wie tot fühlen; dann eine berserkerartige Raserei mit Entehrung des Feindes und extremen Grausamkeiten. Einzelne Symptome oder auch das gesamte Syndrom finden sich gehäuft in den Berichten von Kriegsteilnehmern, die nach ihrem Einsatz ein psychotraumatisches Belastungssyndrom entwickeln.
Achilles gerät mit dem Heerführer der Griechen, Agamemnon, in Streit, nachdem ihm dieser seine Lieblingssklavin Briseis genommen hatte, welche Achilles für besondere Tapferkeit als Beute zugesprochen worden war. Achilles zieht sich schmollend zurück und pflegt eine intensive Freundschaft mit Patroklos. Als dann die Griechen von den Trojanern immer stärker in die Defensive gedrängt werden, bittet Agamemnon den Achilles als den tapfersten und bewährtesten Krieger, seinen Rückzug aufzugeben, in die Schlacht einzugreifen und das griechische Heer zu retten. Achilles weigert sich und lässt statt dessen seinen Freund Patroklos kämpfen. Diesem gelingt es, die Trojaner zurückzuschlagen. Schließlich wird Patroklos jedoch von Hektor, dem tapfersten Kriegshelden der Trojaner getötet.
Als Achilles die Botschaft von Patroklos̓ Tod überbracht wird, verfällt er in einen affektiven Ausnahmezustand mit extremen Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen und heftiger Trauer, den Homer folgendermaßen beschreibt:
„Patroklos liegt nun tot und sie kämpften bereits um den Leichnam. Nackt wie er ist; denn die Waffen besitzt der geschmeidige Hektor. Sprach̓s (der Bote) und jenen (Achilles) umfing die finstere Wolke der Trauer. Gleich mit den beiden Händen den Staub, den geschwärzten ergreifend, überstreut er den Kopf und entstellt er sein liebliches Antlitz. Asche haftete rings am Nektar duftenden Kleide. Selbst aber lag er groß, lang niedergestreckt in dem Staube, raufte sein Haar und beschmutzt̓ es sogleich mit den eigenen Händen“ (Homer, Illias, 18. Gesang, Vers 20, Übers. Hans Rupe: 1990, 387).
Seiner Mutter Tetis, die ihn trösten will, schwört Achilles, nicht eher aus dem Kriege zurückzukehren, bis er den Tod seines Freundes Patroklos an Hektor gerächt habe. Er verfällt darauf in eine raptusartige, berserkerhafte Raserei, worin er alle Rücksichten vergisst und viele Trojaner tötet, schließlich auch Hektor, den Mörder seines Freundes.
Shay beschreibt diesen berserkerhaften Ausnahmezustand als Verlust von Furcht und jedem Gefühl eigener Verletzlichkeit; es wird keine Rücksicht auf die eigene Sicherheit genommen; eine übermenschliche Kraft und Ausdauer entwickelt sich; Wut, Grausamkeit ohne Einhalten oder Unterscheidungsfähigkeit; eine Übererregtheit des autonomen Nervensystems, von den Betroffenen oft beschrieben als „Adrenalinrausch“ oder „als käme Elektrizität aus mir heraus“ (570).
So ergeht es auch dem Achilles. Er steigert sich immer weiter in sein rauschhaftes Racheerleben hinein und scheut nicht einmal davor zurück, den Leichnam des getöteten Gegners, des Helden Hektor zu entehren und ihm die Bestattung zu verweigern. Schließlich erscheint Hektors Vater Priamos, der schon dem Tode nahe ist und bittet Achilles, seinen Sohn herauszugeben. Nach langer Debatte geht dieser schließlich auf die Bitte ein und kehrt so zur Normalität der damaligen Kriegssitten zurück, in denen die Entehrung des toten Feindes dem stärksten Tabu unterlag. Jetzt gibt Achilles auch seinen sozialen Rückzug auf und wird wieder zu einem „normalen“ griechischen Krieger.
Achilles̓ gefährlicher Ausnahmezustand begann demnach mit einer Verletzung von Regeln und Gebräuchen, die im damaligen Griechenland heilig waren. Shay hat in seiner Arbeit mit kriegstraumatisierten Vietnamveteranen beobachtet, dass ein Verstoß gegen geschriebene oder ungeschriebene Regeln selbst in Kriegszeiten, in denen viele der sonst gültigen Normen außer Kraft gesetzt sind, einer späteren psychotraumatischen Belastungsstörung vorausgegangen war. Paradox genug macht sich die traumatische Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis, die wir unserer Traumadefinition zugrunde legen, selbst unter den weitgehend anomischen Bedingungen des Krieges als besonderer traumatogener Faktor bemerkbar.
1.3.2 Wissenschaftsgeschichte der Psychotraumatologie
Unter den wissenschaftlichen Pionierleistungen, die in der Psychotraumatologie zusammenfließen, sind u. a. der sehr eigenständige Ansatz von Janet zu nennen, die Psychoanalyse und die auf den schwedischen Internisten Selye zurückgehende Stress- und → Copingforschung. Pierre Janet (1859-1947) und Sigmund Freud (1856-1939), Begründer der Psychoanalyse, waren Zeitgenossen. Während Freud und sein Werk vor allem auch für den therapeutischen Umgang mit Traumatisierung historisch sehr bedeutsam wurde, blieben Janets Arbeiten lange Zeit ohne großen Einfluss, wurden dann aber in ihrer Pionierrolle für die Psychotraumatologie gewürdigt. Van der Kolk et al. (1989), die sich mit Janet als einem Vorläufer der modernen Psychotraumatologie befassen, bemerken dazu:
„Es ist eine Ironie, daß in den ausgehenden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Psychiatrie erst langsam eine Wissensbasis wiederentdeckt über die Auswirkung von Traumatisierung auf psychologische Prozesse, die zentral war in den europäischen Konzeptionen der Psychopathologie während der letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts“ (Übers. die Verf., 365).
Demnach hat es beinahe 100 Jahre gedauert, bis die Arbeiten Janets wieder die Bedeutung erlangten, die sie für Psychologie, Psychopathologie und Psychiatrie um die Jahrhundertwende hatten. Janet hatte seinerzeit ebenso wie zeitweilig auch Freud, mit dem berühmten Hypnosearzt Charcot an der Pariser Salpetriere zusammengearbeitet. Aus den Hypnoseexperimenten und den therapeutischen Ansätzen Charcots ging hervor, dass zahlreiche psychopathologische Auffälligkeiten und Symptombildungen, unter denen die psychiatrischen Patienten litten, mit verdrängten Erinnerungen an traumatische Erlebnisse zusammenhingen. Janet zog als erster den Begriff der → Dissoziation als Erklärungskonzept heran. Dissoziationen ergeben sich nach Janet als Folge einer Überforderung des Bewusstseins bei der Verarbeitung traumatischer, überwältigender Erlebnissituationen. In seiner Arbeit „L̓automatisme psychologique“ (1889) führt er aus, dass die Erinnerung an eine traumatische Erfahrung oft nicht angemessen verarbeitet werden kann: sie wird daher vom Bewusstsein abgespalten, dissoziiert, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzuleben, entweder als emotionaler Erlebniszustand, als körperliches Zustandsbild, in Form von Vorstellungen und Bildern oder von Reinszenierungen im Verhalten. Die nicht integrierbaren Erlebniszustände können im Extremfall zur Ausbildung unterschiedlicher Teilpersönlichkeiten führen, was der dissoziativen Identitätsstörung entspricht. Janet hat als erster Gedächtnisstörungen beschrieben, die mit Traumatisierung einhergehen. Er erklärte postexpositorische Amnesien oder Hypermnesien (übergenaue Erinnerungsbilder) als eine Art Übersetzungsfehler, als Unfähigkeit, die traumatische Erfahrung in eine weniger furchterregende Erzählung übertragen zu können (Janet 1904).
Die Unterscheidung verschiedener Repräsentationsformen des Gedächtnisses, wie sie auch in der modernen kognitiven Forschung üblich ist, in enaktiv (verhaltensgesteuert), ikonisch (bildhaft) und symbolisch-linguistisch (Kihlstrom 1984) hat Janets Student Jean Piaget aufgegriffen und auf die Entwicklungsstadien von sensomotorisch-präoperationalen und symbolgesteuert-operationalen Denkvorgängen übertragen. Janets Arbeiten sind vielfach im Werk von Piaget wirksam geworden. Den traumazentrierten Ansatz Janets hat Piaget allerdings nicht weiterverfolgt. Bedeutsam auch heute noch für die Psychotraumatologie ist Janets Entdeckung, dass traumatische Erfahrungen, die nicht mit Worten beschrieben werden können, sich in Bildern, körperlichen Reaktionen und im Verhalten manifestieren. Der „unaussprechliche Schrecken“, den das Trauma hinterlässt, entzieht sich den höheren kognitiven Organisationsebenen, hinterlässt aber seine Spuren auf elementaren, → semiotisch niedrigeren Repräsentationsstufen. Wir bezeichnen diese psychische Struktur mit Erinnerungsfragmenten auf unterschiedlichen Repräsentationsebenen und der charakteristischen Spaltung von Wahrnehmungs- und Handlungsteil als → Traumaschema.
Festzuhalten als Verdienst dieses Forschers bleibt eine recht differenzierte Theorie über Traumatisierung und Gedächtnisstörungen, Reinszenierung des Traumas im Verhalten und auf unterschiedlichen kognitiven Repräsentationsebenen. Besonders bedeutsam ist Janets Konzept einer Dissoziation unterschiedlicher Bewusstseinszustände, die in extremen Fällen zu sich verselbständigenden Teilpersönlichkeiten führen kann. In der psychoanalytischen Theorietradition wurde das Konzept sich verselbständigender Erlebniszustände nur von wenigen Forschern aufgegriffen so etwa von Paul Federn (1952) mit seiner Theorie der „Ich-Zustände“ oder von Mardi Horowitz (1979) in seinem Konzept der „states of mind“, von persönlichkeitstypischen Erlebniszuständen oder Stimmungslagen (vgl. hierzu auch Fischer 1989). Ansonsten hat die Entwicklung der Traumatheorie bei Freud einen etwas anderen Verlauf genommen und andere Akzente gesetzt.
Die Frage, wie weit zwischen Janet und Freud grundsätzlich vereinbare oder einander ausschließende Traumakonzeptionen vorliegen, ist nicht leicht zu entscheiden. Fest steht jedenfalls, dass Freud unterschiedliche Akzente setzte. Auch in Freuds frühen Werken findet sich der Begriff Dissoziation. Freud führte aber bald das Konzept der Abwehr ein, als deren Prototyp die Verdrängung gelten kann. Dabei handelt es sich um ein motiviertes, absichtsvolles Vergessen. Traumatische Erfahrungen werden also demzufolge nicht nur deshalb dissoziiert, weil das Bewusstsein momentan mit ihrer Verarbeitung überfordert wäre. Vielmehr werden sie vom Bewusstsein aktiv ferngehalten, weil ihre Integration die Persönlichkeit mit unangenehmen oder gar unerträglichen Affekten überlasten würde.
In seiner Beschäftigung mit dem psychischen Trauma hat Freud sehr unterschiedliche Epochen durchlaufen. In einer frühen Phase, wie sie sich z. B. in den Studien zur Hysterie (1875) widerspiegelt, war er davon überzeugt, dass eine reale traumatische Erfahrung, insbesondere sexuelle Verführung von Kindern, jeder späteren hysterischen Störung zugrundeliege. In einer späteren Forschungsperiode (etwa ab 1905) relativierte er diese Auffassung. Mit der Erforschung des kindlichen Sexuallebens arbeitete Freud die Rolle kindlicher Triebwünsche und Phantasiebildungen bei der Entstehung neurotischer Störungen heraus. An einer realen Verführung als möglicher Ursache späterer Störungen hielt Freud allerdings weiterhin fest: „...ich kann nicht zugestehen, dass ich in meiner Abhandlung 1896 „Über die Ätiologie der Hysterie“ die Häufigkeit oder die Bedeutung derselben überschätzt habe, wenngleich ich damals noch nicht wusste, dass normal gebliebene Individuen in ihren Kinderjahren die nämlichen Erlebnisse gehabt haben können, und darum die Verführung höher wertete als die in der sexuellen Konstitution und Entwicklung gegebenen Faktoren“ (Freud 1905d, 91).
Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, wie weit Freud in seiner frühen Forschung zur Entstehungsgeschichte der Hysterie einer einseitigen Stichprobenauswahl zum Opfer gefallen war. Unter seinen Patientinnen, die in den Studien zur Hysterie erwähnt sind, befand sich möglicherweise eine überhöhte Quote mit realen sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit. Freuds Schlussfolgerung, dass hysterischen Störungen in jedem Falle sexuelle Verführung zugrunde liegen müsse, war forschungslogisch und empirisch tatsächlich nicht haltbar. Heute wissen wir, dass sexueller Missbrauch in der Kindheit zwar auch zu einer hysterischen Störung führen kann, ebenso gut aber auch zu anderen Bildern wie dem Borderline-Syndrom oder dissoziativen Störungen (vgl. Kap. 9.4.6) Auch in der „follow-back“-Perspektive hat eine neurotische Störung, eine hysterische Neurose keineswegs immer psychotraumatische Ursachen. Unterschiedliche biologische und sozialisatorische Einflüsse können eine neurotische Entwicklung einleiten, darunter etwa auch die Verwöhnung von Kindern durch überfürsorgliche Erwachsene. Zudem können sehr unterschiedliche kindliche Traumen später zu einem ähnlichen Störungsbild führen. Ein Deprivationstrauma kann ein depressives, narzisstisches, aber auch hysterisches Störungsbild nach sich ziehen, abhängig wohl vor allem von unterschiedlichen Konstellationen der traumatischen Situation. Nach Kriterien der psychotraumatologischen Forschungslogik hatte Freud gute Gründe, seine erste, pauschal verallgemeinernde Theorie von der Ätiologie der Hysterie zu revidieren.
Daraus ist gegen Freud wiederholt der Vorwurf abgeleitet worden, er habe die Verführungstheorie aufgegeben, um der sozialen Ächtung zu entgehen, die mit seiner frühen Entdeckung verbunden war (etwa Masson 1984b). Zweifellos hatte Freud an ein Tabu gerührt, wie so oft bei psychotraumatologischen Forschungsthemen. Freud berichtet von einem Vortragsabend im „Psychiatrischen Verein“ Wien. Dort hatte er seine Thesen zur Ätiologie der Hysterie vorgetragen. Die Reaktion der Kollegen schildert er in einem Brief an seinen Freund Fließ folgendermaßen:
„Ein Vortrag über Ätiologie der Hysterie im Psychiatrischen Verein fand bei den Eseln eine eisige Aufnahme und von Krafft-Ebing (dem Chef der Psychiatrischen Universitätsklinik) die seltsame Beurteilung: Es klingt wie ein wissenschaftliches Märchen. Und dies, nachdem man ihnen die Lösung eines mehrtausendjährigen Problems, ein caput Nili, aufgezeigt hat!“ (aus den Briefen an Fließ, Freud 1962).
Freud fuhr fort, wie wir aus der erweiterten Ausgabe der Briefe an Fließ inzwischen wissen: „Sie können mich alle Gernhaben“. Er war also keineswegs gewillt, die neue Entdeckung dem gängigen Vorurteil zu opfern. Auch hat er sie später nicht pauschal als irrtümlich bezeichnet. Der Nachweis zwischen traumatischer Kindheitserfahrung und späterer Pathologie wurde in den Studien zur Hysterie sorgfältig geführt. Wir können diese Schrift auch heute noch als einen differenzierten Beitrag zur Erforschung traumatischer Prozesse nach sexuellem Kindesmissbrauch lesen. Vorbildlich sind sie in ihrer Rekonstruktion des komplexen Zusammenhangs zwischen traumatischer Situation, Reaktion und Prozess, der einer ebenso differenzierten qualitativen Methodik bedarf, wie Freud sie damals in Ansätzen entwickelt hatte.
In seinen späteren Arbeiten hat sich Freud stärker der Erforschung des Innenlebens zugewandt als zur Zeit der „Studien“, so z. B. in den „drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905d), in denen er die Phasen der → psychosexuellen Entwicklung erforschte. Der Vorwurf, er habe mit der Hinwendung zu den Sexualphantasien der Kinder und ihrer eigenen sexuellen Neugierde und Aktivität die Verführungstheorie außer Kraft gesetzt oder „verraten“, scheint wenig überzeugend. Kinder haben ein eigenes erotisches und sexuelles Phantasieleben, das durch aktive Sexualisierung, wie sie zur pathogenen Dynamik bei sexuellem Kindesmissbrauch gehört (vgl. Abschnitt 9.4) traumatisch gestört wird. Die Überfremdung und Ausbeutung der kindlichen Spontaneität durch die Erwachsenen bildet hier, wie oft beim kindlichen Beziehungstrauma, ein → zentrales traumatisches Situationsthema und den Punkt → maximaler Interferenz von Subjekt und traumatogenen Situationsfaktoren. Wir verdanken Freud die Einsicht in die kindliche Erlebniswelt, ein Bild vom Kind als unverzagtem kleinem „Sexualforscher“, das mit seiner Intelligenz und Neugierde den Desorientierungsversuchen der Erwachsenen, den Geschichten vom Klapperstorch usf. hartnäckig widersteht. Kinder haben eigene sexuelle Wünsche, Bedürfnisse und Phantasien. Das macht sie besonders verletzlich gegenüber missbräuchlichem Verhalten, das den Entwicklungsaspekt dieser Bedürfnisse übergeht und sie den egoistischen Interessen der Erwachsenen unterwirft. Freud vorzuhalten, er habe den Kindesmissbrauch bagatellisiert oder womöglich noch gerechtfertigt, weil er das sexuelle Eigenleben des Kindes zum Gegenstand der psychoanalytischen Forschung machte, entspricht jener kognitiven Konfusion, die oft ein Ausdruck der grenzlabilen Missbrauchsdynamik ist und zusammen mit den übrigen traumatogenen Faktoren (vgl. Abschnitt 9.4.3) wie Verrat, Stigmatisierung und Misshandlung leider oft auch die wissenschaftliche Diskussion bei traumatologischen Tabuthemen bestimmt bzw. ersetzt.
So weit psychoanalysekritische Argumente sich auf diesem Niveau bewegen, müssen sie von einer wissenschaftlichen Psychotraumatologie nicht sonderlich ernst genommen werden. Autoren wie Alice Miller (1981) oder Masson (1984b) haben jedoch mit ihrer Psychoanalysekritik u. E. eine grundsätzliche, epistemologische Frage aufgeworfen, die sich etwa folgendermaßen formulieren lässt: Wie weit wird in der Psychoanalyse (und in der Psychologie überhaupt) ein Gleichgewicht zwischen „intrapsychischen“ Faktoren und externen Umweltfaktoren in seiner Bedeutung für die psychische Entwicklung anerkannt und angemessen berücksichtigt? Wie weit wird dieser dialektische Zusammenhang von subjektiver Bedürfniskonstellation und objektiven Situationsfaktoren mit der Konzentration auf rein „intrapsychische Verhältnisse“ unterlaufen? Ein kritischer Vorbehalt ist hier sicherlich angebracht bei einzelnen Studien oder auch psychoanalytischen Ansätzen, die bei traumatogenen Störungen keinen phänomenologisch ausgewiesenen Zusammenhang mit traumatischen Situationsfaktoren herzustellen vermögen. Diese Kritik wurde gegenüber den Theorien von Melanie Klein und Bion erhoben. Im Gegensatz dazu fordert Freuds ursprünglicher Traumabegriff dazu auf, pathogene Umweltkonstellationen systematisch in die psychoanalytische Untersuchung einzubeziehen. Freud knüpft zunächst an eine Analogie zum körperlichen Trauma an, wie folgende Definition verdeutlicht:
„Wir nennen so (traumatisch, d. Verf.) ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normal-gewohnter Weise mißglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren müssen.“ (GW XI, 284).
Eine ähnliche organische Metapher findet sich auch in Freuds Arbeit von 1920g, in „Jenseits des Lustprinzips“, worin er über die Selbstorganisation der lebendigen, organischen Substanz nachdenkt. Das lebende Bläschen wird vor Außenreizen durch eine Schutzhülle oder einen Reizschutz geschützt, der nur erträgliche Energiequantitäten durchlässt. Hat diese Hülle einen Einbruch erlitten, dann liegt ein Trauma vor. Nun ist es die Aufgabe des psychischen Apparates, alle verfügbaren Kräfte zu mobilisieren, um Gegenbesetzungen aufzurichten, die anflutenden Reizquantitäten zu binden und die Wiederherstellung des Lustprinzips zu ermöglichen.
Bedeutsam für Freuds Traumatheorie ist neben ihrer körperlich-organischen Metaphorik noch der Begriff der Nachträglichkeit. Ein Beispiel sind quasi-erotische Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern. Manchmal erst in der Pubertät kommen dem Kind die sexuellen Anklänge der Situation zu Bewusstsein. So wird die frühe Szene rückwirkend neu bewertet, diesmal im Bedeutungshorizont der entwickelten sexuellen Phantasien und Wünsche eines Adoleszenten. Hier nimmt der Traumabegriff eine Tendenz in sich auf, die sich in der gesamten Fortentwicklung des Freudschen Denkens findet: die zeitliche Einbindung der seelischen Phänomene in den Lebensentwurf und die Lebensgeschichte. Die Zeitstruktur der Nachträglichkeit muss beim Studium traumatischer Prozesse generell berücksichtigt werden. Dem trägt das → Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung Rechnung.
In einer späteren Epoche der Entwicklung des Traumabegriffs verschwindet Laplanche und Pontalis (1967) zufolge allerdings die ätiologische Bedeutung des Traumas für die Neurose zugunsten des Phantasielebens und der Fixierungen der Persönlichkeitsentwicklung auf verschiedenen Libidostufen. Genauer gesagt entwickelt Freud einen zweiten Traumabegriff. Neben unerträglichen Situationsfaktoren werden inakzeptable und unerträglich intensive Triebwünsche und -impulse als Traumafaktor untersucht. Wenn somit auch der traumabezogene Standpunkt nicht verlassen wird, wie Freud betont, so wird er doch in eine breitere ätiologische Konzeption einbezogen, die „innere“ Faktoren berücksichtigt wie die physische Konstitution und die Kindheitsentwicklung in ihrem gesamten Verlauf. Trauma wird jetzt Bestandteil einer Geschichte als Lebensgeschichte und als Geschichte der Entwicklung von Triebwünschen und Lebenszielen. In dieser weiten Konzeption der Neurose-entstehung ist das Trauma ein ätiologisches Moment unter anderen, das sich in einer → Ergänzungsreihe mit Erbfaktoren und Triebschicksal befindet. Der Ausdruck bezeichnet ein komplementäres Ergänzungsverhältnis interner und externer ätiologischer und pathogenetischer Faktoren, die sich zu einem pathologischen Schwellenwert aufschaukeln können. Die kritische Frage an den psychoanalytischen Umgang mit Traumata lässt sich folgendermaßen konkretisieren: Werden im Einzelfall beide Traumakonzepte – unerträgliche Situation vs. unakzeptabler Impuls – (→ Traumatisierung) gleichermaßen in Erwägung gezogen? Welchem Konzept wird der Vorzug gegeben? Bei nur oberflächlicher Kenntnis kann die „Situation“ allzu leicht als normal, unauffällig oder durchschnittlich betrachtet werden, wodurch ev. Traumafolgen „automatisch“ dem → Trieb- oder Phantasieleben der Persönlichkeit zugeschrieben werden. Solch eine Vorentscheidung kann weit reichende Konsequenzen haben. Wird z. B. die psychoanalytische Langzeitbehandlung traumatisierter Patienten nicht explizit auch als → Traumatherapie geführt (vgl. Abschnitt 4), so wird die Verleugnungstendenz des Opfers unterstützt, damit auch die gefährlichen Tendenzen zur Selbstbeschuldigung. Hier ist schon vom Therapiekonzept her eine Retraumatisierung des Patienten zu erwarten. Dieses Problem stellt sich besonders in der gegenwärtigen kleinianischen Richtung, die nach der Einschätzung von Schafer (1997, 354 passim) auf die Rekonstruktion und Aufarbeitung von Traumata generell zu verzichten scheint.
Eine extern traumatische Entstehungsgeschichte nimmt Freud bei der traumatischen Neurose an. Laplanche und Pontalis (1967, 521) fassen sein Verständnis dieses psychiatrischen Konzepts folgendermaßen zusammen:
„Hier sind 2 Fälle zu unterscheiden, a) das Trauma wirkt als auslösendes Element, es enthüllt eine präexistente neurotische Struktur, b) das Trauma hat einen determinierenden Anteil gerade am Inhalt des Symptoms. Wiederholung des traumatischen Ereignisses, immer wiederkehrende Alpträume, Schlafstörungen etc., was als ein wiederholter Versuch erscheint, das Trauma zu binden und abzureagieren; eine ähnliche Fixierung an das Trauma geht einher mit einer mehr oder weniger generalisierten Aktivitätshemmung des Subjekts. Diesem zuletzt genannten klinischen Bild behalten Freud und die Psychoanalytiker gewöhnlich die Bezeichnung traumatische Neurose vor“.
Während wir heute die erste Konstellation eher als auslösendes Moment einer neurotischen Reaktion bezeichnen, gehört zu den differenziellen Merkmalen der traumatischen Neurose der inhaltliche Bezug zwischen traumatischer Situation und der jeweiligen Symptomatik.
Unter den psychoanalytischen Autoren, die das Traumakonzept weiterentwickelt bzw. spezielle Bereiche der Traumatisierung näher erforscht haben, sind zu nennen Abraham Kardiner, Masud M. Khan, John Bowlby, Donald W. Winnicott, Max Stern, Henry Krystal und andere mehr (eine Übersicht bei Brett 1993). Kardiner verfasste sein Werk „The traumatic neuroses of war“ während des zweiten Weltkrieges im Jahre 1941. Seine klinische Erfahrung ging zurück auf die psychotherapeutische Arbeit mit amerikanischen Soldaten, die im Krieg gegen Nazi-Deutschland und Japan kämpften. Er war der erste, der die massiven physiologischen Begleiterscheinungen traumatischer Reaktionen schon in der Namengebung berücksichtigte, indem er von der traumatischen Neurose als einer „Physioneurose“ sprach. Kardiner formulierte ein Syndrom von Folgeerscheinungen, das in vielem bereits als Vorläufer des heutigen basalen PTBS gelten kann. Er übernahm die von Sandor Rado geprägte Sichtweise der Neurose als einer Form des Anpassungs- und Bewältigungsversuchs und wies darauf hin, dass es wichtig sei, den Sinn hinter den Symptomen zu entdecken, um die Folgeerscheinungen zu verstehen. Folgende Leitmerkmale wurden von Kardiner aufgeführt: 1. Schrumpfen oder Einengung des Ichs (ego contraction); 2. Ausgehen der inneren Ressourcen oder energetische Verarmung; 3. „disorganization“, was wir heute als Strukturverlust und evtl. auch Dissoziation bezeichnen würden.
Die Symptomatik, die er im Einzelnen beschrieb, war sehr komplex. Sie konnte akut oder chronisch sein und bestand aus Ermüdungserscheinungen und Lustlosigkeit, Depressionen, schreckhaften Reaktionen, wiederkehrenden Alpträumen, Phobien und Ängsten, die situationsbezogen mit dem Trauma assoziiert waren, eine Mischung aus impulsivem Verhalten und Unbeständigkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie eine Neigung zu Misstrauen, Verdächtigungen und Ausbrüchen von Wut und Gewalttätigkeit.
Eine Erweiterung des Freudschen Traumakonzeptes findet sich bei Masud Khan mit seinem Begriff des → kumulativen Traumas (1963). Hier addieren sich Ereignisse und Belastungen, die jedes für sich subtraumatisch, d. h. unter der Schwelle der Traumatisierung im engeren Sinne verbleiben würden, zu einer insgesamt traumatischen Verlaufsgestalt. Immer wenn das Ich seinen Schutzschild, seine Reiz-Abwehr-Barriere wieder aufrichten will, tritt statt sozialer Unterstützung eine weitere Belastung ein. Dies lässt auf die Dauer die Selbstschutzfunktionen des Ich zusammenbrechen.
Zu erwähnen sind auch die Ausführungen von D. W. Winnicott – eines Londoner Kinderarztes und Psychoanalytikers – zum Trauma und zur Auswirkung von Traumata, dessen Werk zu den gedankenreichsten der Psychoanalyse zählt. Winnicott geht davon aus, dass die frühkindliche Entwicklung nur dann ungestört verläuft, wenn das Kind in der frühesten Lebensperiode auf eine Umwelt trifft, die seine noch unentwickelten Möglichkeiten so optimal ergänzt, dass es sich der Illusion kindlicher Allmacht, einer völligen Verfügungsgewalt über die psychosoziale Umgebung überlassen kann. Allein diese Allmachtillusion ermöglicht eine selbstbewusste Entwicklung, die dem Kind die Gewissheit vermittelt, seine Umweltbedingungen kreativ gestalten zu können. Auch wenn die Illusion später schrittweise abgebaut wird, bleibt sie doch die Grundlage späterer „Selbsttätigkeit“ („self efficacy“ in der „sozial-kognitiven Lerntheorie“ von Bandura 1976) und schöpferischer Leistungen, welche die sozial und physikalisch vorgegebene Umwelt nicht passiv hinnehmen, sondern sie auf die menschlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten hin ausgestalten. Durch Versagen der Umwelt oder durch Übergriffe gegenüber dem Kind kommt es zu einer Minitraumatisierung, welche die kindliche Allmachtphantasie zerstört und eine verfrühte → Desillusionierung bewirkt. Statt einer „genügend guten“ Umgebung, die sich in ausreichendem Maß den kindlichen Bedürfnissen anpasst, muss nun umgekehrt das Kind sich seiner Umgebung anpassen, was es in dieser frühen Periode überfordert. So kommt es zum Aufbau eines falschen Selbstsystems, worin das Subjekt sich den Umweltanforderungen unterwirft und dabei oft lebenslang begleitet ist von einem Gefühl der Fremdheit und inneren Leere, der Empfindung, in seinen Handlungen selbst nicht wirklich präsent zu sein (Winnicott 1954; Schacht 1996).
Ein Autor, der in einem psychoanalytischen Verständnishorizont arbeitet, ausgebildeter Analytiker war und psychoanalytische Konzeptionen eigenständig weiterentwickelt hat, ist John Bowlby. Er war einer der ersten Psychoanalytiker, die empirische Forschung mit psychoanalytischer Theorie und Praxis verbanden. So entstand das auch heute noch bedeutendste Standardwerk zum → Deprivationstrauma. In den drei Arbeiten „Separation“, „Bounding“ sowie „Loss, Mourning and Depression“ (1976, 1987) hat Bowlby Forschungen und Konzepte zur Auswirkung von frühkindlicher Deprivation wie z. B. früher Elternverlust, häufig wechselnde Beziehungserfahrungen und Trennungstraumata zusammengefasst. Bowlby verbindet psychoanalytisches Gedankengut und die subtilen Beobachtungen, die in der psychoanalytischen Situation möglich werden mit einer Vielzahl anderer Ansätze, von kognitiver Entwicklungspsychologie über neurobiologische Konzepte und Verhaltensbiologie bis hin zur Soziologie, → Epidemiologie und Kulturgeschichte. Auch in methodischer und methodologischer Hinsicht kann Bowlbys Werk als Vorbild für die Psychotraumatologie betrachtet werden.
Max Stern (1988) sieht die unmittelbare Folge von massiver Traumatisierung in einer katatonoiden Reaktion einerseits, einem Erstarren und in einem agitierten Bewegungssturm andererseits. Dies sind die ersten Notfallreaktionen auf massive psychische Traumatisierung. H. Krystal (1968) greift die katatonoide Reaktion von Stern auf und sieht sie als Folge von massiver anhaltender psychischer Traumatisierung. In diesen Zuständen, in der so genannten katastrophischen Reaktion, verfällt das Individuum in völlige Hilflosigkeit. Hier ergibt sich eine Parallele zum Konzept der erlernten → Hilflosigkeit nach Seligman. Die katatonoide Reaktion auf ein katastrophisches Trauma kann zur Aufgabe aller Selbsterhaltungsfunktionen und somit, im übertragenen Sinne, zum psychogenen Tod führen. In der Psychoanalyse war Krystal der erste, der zwischen massiver katastrophischer Traumatisierung und leichteren Formen des Traumas deutlich unterschieden hat.
Eine dritte Forschungsrichtung, die zur Entstehung der Psychotraumatologie wesentlich beigetragen hat, ist die Stressforschung mit den Pionierarbeiten von Selye. Selye näherte sich der Frage belastender Umweltfaktoren als Internist unter dem Gesichtspunkt der körperlichen Reaktionen und der Krankheiten, die durch kurz- oder langfristige Belastung hervorgerufen werden können. Im Jahre 1936 formulierte er sein Modell der → Stressreaktion mit den drei Phasen des Alarms, des Widerstandsstadiums und schließlich des Erschöpfungsstadiums. Die Alarmreaktion ist gekennzeichnet durch einen erhöhten Sympathicotonus und eine sympathicoton gesteuerte „Bereitstellungsreaktion“, bei der der Energieumsatz erhöht und ATP-Reserven freigesetzt werden. Im Widerstandsstadium werden denn diese Reserven des Körpers genutzt, um die massive Belastung kompensieren zu können. So kommt es physiologisch etwa zur Produktionssteigerung von Nebennierenhormonen wie Cortisol und zur Erhöhung des Blutzuckerstoffwechsels. Dauert der dann pathogene Umweltreiz, der „Stressor“, wie Selye ihn nannte, weiter an, so treten massive und zum Teil irreversible Folgen auf wie Dekompensation der Reproduktionsfunktionen und Sexualfunktionen, der Wachstumsvorgänge und der Immunkompetenz. Ebenfalls kann andauernder Stress in klinisch relevantem Maße die Wundheilung beinträchtigen (Gouin 2011). Als Extrembeispiel können die nach den langdauernden Stellungskriegen beobachteten „Kriegszitterer“ gelten. Unter dem dauerhaft fortgesetzten extremen Stress entwickelte sich ein Syndrom, das zum Teil schwersten Tremor bis hin zur Gangunfähigkeit beinhaltete.
Selye unterteilte die Umweltreize in Stressoren mit positiver versus negativer Bedeutung für den Organismus. Die positiven nannte er Eustress (von altgr. eu = wohl, gut), die negativen Disstress (von altgr. dys = schecht). Er ging davon aus, dass die organismische Reaktion auf negative Stressoren gleichförmig sei. Diese Annahme konnte erst in letzter Zeit physiologisch widerlegt werden. So ergaben etwa Untersuchungen, die Weiner (1984) zusammenfasst, dass eine differenzielle physiologische Reaktion auf verschiedenartige Umweltsituationen schon im Tierversuch zu beobachten ist. Weiner bezeichnete das 3-phasige Verlaufsmodell der Stressreaktion nach Selye auch als generelles Adaptationssyndrom (GAS), das umweltabhängig spezifische Varianten aufweisen kann.
Die Untersuchungen Selyes haben sich für die Erforschung der Psychosomatik innerer Krankheiten sehr fruchtbar ausgewirkt. Zumal Selye auch schon psychologische Symptome beschrieben hat, die dem physiologischen Stressverlauf entsprechen, kann man diese Forschungsrichtung insgesamt als wichtigen Beitrag zu einer psychologischen und psychosomatischen Traumatologie bezeichnen. Das Ungleichgewicht zwischen Organismus und Umwelt wurde in seinen Folgen auf verschiedenen Ebenen des psychophysischen Weltverhältnisses erforscht – eine Konstellation, die im Modell des → Situationskreises nach Thure v. Uexküll und Wesiack veranschaulicht werden kann, das wir im Abschnitt 2.2 zur Darstellung traumatischer Situationserfahrungen verwenden.
Da Selye einen „Reiz“, den Stressor und andererseits eine organismische „Reaktion“, die Stressreaktion als Bezugspole seines Modells gewählt hatte, wurde die Stressforschung, besonders innerhalb der nordamerikanischen Psychologie und Medizin über lange Zeit nach dem → behavioristischen Reiz-Reaktions-Modell fortgeführt. In dieser Interpretation „bewirkt“ der Stressor als Reiz unmittelbar die Stressreaktion und schließlich die Krankheit, eine Vereinfachung gegenüber einem → ökologischen Verständnis der Subjekt-Objekt-Beziehung, die zwar, und das ist der für die Traumaforschung wertvolle Aspekt des Modells, zur Analyse von Umweltfaktoren anregt, aber dem subtilen Zusammenspiel von Subjekt und Objekt im Erleben von Stress und Trauma zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Erst im Zuge der sog. kognitiven Revolution gegenüber dem → Behaviorismus entstand eine differenziertere Konzeption der Subjekt-Umwelt-Beziehung, wie zum Beispiel im sog. „transaktionalen Stressmodell“ nach Lazarus (1984). Organismus und Umwelt werden hier als aufeinander bezogene Größen gefasst, eine Vorstellung, die sich einer ökologischen und dialektischen Konzeption, von der wir ausgehen, zumindest annähert. Dementsprechend wurden jetzt auch subjektive „Vermittlungsgrößen“ wie z. B. → Abwehr- und → Copingprozesse berücksichtigt. Es entstand eine Forschungsrichtung, die salopp als „Stress- and Coping-Approach“ bezeichnet wird. Hierin verbinden sich kognitiv-behaviorale Ansätze mit Konzepten der Anpassungs- und Bewältigungsmechanismen aus der psychoanalytischen Ich-Psychologie. Der „Stress und → Coping“-Zugang ist neben der Psychoanalyse eine der Strömungen, die in der Psychotraumatologie zusammenfließen. Faszinierend ist die Beobachtung, dass Forschungsrichtungen mit zunächst völlig unterschiedlichem Ausgangspunkt und unterschiedlichen Begriffssystemen sich zunehmend auf die Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt zu konzentrieren beginnen, sobald sie sich mit Phänomenen der Traumatisierung befassen. Von daher sollte die immer genauere phänomenologische Beschreibung und wissenschaftliche Erforschung der menschlichen Umweltbeziehung in ihren subjektiven wie objektiven Aspekten die epistemologische Grundlage der Psychotraumatologie bilden.
1.4 Diagnostik als „Momentaufnahme“: Syndrome der allgemeinen und speziellen Psychotraumatologie
Wir schlagen in diesem Lehrbuch eine Betrachtungsweise psychotraumatischer Phänomene vor, die wesentlich am Verlaufsprozess psychischer Traumatisierung ausgerichtet ist. Dieser Zugang scheint uns den bisher bekannten Phänomenen am besten zu entsprechen, da hier die Variationsbreite der individuellen Biographien und Lebensentwürfe konzeptuell in den Blick genommen wird. Klassifikatorische, taxonomische Systeme haben dagegen etwas Statisches und können der Gefahr einer einseitigen und damit auch willkürlichen diagnostischen Klassifikation von Individuen oder Gruppen nur schwer entgehen. Während ein Verlaufsmodell vom zeitlichen Längsschnitt von Lebensläufen oder geschichtlichen Prozessen ausgeht, versuchen diagnostische Taxonomien, diese zeitlich bewegten dynamischen Phänomene in überzeitliche statische Raster einzufangen. Man kann diese querschnitthaften Aufrisse von Biographien mit einer oder mehreren Momentaufnahmen vergleichen, die aus dem Handlungsverlauf beispielsweise eines Spielfilms herausgelöst werden. Solche Standphotos können gelingen, sie können für die Rolle und den Schauspieler im „Lebensfilm“ charakteristisch sein, sie können seine Verfassung zutreffend wiedergeben. Es ist aber auch möglich, dass die Momentaufnahme ganz untypisch ausfällt. Aus Bedürfnissen von klinischer Praxis und Forschung heraus sind andererseits die „Blitzlichter“ und querschnitthaften Momentaufnahmen, die uns Diagnosen und Testuntersuchungen liefern, unverzichtbar. Die Kunst besteht darin, Längs- und Querschnittmethoden so aufeinander abzustimmen, dass die „Momentaufnahme“, um im Bild zu bleiben, wesentliche Züge auch der dynamischen Verlaufsprozesse erfasst.
In der Psychotraumatologie müssen wir mit einer Vielzahl von Symptomen und Syndromen als mögliche Folgeerscheinungen rechnen. Diese lassen sich auf die Variationsbreite traumatischer Situationen einerseits, individueller Reaktionen andererseits zurückführen, vor allem aber auf die wechselseitige Verschränkung von objektiven und subjektiven Momenten, die sich aus der im Lebenslauf gebildeten individuellen Wirklichkeitskonstruktion des Menschen ergibt. Natürlich bedeutet diese Variationsbreite keineswegs Regellosigkeit und reinen Zufall. Hier herrschen neben allgemeinen Gesetzmäßigkeiten auch Regeln, die man paradoxerweise vielleicht als „individuelle Gesetzmäßigkeiten“ (→ individuell-nomothetischer Ansatz) bezeichnen kann. Letztere immer besser zu verstehen, ist ein besonders lohnenswertes Ziel psychotraumatologischer Forschung und therapeutischer Praxis.
Um terminologisch der Bandbreite möglicher Folgeerscheinungen des Traumas zu entsprechen, schlagen wir vor, von allgemeinen und speziellen psychotraumatischen Syndromen zu sprechen. Die Unterscheidung entspricht dem Aufbau dieses Lehrbuchs in einen Teil I, der von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten traumatischer Erfahrungsprozesse handelt und Teil II mit einer Auswahl spezieller traumatischer Situationen und Situationskonstellationen. Vergewaltigung, Deprivation, Folter, sexueller Missbrauch in Kindheit oder in Psychotherapie und Psychiatrie sind Beispiele für Themen der speziellen Psychotraumatologie. Die Bandbreite dieser in sich gleichwohl typisierbaren traumatischen Situationserfahrungen ist so groß, dass bei den Folgeerscheinungen ein einheitliches „Traumasyndrom“ kaum zu erwarten ist. Vielmehr hat sich auch bisher schon „spontan“ bei Forschern und Klinikern die Gewohnheit gebildet, besondere Syndrome in diesen Bereichen zu beschreiben: etwa ein Vergewaltigungstrauma, → professionales Missbrauchstrauma, spezielle Dynamiken und Folgen bei sexuellem Kindesmissbrauch, ein KZ-Syndrom, ein Foltersyndrom usf. Dem wollen wir Rechnung tragen, indem wir diese als „Syndrome der speziellen Psychotraumatologie“ oder als „spezielle psychotraumatische Belastungssyndrome“ bezeichnen (spezielle PTBS). Sie werden zumeist nach der traumatischen Situation benannt. Natürlich treten auch bei den speziellen Syndromen aus den genannten Gründen wiederum vielfältige individuelle Varianten auf.
Als Syndrome der allgemeinen Psychotraumatologie oder als allgemeine psychotraumatische Belastungsyndrome bezeichnen wir hingegen solche Klassifikationen, die versuchen, Symptome und Syndrome zu formulieren, die mehreren speziellen Syndromen oder vielleicht sogar allen gemeinsam sind. Hier bewegen wir uns also auf einer abstrakteren Ebene mit allen Vor- und Nachteilen weit reichender Verallgemeinerung. Dennoch scheinen sich hier einige Taxonomien herauszubilden, die für die klinische Praxis und weitere Forschung heuristisch von großer Bedeutung sein können. Am bekanntesten ist das sog. „posttraumatische Stresssyndrom“ (Posttraumatic Stress Disorder, PTSD) aus dem Diagnostisch Statistischen Manual der nordamerikanischen psychiatrischen Gesellschaft, das nachfolgend beschrieben wird.
Tabelle 2: Diagnostische Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung nach DSM-5
A. Bedrohung mit Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt in einer oder mehreren der folgenden Formen:
1)Direktes Erleben eines der traumatischen Ereignisse.
2)Persönliches Miterleben eines dieser traumatischen Ereignisse bei anderen Personen.
3)Mitteilung, dass eines der traumatischen Ereignisse einem engen Familienmitglied oder einem Freund widerfahren ist. Im Falle eines Todesfalles (drohenden Todes) muss dieser durch einen Unfall oder eine Gewalthandlung eingetreten sein.
4)Wiederholte Konfrontation mit aversiven Details einer traumatischen Situation (z. B. Notfallhelfer, die Leichenteile einsammeln müssen; Polizeibeamte, die wiederholt mit Details kindlicher Missbrauchsgeschichten konfrontiert sind). (Exposition durch elektronische Medien, Fernsehen, Film oder Bilder nur dann, wenn sie beruflich bedingt ist.)
B. Eines oder mehrere der folgenden Intrusionssymptome, die mit dem Trauma assoziiert sind und nach dem Trauma auftreten:
1)Wiederholte eindringliche belastende Erinnerungen an das traumatische Erlebnis. (Bei Kindern > 6 Jahre kann das traumatische Erleben in wiederholten Spielszenen ausgedrückt werden, in denen Aspekte des Traumas dargestellt werden.)
2)Wiederholte und belastende Träume, in denen der Inhalt und/oder der Affekt des Traums in Beziehung zum Trauma stehen. (Bei Kindern können Angstträume ohne erkennbaren Inhalt vorkommen.)
3)Dissoziative Symptome (z. B. Flashbacks), in denen die Person fühlt oder handelt, als ob sich die traumatische Situation gerade wiederholt. (Die Reaktionen können in einem Kontinuum vorkommen, wobei bei einer maximalen Ausprägung ein völliger Verlust der Wahrnehmung der aktuellen Umgebung auftreten kann.)
4)Intensive oder anhaltende psychische Belastung bei Konfrontation mit internen oder externen Reizen, die die traumatische Situation symbolisieren oder an einen Aspekt des Traumas erinnern.
5)Deutliche körperliche Reaktionen bei Konfrontation mit internen oder externen Reizen, die die traumatische Situation symbolisieren oder an einen Aspekt des Traumas erinnern.
C. Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind, auf mindestens eine der folgenden Weisen:
1)Vermeidung belastender Erinnerungen, Gedanken oder Gefühlen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen.
2)Vermeidung externer Reize, die an das Trauma erinnern (Personen, Plätze, Unterhaltungen, Aktivitäten, Situationen).
D. Negative Veränderungen der Kognitionen und der Stimmung nach dem Trauma. Mindestens zwei der folgenden Symptome liegen vor:
1)Unfähigkeit, sich an wichtige Aspekte des Traumas zu erinnern (als Folge einer dissoziativen Amnesie und nicht durch andere Faktoren wie z. B. eine Hirnverletzung, Alkohol oder Drogen bedingt).
2)Persisierende und übersteigerte negative Kognitionen oder Erwartungen in Bezug auf sich selbst, andere oder die Welt (z. B. „Ich bin schlecht“, Man kann niemandem trauen“, „Die gesamte Welt ist gefährlich“, „Mein gesamtes Nervensystem ist für immer zerstört“).
3)Andauernde kognitive Verzerrungen in Hinblick auf die Ursachen oder die Folgen der traumatischen Situation, die dazu führen, dass die Person sich selbst oder anderen Vorwürfe macht.
4)Anhaltende negative Emotionen (z. B. Angst, Furcht, Ärger, Schuld, Scham).
5)Deutlich vermindertes Interesse an wichtigen Aktivitäten.
6)Gefühl der Entfremdung von anderen Personen.
7)Anhaltende Unfähigkeit, positive Emotionen zu empfinden (z. B. Fröhlichkeit, Zufriedenheit, Liebe).
E. Anhaltende Symptome erhöhten Arousals und übersteigerter Reaktionen. Mindestens zwei der folgenden Symptome liegen vor:
1)Irritabilität und aggressive Ausbrüche (ohne oder nach geringer Provokation), die sich in verbalen oder körperlichen Aggressionen gegen andere Personen oder Objekten manifestieren.
2)Rücksichtslosigkeit und selbstzerstörerisches Verhalten.
3)Gesteigerte Wachsamkeit.
4)Übertriebene Schreckreaktionen.
5)Konzentrationsschwierigkeiten.
6)Schlafstörungen (Ein- oder Durchschlafstörungen, unruhiger Schlaf).
F. Das Störungsbild (Kriterien B, C, D und E) dauert länger als einen Monat.
G. Das Störungsbild verursacht klinisch bedeutsames Leiden oder eine Beeinträchtigung der sozialen, beruflichen oder anderer bedeutsamer Fähigkeiten.
H. Das Störungsbild ist nicht auf physiologische Effekte von Substanzen (z. B. Medikamente, Alkohol) oder eine andere körperliche Erkrankung zurückzuführen.
Die American Psychiatric Association (APA) veröffentlichte 2013 die nunmehr fünfte Version ihres Klassifikationssystems Diagnostic and Statistical Manual for Psychiatric Disorders (American Psychiatric Association 2013). Die Traumata und belastungsbezogenen Störungen erhalten hier erstmals ein eigenständiges Kapitel um den selbständigen Charakter der Syndrome in Abgrenzung zu den anderen Angststörungen zu zeigen (Ausführlich zum Übergang von DSM-IV-TR zu DSM-5 siehe Friedman et al. 2011b; Friedman, Keane, & Resick, 2014; Friedman, Resick, Bryant & Brewin, 2011a; Kapfhammer, 2014; Weathers, 2017; Wittchen, Heinig, & Beesdo-Baum, 2014).
Gründe für die Herauslösung aus dem Kapitel der Angststörungen. Ätiologische Überlegungen werden bei der Klassifikation der Störungen im DSM in der Regel ausgeklammert, um sich auf eine spezifische Symptombeschreibung zu beschränken. Doch gerade bei den traumata– und belastungsbezogenen Störungen ist die ätiologische Komponente zwingend notwendig. Auch im DSM-5 wird die Posttraumatische Belastungsstörung, sowie auch alle anderen Traumastörungen, als Symptomkomplex in Folge der Exposition einer oder mehrerer traumatischer Ereignisse aufgefasst.
Werden nur die Symptome betrachtet, ergeben sich vielfältige Überlappungen mit anderen Syndromen. So finden sich Symptome des Hyperarousals (Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwäche und gesteigerte Schreckhaftigkeit) auch bei allgemeinen Angsterkrankungen. Physiologische Erregungszustände, Derealisation und Depersonalisation finden sich auch bei den Panikstörungen, persistierende, intrusive Gedanken zeigen sich auch bei der Zwangsstörung, der Depression, der generalisierten Angststörung und der Panikstörung (Friedman et al. 2011b).
Die DSM-5 Arbeitsgruppe stellt zurecht die Annahme einer Angstkonditionierung als Grundlage der Erkrankung in Frage. Bei erfolgter Angstkonditionierung zeigt sich oftmals ein spezifisches Muster neuronaler Erregung zwischen den Mandelkernen, dem medialen Präfrontalkortex und Kortex Insularis bei erhöhter Reaktivität der Mandelkerne (Duvarci u. Pare 2014; Janak u. Tye 2015). Bei Patienten mit PTBS, insbesondere bei jenen mit dissoziativen Symptomen wie Depersonalisierung und Derealisierung, zeigt sich hingegen eine reduzierte Reaktivität der Mandelkerne (Lanius et al. 2010). Anders als bei möglichen assoziativen Furcht- und Angstlernprozessen empfinden Patienten mit PTBS oftmals auch Scham, Schuld und/oder Ärger, so dass die Störung bereits in ihrer Konstruktion über das Bild der Angsterkrankung hinausgeht.
Diagnostik der posttraumatischen Belastungsstörung nach DSM-5. Die Diagnostik der Posttraumatischen Belastungsstörung im DSM-5 unterscheidet zwischen einem ätiologischen Kriterium (A), vier Symptomgruppe (B–E), einem zeitlichen Kriterium (F), einem Kriterium subjektiver Belastung (G) und einem Kriterium zum Ausschluss der Symptome als Folge anderer Erkrankungen oder von Substanzmissbrauch (H). Darüber hinaus können dissoziatives Erleben und ein verspäteter Symptombeginn spezifiziert werden (siehe Tabelle 2).
Kriterium (A): Ein traumatisches Ereignis – bspw. die Bedrohung mit dem Tod oder schwerer Verletzung und sexuelle Gewalt – muss direkt selbst erlebt oder direkt bezeugt werden. Von einem derartigen Erlebnis zu erfahren, wenn es Familienmitgliedern oder Freunden widerfuhr, kann ebenfalls auslösendes Momentum sein. Neu ist, dass nur ein objektives ätiologisches Kriterium der Traumaexposition gefordert wird. Bislang war für eine Diagnose nach DSM zusätzlich eine intensive emotionale Reaktion in Form von Angst, Hilflosigkeit und Entsetzten notwendig. Dieses subjektive ätiologische Kriterium war bereits Bestandteil des Kriterienkataloges des DSM-III und wurde im DSM-IV gar zur notwendigen Voraussetzung einer Diagnose. Allerdings zeigte sich, dass emotionale Reaktionen wie Ärger und Scham den gleichen prädiktiven Wert eines späteren Auftretens einer PTBS aufweisen (Breslau u. Kessler 2001). Post-hoc-Studien belegen, dass bei gleichbleibender Symptombelastung und Schwere der Erkrankung rund 20 Prozent der Betroffenen das subjektive Kriterium der intensiven emotionalen Reaktion nicht zeigen (O‘Donnell, Creamer, McFarlane, Silove, & Bryant 2010). Das trifft insbesondere auf ausgebildete Fachkräfte wie Rettungsassistenten und Soldaten zu (Friedman et al. 2014, 45), sodass die Notwendigkeit der subjektiven Belastung für eine Diagnose zu einer strukturellen Benachteiligung dieser Gruppen führte.
Die Kriterien der Symptomgruppen wurden auf vier erweitert, nachdem man in faktorenanalytischen Untersuchungen fand, dass neben der im DSM-IV-TR beschriebenen Trias aus traumabezogenem intrusivem Wiedererinnern, Vermeidung und emotionaler Betäubung auch negative Veränderungen von Kognition und Stimmung wesentlich zur Syndromkonstruktion beitragen (Yufik u. Simms 2010). So umfassen die Symptomgruppen nun Intrusionen (B) als wiederkehrende und belastende Erinnerungen, Träume, Flashbacks oder Stressreaktionen auf internale oder externale Reize als Symbole oder Hinweise auf das im Kriterium (A) beschriebene Erleben. Das bisherige Kriterium der Vermeidung und Betäubung (Numbing) wurde unterteilt in eine passive Vermeidung (C) und Dysphorie (D), wobei letzteres um die häufig anzutreffende Selbstzuweisung von Schuld sowie die Gefühle der Unzulänglichkeit, Schwäche und negativen Zukunftsaussicht ergänzt wurde. Somit wurde hier die bereits erwähnte Erweiterung des emotionalen Erlebens um Zustände der Schuld, Scham und Ärger berücksichtigt. Im Symptomkomplex des Hyperarousal (E) steht im DSM-5 die Verhaltenskomponente im Vordergrund und auf eine Bestimmung emotionaler Zuständen wurde verzichtet. Dies trägt auch den Erkenntnissen Rechnung, dass aggressives Verhalten ein bona fide Symptom der Posttraumatischen Belastungsstörung ist (Elbogen et al. 2010). Der Komplex umfasst nun Schlaflosigkeit, Konzentrationsprobleme, Hypervigilanz und Schreckhaftigkeit sowie leichtsinniges und selbstverletzendes Verhalten. Alle Symptome müssen mindestens vier Wochen vorliegen (F), um eine spontane Selbstheilung zunächst zu ermöglichen.
Wie bei anderen Symptomklassen des DSM-5 wurde für die Posttraumatische Belastungsstörung das Kriterium der subjektiven Belastung und Beeinträchtigung aufgenommen, so dass eine Posttraumatische Belastungsstörung nur diagnostiziert werden sollte, wenn auch eine subjektive Belastung des Patienten vorliegt (G). Des Weiteren dürfen die Symptome nicht auf den Gebrauch von Substanzen oder andere somatische Ursachen zurückgeführt werden können (H). Im ICD-10 (Internationale Klassifikation psychischer Störungen, Kapitel V, Forschungskriterien) der Weltgesundheitsorganisation findet sich unter F43.1 eine analoge Klassifikation.
In der Verlaufsbetrachtung der traumatischen Reaktion, erst recht aber im traumatischen Prozess können die Phasen von Verleugnung und Intrusion zeitlich alternieren. Manche Patienten sind vorübergehend sogar symptomfrei und entwickeln Symptome erst bei einer situativen Neuauflage der traumatischen Erfahrung.
In deutscher Übersetzung schlagen wir für die im PTSD anvisierte Symptomkonstellation die Bezeichnung → basales psychotraumatisches Belastungssyndrom (bPTBS) vor. Diese Übersetzung ist der englischen Abkürzung relativ ähnlich, in der Terminologie aber aus verschiedenen Gründen nicht völlig identisch. Wir halten zunächst die Vorsilbe posttraumatisch für zweifelhaft, da sie eine Gleichsetzung von Trauma und traumatischem Ereignis suggeriert, während Trauma nach unserem Verständnis und auch im üblichen Sprachgebrauch eher einen prozessualen Verlauf nahelegt. Das „Trauma“ ist nicht vorbei, wenn die traumatische Situation oder das traumatische Ereignis vorüber ist. Weiterhin halten wir die Wortverbindung von Trauma und Stress für problematisch. In deutschen KZ-Gutachterverfahren der Nachkriegszeit wurde der Stressbegriff beispielsweise dazu verwendet, ein Trauma auszuschließen. Einige Gutachter gestanden zwar zu, dass der Aufenthalt in einem Konzentrationslager für die Betroffenen „Stress“ bedeutet habe. Jetzt noch anhaltende Symptome seien auf konstitutionelle biologische Faktoren zurückzuführen. Tatsächlich sah die klassische Stresstheorie keine irreversiblen Symptome und Langzeitschäden vor. Auch besteht Grund zur Annahme, dass sich die Physiologie der → Stressreaktion von der der → traumatischen Reaktion qualitativ unterscheidet. Der Ausdruck „psycho-traumatisch“ erscheint uns dagegen klarer als die Wortkombination von Trauma und Stress und speziell in Deutschland historisch weniger belastet. Unter Stressreaktion verstehen wir demgegenüber die Antwort des Organismus auf eine kritische Belastungssituation und kritische Ereignisse, wobei es in der Regel nicht zu der für die Traumareaktion charakteristischen qualitativen Veränderung von psychischen und/oder organischen Systemen kommt.
Die vorgeschlagene Wortwahl schließt Übergänge zwischen Trauma und Stress nicht aus, ohne jedoch beide Termini in einem Ausdruck zusammenzufügen. Zudem hat unser terminologischer Vorschlag den Vorteil, das im „PTSD“ (nach DSM und ICD) benannte Symptombild in ein breites Spektrum psychotraumatischer Syndrome einzufügen und führt damit fort von der Vorstellung, es gäbe auf der phänomenalen Ebene ein einziges Syndrom, die PTSD.
Die Bezeichnung basal im Terminus basales PTBS ist nicht im Sinne eines umfassenden Katalogs aller psychotraumatischen Symptome zu verstehen, sondern im Sinne von basalen oder Grunddimensionen der traumatischen Reaktion, die auch dann wirksam sind, wenn phänomenal noch andere Merkmale in Erscheinung treten. Bei der Untersuchung der traumatischen Reaktion in Abschnitt 2.3 werden wir zeigen, dass der Wechsel von Verleugnung und möglichst dosiertem Wiederzulassen der traumatischen Erinnerungsbilder ein Grundmuster in der Psychophysiologie der Traumaverarbeitung darstellt. Everly (1995) schlägt ein zwei Faktoren-Modell der Traumafolgen vor, das sich aus dem Zusammenwirken einer im wesentlichen physiologisch gesteuerten Erregungsdimension und der psychischen Dimension des Diskrepanzerlebnisses ergibt, welches mit der traumatischen Erfahrung verbunden ist (Everly u. Lating 1995, 27-48). Erregungsdimension und psychologisches Trauma können nach Everly grundsätzlich unabhängig voneinander variieren. Extreme Erregungszustände des ZNS, die in Abhängigkeit von extremen Stressoren auftreten und im Übrigen einer Bahnung im limbischen System unterliegen können, führen wiederum zu körperlichen Störungen wie Koronarerkrankung oder Magenulcera, die bei geringerem zentralnervösem Aktivationsniveau nicht zu erwarten sind. Grundsätzlich kann dem „2-Faktoren-Modell“ zufolge extreme psychische Belastung auch mit vergleichsweise geringem Aktivierungsniveau einhergehen, eine Konstellation, die physiologisch gesehen dann weniger gravierende Folgen erwarten lässt. Wenn wir nun den zweiphasigen Prozess von Intrusion vs. Verleugnung/Vermeidung als basales Merkmal der psychischen Traumaverarbeitung verstehen, repräsentieren die drei Dimensionen des bPTBS – intrusive Erinnerungsbilder, Verleugnung/Vermeidung und das physiologische Erregungsniveau in der Tat die basalen Dimensionen von Traumaverarbeitung und Symptomproduktion. Das bPTBS umfasst demnach drei grundlegende Dimensionen, die bei jeder Traumatisierung angesprochen sind.
Abhängig von der Natur der jeweiligen traumatischen Situation und der Disposition des Individuums können die drei Dimensionen des bPTBS recht unterschiedlich ausgeprägt sein. Daraus ergeben sich phänomenal wiederum unterschiedliche Symptombilder. Bei extremer Ausprägung der Verleugnungs-/Vermeidungsdimension sind die sog. „frozen states“ (nach Mardi Horowitz 1976) beobachtbar, apathisch-depressive Erstarrungszustände mit emotionaler Anästhesie und einem katatonieähnlichen Verhaltensbild, ev. auch psychosomatischen Begleiterkrankungen. Die Extremform der Intrusionskomponente führt dagegen zu einem agitierten Erregungszustand und hilfloser Überflutung durch traumatische Reize bzw. Erinnerungen. Extremvarianten der physiologischen Erregungskomponente gehen mit einem langanhaltenden Erregungszustand einher, der ebenfalls eine Reihe körperlicher Erkrankungen nach sich ziehen kann.
Als Beispiele solcher „Erregungskrankheiten“ führt Everly (1995, 44) auf: Bluthochdruck, Kammerflimmern im Zusammenhang mit psychischen Belastungen, kardiale nichtischämische Muskeldegeneration, koronare Herzerkrankungen, Migräne, Raynaudsche Krankheit, Spannungskopfschmerz, funktionelle Störungen des muskulären Apparates, Magengeschwüre und Colon irritabile (chronische nicht primär organische Durchfallerkrankung).
Diese Erkrankungen können sich im Gefolge extremer und langanhaltender Aktivationsperioden des autonomen Nervensystems einstellen. Viele von ihnen wurden beispielsweise als Komponenten des KZ-Syndroms bei ehemaligen KZ-Häftlingen festgestellt, jedoch erst nach langer Auseinandersetzung mit den deutschen Gutachtern auch rechtlich als Haftschaden anerkannt. Sie zählen nicht zum Algorithmus des bPTBS (im Sinne der PTSD), auch nicht die katatonieähnlichen „frozen states“ oder die extremen Erregungszustände.
Versteht man das Syndrom jedoch verlaufstheoretisch als Momentaufnahme von Prozessen traumatischer Erlebnisverarbeitung, so werden auch diese Symptome als Extremvariante der drei Komponenten (Erinnerung, Verleugnung und Erregung) erkennbar, die an der Traumareaktion generell beteiligt sind. Im Sinne eines dynamisierten Verständnisses der bPTBS halten wir es für nützlich, auch die zuvor aufgeführte Extremausprägung der einzelnen Dimensionen und ihre Folgeerscheinungen in den Syndromalgorithmus einzubeziehen auf Kosten der Forderung, dass für die Diagnose alle drei Dimensionen mit Symptomen besetzt sein müssen, wie es das jetzige PTSD vorsieht.
Verzögertes PTBS. Das basale psychotraumatische Belastungssyndrom kann auch nach Monaten, manchmal erst nach Jahren in Erscheinung treten. Auch diese Beobachtung spricht u. E. dafür, psychische Traumatisierung als einen Verlaufsprozess zu verstehen. Hier kann das Erlebnismoment der Nachträglichkeit beteiligt sein, wenn dem früheren Erlebnis erst im Nachhinein eine existenziell bedrohliche Bedeutung verliehen wird. Bedingt durch eine Wiederholung von Komponenten der traumatischen Situation, durch Lebenskrisen oder „Passagen“ im Lebenszyklus (wie Adoleszenz, Elternschaft, Altern) kann ein bis dahin latentes → Traumaschema stimuliert werden und zur Symptomproduktion beitragen.
Victimisierungssyndrom. Frank Ochberg, ein Traumaforscher aus Michigan, der sich vor allem mit Therapie für Opfer von Gewaltverbrechen befasst, hat für die traumatische Auswirkung von Gewalterfahrungen eine Symptomliste vorgeschlagen (1988), die er später zu einem Syndrom zusammenfasste mit einem eigenen Kalkül für die Diagnose analog zum bPTBS (1993). Das Syndrom besteht aus drei Kriterien (A, B, C) und 10 Symptomen (siehe Tabelle 3).
Tabelle 3: Victimisierungssyndrom nach Ochberg (1993, 782, Übers. G. F. und P. R.)
A. Die Erfahrung einer oder mehrerer Episoden von physischer Gewalt oder psychischem Missbrauch oder Nötigung zu sexueller Aktivität, dies entweder als Opfer oder als Zeuge.
B. Die Entwicklung von mindestens x (Anzahl muss noch festgelegt werden) der folgenden Symptome (nicht vorhanden vor der Victimisierungserfahrung):
1)Ein Gefühl, den täglichen Aufgaben und Verpflichtungen nicht mehr gewachsen zu sein, welches über das Erlebnis von Ohnmacht in der speziellen traumatischen Situation hinausgeht (z. B. allgemeine Passivität, mangelnde Selbstbehauptung, oder fehlendes Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit).
2)Die Überzeugung, dass man durch die Victimisierungserfahrung dauerhaft beschädigt ist (z. B. wenn ein missbrauchtes Kind oder ein Opfer von Vergewaltigung der Überzeugung ist, dass es für andere nie mehr attraktiv sein kann).
3)Gefühle von Isolation, Unfähigkeit, anderen zu vertrauen oder mit ihnen Intimität herzustellen.
4)Übermäßige Unterdrückung oder exzessiver Ausdruck von Ärger.
5)Unangemessene Bagatellisierung von zugefügten (psychischen oder physischen) Verletzungen.
6)Amnesie des traumatischen Erlebnisses.
7)Die Überzeugung des Opfers, an dem Vorfall eher die Schuld zu tragen als der Täter.
8)Eine Neigung, sich der traumatischen Erfahrung erneut auszusetzen.
9)Übernahme des verzerrten Weltbildes des Täters in der Einschätzung von sozial angemessenem Verhalten (z. B. die Annahme, dass es in Ordnung ist, wenn Eltern sexuelle Beziehungen zu ihren Kindern unterhalten oder dass es in Ordnung ist, wenn ein Ehemann seine Frau schlägt, damit sie gehorcht).
10)Idealisierung des Täters.
C. Dauer des Syndroms von mindestens einem Monat.
Ochberg bringt mit diesem Vorschlag u. E. einige der symptomatischen Besonderheiten zum Ausdruck, die durch eine traumatische Erschütterung des → kommunikativen Realitätsprinzips entstehen. Insofern erscheint es uns angebracht, das Victimisierungssyndrom (VS) zu den Syndromen der allgemeinen Psychotraumatologie zu rechnen mit spezieller Relevanz für soziale Gewalterfahrungen. Es überschneidet sich in einigen Punkten mit dem basalen psychotraumatischen Belastungssyndrom, benennt aber zusätzlich Aspekte einer Erschütterung und Verzerrung von Prämissen unserer sozialen Welterfahrung, die im bPTBS noch nicht erfasst sind. Für die → Diagnostik der Folgen von Gewalterfahrung sollte das Victimisierungssyndrom (VS) ergänzend zum bPTBS berücksichtigt werden.
Komplexes psychotraumatisches Belastungssyndrom. In mancher Hinsicht eine Verbindung zwischen bPTBS und VS stellt das → komplexe psychotraumatische Belastungssyndrom nach Judith Herman und Bessel van der Kolk dar („complex PTSD“, im Folgenden abgekürzt als kPTBS). Die Folgen vor allem von schwerster, langanhaltender und wiederholter Traumatisierung wie etwa nach Folter, Lagerhaft und fortgesetzter Misshandlung sucht das kPTBS zu beschreiben. DESNOS ( = Diagnosis of Extreme Stress Not Otherwise Specified) hat als Arbeitsgruppe wesentliche Kriterien erarbeitet, die als Grundlage der erweiterten Trauma-Kriterien im DSM-5 angenommen werden können, auch wenn es hier nach wie vor keine eigene Definition für das komplexe PTBS gibt. Auch die Arbeitsgruppe um das Manual der Weltgesundheitsorganisation, die ICD, bereitet derzeit eine diagnostische Kategorie zum „Persönlichkeitswandel nach katastrophischen Erfahrungen“ vor. Der Vorschlag von Herman u. van der Kolk umfasst 7 Kriterien bzw. Symptomgruppen (Tabelle 4). Diese ausführlicheren Formulierungen finden sich in der aktuell (Stand: Mai 2018) in der Finalisierung begriffenen ICD-11 wieder (Tabelle 5).
Tabelle 4: Komplexes psychotraumatisches Belastungssyndrom (Herman 1992, 121, Übers. G. F. u. P.R.)
1.Unterworfensein unter totalitäre Kontrolle über einen längeren Zeitraum (Monate bis Jahre) mit Beispielen wie Geiselhaft, Kriegsgefangenschaft, Überleben von Konzentrationslagern und einiger religiöser Kulte. Weitere Beispiele sind die Opfer totalitärer Systeme im sexuellen und familiären Bereich, wie Überlebende von familiärer Gewalt, Kindesmisshandlung, sexuellem Kindesmissbrauch und organisierter sexueller Ausbeutung.
2.Veränderungen der Affektregulierung mit anhaltenden dysphorischen Verstimmungen, chronischer Beschäftigung mit Suizidideen, Neigung zu Selbstverletzungen, explosiver oder extrem unterdrückter Wut (ev. im Wechsel), zwanghafter oder extrem gehemmter Sexualität (ev. im Wechsel).
3.Veränderungen des Bewusstseins, wie Amnesie oder Hypermnesie für traumatische Ereignisse, dissoziative Episoden, Depersonalisation/Derealisation, Wiedererleben der traumatischen Erfahrungen entweder in Form intrusiver Symptome oder in Form von ständigem Grübeln.
4.Veränderungen des Selbstbildes mit Gefühlen von Hilflosigkeit und Initiativverlust; Scham, Schuldgefühlen und Selbstanklage; eigener Wertlosigkeit oder Stigmatisierung; Gefühl, völlig verschieden von anderen zu sein (etwas Besonderes beispielsweise, Erleben äußerster Einsamkeit, die Überzeugung, von niemandem verstanden werden zu können oder nicht menschlich zu sein).
5.Veränderungen in der Wahrnehmung des Täters, wie ständige Beschäftigung mit ihm (z. B. auch in Form von Rachegedanken); eine unrealistische Sichtweise des Täters als übermächtig (Vorsicht! Das Opfer kann die Macht des Täters unter Umständen realistischer einschätzen als der Therapeut); Idealisierung des Täters oder paradoxe Dankbarkeit ihm gegenüber; das Gefühl einer besonderen oder übernatürlichen Beziehung zum Täter; Übernahme von Weltanschauung oder Rechtfertigungen des Täters.
6.Veränderung der sozialen Beziehungen mit Isolation und Rückzug, Abbruch von intimen Beziehungen, fortgesetzte Suche nach einem Retter (kann wechseln mit Isolation und Rückzug), ständigem Misstrauen, wiederholtem Versagen beim Schutz der eigenen Person.
7.Veränderung von Stimmungslagen und Einstellungen wie Verlust von Zuversicht, Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.
Tabelle 5: Vorläufige ICD-11 Kriterien für die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (Übers. A. G. F.)
Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (komplexe PTBS) ist ein Störungsbild, das sich nach dem Erleben eines einzelnen Ereignisses oder einer wiederholten Serie von Ereign issen, die extreme, dauerhafte oder repetitive Charakteristika zeigen und als besonders bedrohlich und erschreckend erlebt werden und vor denen eine Flucht schwierig oder unmöglich ist (z. B. Folter, Versklavung, Genozid, dauerhafte häusliche Gewalt, wiederholter sexueller oder physischer Kindesmissbrauch) entwickeln kann. Das Störungsbild ist charakterisiert durch die Kernsymptome der Posttraumatischen Belastungsstörung; dies bedeutet alle diagnostischen Voraussetzungen der Posttraumatischen Belastungsstörung lagen zu mindestens einem Zeitpunkt im Verlauf der Erkrankung vor. Zusätzlich ist die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung durch folgende Merkmale bestimmt:
1)schwerwiegende und weitreichende Störung der Affektregulation;
2)andauernde Selbstüberzeugungen, minderwertig, unterlegen oder wertlos zu sein, die mit tiefen und weitreichenden Gefühlen von Scham, Schuld und Versagen gegenüber dem traumatischen Ereignis / dem Täter einhergehen;
3)dauerhafte Schwierigkeiten im Aufrechterhalten von Beziehungen und Nähegefühlen zu anderen.
Die Störung verursacht erhebliche Einschränkungen auf persönlicher, familiärer, sozialer oder beruflicher Ebene oder in anderen wichtigen Lebensbereichen.
Mit dem komplexen PTBS kommt die Psychotraumatologie dem Ziel näher, Klassifikationssysteme für ein weites Spektrum von Folgeerscheinungen zu entwickeln, das von Stressreaktionen über die Folgen einmaliger traumatischer Ereignisse (Typ-I-Trauma) bis hin zu langdauernder Extremtraumatisierung reicht. Brett (1991) hat in diesem Sinne dafür plädiert, von einem „Traumaspektrum“ auszugehen, in dem die psychotraumatologischen Folgeerscheinungen anzusiedeln sind.
Dissoziative Identitätsstörung. Die Dissoziativen Störungen folgen im DSM-5 den Trauma- und Stressbezogenen Störungen, wobei das DSM-5 nun die zahlreichen Belege berücksichtigt, denen zufolge die Dissoziativen Störungen zum Traumaspektrum gerechnet werden müssen (wie bereits in früheren Auflagen dieses Lehrbuches hier beschrieben). Insbesondere die Kriterien der Dissoziativen Identitätsstörung (als Extremvariante einer „multiplen Persönlichkeitsorganisation“) wurden angepasst, um aufzuzeigen, dass die Symptome der Identitätsstörung durch den Patienten selbst mitgeteilt, aber auch nur beobachtbar sein können. Vorhandene Erinnerungslücken müssen sich nicht länger auf traumarelevante Inhalte beziehen und können auch alltägliche Ereignisse umfassen. Zu den mindestens zwei unterschiedlichen Identitäten oder Persönlichkeitszuständen wird ergänzt, dass diese in manchen Kulturen als pathogene Besessenheit beschrieben werden. Das DSM-5 führt die in Tabelle 6 genannten Kriterien an.
Tabelle 6: Dissoziative Identitätsstörung nach DSM-5
A. Das Vorhandensein von zwei oder mehreren unterscheidbaren Identitäten oder Persönlichkeitszuständen, die in manchem kulturellen Kontext als spirituelle Besessenheit beschrieben werden können. Die Unterbrechung der Identität beinhaltet eine deutliche Diskontinuität der Selbstwahrnehmung, begleitet von ähnlichen Veränderungen in Affekterleben, Verhalten, Bewusstsein, Gedächtnis, Wahrnehmung, Denken, und / oder sensomotorischen Funktionen. Diese Merkmale und Symptome können entweder von anderen beobachtet oder selbst wahrgenommen werden.
B. Wiederkehrende Lücken im Erinnern alltäglicher Ereignisse, wichtiger persönlicher Informationen und / oder traumatischer Ereignisse, die über gewöhnliche Vergesslichkeit hinausgehen.
C. Das Störungsbild verursacht klinisch bedeutsames Leiden oder eine Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen bedeutsamen Funktionsbereichen.
D. Das Störungsbild ist kein normaler Bestandteil weithin akzeptierter kultureller oder religiöser Praktiken. Zu beachten: Bei Kindern sind diese Symptome nicht zurückführbar auf Spielgefährten in der Phantasie oder anderes Phantasiespiel.
E. Die Störung ist keine physiologische Auswirkung einer chemischen Substanz (z. B. Blackouts oder chaotisches Verhalten während Alkoholintoxikation) oder ein allgemeiner Krankheitszustand (z. B. fokale epileptische Anfälle).
Zu beachten: Die dissoziative Identitätsstörung geht auf zwei Dispositionen zurück, einerseits eine Neigung zu dissoziativen Reaktionen wie Geistesabwesenheit, starke Vergesslichkeit usf. Der zweite ätiologische Faktor sind extreme traumatische Erfahrungen in der Kindheit durch physische Misshandlung und / oder andere Formen extremer Traumatisierung.
Akute Belastungsstörung (acute stress disorder). Dieses Symptombild wurde erstmals in der 4. Auflage des Diagnostisch Statistischen Manuals (DSM) aufgenommen. Das DSM-5 umfasst die in Tabelle 7 genannten Kriterien.
Tabelle 7: Akute Belastungsstörung nach DSM-5
A. Kriterium erlebter traumatischer Situation wie bei Posttraumatischer Belastungsstörung.
B. Das Vorhandensein von neun (oder mehr) Symptomen aus den folgenden fünf Kategorien: Wiedererleben, negative Stimmung, Dissoziation, Vermeidung und Arousal. Die Symptome beginnen oder verschlechtern sich nach dem traumatischen Ereignis:
Wiedererleben
1)Wiederkehrende, unwillkürlich sich aufdrängende belastende Erinnerungen (Intrusionen) an das oder die traumatischen Ereignisse. Beachte: Bei Kindern können traumabezogene Themen oder Aspekte des oder der traumatischen Ereignisse wiederholt im Spielverhalten zum Ausdruck kommen.
2)Wiederkehrende belastende Träume, deren Inhalte und / oder Affekte sich auf das oder die traumatischen Ereignisse beziehen. Beachte: Bei Kindern können stark beängstigende Träume ohne wiedererkennbaren Inhalt auftreten.
3)Dissoziative Reaktionen (z. B. Flashbacks), bei denen die Person fühlt oder handelt, als ob das oder die traumatischen Ereignisse sich wieder ereignen. (Diese Reaktionen können in einem Kontinuum auftreten, bei dem der völlige Wahrnehmungsverlust der Umgebung die extremste Ausdrucksform darstellt.) Beachte: Bei Kindern können Aspekte des Traumas im Spiel nachgestellt werden.
4)Intensive oder anhaltende psychische Belastung bei der Konfrontation mit inneren oder äußeren Hinweisreizen, die einen Aspekt des oder der traumatischen Ereignisse symbolisieren oder an Aspekte desselben / derselben erinnern.
Negative Affektivität
5)Anhaltende Unfähigkeit, positive Gefühle zu empfinden (z. B. Glück, Zufriedenheit, Gefühle der Zuneigung).
Dissoziative Symptome
6)Veränderte Wahrnehmung der Umwelt oder der eigenen Person als Realität (z. B. die Person sieht sich aus der Perspektive eines anderen, fühlt sich wie betäubt, nimmt alles in Zeitlupe wahr).
7)Unfähigkeit, sich an einen wichtigen Aspekt des oder der traumatischen Ereignisse zu erinnern (typischerweise durch Dissoziative Amnesie und nicht durch andere Faktoren wie Kopfverletzungen, Alkohol oder Drogen bedingt).
Vermeidung
8)Bemühungen, belastende Erinnerungen, Gedanken oder Gefühle, die sich auf das oder die Ereignisse beziehen oder eng mit diesem / diesen verbunden sind, zu vermeiden.
9)Bemühungen, Dinge in der Umwelt (Personen, Orte, Gespräche, Aktivitäten, Gegenstände, Situationen) zu vermeiden, die belastende Erinnerungen, Gedanken oder Gefühle hervorrufen, die sich auf das oder die Ereignisse beziehen oder eng mit diesem bzw. diesen verbunden sind.
Erhöhtes Arousal
10)Schlafstörungen (z. B. Ein- und Durchschlafstörungen, unruhiger Schlaf).
11)Reizbarkeit und Wutausbrüche (ohne oder mit geringfügigem Anlass), welche typischerweise durch verbale oder körperliche Aggression gegenüber Personen oder Gegenständen ausgedrückt werden.
12)Hypervigilanz (übermäßige Wachsamkeit).
13)Konzentrationsschwierigkeiten.
14)Übertriebene Schreckreaktionen.
C. Die Dauer des Störungsbildes (der Symptome in Kriterium B) beträgt 3 Tage bis 1 Monat nach dem traumatischen Ereignis. Beachte: Die Symptome beginnen meist direkt nach dem Trauma, müssen aber mindestens 3 Tage und höchstens 1 Monat andauern, um das Kriterium zu erfüllen.
D / E wie G / H bei Posttraumatischer Belastungsstörung.
Die akute Belastungsstörung füllt im DSM eine Lücke, welche die frühere Definition der PTSD, der basalen psychotraumatischen Belastungsstörung hinterlassen hatte. Bei der akuten Belastungsstörung handelt es sich um eine vorübergehende massive Stressreaktion, die jedoch nicht in das basale psychotraumatische Belastungssyndrom übergehen muss.
Anpassungsstörung (adjustment disorder). Hier liegt eine chronifizierte Belastungsreaktion vor als Antwort auf persönliche Verluste und/oder eine geforderte Umstellung der Lebensweise. Die in Tabelle 8 ausgeführten Kriterien werden im DSM-5 genannt.
Tabelle 8: Anpassungsstörung nach DSM-5
A. Die Entwicklung von emotionalen oder behavioralen Symptomen als Reaktion auf einen identifizierbaren Belastungsfaktor, die innerhalb von 3 Monaten nach Beginn der Belastung auftreten.
B. Die Symptome oder Verhaltensweisen sind von klinischer Bedeutung, wie aus den folgenden beiden Merkmalen ersichtlich:
1)Deutliches Leiden, welches unverhältnismäßig zum Schweregrad und zur Intensität des Belastungsfaktors ist, nach Berücksichtigung des externen Umfelds und kultureller Faktoren, die den Schweregrad und das Beschwerdebild der Symptome beeinflussen können.
2)Bedeutsame Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
C. Das belastungsabhängige Störungsbild erfüllt nicht die Kriterien für eine andere psychische Störung und stellt nicht nur eine Verschlechterung einer vorbestehenden psychischen Störung dar.
D. Die Symptome sind nicht Ausdruck einer gewöhnlichen Trauerreaktion.
E. Wenn die äußere Belastung oder deren Folgen beendet sind, bestehen die Symptome nicht länger fort als weitere sechs Monate.
Bestimme ob: Akut: Wenn das Störungsbild weniger als 6 Monate anhält.
Andauernd (Chronisch): Wenn das Störungsbild 6 Monate oder länger anhält.
Es wird unterschieden zwischen akuter Anpassungsstörung und chronischer. Bei ersterer dauert die Störung weniger als sechs Monate, bei letzterer sechs Monate oder länger. Die Anpassungsstörung kann einhergehen entweder mit einer depressiven Stimmungslage oder einer ängstlichen, ferner mit einer Mischung aus Angst und Depression, mit Verhaltensstörungen oder einer Mischung von Verhaltens- und emotionalen Störungen. Tauerreaktionen, beispielsweise in Folge des Verlustes einer nahestehenden Person, bilden eine Ausnahme, wenn die Reaktion eine erwartbare Antwort darstellt, etwa auf den Tod einer geliebten Person. Geht die Reaktion über das erwartbare Maß an Trauer und Bedrückung hinaus, so kann eine Anpassungsstörung im Sinne einer pathologischen Trauerreaktion diagnostiziert werden.
Differentialdiagnostisch zum bPTBS ist der Zeitraum bedeutsam, in dem sich die Störung manifestiert. Während das bPTBS Monate oder auch Jahre nach dem belastenden Ereignis auftreten kann, tritt die Anpassungsstörung innerhalb von drei Monaten im Anschluss daran auf und dauert nicht länger als sechs Monate an, gerechnet ab dem Zeitpunkt der traumatischen Erfahrung. Nach diesem Kriterium können sich beide Störungsbilder zeitlich überschneiden. So kann es sein, dass eine gegenwärtige Anpassungsstörung in Wirklichkeit die Reaktion auf eine längere Zeit zurückliegende traumatische Erfahrung darstellt und so den Kriterien des bPTBS entspricht.
Ausblick zur ICD-11. 2022 soll die ICD in der elften Version in Kratft treten, zum Zeitpunkt der Drucklegung liegt die neueste Version jedoch noch nicht vor. Die folgenden Hinweise beziehen sich auf die Vorschläge der Arbeitsgruppe zu belastenden Ereignissen (Maercker et al. 2013a; Maercker et al. 2013b) und den koordinierten Vorschlägen (World Health Organization 2017). Diese zielen auf eine starke Vereinfachung der Diagnostik mit dem Ziel einer Konzentration auf den vermuteten symptomatischen Kern des Störungsbildes, eine Reduktion von komorbiden Diagnosen und internationale Homogenisierung der Diagnostik ab. Im Bereich des PTBS werden Symptome wie Dysphorie oder Niedergeschlagenheit, Insomnie, Konzentrationseinschränkungen und Reizbarkeit nur noch als assoziierte Symptome gelistet. Als Kernkriterien werden Wiedererleben des Traumas, Vermeidung von Gedanken an das Trauma oder Situationen, welche an das Trauma erinnern könnten, und Hypervigilanz gelistet. Dies reduziert das PTBS erneut auf eine Störung im Angstspektrum und schließt externalisierende und anhedonische Symptome weitgehend aus.
Ein post-hoc-Vergleich der Diagnosekriterien anhand bekannter amerikanischer Stichproben zeigt, dass sich durch die ICD-11 Kriterien eine um 10 bis 30 Prozent reduzierte Prävalenz im direkten Vergleich zu DSM-5 Kriterien ergibt. Werden als Maßstab die Diagnosekriterien der ICD-10 herangezogen, ergibt sich gar eine 25 Prozent bis 50 prozentige Reduktion der Prävalenz (Wisco et al. 2016).
Eine Netzwerksanalyse, die anhand einer großen Stichprobe von amerikanischen Veteranen durchgeführt wurde, hatte zum Ziel, verknüpfte Kernelemente des PTBS zu definieren. Die Autoren fanden folgende Kernelemente: Anhaltende negative Emotionen, Unvermögen, positive Emotionalität zu erleben, Albträume, aktive Vermeidung externer Hinweise auf das Trauma, aktive Vermeidung von Gedanken an das Trauma und sich aufdrängende Gedanken und Erinnerungen (Mitchell et al. 2017). Es zeigt sich, dass nur die letztgenannten drei Elemente in den Vorschlägen zur ICD-11 Berücksichtigung finden und auch diese dort restriktiv ausgelegt werden sollen.
Das hier vorgeschlagene Prozessmodel lässt sich mit den ICD-11-Vorschlägen schwer vereinbaren. In der Abwägung der Nosologien bietet das DSM-5 deutlich umfassendere Diagnosemöglichkeiten unter Einbeziehung eines breiteren Spektrums an Symptomen, welche der Heterogenität der Ausprägung in dem hier vorgeschlagenen Prozessmodell der Erkrankungen eher gerecht wird.
Differentialdiagnose und Komorbiditäten der psychotraumatischen Belastungssyndrome. Differentialdiagnostische Kriterien sind vor allem gegenüber solchen Störungen von Interesse, die Ähnlichkeit oder Überschneidungen mit den psychotraumatischen Syndromen aufweisen. Gleichzeitig kann ein Patient jedoch auch unter beiden Störungen leiden (Komorbidität, gleichzeitiges Auftreten zweier Krankheiten). Von den Patienten mit PTBS erfüllen etwa 80% die Kriterien mindestens eines weiteren Störungsbildes.
Neben der schon erwähnten Anpassungsstörung überschneidet sich das bPTBS jeweils in einigen Symptomen mit Depression, Schizophrenie, Angststörungen und antisozialer Persönlichkeitsstörung. Die Ähnlichkeit einiger Symptome mit psychotischem Erleben hatte nach Arnold (1985) dazu geführt, dass nicht wenige Vietnamveteranen mit PTBS die Diagnose „paranoide Schizophrenie“ erhielten. Ihre intrusiven Erinnerungsbilder wurden als Halluzination bewertet und die erhöhte Wutbereitschaft der ehemaligen Soldaten auf paranoide Ideen zurückgeführt. Die Aufnahme des PTSD in das DSM-III hat diese Fehldiagnosen reduziert. Das Beispiel kann verdeutlichen, wie häufig vor Entwicklung der Psychotraumatologie Traumaopfer als schwer „gestört“, evtl. als psychotisch eingestuft wurden.
Mit der Major Depression im DSM-5 überschneiden sich folgende Symptome: Verlust von Interesse an Aktivitäten, Konzentrationsstörungen und Schlafstörungen. Die Differentialdiagnose ist hier schwierig, da sich eine depressive Stimmungslage auch aus den verbreiteten Phänomenen des Schuldgefühls, evtl. der Überlebendenschuld bei Traumaopfern ableiten lässt. Ein differenzielles Kriterium ist das Vorkommen prätraumatischer depressiver Episoden. Komorbiditäten zwischen Depression und psychotraumatischen Störungsbildern werden relativ häufig diagnostiziert. Die Major Depression nach DSM-5 beinhaltet keines der Symptome in Kategorie B und C, und nur wenige der Symptome der Kategorien D und E (Tabelle 2). Eine Major Depression sollte daher nur dann diagnostiziert werden, wenn diese Symptome nicht vorliegen.
Ein differentialdiagnostisches Kriterium zur Schizophrenie ist nach Arnold (1985) der Inhalt der dissoziierten Rückblenden und Erinnerungsbilder. Während diese beim PTBS die traumatischen Erfahrungen ausdrücken, lassen sich die schizophrenen Halluzinationen meist mit keiner konkreten Erfahrung in Zusammenhang bringen. Andererseits kann eine psychotische Episode selbst ein traumatisches Ereignis für den Betroffenen darstellen. McGorry et al. (1991) konnten bei annähernd der Hälfte von 36 stationär behandelten Patienten ein PTBS nachweisen, das sich in der Erholungsphase nach dem psychotischen Erleben entwickelte.
Überschneidungen mit der antisozialen Persönlichkeit bestehen in Impulsivität, feindseliger Haltung, unverantwortlichem Finanzgebaren und sexuellen Funktionsstörungen als Symptomen, die sich auch bei Traumapatienten finden. Unterschiede lassen sich vor allem an der Biographie der beiden Patientengruppen feststellen. Nach Arnold (1985) sind schon in Kindheit und Jugendzeit auftretende antisoziale Verhaltensweisen ein verlässlicher Hinweis auf die antisoziale Persönlichkeit. Komorbidität besteht jedoch häufig, da antisoziale Persönlichkeiten einen Lebensstil pflegen, der sie einem erhöhten Traumarisiko aussetzt. In jedem Falle ist das Auftreten dieser Symptome zeitlich nach einem traumatischen Ereignis ein Hinweis, der gegen eine Persönlichkeitsstörung spricht.
Auch mit Alkoholabusus ist eine erhöhte Komorbiditätsrate gegeben, die u. a. auf die Versuche von Traumapatienten zur Selbstmedikation zurückzuführen ist. Nach van der Kolk (1983) kann Alkohol Alpträume unterdrücken, das Erregungsniveau des autonomen Nervensystems reduzieren und nichttraumatische Phantasien fördern. Alkoholgenuss in begrenzter Menge kann so eine subjektive Symptomminderung initial nach der traumatischen Erfahrung bedingen. Es besteht jedoch die Gefahr der Gewöhnung, wenn keine anderen Verarbeitungsmöglichkeiten gefunden werden. Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit ist häufig ein Grund, weshalb sich Traumapatienten später in Behandlung begeben.
Um auszuschließen, dass PTBS-Symptome vorgetäuscht werden, kann einmal die Motivlage, zum anderen die Lebensgeschichte des Patienten herangezogen werden. In einigen psychologischen Tests wie dem MMPI gibt es zudem Kontrollskalen, die eine Tendenz zum Verschlimmern oder Übertreiben von Symptomen abzuschätzen erlauben.
Im Folgenden werden wir am Beispiel eines 53-jährigen Patienten, der Opfer eines Verkehrsunfalls wurde, einige Probleme von Diagnose und Differentialdiagnose verdeutlichen.
Klinisches Beispiel. Der Patient wurde auf Anordnung des Gerichts einer medizinisch-psychologischen Begutachtung unterzogen, als die gegnerische Unfallversicherung sich weigerte, für die somatischen und psychischen Störungen, die sich im Anschluss an den Unfall eingestellt hatten, aufzukommen. Er war mittlerweile, etwa 3 Jahre nach dem Unfall, arbeitsunfähig geworden, nachdem er zuvor als selbständiger Kleinunternehmer sehr erfolgreich tätig war und ca. 500.000 € Umsatz im Jahr erarbeitet hatte. Die Versicherung war bereit, ca. 3.000 € Schadensersatz zu leisten. Dem Gericht lagen bereits einige fachliche Stellungnahmen vor, von denen 3 den Zusammenhang mit dem Unfall anerkannten, während eine ihn bestritt und einen erblich bedingten Krankheitsprozess unterstellte, der sowohl die körperlichen wie die psychischen Symptome hervorgebracht haben sollte. Allerdings konnte dieser Gutachter kein Prodromalstadium der angenommenen Krankheit vor dem Unfall nachweisen, was für die Diagnose erforderlich gewesen wäre.
Das zweite ausführliche Gutachten nahm eine „unfallreaktive Somatisierungsstörung“ nach Rudolf (1991) an. Hier wird ein unbewusster Konflikt unterstellt, der durch den Unfall lediglich in unspezifischer Weise stimuliert wurde. Der Konflikt war allerdings im Gutachten nicht inhaltlich benannt worden. Von daher fragte das Gericht den neuen Gutachter, ob tatsächlich ein solcher unbewusster Konflikt vorläge.
Den Unfallhergang schildert der Proband (= Untersuchungspartner in einer psychodiagnostischen Untersuchung) folgendermaßen:
Hinter einem mit hoher Geschwindigkeit entgegenkommenden Lastwagen auf der Landstraße sei plötzlich ein PKW hervorgefahren, um zu einem Überholversuch anzusetzen. Herr R., so nennen wir den Probanden, hatte keine Möglichkeit mehr auszuweichen, da die Straße zu schmal war und die Geschwindigkeit aller drei Fahrzeuge zu hoch. Offenbar hatte der überholende PKW-Fahrer versäumt zu überprüfen, ob die Straße für das geplante Überholmanöver frei war. Der Proband berichtet dann, er habe jetzt von Fertigkeiten Gebrauch gemacht, die er früher bei einem Überlebenstraining für gefährliche Situationen im Straßenverkehr erworben hatte. Er sei ausgewichen unter äußerst riskanten Bedingungen und so sei es ihm gelungen, das Schlimmste zu vermeiden. Er riss den Wagen herum auf den Seitenstreifen, prallte gegen mehrere Bäume und kam zum Stehen an einem Baum, hinter dem die Böschung in einen etwa 8 m tiefer gelegenen Fluss abstürzte. Herr R. stemmte sich am Boden des Fahrzeugs mit dem rechten Fuß mit aller Kraft „symbolisch“ gegen diesen Abgrund. Er war dreimal heftig mit dem Kopf angestoßen und hatte sich ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen, wohingegen der Fahrer des entgegenkommenden Wagens unverletzt blieb. Beide hatten sich in einer sehr gefährlichen, lebensbedrohlichen Situation befunden. Dem entsprach auch das subjektive Erleben von Herrn R., wie er es im diagnostischen Interview schilderte.
Vor allem das plötzliche und völlig unvorhersehbare Auftauchen des entgegenkommenden Wagens hinter dem Lastwagen hervor gehöre zum Schrecklichsten, woran er sich erinnern könne, berichtet Herr R. Der Unfallgegner sei ihm mit vor Entsetzen „so weit wie Untertassen aufgerissenen Augen“ entgegengekommen, habe aber überhaupt nichts unternommen, um den Zusammenprall zu vermeiden. Ihm selbst sei in diesen Bruchteilen von Sekunden, vor allem unmittelbar nach dem gelungenen Ausweichmanöver, die Zeit stehen geblieben, und ein „Lebensfilm“ sei innerlich abgelaufen. Er habe sich so etwas nie vorstellen können. In den wenigen Augenblicken sei zunächst die Erinnerung an einen Bombenangriff aufgetaucht, den er mit viereinhalb Jahren miterlebte. Damals floh der Proband zusammen mit seiner Mutter zwischen brennenden Häusern und teilweise bizarr herumliegenden Leichen hindurch. Auch andere Ereignisse aus seinem Leben seien darin vorgekommen, wie z. B. die Erinnerung an seine Hochzeit, eine Schlägerei, Gedanken an verschiedene Freunde, lebende und tote, und das alles in diesen Bruchteilen von Sekunden, während er mehr oder weniger reflexartig versuchte, das Schlimmste zu vermeiden. Nach dem Unfall sei ihm noch sehr unangenehm das Verhalten des Unfallgegners aufgefallen, der ja auch schon während des Unfalls nichts zur Vermeidung des Schlimmsten beigetragen hatte. So habe dieser sich nicht einmal bei ihm bedankt, obwohl er ihm doch einiges zu verdanken gehabt habe. Der Proband fügt noch hinzu, er sei in diesen wenigen Augenblicken seines Lebensfilms wohl tatsächlich nahe an den Tod herangekommen.
Dieses Unfallerleben spiegelt sich auch in einem der Alpträume, von denen Herr R. seither regelmäßig nachts heimgesucht wird und aus denen er schweißgebadet erwacht. Es rasen zwei Autofahrer aufeinander zu, aber, wie der Proband sagt, „normal“, d. h. ohne ein Überlebenstraining in brenzligen Verkehrssituationen. Der Patient sieht wie in Großaufnahme den Motor des gegnerischen Fahrzeugs auf sich zukommen: „Ich sehe den Motor, sehe mich blutüberströmt, den anderen auch, wie wenn ich über der ganzen Sache schweben würde; dann werde ich plötzlich hellwach, habe Kopfweh bis zu Sehstörungen, zittere, stehe auf und kann mich erst beruhigen, wenn meine Frau in der Nähe ist.“
Die Symptome des Kopfschmerzes und der Sehstörung, die im Traum vorkommen, hatten sich auch in Wirklichkeit unmittelbar nach dem Unfall eingestellt. Der Kopfschmerz hatte sich mit der Zeit bis zur Unerträglichkeit gesteigert. Die Sehstörung bestand in Doppeltsehen und führte dazu, dass der Proband sich optisch zeitweise nicht mehr orientieren konnte. Um die sich ebenfalls steigernde Angst vorm Autofahren zu überwinden, zwang er sich zeitweise, auch unterstützt durch eine Verhaltenstherapie, zu größeren Fahrten, wurde aber durch das Doppeltsehen und die Kopfschmerzen so sehr behindert, dass er nur etwa 10 km pro Stunde zurücklegen konnte.
Untersuchungsergebnisse. Bei der neuropsychologischen Untersuchung ergab sich vor allem ein Defizit im nichtverbalen Kurzzeitgedächtnis, erfasst u. a. mit dem „Recurring-Figures-Test“, das auf eine Beeinträchtigung der frontokortikalen Funktionen verweist. Dieses Teilergebnis fiel aus dem sonstigen intraindividuellen Leistungsniveau des Probanden heraus. Aber auch einige andere Merkmale lagen im unteren Grenzbereich. Das Ergebnis war insgesamt typisch für den Residualzustand nach einem Schädel-Hirn-Trauma, wie er nach den mittlerweile vergangenen 3 Jahren zu erwarten war. Es legt aber auch nahe, dass die kognitiven Funktionen unmittelbar nach dem Unfall erheblich stärker beeinträchtigt waren. Diese Annahme deckt sich mit der Selbstschilderung des Probanden. Bei seinen Klagen über Orientierungsschwierigkeiten im Straßenverkehr erwähnte er, dass ihm „alles zu schnell“ gehe, er nicht mitkomme usf. Solche Klagen sind für Patienten typisch, die unter Störungen der Konzentration und des visuellen Kurzzeitgedächtnisses leiden. Herr R., der gewohnt war, schwierige Situationen durch Energie, Entschlossenheit und Tatkraft zu meistern, konnte sich auf seine eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten nicht mehr verlassen. Dies hat sicherlich zur weiteren Verunsicherung des Patienten beigetragen, zu depressiven Selbstzweifeln an seiner Fähigkeit, sich in der Welt zurechtzufinden.
Auch unter psychotraumatologischen Gesichtspunkten ergab sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen der nachfolgenden Angstsymptomatik und dem konkreten Unfallgeschehen. Angstauslösend im Straßenverkehr waren für Herrn R. in der postexpositorischen Zeit entgegenkommende Lastwagen. Es wiederholte sich in den fortbestehenden Ängsten also die Unfallsituation, als hinter dem Lastwagen, bis dahin unsichtbar, plötzlich der entgegenkommende Wagen hervorkam. Der Umstand, dass Herr R. sich nur noch symbolisch mit dem rechten Fuß gegen den „Abgrund“, gegen die Gefahr stemmen konnte, in den viel tiefer gelegenen Fluss zu fallen, kehrt in der Angst auf Leitern und erhöht gelegenen Positionen wieder, unter denen der Proband ebenfalls leidet. Wenn er auf einer Leiter steht, muss er sich mit dem rechten Fuß und dem Bein gegen irgendeinen Halt stützen, um die Angst einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen. Auch kann er sich auf diesen Erhöhungen nur halten, wenn er das rechte Gesichtsfeld abdeckt, beispielsweise mit einer klebenden Binde, als müsste er sich auch hier gegen den Sturz in den Abgrund absichern, wie er beim Unfall beinahe geschehen wäre. Ein deutlicher Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen liegt ferner im Inhalt des zuvor geschilderten Alptraums. Dieser stellt dar, was hätte geschehen können, wenn Herr R. nicht dem Unfallgegner geistesgegenwärtig und trainiert ausgewichen wäre. Auch die Dissoziierung von Körper und Geist, das „über der Sache schweben“, wie es im Traum geschieht, gehört zu den traumakompensatorischen Mechanismen in einer lebensbedrohlichen Belastungssituation.
Der wiederkehrende Alptraum mit seinem deutlich auf den Unfall bezogenen Inhalt ist zugleich eines der Kriterien des bPTBS. Das erste der vier Kriterien, das außergewöhnliche, evtl. lebensbedrohliche Ereignis ist mit dem Unfall gegeben. Auch das zweite, intrusive Erinnerungsbilder, trifft auf Herrn R. zu. Er erlebt wiederkehrende, eindringliche, belastende Erinnerungen an das Ereignis und wiederkehrende, erschreckende Träume, in denen das Unfallgeschehen sogar noch bedrohlicher als in der Realität erscheint.
Kriteriengruppe drei erfasst das dauerhafte Vermeiden von Reizsituationen, die mit dem Trauma verbunden sind (avoidance, denial). Zumindest drei Symptome finden sich bei Herrn R. Er versucht, Gedanken oder Gefühle zu vermeiden, die mit dem Trauma in Verbindung stehen. Er bemüht sich, Handlungen oder Situationen zu vermeiden, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen. Er hat eine depressiv gefärbte, gegenüber dem vortraumatischen Zustand veränderte Zukunftsperspektive.
Die vierte Kriteriengruppe umfasst Symptome erhöhter Schreckhaftigkeit und Erregbarkeit vs. emotionale Abstumpfung. Hier zeigt Herr R. vier Symptome der ersten Teilgruppe, nämlich Einschlafschwierigkeiten, Irritierbarkeit und Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten und erhöhte Schreckhaftigkeit. Die meisten dieser Symptome wurden bereits in dem Erlebniszusammenhang beschrieben, in dem sie während des Interviews vom Probanden erwähnt wurden.
Aufgrund der Exploration und des Interviews trifft auf Herrn R. die Diagnose „chronifiziertes PTBS“ zu. Diese Diagnose wurde auch unterstützt durch die Ergebnisse der Impact of Event Scale (IES, Horowitz et al. 1979). In der angewandten Version wurden zwei der Traumadimensionen erfasst: Intrusion und Verleugnung (Hütter und Fischer). In beiden weist das Testergebnis von Herrn R. Höchstwerte auf; 27 von 28 möglichen Punkten in der Dimension „Intrusion“ und 28 von 32 möglichen Punkten in „Avoidance-Denial“.
Diagnose. Chronifiziertes psychotraumatisches Belastungssyndrom (im Sinne von DSM und ICD) infolge eines unverschuldeten Verkehrsunfalls. Ein Schwerpunkt der Symptomatik liegt im Bereich phobischer und depressiver Reaktionen. Es besteht ein neuropsychologisches Residualsyndrom nach unfallbedingtem Schädel-Hirn-Trauma mit symptomatischem Schwerpunkt im Bereich des nichtverbalen Kurzzeitgedächtnisses.
Ein unbewusster Konflikt, der schon aus der Kindheit stammt und durch den Unfall lediglich reaktiviert worden wäre, besteht bei Herrn R. nicht. Zumindest ist in der prätraumatischen Vorgeschichte kein Hinweis zu erkennen auf eine Kindheitsneurose oder bedeutsame Störungen der Kindheits- oder Erwachsenenentwicklung. Der Fall von Herrn R. weist jedoch verschiedene Risikofaktoren für ein chronisches PTBS auf, wie sie auch in einem anderen Bereich der speziellen Psychotraumatologie, nämlich bei Opfern von Gewaltverbrechen, festgestellt wurde. Zu diesem Ergebnis kommen Untersuchungen im Rahmen des Kölner Opferhilfe Modellprojekts (KOM; Fischer et al. 1998), welches das Deutsche Institut für Psychotraumatologie als gemeinnütziger Verein zusammen mit der Universität Köln und dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales Nordrhein Westfalen betreibt. Die Risikofaktoren sind durch einige situative und lebensgeschichtliche Merkmale bestimmt, die möglicherweise auch auf Unfallpatienten zutreffen. Dazu gehören:
Subjektives Erleben von Todesangst bzw. von → Todesnähe; ungünstige postexpositorische Erfahrungen, wie sie Herr R. zum Beispiel mit dem Unfallgegner und der gegnerischen Versicherung machen musste; starke peritraumatische Dissoziationstendenzen (Lebensfilm, Schweben über dem Unfallgeschehen); traumatische Vorbelastungen in der Lebensgeschichte. Ein weiteres Merkmal, eine relativ lange zeitliche Erstreckung der traumatischen Situation, das vor allem bei den Opfern von Gewaltverbrechen prognostisch diskriminiert, war bei Herrn R. nicht gegeben.
Mit dem Kriterium einer lebensgeschichtlich vorausgehenden Traumatisierung kommen wir zurück auf die Erinnerung an die Bombennacht des etwa vierjährigen Jungen, die bezeichnenderweise ganz am Anfang des „Lebensfilms“ in der Erinnerung wieder auftaucht. Der Proband war mit seiner Mutter aus der bombardierten Stadt geflohen, hatte die Zerstörung der Häuser und den Tod von Menschen erlebt und möglicherweise auch damals schon Todesangst empfunden, zumindest aber eine „Erschütterung“ seines „Selbst- und Weltverständnisses“ im Sinne unserer Definition des Traumas, eine tief greifende Verunsicherung, gegen die er möglicherweise kompensatorisch eine sehr aktive Lebensform entwickelt hatte, wie aus der Anamnese zu entnehmen war. Als ältester Sohn hatte er sich in besonderer Weise für die Mutter und die jüngeren Geschwister verantwortlich gefühlt, eine Haltung, die er später auf seine Frau und die eigene Familie übertrug. Das → traumakompensatorische Schema besteht also in der ständigen Bemühung um Schutz und Fürsorge für andere, eine Lebensform, die durch die dem Unfall folgende eigene → Hilflosigkeit abrupt blockiert wurde. Alles kompensatorische Bemühen kann nicht verhindern, dass die völlig unvorhersehbare Lebensbedrohung wiederkehrt. In sehr eindrucksvoller Weise tritt im peritraumatisch dissoziierten → Traumaschema daher die Kindheitsbedrohung als erste Erinnerung im „Lebensfilm“ wieder auf. Allerdings versagen im Nachhinein die gewohnten kompensatorischen Mechanismen. Herr R. bemüht sich verzweifelt, seine berufliche Tätigkeit wieder aufzunehmen, wird jedoch durch die anhaltenden Störungen daran gehindert und überfordert sich hoffnungslos. Das → ZTST besteht demnach darin, eine vergleichbare, dem Traumaschema assimilierte Bedrohung erleiden zu müssen, ohne jedoch für das aktive, geistesgegenwärtige Verhalten Anerkennung zu finden und ohne den Ausweg einer Kompensation durch Arbeit und Leistung, der wiederum Schutz und Sicherheit (für andere) garantiert. Der Zusammenbruch der bisherigen kompensatorischen Mechanismen ist die zentrale „Bruchstelle“ in der Dynamik des Traumageschehens. Sie ist allerdings auch der Ansatzpunkt für die therapeutische Intervention, die aber leider nicht sehr effektiv gewesen zu sein scheint.
Die letzten Ausführungen greifen auf einige Konzepte vor wie → Traumaschema, die in späteren Abschnitten ausführlich entwickelt werden. Eine Verständnishilfe ist über das Glossar möglich.
Einige allgemeinere Bemerkungen möchten wir noch zu dem evtl. „vorbestehenden Konflikt“ bei Herrn R. machen, wonach das Gericht in diesem Gutachtenfall in folgender Formulierung fragt: „Ist der Unfall nur eine seinem Wesen nach auswechselbare Ursache, nur ein Kristallisationspunkt, der unbewusst zum Anlass genommen wird, sich der Verantwortung für die eigene Lebensführung insofern zu entziehen, als (der Proband) sich den Belastungen des Erwerbslebens nicht mehr zu stellen braucht? Oder dazu, andere latente innere Konflikte zu kompensieren?“
Mit seiner Diagnose einer „unfallreaktiven Somatisierungsstörung“ nach Rudolf hatte einer der Gutachter diese Frage des Gerichts positiv entschieden, ohne allerdings den Konflikt inhaltlich zu benennen. Hier zeigt sich u. E. eine Gefahr bei der Verwendung des Konfliktbegriffs, die möglicherweise auch mit der Terminologie des „Aktualkonflikts“ für die „Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik“ (OPD) verbunden ist (zur Diskussion vgl. Heuft et al. 1997). Der „Konflikt“ verselbständigt sich zu einer Entität, die ein schwer überschaubares Eigenleben gewinnt, und die traumatische Erfahrung reduziert sich parallel dazu auf einen mehr oder weniger „beliebigen Anlass“, konfliktuöse „Wünsche“ zu befriedigen. Dieser Fall ist natürlich vorstellbar, müsste aber besonders diagnostiziert werden. Die Verwendung des Konfliktbegriffs kann verwirren. Unsere oben entwickelte psychotraumatische Rekonstruktion zeigt eine davon unterschiedliche Verbindung von traumatischer Vorbelastung und aktuellem Trauma. Die aktuelle traumatische Erfahrung erscheint hier nicht als mehr oder weniger „beliebiger“ Anlass zur Aktualisierung eines latenten Konflikts. Sie wirkt im Gegenteil durch ihre assimilative Ankopplung an das frühere Traumaschema, wie der „Lebensfilm“ bei Herrn R. eindrucksvoll zeigt. Stammt das Traumaschema aus der Kindheitserfahrung, so wird es sich oft als besonders „akkommodationsresistent“ erweisen, was beispielsweise die fortschreitende Generalisierung und Ausbreitung der Phobie bei Herrn R. erklären kann. Es ist, als würde das Selbst nachträglich feststellen: „Deine lebenslange Flucht vor jener Hilflosigkeit und Bedrohung, der du schon als Kind ausgesetzt warst, war vergebens. Jetzt hat dich das eingeholt, was du immer vermeiden wolltest.“
Die lebensgeschichtliche Rekonstruktion der traumatischen Erfahrung in einer spezifisch psychotraumatologischen Begrifflichkeit und Dynamik kann also die Wirkung einer aktuellen traumatischen Situation auf dem Hintergrund der Lebensgeschichte verständlich machen, ohne sie auf einen mehr oder weniger beliebigen „Anlass“ zu reduzieren. Das Konfliktkonzept bei Rudolf und in der OPD steht in der Gefahr, die Kontinuität der lebensgeschichtlichen Erfahrung zu unterschätzen und könnte den Anschein einer relativ beliebigen Verknüpfung von Aktualtrauma und Lebensgeschichte fördern, wie er in der kritischen Frage des Gerichts bei Herrn R. zum Ausdruck kommt.
Auch juristisch besteht hier natürlich ein bedeutsamer Unterschied. Wird das Trauma „unbewusst zum Anlass genommen“, sich einer Verantwortung zu entziehen, so besteht wenig Grund zu einer Kompensationsleistung und Unterstützung für das Opfer. Lässt sich mit einer geeigneten Heuristik hingegen ein direkter Zusammenhang zwischen traumatischer Vorbelastung und Aktualbelastung aufzeigen, vermittelt über das → ZTST und den Punkt → maximaler Interferenz, so besteht kein Anlass, die verantwortliche Instanz von Schadensersatzansprüchen zu entlasten. Um eine somatische Metapher zu verwenden: Wenn sich jemand bei einem unverschuldeten Verkehrsunfall ein Bein bricht, das schon zuvor einmal gebrochen war, so wird kaum jemand auf die Idee verfallen, wegen seiner „Vorschädigung“ das Opfer verantwortlich zu machen und den Verursacher von Kompensationsleistungen zu entlasten. Im psychologischen Bereich kann die sog. „Vorschädigung“ allerdings zu solchen Konsequenzen führen, sobald sie nämlich unscharf gefasst oder so ausgedehnt wird, dass das aktuelle Trauma als lediglich akzidenteller Auslöser für eine bereitliegende Disposition, ev. sogar eine unbewusste Absicht des Opfers zur Selbstschädigung verstanden wird. Auch wenn es derartige Fälle gibt, so sollten Diagnosen doch in einer Begrifflichkeit ausgeführt werden, die den Unterschied zwischen der situationsabhängigen Ausbildung und lebensgeschichtlichen Kontinuität von Traumaschemata einerseits und einem „Konflikt“ im Sinne einer situationsunabhängigen Persönlichkeitsdisposition andererseits hinreichend deutlich zum Ausdruck bringt.