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2 Situation, Reaktion, Prozess – ein Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung

Bisher sind einige grundlegende Fragen, wie z. B. nach einer Definition von Trauma zwar angeklungen, aber nicht systematisch behandelt worden. Solche Fragen sind für das Verständnis von psychischer Traumatisierung und eine Wissenschaft Psychotraumatologie natürlich elementar. Manche der Fragen, die wir hier diskutieren, haben eine philosophische Dimension. Wer nicht gewohnt ist, sich mit philosophischen Fragen zu beschäftigen, wird vielleicht befremdet sein, derartige Überlegungen in einem wissenschaftlichen Lehrbuch anzutreffen. Allerdings konfrontiert uns das Trauma selbst mit fundamentalen Fragen der menschlichen Existenz und des Werterlebens. Von daher sollten wir philosophischen Problemen nicht ausweichen, auch wenn der Weg manchmal mühsam ist, uns das, was wir im Alltagsleben wissen, ohne zu wissen, dass wir es wissen, auch explizit vor Augen zu führen. Denn ein solches „Metawissen“(= Wissen über Wissen oder Wissen zweiten Grades) ist das Ziel philosophisch-psychologischer Bemühungen. Es ist aber auch, wie sich noch zeigen wird, eine wesentliche Dimension im Umgang mit dem Trauma.

Eine erste solche Frage stellt sich, wenn wir nach dem Begriff des Traumas fragen. Ist „Trauma“ nun eigentlich ein Ereignis oder ein Erlebnis? Handelt es sich um eine subjektive oder eine objektive Kategorie? Der Terminus „post-traumatische“ Belastungsstörung in den gegenwärtigen Diagnostikmanualen legt nahe, „Trauma“ sei ein Ereignis, das bereits vergangen ist, wenn sich die Symptome der Störung auszubilden beginnen. Nach dem Trauma (= post-traumatisch) bildet sich die Störung aus. Offensichtlich werden hier die Begriffe „Trauma“ und „traumatisches Ereignis“ miteinander vermischt, denn vergangen ist ja streng genommen nur das traumatische Ereignis: eine definitorische Nachlässigkeit, die für eine sich entwickelnde Wissenschaft nicht folgenlos bleibt. Dagegen ist festzuhalten, dass der Begriff Trauma nicht koextensiv mit „traumatischem Ereignis“ zu verstehen ist.

Wenn das Trauma also kein Ereignis ist, also kein „objektiver“, äußerlicher Vorgang, sollte „Trauma“ dann nicht subjektiv definiert werden? Etwa so: Trauma ist ein unerträgliches Erlebnis, das die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten überschreitet. Für diesen Definitionsversuch sprechen einige gute Argumente, andere aber auch dagegen. Vor allem die Gefahr subjektiver Willkür und Beliebigkeit, sobald der Bezug des Erlebens auf das Ereignis außer Acht gelassen wird.

Schon die bisherigen Überlegungen machen deutlich, dass in der Psychotraumatologie keine einfachen, eindimensionalen Lösungen existieren nach Art eines weit verbreiteten Entweder-Oder-Denkens. Auf unsere Problemstellung angewandt etwa: Entweder lässt sich das Trauma ganz objektiv definieren (als objektives Ereignis) oder der Traumabegriff wird völlig „unscharf“, da er nur subjektiv ist und damit auch willkürlich verwendet werden kann.

Hier stellt sich die Frage: Liegt die Schwierigkeit nun eigentlich in der Sache selbst oder möglicherweise in unseren Denkgewohnheiten, die zu einfachen Schwarz/Weiß-Lösungen neigen? Wir sind der Meinung, dass letzteres zutrifft. Eine Wissenschaft wie die Psychotraumatologie hat immer zugleich mit Subjektivität und Objektivität zu tun. Wir müssen uns daher bemühen, unsere Denkgewohnheiten der Komplexität des Gegenstandes anzunähern. In der Psychotraumatologie benötigen wir eine Denkweise, die mit Widersprüchen umzugehen versteht, die den Widerspruch zum Beispiel zwischen einem objektiven und subjektiven Traumaverständnis nicht einfach als einen Irrweg oder als „unlogisch“ abtut, sondern ihn ganz im Gegenteil zur Grundlage der Forschung macht. Mit solchen in sich widersprüchlichen Phänomenen ist die Psychotraumatologie nahezu durchgehend befasst. Erforderlich ist daher eine dialektische Denkweise als Grundlage dieser Disziplin, die solchen Widersprüchen gerecht wird.

Wir können festhalten: „Trauma“ muss sowohl objektiv wie auch subjektiv definiert werden. Hieraus ergeben sich bereits einige negative definitorische Bestimmungen, die zur Vermeidung von Irrtümern nützlich sind. „Trauma“ ist keine Qualität, die einem Ereignis inhärent ist noch aber einem Erlebnis als solchem. Entscheidend ist vielmehr die Relation von Ereignis und erlebendem Subjekt. Im Mittelpunkt steht also die Beziehung des Subjekts zum Objekt oder zur „Umwelt“. Dieser ökopsychologische Gesichtspunkt ist für die Traumaforschung zentral, wurde aber und wird in traditionellen Disziplinen wie Klinischer Psychologie, Psychopathologie, Psychiatrie, Kinderpsychiatrie und auch in der Psychoanalyse oft vernachlässigt. So weit → ökologische Ansätze existieren, wie in der Entwicklungspsychologie (etwa Bronfenbrenner 1977) oder in der psychosomatischen Medizin (von Uexküll 1996, vgl. Abschnitt 2.2), wurden sie bisher noch nicht systematisch für die Traumaforschung entwickelt.

Epistemologisch wollen wir unseren Forschungsansatz in der Psychotraumatologie als ökologisch-dialektisch bezeichnen. Der ökologische Gesichtspunkt erfordert, traumatisierende Erfahrungen aus ihrem Umweltbezug, aus der wechselseitigen Beziehung von Person und Umwelt zu verstehen. Der dialektische Gesichtspunkt verdeutlicht hier u. a., dass zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen der „Innenperspektive“ des leidenden Subjekts und der „Außenperspektive“ des objektiven Beobachters ein spannungsreiches und in sich widersprüchliches Verhältnis besteht. Die Pole des Subjektiven und Objektiven können nicht „kurzgeschlossen“ werden, wie dies in einer reinen Erlebens- oder reinen Verhaltenspsychologie geschieht. Trauma ist kein „Stimulus“ oder „Stressor“ und auch keine bloße → „Kognition“. Vielmehr muss das dialektische Spannungsverhältnis zwischen Innen- und Außenperspektive in der Traumaforschung ertragen und produktiv verwendet werden.

Die „traumatische Situation“ ist aus diesem Zusammenspiel von Innen- und Außenperspektive, von traumatischen Umweltbedingungen und subjektiver Bedeutungszuschreibung, von Erleben und Verhalten zu verstehen. Sie bildet die erste Phase unseres heuristischen Verlaufsmodells der psychischen Traumatisierung. Die „Situation“ verstehen wir dabei zugleich als die minimale Beobachtungseinheit, die ohne Verlust entscheidender Verstehensmöglichkeiten nicht unterschritten werden kann. Wer sich nicht in die „Situation“ der Betroffenen hineinversetzt, kann eine traumatische Erfahrung nicht verstehen. Wir werden uns in Abschnitt 2.1 mit dem Begriff der „Situation“ ausführlich befassen, einmal in seinem theoretischen Bezug, wie er in der phänomenologischen Philosophie, Psychologie und Soziologie sowie der psychosomatischen Medizin entwickelt wurde. Eine → Phänomenologie und Typologie traumatischer Situationen ist zugleich aber auch ein praktisches Forschungsziel der Psychotraumatologie als einer angewandten wissenschaftlichen Disziplin.

Traumatische Situationen sind solche, auf die keine subjektiv angemessene Reaktion möglich ist. Sie erfordern dringend, z. T. aus Überlebensgründen eine angemessene und „not-wendige“ Handlung und lassen sie doch nicht zu. Wie reagieren wir auf Situationen, die eine angemessene Reaktion nicht zulassen? Die Paradoxie der traumatischen Situation ist zugleich die der „traumatischen Reaktion“, der zweiten Phase in unserem (ökologisch-dialektischen) Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung. Wie verarbeitet das betroffene Individuum oder die soziale Gruppe eine Situationserfahrung, die ihre subjektive Verarbeitungskapazität oder vielleicht die von uns allen massiv überschreitet? Das ist die leitende Forschungsfrage des Verlaufsmodells in Phase 2, im Hinblick auf die → traumatische Reaktion oder „Notfallreaktion“.

Auch ein dritter Gesichtspunkt schließlich ist in der Paradoxie der → traumatischen Reaktion (Situation) schon enthalten. Er leitet über zum dritten Moment des Verlaufsmodells, dem → traumatischen Prozess. Das Paradoxon der traumatischen Reaktion ist hier gewissermaßen auf Zeit gestellt. In der weiteren Lebensgeschichte, manchmal ein volles Leben lang, bemühen sich die Betroffenen, die überwältigende, physisch oder psychisch existenzbedrohende und oft unverständliche Erfahrung zu begreifen, sie in ihren Lebensentwurf, ihr Selbst- und Weltverständnis zu integrieren; dies in einem Wechselspiel von Zulassen der Erinnerung und kontrollierender Abwehr oder Kompensation, um erneute Panik und Reizüberflutung zu vermeiden. Auch hier ist die → Dialektik von Innen- und Außenperspektive für die psychotraumatologische Forschung grundlegend. Von der Außenperspektive des unbeteiligten Beobachters aus lässt sich die Zerstörung unseres Selbst- und Weltverständnisses, welche traumatische Erfahrungen bewirken, oft noch nicht einmal ahnen. Die systematische Erforschung traumatischer Prozesse auf dem Hintergrund von traumatischer Situation und Reaktion ist eines der Ziele unseres heuristischen Modells.

Die Phasen des Modells stehen nicht in einem zeitlichen, sondern in einem dynamischen Verhältnis zueinander. Sie gehen auseinander hervor, laufen parallel und durchdringen einander. Wann ist eine traumatische Situation beendet? Bei Ende der Konfrontation mit dem bedrohlichen Ereignis? Mit der Flucht, dem physischen Überleben? Oder erst mit dem psychischen Überleben, mit der Entwicklung der Betroffenen vom Opfer zum (psychisch) „Überlebenden“ einer traumatischen Situation?

Die Problematik, die das Trauma aufwirft, kann ein Mensch oftmals nicht allein bewältigen. Traumatische Situationen und die Verarbeitungs- und Selbstheilungsversuche der Betroffenen haben wesentlich eine soziale Dimension. Das traumatisierte Individuum ist kein isoliertes Einzelwesen, sondern um einen zunächst paradox klingenden Begriff zu verwenden, ein „individuelles Allgemeines“, d. h. die Besonderung jener allgemeinen menschlichen Möglichkeiten, sozialen Absprachen, Lebensprinzipien und Lebenswerte, an denen wir alle teilhaben, so dass ihre Verletzung letztlich uns alle als eine eigene Möglichkeit betrifft. Im Einzelfall sind von einem Desaster oder einer feindseligen, zerstörerischen Handlung bestimmte Individuen betroffen und andere nicht. Für das Trauma der Betroffenen, ihre traumatische Reaktion, den sich entwickelnden Prozess, den Heilungsverlauf oder weitere traumatische Sequenzen ist nun von wesentlicher Bedeutung, wie sich die Allgemeinheit zum individuellen Elend der Traumatisierten verhält. Unterliegen diese der gesellschaftlichen Verdrängung, Ausgrenzung oder gar Missachtung, weil sie durch ihr Leiden an die „Katastrophe“ erinnern, so ist für sie die traumatische Situation noch keineswegs beendet. Entscheidend ist, ob wir im traumatischen Leid unserer Mitmenschen das „allgemeine menschliche Wesen“ in seiner Besonderung, eventuell in seiner Entstellung und Zerstörung erkennen oder darin nur einen zwar bedauerlichen, statistisch aber durchaus „erwartbaren“ Einzelfall sehen.

Das verantwortliche Sich-Erkennen der Allgemeinheit im besonderen Elend der Opfer, das Bemühen um Hilfe für sie und ihre „Rehabilitation“, die Anerkennung von Gerechtigkeit und Würde ist vor allem bei absichtlich herbeigeführ-ten Desastern für den Traumaverlauf bzw. den Erholungs- und Restitutionspro-zess von großer Bedeutung. Lehnt ein soziales Kollektiv es beispielsweise ab, die Verantwortung zu übernehmen für Gewalttaten oder sonstiges Unrecht ge-gen Außenstehende oder Minoritäten, so untergräbt die verleugnete Schuld die psychische und moralische Substanz der Täter- oder Verursachergruppe oft über Generationen hinweg. Der „traumatische Prozess“ ist also nicht nur ein individueller, sondern stets auch ein sozialer Vorgang, worin die Täter-Opfer-Beziehung bzw. das soziale Netzwerk der Betroffenen und letztlich das soziale Kollektiv einbezogen sind.

Unser (ökologisch-dialektisches) → Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung enthält im Überblick die folgenden Annahmen, die als Heuristik bei der Untersuchung psychotraumatologischer Fragestellungen dienen:

•Die traumatische Erfahrung muss als dynamischer Verlauf untersucht werden. Dieser umfasst die Momente oder Phasen der traumatischen Situation, der traumatogenen Reaktion und des traumatischen Prozesses. Diese Phasen sind intern aufeinander bezogen und gehen dynamisch auseinander hervor.

•Das bewegende Moment des Traumaverlaufs ist die inhärente Paradoxie von existenziell bedrohlichen Handlungssituationen, die jedoch kein adäquates Verhalten zulassen; von Handlungsbemühungen, emotionalen und kognitiven Bewältigungsversuchen, die in sich zum Scheitern verurteilt sind; von Lebensentwürfen, die um den unbewältigten, traumatischen Erfahrungskomplex herum organisiert sind.

•Die traumatische Erfahrung findet im psychoökologischen Bezugssystem des sozialen Netzwerks statt. Dieses umfasst neben den Angehörigen, Freunden und Bekannten der Betroffenen die Täter-Opferbeziehung (bzw. Verursacher-Opferbeziehung) ebenso wie die jeweilige soziale Makrogruppe, in deren Einflusssphäre es zur Traumatisierung kommt.

Situation, Reaktion und Prozess sind in diesem Modell intern aufeinander bezogen, sie bilden drei unterscheidbare Momente einer einzigen dynamischen Verlaufsgestalt. Ein Verstoß gegen die Regeln des Modells ist zum Beispiel die isolierte Untersuchung einzelner Phasen ohne Rücksicht auf diese Verlaufsgestalt.

So hat die traditionelle, vor allem psychiatrische Psychopathologie immer wieder nosologische Einheiten beschrieben und mit personenbezogenen Attributionen versehen, die in Wirklichkeit nur aus der traumatischen Verlaufsgestalt heraus verständlich werden. Heute wissen wir beispielsweise, dass die Lebensgeschichte späterer „Borderline-Patienten“ schwere Kindheitstraumata aufweist, wie physische oder sexuelle Kindesmisshandlung und/oder ein extrem widersprüchliches Erziehungsverhalten. Auch „hysterische“ Patientinnen (zumeist werden Frauen so diagnostiziert) haben oft diesen Hintergrund von Lebenserfahrungen. Betrachtet man Lehrbücher der Psychopathologie, zum Teil auch der Psychoanalyse, so wird das Symptombild überwiegend, wenn nicht gar ausschließlich personbezogen dargestellt, entweder als ein System innerpsychischer Mechanismen oder als erbgenetisch bedingte Dysregulation des psychischen Geschehens. Wir stellen nicht in Frage, dass auch psychobiologische Faktoren an manchen psychopathologischen Erscheinungen beteiligt sind. So weit jedoch psychotraumatische Erfahrungen eine Rolle spielen, sind diese allein aus der dynamischen Verlaufsgestalt von Situation, Reaktion und Prozess heraus zu verstehen, nicht aber aus nur einem dieser Verlaufsmomente, etwa allein aus dem Symptombild, das sich in Phase 3, dem traumatischen Prozess herausbildet.

Unser Verlaufsmodell soll also eine Forschung und therapeutische Praxis anleiten, die am inneren Zusammenhang des Traumaerlebens und der Traumaverarbeitung orientiert ist und kann dabei behilflich sein, traditionelle Fehler und Sackgassen zu vermeiden, die aus einer objektivistischen oder aus einer kontext-isolierend intrapsychistischen Betrachtungsweise entstehen.

Hiermit sind einige theoretische Grundlagen unseres (ökologisch-dialektischen) Verlaufsmodells der psychischen Traumatisierung umrissen. Es bietet ein heuristisches Schema und einen „Erkenntnisalgorithmus“, die im wesentlichen auf der Annahme beruhen, dass sich die dynamische Verlaufsgestalt aus den immanenten Paradoxien und Widersprüchen der traumatischen Erfahrung und dem Versuch der betroffenen Persönlichkeit zur „Aufhebung“ dieser Widersprüche (im dreifachen dialektischen Sinne von tollere, elevare und conservare = auflösen, emporheben, erhalten) verstehen lässt.

Das Verlaufsmodell liegt als generative Struktur auch den weiteren Kapiteln im ersten Teil des Lehrbuchs, der Allgemeinen Psychotraumatologie und der differenziellen zugrunde. Daher geben wir im Folgenden einen Überblick über unsere weiteren Ausführungen zur Allgemeinen Psychotraumatologie auf der Grundlage des Modells und seinen zuvor skizzierten Annahmen.

In Kapitel 2 werden solche Gesichtspunkte behandelt, die sich unmittelbar auf die dynamische Gestalt und die Kernannahmen des Modells beziehen. Wir vertiefen zunächst in Abschnitt 2.1 und 2.2 unser Verständnis von der „traumatischen Situation“. Dabei werden vor allem solche Konzepte berücksichtigt, die ein synthetisches Konzept von Situationen ausgearbeitet haben, wie die phänomenologische Tradition und das Modell des → Situationskreises nach Th. v. Uexküll. Beide Ansätze setzen den „Subjekt- und den Objektpol“ von Situationen zueinander in die Beziehung einer Synthesis. Die traumatische Erfahrung ist demgegenüber u. a. durch eine Aufspaltung und Antithesis dieser beiden Pole bestimmt. Desto interessanter sind als Beschreibungsgrundlage Konzepte, die das „harmonische“, synthetische Zusammenspiel oder ein „Gleichgewicht“ von Subjekt- und Objektpol in alltäglichen Situationen untersuchen. Das phänomenologische Situationsverständnis thematisiert die Alltagserfahrung erwachsener Menschen, dies vor allem in Wahrnehmungsbegriffen. Für das „Situationskreis-Modell“ dagegen ist das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Verhalten, von Sensorik und Motorik der Ausgangspunkt. Beide Zugänge können sich ergänzen und uns helfen, traumatische Situationen möglichst differenziert zu erfassen und zu analysieren.

Aufbauend auf diesem Situationsverständnis wird in den Abschnitten 2.3 und 2.4 dann die widersprüchliche, paradoxe Erfahrungswelt beschrieben, welche die traumatische Reaktion und den traumatischen Prozess anstößt. So weit der „synthetische Kernbereich“ des Modells, welcher der dynamischen Verlaufsgestaltung traumatischer Erfahrung Rechnung trägt.

Kapitel 3, die differenzielle Psychotraumatologie, enthält dagegen die analytische (= zerlegende) Darstellung einzelner Teilkomponenten des Modells bzw. der psychischen Traumatisierung. Hier wird die Darstellung vor allem nach einem objektiven, auf Situationsfaktoren und -konstellationen ausgerichteten und einem subjektiven oder genauer subjektorientierten Zugang differenziert. Im objektiven Zugang wird z. B. in Abschnitt 3.1 eine Einteilung der traumatischen Situationsfaktoren nach Intensität, Dauer oder Ereignisdimensionen vorgenommen. Auch Abschnitt 3.1.2 „Situationstypologie im Tierversuch“ ist diesem objektiven Zugang zugeordnet. Hier wird deutlich, dass dieser allerdings immer nur eine erste Annäherung ergibt, denn auch Tierexperimente lassen sich sehr wohl aus der Innenperspektive untersuchen. Wir verstehen das Experiment dann im Bezugsrahmen der artspezifischen Ökologie, als ein vom Versuchsleiter entworfenes Szenario. Nach dieser phänomenologisch- → hermeneutischen Operation der artspezifischen Subjektivierung und Relativierung der Experimentalsituation können eventuelle Analogien zum Menschen gezogen werden.

Primär durch den subjektorientierten Zugang, die Innenperspektive der traumatischen Erfahrungssituation, ist dann wieder Abschnitt 3.2 bestimmt, der subjektive Organisationsstrukturen oder -funktionen behandelt wie Gedächtnis, Abwehr, psychische Instanzen, Kontrollsysteme der Persönlichkeit, die bei der Verarbeitung der traumatischen Erfahrung wirksam sind, durch sie jedoch auch dauerhaft geschädigt werden können. Auch die folgenden Abschnitte, subjektive Disposition, protektive (schützende) Faktoren, der Erlebnisverlauf in traumatischen Situationen, primäre Abwehrreaktion, die Bewältigungs- und Selbstheilungsversuche im traumatischen Prozess entsprechen einem primär subjektbezogenen Zugang zur traumatischen Erfahrung und werden nur aus der Innenperspektive der traumatischen Situation heraus verständlich.

Abschnitt 3.3, Differenzieller Verlauf der traumatischen Reaktion und des traumatischen Prozesses, fasst die bis dahin erarbeiteten Gesichtspunkte zusammen in einer Übersicht über traumatische Verlaufsprozesse. Hieran knüpfen die Forschungsstrategien der Psychotraumatologie an (3.4).

Der synthetische und der analytische Teil der Darstellung verhalten sich komplementär zueinander. Die Psychotraumatologie benötigt eine immer detailliertere Erforschung einzelner Komponenten auf unterschiedlichen Systemebenen, der physikochemischen, physiologischen und psychosozialen (vgl. Das Modell der Systemhierarchie, Abb. 2). Es ist aber in kaum einem Forschungsbereich so bedenklich wie hier, wenn darüber der synthetische Bezug zur traumatischen Erfahrung verloren gehen würde. Die Detailforschung ist zunächst nur insoweit sinnvoll, als sie uns die traumatische Erfahrung und ihre Folgen immer umfassender verständlich macht. Erst aus diesem Verständnis heraus können sich dann neue Behandlungsansätze und -methoden ergeben.

2.1 Zur Phänomenologie der traumatischen Situation

Der Begriff der „Situation“ hat in Psychologie, Philosophie und Soziologie deshalb Bedeutung gewonnen, weil er sich dazu eignet, objektive und subjektive Faktoren oder, methodologisch gesprochen, den objektiven und subjektiven Zugang zum menschlichen Erleben und Verhalten systematisch aufeinander zu beziehen. Gerade dieser Zwang, Objektivität und Subjektivität in ihrer wechselseitigen Verschränkung und → Dialektik zu sehen, macht den Situationsbegriff für die Psychotraumatologie interessant. Situationen bilden die minimale Beobachtungseinheit in den Sozialwissenschaften, die ohne Verzicht auf entscheidende Sinnbezüge nicht weiter unterschritten werden kann. So können wir als die elementare Beobachtungseinheit der Psychotraumatologie die traumatische Situation definieren. Wir werden uns im Folgenden mit einigen Konzeptualisierungen des Situationsbegriffs in Philosophie, Sozialwissenschaften und Psychologie befassen und uns von hier aus der Struktur traumatischer Situationen nähern.

Die entscheidende philosophische Vorarbeit zur begrifflichen Fassung von Situationen verdanken wir der phänomenologischen Tradition in Philosophie und Psychologie im Anschluss an die Arbeiten von Edmund Husserl (1969). Die meisten Autoren, die sich systematisch dieses Begriffs bedienen, bemühen sich um eine Thematisierung des Bezugs von Subjektivität und Objektivität, die über die traditionelle Fassung dieser Begriffe als Erkenntnisbegriffe hinausgeht und die realen lebensweltlichen Bedingungen des Handelns und der menschlichen Orientierung umfassen. Die gründliche Ausarbeitung eines Situationsmodells für die Soziologie von Arbeitssituationen verdanken wir Konrad Thomas (1969). Thomas definiert Situation als die „Einheit von Subjekt und Gegebenheit, bestimmbar durch das Thema, umgrenzt von einem Horizont“ (S. 60). Im Unterschied zu Situation, verwendet er den Begriff der „Lage“ für die objektiven, zunächst nur von außen bestimmbaren Faktoren, die in den Situationsbezug des Subjekts zwar eingehen, aber dennoch nicht in ihm aufgehen. In anderen Modellen wird dieser objektive Aspekt auch Umgebung oder Außenwelt genannt, während z. B. im Situationskreismodell nach Thure von Uexküll „Umwelt“ die schon auf das Subjekt bezogene, vom Subjekt erfahrene Umgebung oder Außenwelt bezeichnet. In einer dialektischen Fassung des Situationsbegriffs sind Situationsfaktoren immer schon auf das erlebende und handelnde Subjekt bezogen. D. h. eine → Situationsanalyse erfasst die objektiven Lagebestimmungen in der Perspektive des handelnden und sich orientierenden Subjekts. Das Subjekt andererseits befindet sich in einer Situation, d. h., es ist selbst ein integrativer Bestandteil derselben, nicht ein abgegrenztes Element oder Subsystem, das sich einer Situation „gegenüber“ befindet. Wenn ich also das Verhalten und Erleben eines Subjekts verstehen will, so muss ich es immer „situiert“ (ein Ausdruck, den Sartre häufig verwendet hat) verstehen.

Ein Irrweg in der Situationsanalyse ist die voreilige Psychologisierung des subjektiven Situationsmoments. Wenn wir z. B. sagen, jemand „fühlt sich traumatisiert“, so bleibt dieses Erleben so lange unverständlich, wie wir es nicht im Kontext der entsprechenden Erlebnissituation verstehen und analysieren. Die Dialektik im situationstheoretischen Denken erfordert Begriffe, in denen Subjektivität und Objektivität als aufeinander bezogene Größen gefasst werden. Ein solcher Begriff ist bei Thomas das Konzept der situativen Gegebenheiten. Gegebenheiten sind Situationsfaktoren, so wie sie sich für ein erlebendes und handelndes Subjekt, also auch vermittelt durch dessen Erfahrungsschemata darstellen. Gegebenheiten sind andererseits für einen außenstehenden Beobachter beispielsweise auch die Schemata des Subjekts selbst, mit Hilfe derer es seine Erfahrung organisiert.

Situationen sind bestimmbar durch ihr jeweiliges Thema. In einer therapeutischen Situation z. B. werden andere Dinge thematisch als in einer alltäglichen Unterredung zwischen Freunden oder nahen Bekannten. Das Thema verbindet sich also eng mit den sozialen Rahmenbedingungen. Diese unterliegen einem mehr oder weniger hohen Grad an sozialer Normierung und Standardisierung. In der Psychotherapie beispielsweise haben wir es im Allgemeinen mit einer hochstandardisierten Interaktionssituation zu tun. In Anlehnung an Konzepte der „kognitiven Psychologie“ wurde neuerdings die Normierung und Standardisierung von Situationen mit dem Begriff des Scripts bezeichnet (für die kognitive Psychologie z. B. Rumelhart; zum Situationsbegriff Schott 1991, 135 ff). Script ist eine Metapher, die ursprünglich aus der Filmsprache stammt. Einer Szene in einem Film liegt ein Drehbuch zugrunde. Dieses besteht aus einem Script, das die Schauspieler und der Regisseur in Handlung umsetzen. Das Konzept erscheint uns für die Situationsanalyse deshalb geeignet zu sein, weil es objektiv standardisierte und subjektive Elemente umfasst, die in konkreten Situationen miteinander verwoben sind. Nach Lindsay und Norman (1981) enthält ein Script drei Arten von Handlungsabläufen:

1.Kulturell normierte Abläufe.

2.Situativ gesteuerte, d. h. durch die gegenseitigen Erwartungen der Interaktionspartner bestimmte Abläufe.

3.Personengesteuerte Handlungsabläufe, die sich auf die beteiligten Persönlichkeiten und ihre individuelle Biographie zurückführen lassen.

Am Beispiel einer Arztvisite weist das Drehbuch unter 1 hochgradig ritualisierte Handlungsabläufe auf. Gleichzeitig gehen aber auch die gegenseitigen Erwartungen jeweils von Arzt und Patient in die Handlungssequenz ein und wenn man die Analyse genau genug betreibt, lässt sich auch eine personengesteuerte Dramaturgie in ihnen entdecken, die über die jeweilige Interaktionssituation hinausreicht in die Biographie der Handelnden hinein. Auch hier können vor allem bei interaktionsgestörten Persönlichkeiten hochgradig ritualisierte Abläufe entdeckt werden, wie auch der Scriptbegriff bei Eric Berne in „Spiele der Erwachsenen“ zeigt (1964). „Script“ bezeichnet bei Berne den unbewussten Lebensentwurf einer Person, ein „Drehbuch“, das die verschiedenen Szenen und Situationsfolgen eines ganzen Lebenslaufes bestimmen kann. Situationen sind umgrenzte Einheiten von Erleben, Verhalten und sozialer Interaktion, die zwar auseinander hervorgehen und ineinander übergehen können, sich aber durch eine Grenze voneinander unterscheiden. Für die Bezeichnung dieser Grenze zwischen Situationsfolgen schlägt Thomas (1969) den Begriff des Horizonts vor. Die Horizont-Metapher entstammt der phänomenologischen Tradition von Edmund Husserl und entspringt der räumlichen Erfahrung, beispielsweise der eines Wanderers. Eine Situation ist demnach begrenzt von dem Erlebnishorizont dessen, der sich in ihr befindet. Es ist aber immer auch möglich, diesen Horizont zu „erweitern“, die Situation zu „überschreiten“ und sie dadurch zu verändern.

Dieses Überschreiten einer Situation auf eine künftige Lösung und Weiterentwicklung hin, ist Bestandteil des Situationsmodells von Thomas. Ist es ausgeschlossen, den Horizont einer Situation zu überschreiten, sie auf einen Zukunftsentwurf hin zu verändern, so geraten wir bereits in die Sphäre pathogener, möglicherweise sogar traumatischer Situationen, da das menschliche Weltverhältnis auf die Veränderung negativer Situationsfaktoren hin angelegt ist. Auch das „Thema“ der Situation hat objektive und je persönliche Aspekte. Das Thema einer psychotherapeutischen Situation beispielsweise bilden Erleben und Verhalten des Patienten. Ebenso können aber auch die therapeutische Beziehung und das Erleben oder Verhalten des Therapeuten zum Thema werden. Das Situationsthema ist also zunächst vorgegeben, durch reflexive Thematisierung des in der Situation Thematischen kann sich eine Situation jedoch weiterentwickeln. Ein Wechsel des Themas führt oft schon einen Wechsel der Situation herbei, so etwa, wenn in einer traditionellen Vorlesungsveranstaltung eine hochschulpolitische Diskussion gefordert wird und dann auch stattfindet. Der Übergang vom vorgegebenen Thema zur „Thematisierung“ der Situation entspricht dem Übergang von Kommunikation zur Meta-Kommunikation. Dieses meta-kommunikative Überschreiten vorgegebener Situationsthemen gehört zum „offenen Horizont“der einer gelingenden Situationsgestalt normalerweise eignet. Umgekehrt sind der Verlust des „offenen Horizonts“ und die Unmöglichkeit von Meta-Kommunikation charakteristische Merkmale potenziell traumatischer Situationen.

Wenn wir nun versuchen, das Situationskonzept für die Analyse traumatischer Situationen heranzuziehen, so müssen wir zunächst einmal der Forderung nach „Einheit von Subjekt und Gegebenheiten“ Rechnung tragen. Dies bedeutet, dass wir die objektiven Lagebestimmungen einer traumatischen Situation als „Situationsfaktoren“ fassen müssen, d. h. in der Weise, wie sie sich für das erlebende und handelnde Subjekt in dieser „traumatischen Situation“ darstellen. Eine Beschreibung traumatischer Lagefaktoren an sich, d. h. ohne Bezug auf ein erlebendes Subjekt, wäre in der Psychotraumatologie ein sinnloses Unternehmen. Zwar ist es möglich, subjektive und objektive Aspekte der traumatischen Situation getrennt darzustellen, wie wir dies in den folgenden Kapiteln versuchen werden. Für die Grundlagen einer allgemeinen Psychotraumatologie jedoch muss die Klammer des Situationsbezuges stets erhalten bleiben. Nur so wird es möglich, Situationen wirklich zu erfassen. Das Gleiche gilt umgekehrt für die Untersuchung der Strukturen und Funktionen des erlebenden und sich verhaltenden Subjekts. Auch hier ist es möglich, das Erleben des Subjekts getrennt zu thematisieren, z. B. eine Analyse der traumatischen Reaktion als solcher vorzunehmen, etwa unter physiologischen Aspekten. Wir können traumatische Erlebnisreaktionen beschreiben, müssen uns dabei jedoch bewusst sein, dass hier eine Abstraktion vorliegt, die unserer Begrifflichkeit entstammt und nicht der realen Verfassung unseres Gegenstandes. „Nichtsituierte“ oder „desituierte“ Subjekte sind Abstraktionen, die lediglich zu Darstellungszwecken vorübergehend gerechtfertigt erscheinen. Sobald eine solche Abstraktion in ihrer Bedeutung für das reale Leben verstanden werden soll, ist es notwendig, sie zu resituieren, d. h., sie wieder in den konstitutiven Situationsbezug erlebender und handelnder Subjekte einzufügen.

Wir wollen dieses Prinzip der Resituierung unserer Begrifflichkeit am Beispiel des Syndroms der allgemeinen Psychotraumatologie, des bPTBS darstellen. Es stellt eine Abstraktion dar, die für die Beschreibung häufig zu erwartender kurz- und langfristiger Reaktionen auf traumatische Situationen von begrenztem Nutzen ist. Wir dürfen diese Abstraktion jedoch nicht mit der Wirklichkeit erlebender und handelnder Subjekte verwechseln. Diese erleben stets eine bestimmte traumatische Situation in ihrer historischen und individuellen Besonderheit. Die Reaktion auf diese traumatische Erfahrung, der Versuch, die traumatische Situation zu überschreiten, ist immer geprägt durch diese individuelle und historisch spezifische Situationserfahrung. Und nur wenn wir in einer Untersuchung dieser situativen Besonderheit auch gerecht werden, können wir erwarten, die erforderlichen psychotraumatologischen Verständnisrahmen erreicht zu haben. Abstraktionen wie das PTBS können hierbei behilflich sein, sie können aber auch, de-situiert verstanden, die Verständnisbemühungen abschneiden und irreleiten.

Wir kommen hier auf das Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung zurück. Nur in solch einer integrativen Verlaufskonzeption lässt sich verhindern, was traditionell bisher häufig geschehen ist, dass traumatische Reaktionen, die im Situationserleben fundiert sind, von diesem Situationsbezug abgelöst und in eine Eigenschaft der traumatisierten Subjekte umgebogen werden. Weite Bereiche der traditionellen Psychopathologie müssen in der beschriebenen Weise „resituiert“ werden. Nur so lässt sich langfristig entscheiden, welche psychopathologischen Symptome auf traumatische Situationserfahrungen zurückgeführt werden müssen. In diesem Sinne kann die Rückverwandlung von Psychopathologie in Psychotraumatologie als ein programmatisches Ziel verstanden werden.

Wir werden im Folgenden einige Konzepte entwickeln, die bei der Analyse traumatischer Situationen von Nutzen sind. Beide Untersuchungsrichtungen, die objektive und die subjektive, sind zwar aufeinander bezogen, sie sind aber nicht durch einander ersetzbar. Methodisch sollte die objektive Situationsanalyse zeitlich vor der subjektiven erfolgen. Hier fragen wir nach objektiven, potenziell traumatischen Situationsfaktoren. Bei Desastern menschlichen Ursprungs und den oft über lange Zeit sich hinziehenden Beziehungstraumen muss die objektive Situationsanalyse vor allem nach solchen Strukturen und Beziehungsformen suchen, die den offenen Horizont der Situation eliminieren und geschlossene Situationen schaffen. Bei Gewaltverbrechen ist die Ausweglosigkeit offensichtlich gegeben. Bei Beziehungstraumen, etwa vom Typus des → Double-Bind ist dieses Kriterium weniger offensichtlich. Dennoch lassen sich bei eingehender Untersuchung die kommunikativen Mittel rekonstruieren, die eine analoge Auswegslosigkeit erzielen, indem z. B. → Metakommunikation verhindert, Einflussnahme verschleiert wird usf.

Ein häufig eingesetztes Mittel, um eine künstliche Schließung der Situation zu erreichen, ist die Verwirrung kognitiver Kategorien. Wir wollen diesen Mechanismus als → Orientierungstrauma bezeichnen (vgl. Abschnitt 3.1.1). Klassisches Beispiel ist das Double-Bind. Die Verwirrung kognitiver Kategorien im Double-Bind ist bei Fischer (1986a) genauer analysiert im Hinblick auf die Entstehung von Charakterstörungen und selbstschädigendem, parasuizidalem Verhalten. Die → Double-Bind-Situation bildet einen Prototyp des Orientierungstraumas, nicht aber seine einzige Form. In manchen Familien sind Beziehungsmuster mit ihren über Generationen hinweg tradierten Scripts und deren situativer Reinszenierung so verwirrend, dass den Opfern solcher Beziehungsfallen kaum noch wirksame Handlungsmöglichkeiten bleiben. Ziel der objektiven Situationsanalyse ist es hier, die Situationsstrukturen herauszuarbeiten, das zentrale Thema der Situation, die situativen Gegebenheiten, situations- und kulturgesteuerte Scripts, die Kontextbedingungen usf.

Dieser objektiven Untersuchungsrichtung steht die subjektive Situationsanalyse gegenüber. Hier ist zunächst darauf zu achten, welche der objektiv vorhandenen Reaktionsmöglichkeiten ein Individuum tatsächlich wahrnimmt. Von dem Hintergrund der objektiven Situationsstrukturen heben sich jene subjektiven Wahrnehmungs- und Reaktionsweisen ab, mit denen das Subjekt versucht, die potenziell traumatische Situation zu überschreiten. Ergänzen wir hier die objektive Situations- und Script-Analyse durch die subjektive Untersuchungsrichtung, so nähern wir uns dem zentralen Untersuchungsgegenstand, dem Verständnis nämlich für das Zusammenspiel von subjektiven und objektiven Komponenten der traumatischen Situation.

Als Hilfsmittel bieten sich Konzepte an, die wir als Vermittlungsgrößen zwischen dem objektiven und dem subjektiven Moment kennen gelernt haben, wie beispielsweise das „Thema“. Es kann jetzt in seiner objektiven und subjektiven Bedeutung genauer untersucht werden. Nehmen wir das Fallbeispiel des Autofahrers aus Abschnitt 1.4, der durch ein besonders geschicktes Ausweichmanöver einen tödlichen Unfall vermeiden kann, jedoch noch lange nach dem Unfall unter den psychischen Folgen der Traumatisierung leidet. Die traumatogene Situation ist thematisch zunächst dadurch bestimmt, dass Herr R. sich auf einer ganz alltäglichen Autofahrt befindet, um einen seiner Kunden zu besuchen und ihn zu beraten. Mit einer Behinderung in diesem gewohnten Tagesablauf rechnet er nicht. Wie aus dem Nichts kommt durch das Fehlverhalten eines Verkehrsteilnehmers die Todesdrohung auf ihn zu. Wir haben den konkreten Ablauf der Ereignisse ausführlich geschildert. Welches nun sind die für die Traumaverarbeitung entscheidenden Situationselemente? Von der objektiven Seite her mag eine Rolle spielen, dass der Unfallverursacher sich in Panik befand und unfähig war, einem Zusammenstoß auszuweichen, sich hinterher jedoch seinem Retter gegenüber anscheinend in keiner Weise dankbar oder auch nur konziliant verhielt. Beim zeitlichen Verlauf der traumatischen Situation berücksichtigt werden muss auch die mangelnde soziale Anerkennung durch die mit dem Unfall befassten Instanzen, wie beispielsweise die Versicherung des Unfallverursachers.

Wir werden in einem späteren Kapitel das Trauma als eine systematische Diskrepanz zwischen subjektiven und objektiven Situationskomponenten definieren. Hier können wir vorwegnehmen, dass diese Diskrepanz sich in der Interferenz von objektivem und subjektivem Situationsthema am deutlichsten zeigt. Das subjektive Situationsthema ist u. a. dadurch bestimmt, dass Herr R. sich ohne eigenes Zutun und außerhalb seiner Kontrollmöglichkeiten einer Lebensbedrohung ausgesetzt sieht. Er sieht in den kritischen Sekundenbruchteilen seinen Lebensfilm vor Augen, was die Vermutung nahe legt, dass er sich innerlich bereits auf das Lebensende vorbereitete. Vielleicht lag die Möglichkeit des Sterbens seinem bisherigen, sehr aktiven Lebenskonzept besonders fern, was das Diskrepanzerlebnis in der tödlichen Bedrohung noch weiter verschärft haben mag.

Das objektive „Script“, das Drehbuch sozialtypischer Abläufe nach einem lebensbedrohlichen Verkehrsunfall, das die gegenseitige Erwartung der Beteiligten regelt, erfordert den Ausgleich mit dem Unfallgegner, vielleicht die Anerkenntnis von Schuld, primär wohl persönlich-zwischenmenschlich, nicht in erster Linie bestimmt von Versicherungen und deren besonderer Interessenlage. Herr R. erwartet sicherlich mit einiger Berechtigung eine solche Regelung. Sie findet weder persönlich statt noch institutionell. So erlebt er ein scharfes Missverhältnis zwischen den objektiven Situationsfaktoren und seinen persönlichen Erwartungen. Dieses Ergebnis einer Interferenz von objektiven Situationsfaktoren und subjektiven Erwartungen be-zeichnen wir als das „zentrale traumatische Situationsthema“ (ZTST). In diesem Themenkomplex greifen beide Faktorengruppen so ineinander, dass es zu einer → maximalen Interferenz zwischen subjektiven (schematisierten) Erwartungen und objektiven Gegebenheiten kommt, bildlich gesprochen zu einer Blockierung der psychischen Informationsverarbeitung oder auch zu einem Bruch von Strukturen des psychischen Netzwerks.

Das ZTST muss nun zum einen aktualgenetisch, aus dem momentanen Situationsverlauf heraus, erfasst werden, zum anderen in seiner lebensgeschichtlichen Bedeutung und Genese. Aktualgenetisch könnte es bei dem Unfallpatienten etwa so umschrieben werden: „Ich wurde unvorbereitet, durch fremdes Verschulden und ohne eigenes Zutun, aus einem sehr aktiven Leben heraus mit dem Tod konfrontiert. Es gab keine (genügende) Hilfestellung bei meiner inneren Auseinandersetzung mit dem Geschehen. Alle Bemühungen, mein bisher aktives und selbstbestimmtes Leben fortzuführen, scheitern an meiner Krankheit und der Verweigerung von Hilfe“.

Verfolgen wir das ZTST in der lebensgeschichtlichen Richtung weiter, so stoßen wir auf die Kindheitserinnerung an eine Bombennacht während des zweiten Weltkriegs, als Herr M. mit seiner Mutter vor dem Angriff zu fliehen versuchte und dabei auf brennende Häuser, Verwundete und Tote stieß. Auch im „Lebensfilm“ waren die Kriegsszenen an erster Stelle aufgetaucht. Vieles spricht dafür, dass Herr M. mit seinem besonders aktiven Lebensstil bemüht war, dieser früh erfahrenen Unsicherheit und Bedrohung des Lebens seine energische Fürsorge für das materielle Wohl und die Sicherheit der Familie entgegenzusetzen. Genau dieser kompensatorische Lebensentwurf wird durch den Unfall außer Kraft gesetzt. Seine berufliche Tätigkeit, die Sicherheit und Schutz garantieren soll, wird zum Instrument eines grausamen „Schicksals“, das ihn mit einem Schlag in die frühe → Hilflosigkeit und Todesgefahr zurückwirft. Die beruflich bedingte Autofahrt, welche Wohlstand und Sicherheit weiter festigen und so vor der früh erlebten Not des Krieges schützen soll, wird ihrerseits zum Vehikel einer existenziellen Bedrohung. Hier „verhakt“ sich also das auf kompensatorische Sicherheit ausgerichtete „Lebensthema“ in fataler Weise mit dem gegenwärtigen Situationserleben. Das ZTST entspricht diesem Punkt einer maximalen Interferenz von subjektiven und objektiven Situationsfaktoren. Besonders zerstörerisch wirkt es sich aus, wenn durch die oft zufällige situative Konstellation das Subjekt in seinen zentralen kompensatorischen Bemühungen und/oder seinem Weltentwurf getroffen wird. Da diese kompensatorischen Mechanismen oft schon aufgebaut wurden, um früheren (potenziell) traumatischen Situationen zu begegnen, lebt mit dem Bruch des → traumakompensatorischen Schemas und der neuen Bedrohung zugleich die alte Bedrohung wieder auf. In lebensgeschichtlicher Betrachtung bildet das ZTST einen dynamischen Kristallisationspunkt, in dem sich vergangene und gegenwärtige traumatische Erfahrungen verbinden und bisweilen unheilvoll potenzieren können. Die lebensgeschichtliche Kontinuität lässt sich oft auch in der subjektiven Traumaerfahrung feststellen, im Informationsvorrat des → Traumaschemas. So wird im „Lebensfilm“ sogleich die Verbindung zwischen der frühen und der jetzigen Traumaerfahrung hergestellt mit der Erinnerung an die Bombennacht. Das frühe → Schema „assimiliert“ die gegenwärtige Erfahrung, was dem aktuellen Geschehen eine besondere Brisanz verleiht.

Lindy (1993) berichtet von einem Vietnamveteranen, der jahrelang unter einem schweren psychotraumatischen Belastungssyndrom litt. Er war ursprünglich vom positiven Zweck des Krieges überzeugt gewesen und sah seinen Einsatz als Verteidigung von unterdrückten und hilflosen Minoritäten. Der Schutz für Schwache und Hilflose zählt zu der persönlichen Werthaltung, die er sich schon früh in der Lebensgeschichte zu eigen gemacht hatte. Mehrfach wurde er Zeuge von Strafexekutionen in Dörfern von Partisanen.

Eines Tages entdeckte er unter den Exekutierten die Leiche eines vietnamesischen Jungen, mit dem er sich vor einiger Zeit angefreundet hatte. Er wusste, dass der Junge und seine Familie keineswegs „Partisanen“ waren, sondern Sympathisanten der Amerikaner. Dennoch musste er feststellen, dass die Exekution von der amerikanischen Armee durchgeführt worden war. Er verlor den Glauben an die Gerechtigkeit des Krieges, fühlte sich von der Armeeführung getäuscht und musste letztlich auch sich selbst als mitschuldig an der Vernichtung seines jungen Freundes und anderer unschuldiger Zivilisten betrachten. In der späteren Psychotherapie stellte sich die Konfrontation mit der Leiche des befreundeten Jungen als zentrales traumatogenes Erlebnis heraus. Lindy (1993) spricht von „traumaspecific meaning“ und meint damit die subjektive, ganz persönliche Bedeutung, die eine traumatische Situationskonstellation gewinnt. Diese Fallskizze können wir auch in der Begrifflichkeit des ZTST verstehen, wenn wir nämlich annehmen, dass der Schutz von Schwachen und Hilfsbedürftigen eine kompensatorische, ev. sogar traumakompensatorische Funktion für den Veteranen hatte. Jedenfalls war diese Haltung ein zentraler Bestandteil seines Selbstkonzepts gewesen. Sie war auch ein wichtiges Motiv, sich an einem „gerechten“ Krieg zu beteiligen. Nun wurde er selbst zum Mörder seiner Schutzbefohlenen, gerade in Verfolgung seiner durchaus altruistischen Motive. Solch „tragische“ Verwicklungen und eine paradoxe Gegenläufigkeit von Absicht und Handlung entsprechen oft der Struktur des zentralen traumatischen Situationsthemas.

Im Folgenden wollen wir uns mit einem weiteren situationstheoretischen Konzept befassen, das beim Verständnis der traumatischen Situation hilfreich sein kann, der Singularität versus Generalität von Situationen. In der Literatur findet sich häufig die Bemerkung, dass traumatisierte Personen dazu neigen, ihre Erfahrung und damit die traumatische Situation zu stark zu „generalisieren“, also in unangemessener Weise zu verallgemeinern. In der äußerlichen, objektiven Betrachtungsweise trifft diese Beobachtung ganz offensichtlich zu. Manche Traumapatienten verhalten sich so, als könnte die traumatische Situation sich jederzeit wiederholen. Dies geschieht allerdings auf der Ebene unbewusster Informationsverarbeitung. Herr R. z.B. kann deshalb nicht mehr mit dem Auto fahren, weil er auf der Ebene vorbewusster oder unbewusster → Kognitionen und daran gekoppelter physiologischer Reaktionsmuster die ständige Wiederholung des Unfalls erwartet. Es liegt in der Natur der so genannten phobischen Reaktion, dass eine bestimmte Reizkonfiguration übermäßig verallgemeinert und dann übertragen wird auf Situationen, die objektiv, von außen betrachtet in keinem Zusammenhang mit der traumatischen Erfahrung stehen. Für einen außenstehenden Beobachter ist diese Feststellung leicht zu treffen. Wie aber erkennt das betroffene Subjekt selbst den Unterschied zwischen einer Situation der Sicherheit und der Bedrohung? Wo endet der eine Situationstypus, wo beginnt der andere, und welche Kriterien entwickeln Betroffene für eine solche Unterscheidung?

Untersuchen wir diese Frage am Beispiel von Herrn R. Er hat die Erfahrung von hilflosem Ausgeliefertsein an lebensbedrohliche situative Umstände gemacht, sowohl als Kind wie auch später beim Unfall, beides unter unvorhersehbaren Umständen. Wie soll er nun voraussehen können, wann etwas Unvorhergesehenes geschehen kann und wann nicht? Zudem bilden lebensbedrohliche Situationen aus sich heraus einen ganz besonderen Bedeutungshorizont. Das Erlebnis von → Todesnähe führt von sich aus eine andere Form von „Generalisierung“ herbei. Insofern der Tod den Zeithorizont des Individuums begrenzt und „schließt“, ist er die allgemeinste Kategorie. Der Tod ist die Grenze überhaupt. So ist es nicht verwunderlich, dass eine Erfahrung, die der Todesnähe ausgesetzt ist, „grenzenlos“ verallgemeinert wird. Schon unsere alltäglichen Kategorien bilden wir nicht nach dem induktiven Muster eines allmählichen Aufstiegs vom Einzelnen zum Allgemeinen, sondern, wie u. a. Piaget nachgewiesen hat, zielt jedes kognitive Schema auf Allgemeingültigkeit, die durch zusätzliche Erfahrungsprozesse dann differenziert und modifiziert werden kann. So stellt nicht die Verallgemeinerung der traumatischen Erfahrung das erklärungsbedürftige Phänomen dar, sondern umgekehrt deren Differenzierung. In der dialektischen Terminologie von Hegel gesprochen: Situationen werden nicht als zusammenhanglose Einzelheiten aufgefasst, sondern immer als Besonderung allgemeiner Kategorien und Bedeutungen. So kann auch eine generelle Erschütterung von Welt- und Selbstverständnis beim traumatisierten Individuum durch die Erfahrung besonderer traumatischer Situationen bewirkt werden. Traumatische Situationen werden vom erlebenden Subjekt als „repräsentativ“ für zentrale Aspekte des Weltbildes genommen. Sie führen zu einer Erschütterung des Selbst- und Weltverhältnisses in bestimmten Bereichen oder – wenn sie sich der Erfahrung von Todesnähe verbinden – auch insgesamt. Die therapeutische Veränderung kann sich daher nicht einfach darauf beschränken, eine situationsbezogene Übergeneralisierung zu „löschen“. Vielmehr muss der gesamte Welt- und Selbstbezug des Subjekts, von der physiologischen Ebene über die emotionale Erfahrung bis hin zu kognitiven und, wenn man will, „alltagsphilosophischen“ Mustern der Welt- und Selbsterfahrung so umgearbeitet werden, dass die traumatische Situation verständlich wird im Rahmen der allgemeinen Welterfahrung. Dieses kognitive und emotionale Begreifen der traumatischen Situation in ihrer relativen Position zur sozialen Lebenswelt bestimmt den Weg vom „Opfer“ zum „Überlebenden“ einer traumatischen Erfahrung.

Vor allem durch die Todesdrohung und das Erlebnis von Todesnähe gewinnt die traumatische Situation eine Erlebnisqualität, die wir als → exemplarische Situation bezeichnen wollen. Die exemplarische Situation hat Modellcharakter für die Welterfahrung der traumatisierten Persönlichkeit. Viele Gewaltverbrecher, besonders wenn sie bestrebt sind, ihr Opfer auch seelisch zu verletzen, zielen darauf ab, die Situation für das Opfer zu einer exemplarischen zu machen. In einigen Fällen verwenden sie die Todesdrohung, um die besondere Situation für das Opfer zur allgemeinen zu gestalten. Die meisten Vergewaltiger nutzen die Todesdrohung zumindest implizit auch zu diesem Zweck. Ihr Verhalten zielt nicht auf sexuelle Befriedigung ab. Ihre „Befriedigung“ liegt vielmehr im erschütterten Selbst- und Weltverständnis eines Opfers, das dem Angriff hilflos ausgeliefert und gezwungen ist, den Täter als Herrn über Leben und Tod, als „absoluten Herrn“ (Hegel) anzuerkennen. Dass die exemplarische Extremsituation sich im Alltagsleben nicht ständig wiederholt, macht die Erfahrung – subjekttheoretisch gesehen – nicht weniger bedrohlich, sondern steigert manchmal noch ihre Bedrohlichkeit. Manche Psychoanalytiker haben versucht, die exemplarische Situationserfahrung von Traumaopfern durch den Begriff der „Introjektion“ zu erklären (von intro-iacere = nach innen werfen, sich gewissermaßen „reinziehen“). Die traumatische Situation und der Täter bilden demnach ein „Introjekt“ im Seelenleben des Opfers. Hier handelt es sich um einen räumlich-metaphorischen Versuch, Elemente des → Victimisierungssyndroms zu erklären, den Umstand nämlich, dass viele Opfer unbewusst, über lange Zeit, manchmal sogar lebenslang an die traumatische Erfahrung und den Täter gebunden bleiben. Kognitionstheoretisch ist die traumatische Situation für sie zu einer exemplarischen geworden ohne die Möglichkeit einer Differenzierung und Reorganisation von allgemeinen und besonderen situativen Charakteristika.

Die → Dialektik von Besonderem und Allgemeinem ist auch zu berücksichtigen bei der zeitlichen Dimension des Traumatisierungsprozesses. Wann endet eine traumatische Situation? In objektiver Betrachtungsweise fällt die Antwort leicht. Sie ist dann zu Ende, wenn die reale Bedrohung vorüber ist. Dieser objektive Zugang zielt in der → Situationsanalyse jedoch zu kurz. Ein Beispiel dafür ist die Auffassung einiger deutscher Gutachter nach dem zweiten Weltkrieg bei Ausgleichszahlungen an Holocaustopfer. Einige vertraten im Gefolge der deutschen Psychiater Karl Jaspers und Karl Bonhoeffer die Auffassung, dass der Aufenthalt in einem KZ sicher einen Stressor dargestellt habe. Dieser sei aber nach der Entlassung aus dem Lager vorüber gewesen. Wenn bei den Opfern dennoch Schäden zu beobachten seien, so könnten diese eben nicht auf den Stress des KZ-Aufenthalts zurückgehen, sondern auf konstitutionelle, somatische und psychische Schwächen der Opfer (zur beschämenden Geschichte der deutschen Begutachtung von Naziopfern vgl. Pross 1988, 1995). In Wirklichkeit stellte diese rein objektivistische Argumentation eine Retraumatisierung der Opfer dar oder genauer sogar eine Fortsetzung der Traumatisierung i. S. der → sequenziellen Traumatisierung.

Traumatische Situationen enden nicht nach der objektiven Zeit und nicht per se schon dann, wenn das traumatische Ereignis vorüber ist. Unter subjektiven und inter-subjektiven Gesichtspunkten enden sie, vor allem wenn sie von Menschen verursacht werden erst dann, wenn die zerstörte zwischenmenschliche und ethische Beziehung durch Anerkennung von Verursachung und Schuld wiederhergestellt wurde. Exemplarische Situationen enden nicht einfach, wenn Zeit vergeht. Daher heilt Zeit allein nicht alle Wunden. Vielmehr muss eine qualitativ veränderte Situation entstehen, die die traumatischen Bedingungen in sich „aufhebt“, d. h. sie überwindet und einen qualitativ neuen Anfang erlaubt. Bei dieser Auflösung und Überwindung von traumatischen Situationen sind Schuldanerkennung, Wiedergutmachung, aber auch Fragen von Sühne und Strafe von Bedeutung.

Bei politischer Traumatisierung in totalitären Regimen repräsentieren die oppositionellen Kräfte oft die menschlichen Werte innerhalb eines unmenschlichen Systems. Dennoch oder meistens gerade deshalb wurden sie verfolgt und traumatisiert. Hier ist auch objektiv eine repräsentative Situation entstanden, da der Einzelne als Repräsentant der ausgegrenzten Werte misshandelt wurde, nicht aber ursächlich als „individuelle Person“. Entsprechend erfordert Traumaverarbeitung in totalitären Regimen auch nach deren Zusammenbruch eine dialektische Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem, worin die Repräsentanten der tyrannischen Herrschaft dahin gelangen müssen, das zugrunde gerichtete Wertsystem in sich und ihren Opfern zu erkennen und anzuerkennen. Eine komplementäre Einsicht besteht darin, dass nicht das Opfer „geschändet“, gedemütigt und oft psychophysisch zerstört wurde, sondern der Täter als „menschliches Wesen“ (Fischer 1996).

2.2 Der Riss zwischen Individuum und Umwelt: Peritraumatische Erfahrung im Modell des „Situationskreises“

Extrembelastungen und seelische Verletzung betreffen das menschliche Weltverhältnis in seiner psychophysischen und psychosozialen Gesamtheit. Wir hatten uns in Abschnitt 1.2 mit der Analogie zwischen körperlichen und seelischen Verletzungen befasst und zum Verständnis ein hierarchisches Modell der physisch-psychosozialen Systemebenen herangezogen (vgl. das Modell der Systemhierarchie, Abb. 2). Das Modell sieht so genannte Aufwärts- und Abwärtseffekte vor. Körperliche Verletzungen haben psychische Auswirkungen und seelische Verletzungen können körperliche Folgen nach sich ziehen. Wir werden uns im Folgenden mit einem Modell befassen, das uns das Zusammenspiel der Systemebenen verständlicher machen kann. Es wurde in seinen Grundzügen in der Biologie entwickelt von Jakob von Uexküll, um die Orientierung der Tiere in ihrer Lebenswelt, gewissermaßen deren Welt- und Situationsverständnis nachvollziehbar zu machen. Thure von Uexküll hat es zu einem Modell der Humanmedizin weiterentwickelt, um Krankheitsverläufe integrativ auf den unterschiedlichen Ebenen psychosozialer und somatischer Phänomene studieren zu können. Er nannte dieses integrierende Konzept vom Zusammenspiel des Menschen mit seiner Umwelt das Modell vom „Situationskreis“. Zusammen mit Wesiack hat von Uexküll dieses Modell fortlaufend weiter ausdifferenziert und für unterschiedliche biologische und psychosoziale Fragestellungen fruchtbar gemacht.

An unsere bisherigen Bemühungen um ein integratives, „synthetisches“ Verständnis der traumatischen Erfahrung schließt dieses Modell auch insofern an, als es ebenfalls mit dem Situationsbegriff arbeitet, der im vorigen Abschnitt als heuristischer Bezugsrahmen für die Traumaanalyse eingeführt wurde. Der Situationsbegriff verpflichtet bei v. Uexküll ebenso wie im phänomenologischen Ansatz zur systematischen Verbindung von Innen- und Außenbetrachtung, von Erleben und Verhalten. Auch biologische Funktionen lassen sich im Modell des Situationskreises (Abb.3) aus der Innenperspektive verstehen. So leistet das Modell einen Beitrag zu einer „subjektiven Biologie“ bzw. „Biologie des Subjekts“, als deren Pionier in Deutschland Jakob von Uexküll genannt werden kann.


Erklärung: Individuum und Umgebungsfaktoren sind zirkulär aufeinander bezogen. Ihre Verbindung wird symbolisiert durch die beiden Teilkreise, von denen der obere die rezeptorische Sphäre, die verschiedenen Sinneswahrnehmungen repräsentiert, der untere die effektorische Sphäre des Organismus, also Handlungen und Handlungsdispositionen.

Abbildung 3: Modell des Situationskreises nach Uexküll und Wesiack (1988)

Jakob von Uexküll hatte die beiden Teilsphären als Merk- und Wirkwelt der Organismen unterschieden. Merk- und Wirkwelt sind durch die organische Ausstattung der Lebewesen vorstrukturiert. Die rezeptorische Sphäre reagiert auf eine bestimmte Problemsituation in der Umgebung. Der Organismus bzw. das Individuum entwickelt eine Lösungsstrategie, die über die effektorische Sphäre günstigenfalls die Ausgangslage erfolgreich verändert, so dass der Kreis zwischen Merken und Wirken geschlossen und die Harmonie, eine wie v. Uexküll und Wesiack schreiben, Beziehung der Synthesis zwischen Organismus bzw. Individuum und Umwelt wieder hergestellt ist.

Im Inneren des Zirkels ist nun eine „kognitive“ Sequenz der Bedeutungszuschreibung eingetragen, in der sich tierisches und menschliches Verhalten von einander unterscheiden. Gemeinsam ist zunächst, dass sowohl Tiere wie Menschen aufgrund von „Bedeutungen“ handeln, die sie ihrer Umgebung zuschreiben. Die Bedeutungszuschreibung oder Bedeutungserteilung verwandelt Umgebung in Umwelt (Lagebestimmungen in situative Gegebenheiten, um an den phänomenologischen Situationsbegriff anzuknüpfen). Durch gelingende Bedeutungserteilung sind die Lebewesen zu effektivem Handeln in der Lage. Beim Menschen hat sich diese → semiotische Zwischensphäre des Umgangs mit Bedeutungen komplex ausdifferenziert. Durch „Probehandeln“ (Freud) im Denken, Durchspielen von Plänen und Handlungsresultaten in der Phantasie hat sich der menschliche Weltbezug im Vergleich zum tierischen vom → „Funktionskreis“ zum „Situationskreis“ erweitert. Während die Tiere mit ihrer Umgebung in einer funktionalen (im Sinne der „funktionalen Norm“), teilweise reflexgesteuerten Verbindung stehen – so wie auch der menschliche Organismus auf der Ebene des vegetativen und animalischen Nervensystems – haben die Fähigkeiten des Menschen im Gebrauch von Zeichen und Symbolen, insbesondere sein Umgang mit Sprache oder sprachähnlichen Zeichensystemen zur Öffnung des Funktionskreises geführt und zu seiner Verwandlung in die vergleichsweise reaktionsoffene Umweltbeziehung des Situationskreises. Die → semiotisch-kognitiven Möglichkeiten verschaffen auch der Individualisierung des Menschen einen größeren Raum. Prozesse der Bedeutungsverarbeitung und -zuschreibung sind stärker als bei den Tieren durch die persönliche Lebensgeschichte und deren individuelle Verarbeitung bestimmt. Wer z. B. Krankheitssymptome oder symptomatische Verhaltensweisen aus der Innenperspektive, dem Situationsverständnis des Patienten heraus verstehen will, muss sich empathisch mit dessen individueller Wirklichkeitskonstruktion befassen, die nur aus seiner besonderen Lebensgeschichte verständlich wird.

Rezeptorische und effektorische Sphäre sind antizipatorisch aufeinander abgestimmt. Die Situationswahrnehmung wird strukturiert durch antizipierte Handlungsmöglichkeiten. Sensorische Rezeption oder Wahrnehmung besteht also nicht in „passiver Reizaufnahme“. Sie ist vielmehr aktiv auswählend und insofern bedeutungserteilend. Die Wahrnehmung ist ihrerseits motiviert durch einen Mangelzustand, der das Gleichgewicht zwischen Individuum und Umwelt vorübergehend stört, so dass eine Problemsituation entsteht. Die semiotische Zwischensphäre von Bedeutungsunterstellung, -erprobung und -erteilung ermöglicht beim Menschen ein intelligentes problemlösendes Handeln, das den Gleichgewichtszustand zwischen Individuum und Umwelt wieder herstellt.

Harmonie oder Synthesis von Organismus und Umwelt wird gewährleistet durch interne Regulationssysteme, die wir mit Piaget als „Schemata“ bezeichnen können. Schemata unterliegen Piaget zufolge einem Regulationsprinzip mit zwei verschiedenen Funktionen, dem Assimilations- und Akkommodationsvorgang. Ist keine Problemsituation vorhanden, so ist das → Schema aktiv, indem es sich die Umgebungskonstellation assimiliert (= sich angleicht oder „anähnelt“), d. h., sie in „Umwelt“ verwandelt. In diesem Falle setzt die Umgebung der Reproduktion des Schemas keinen Widerstand entgegen. Tritt aber eine Problemsituation auf, so muss das Schema so lange umgearbeitet werden, bis das Problem durch effektives Handeln gelöst werden kann. Die Funktion, die das Schema intern reorganisiert, bezeichnen wir mit Piaget als Akkommodation. Ist sie erfolgreich, so kann die Umweltsituation wieder problemlos assimiliert werden. Die Akkommodation führt so zu einer neuen Assimilation, die Anpassung zur gelingenden „Einpassung“ (von Uexküll und Wesiack) des Organismus bzw. des Individuums in seine Umwelt, in eine → „ökologische Nische“.

Der Schemabegriff. Die inneren Strukturen oder Systeme, die im Situationskreis die Feinabstimmung zwischen Individuum und Umwelt leisten, können wir als rezeptorisch-effektorische Schemata bezeichnen, oder auch mit Jean Piaget als sensorisch-motorische Schemata (kurz sensomotorische Schemata). Piaget beruft sich mit diesem Konzept wiederholt auf die biologischen Arbeiten Jacob von Uexkülls. Thure von Uexküll und Wesiack beziehen ihrerseits Piagets Schemakonzept in das Modell vom Situationskreis ein. Auch in der modernen kognitiven Psychologie hat sich das Schemakonzept als ein zentrales heuristisches Instrument zur Untersuchung kognitiver Strukturen und Funktionen bewährt (z. B. Neisser 1967, 1976). Der Kern des Schemakonzepts ist hier – wie auch im Funktions- bzw. Situationskreis – das Zusammenspiel von rezeptorischer und effektorischer Sphäre, von Wahrnehmung und Handlung.

Piaget hat gezeigt, dass die Organisation der Orientierungsschemata im Laufe der menschlichen Entwicklung eine strukturelle Stufenfolge durchläuft. Grundlage bleibt die sensomotorische Stufe der Intelligenzentwicklung, also die im Situationskreis modellierte Koordination von rezeptorischer und effektorischer Sphäre. In der Entwicklungsphase der sensomotorischen Intelligenz (0-18 Monate) besteht die wesentliche Leistung darin, Handlung und Wahrnehmung immer genauer zu koordinieren. Mit etwa 1 1/2 Jahren, im Übergang zum symbolisch vorbegrifflichen Denken (bis 4. Lebensjahr) ereignet sich, was Piaget die kopernikanische Revolution der Intelligenzentwicklung nennt: Symbol und Vorstellungsbild verselbständigen sich bis zu einem gewissen Grade gegenüber den bis dahin eingespielten Kreisläufen der Wahrnehmungs- und Handlungskoordination. Hier tritt – mit anderen Worten – das Kind in die Welt spezifisch menschlicher Bedeutungsverarbeitung ein. Allem Anschein nach ist dieser Zugang zur menschlichen Symbolwelt, die Ablösung aus dem „symbiotischen Funktionskreis“ (von Uexküll und Wesiack 1988, 341) mit emotionalen Krisen verbunden. Das Kind löst sich aus der Unmittelbarkeit der sinnlichen Erscheinungen und gewinnt einen ersten Zugang zur Sphäre der Symbole. Es handelt sich um den gleichen Entwicklungszeitraum, den Margaret Mahler (Mahler et al. 1975) als Separations-Individuationsphase beschreibt.

Gegen Ende des ersten Lebensjahres bildet sich die „Gegenstandspermanenz“, die Fähigkeit des Kindes, eine Vorstellung auch von verdeckten oder verschwundenen Gegenständen innerlich festzuhalten und obgleich sie unsichtbar sind, weiter nach ihnen zu suchen. Von der Gegenstandspermanenz zu unterscheiden ist die sog. „Objektkonstanz“ oder „Beziehungskonstanz“ (Fischer 1987, 300), die Fähigkeit, eine konstante innere Repräsentanz des Liebesobjekts auch in Abwesenheit oder emotionalen Belastungssituationen aufrechtzuerhalten.

Die „Beziehungsschemata“ (s. u.) des Kindes haben hier ein neues Niveau der Selbstregulation und Autonomie erreicht, das für die weitere psychische Entwicklung von großer Bedeutung ist. Die Ablösung des Denkens, der kognitiven Schemata von der sinnlichen Unmittelbarkeit durchläuft noch folgende unterscheidbare Stufen: Das anschauungsgebundene Denken von 4-7 Jahren; die konkreten Denkoperationen von 7–12 und die formalen Operationen ab 12 Jahren. Erst im Stadium der formalen Operationen können, wie schon in Abschnitt 1.2 ausgeführt, psychische Abläufe kognitiv repräsentiert werden und damit auch Traumata als „seelische Verletzungen“. Im Bereich des logischen Denkens können Kinder „Hypothesen über Hypothesen“, also Hypothesen zweiter Stufe bilden und sich in ihren Denkoperationen auf „geistige Inhalte“, auf Hypothesen erster Stufe beziehen. Damit werden jene reflexiven und selbstreflexiven Fähigkeiten des Menschen voll ausgebildet, die wir im Modell des Funktions- bzw. Situationskreises als „Merken des Merkens“ und als „Merken des Wirkens“ bezeichnen können. Unser Wahrnehmen wahrzunehmen oder unsere Denkprozesse zu beobachten, setzt Fähigkeiten voraus, die in diesem Stadium erworben werden. Basseches (1980) konnte nachweisen, dass auf das Stadium der formalen Operationen noch eine weitere Stufe der kognitiven Entwicklung folgt, die wir als Stadium der dialektischen Operationen bezeichnen. → Dialektisches Denken ist in besonderem Maße ein integratives Denken, das Widersprüche analysiert und sie „aufhebt“ durch Bildung übergeordneter Konzepte. Ansätze der dialektischen Operationen und zu einer Kompetenz in dialektischem Denken finden sich natürlich schon in früheren Stadien der kognitiven und emotionalen Entwicklung, vor allem an den Übergängen zwischen den Entwicklungsstufen. Das Bestreben, widersprüchliche, dissoziierte Schemata zu integrieren, ist der Motor für die Entwicklung eines in sich kohärenten Selbstsystems, das wir mit Bezug auf die integrierende Instanz als → Ich-Selbstsystem bezeichnen wollen. Dialektisches, integrierendes Denken, Aufarbeiten widersprüchlicher oder in sich gespaltener Schemata ist die Voraussetzung dafür, dass die Person situationsübergreifende „Metaschemata“ ausbilden kann, welche die situationsspezifischen Schemata koordinieren, um die Kontinuität des Handelns in der Lebensgeschichte zu gewährleisten. Durch traumatische Erfahrungen kann besonders diese interne Koordination der Schemata über verschiedene Entwicklungsstufen hinweg beeinträchtigt werden. Traumatische Situationserfahrungen sind in den verfügbaren Schemavorrat nur schwer oder manchmal auch nicht integrierbar. So können schon erreichte Koordinationsstufen, wie die Beziehungskonstanz, regressiv wieder verlassen werden, so dass sich einzelne, in sich gespaltene Teilschemata und Erlebniszustände verselbständigen. Zudem erschwert die traumatische Umwelterfahrung jene Koordination, Überarbeitung und reflexive Umkehr des schematischen Wissensbestands, die für den Übergang zu höheren Stufen der kognitiv-emotionalen Entwicklung notwendig ist.

Schematisiertes, intelligentes Wissen, das der Mensch im Laufe seiner Lebensgeschichte erwirbt, ist hinsichtlich sozialer und gegenstandsbezogener Komponenten zu unterscheiden. Diese Unterscheidung wird oft nicht mit der wünschenswerten Klarheit vorgenommen. Jene Strukturen, die sozial-emotionale Wissensbestände regeln, bezeichnen wir als Beziehungsschemata. Kognitive Schemata, die in erster Linie sachbezogene Wissensbestände koordinieren, hingegen als Gegenstandsschemata. Manchmal wird hier auch die Unterscheidung zwischen kognitiven versus sozialkognitiven Schemata vorgeschlagen, die jedoch in mancher Hinsicht problematisch ist. Beziehungsschemata sind nicht nur kognitiver Art, sie sind vielmehr besonders eng mit Emotionen, Affekten, Triebwünschen und Stimmungslagen verbunden. Sie entsprechen weitgehend dem, was in der Psychoanalyse als Beziehung zwischen Selbst- und Objektrepräsentanzen bezeichnet wird (Fischer 1996, 67 passim). Im Einzelnen umfassen sie Bilder oder Konzepte vom Selbst, dem Anderen oder Beziehungspartner, sowie eine Regel für deren gegenseitiges Beziehungsverhalten in umschriebenen Interaktionssituationen. Beziehungsschemata können situationsspezifisch oder stärker generalisiert sein. In den stärker verallgemeinerten Beziehungsschemata, die wiederum sehr viele situationsspezifische koordinieren, bezeichnen wir das koordinierende Regelsystem als Script (vgl. Abschnitt 2.1; ferner Horowitz 1991; Singer und Salovey 1991; Stinzen und Palmer 1991). „Traumatische Erfahrungen“, die in den Gesamtbestand der Beziehungsschemata und ihre Koordinationsregeln nicht aufgenommen werden können, führen zu aufgespaltenen, dissoziierten Schemata und in sich widersprüchlichen „Koordinationsregeln“ oder Scripts.

Zur Bezeichnung für die regulativen Strukturen unseres Wissensbestandes, die sich auf den sachlich-gegenständlichen Umweltbereich beziehen, schlagen wir den Terminus Sachschemata oder Gegenstandsschemata vor. Der wesentliche interne Unterschied zwischen Sach- und Beziehungsschema ist das Kriterium der sozialen „Wechselseitigkeit“ (Fischer 1981). Beziehungsschemata bauen auf der sozialkognitiven Struktur einer Perspektivenhierarchie auf, auf der Annahme, dass der andere mich und mein Weltverhältnis ebenso antizipieren kann wie ich das seine, was im Umgang mit Sachobjekten natürlich nicht der Fall ist. Die meisten alltäglichen Interaktionssituationen erfordern allerdings den koordinierten Einsatz von Sach- und Beziehungsschemata, das Zusammenspiel von „interpersoneller und gegenständlicher Orientierung in der sozialen Interaktion“ (Fischer 1981). Auch viele entwicklungspsychologische Stadien und Stufenübergänge lassen sich aus der Koordination von gegenständlichen und interpersonellen Schemata begreifen (Fischer, 1981, 1986a). Nach Uexküll und Wesiack differenzieren Sachschemata sich erst allmählich aus dem „symbiotischen Funktionskreis“, den primären sensomotorischen und affektiven Beziehungsschemata heraus (1988). Unsere sachbezogenen Schemata werden nach diesen Autoren vom → pragmatischen Realitätsprinzip reguliert, dem Prinzip des erfolgskontrollierten Handelns, die Beziehungsschemata dagegen vom → kommunikativen Realitätsprinzip, worin der Andere als Kommunikations- und Dialogpartner anerkannt und behandelt wird. In mancher Hinsicht eine Verbindung von beiden stellt das → psychische Realitätsprinzip dar, dessen Kriterium darin besteht, zwischen den Erfordernissen pragmatischer und kommunikativer Realität einerseits, den Bedürfnissen des Individuums und seiner „Selbstgegenwart“ andererseits erfolgreich zu vermitteln – eine Funktion, die im psychoanalytischen Strukturmodell dem „Ich“ zugeschrieben wird.

Die Unterscheidung von Sach- und Beziehungsschemata ist psychotraumatologisch u. a. von Bedeutung, wenn wir die Auswirkung jeweils von Naturkatastrophen („natural disasters“) und Katastrophen mit menschlicher Verursachung („man-made-disasters“ oder disasters „of human origin“) miteinander vergleichen wollen. Im einen Fall wird unser pragmatisches, im anderen unser → kommunikatives Realitätsprinzip mehr oder weniger nachhaltig erschüttert oder infrage gestellt.

Problemlösen, Stress und Coping. Wenn wir mit Situationen konfrontiert sind, die einerseits biologisch, psychisch und/oder sozial bedeutsam sind, andererseits aber keine einfache Lösung zulassen, geraten wir in einen Zustand, den wir mit Selye als „Stress“ bezeichnen können. Selye (1936) unterscheidet negativen „Dis-stress“ oder „strain“ und positiven Stress oder „Eu-stress“. Letzterer ist ein psychophysischer Aktivationszustand des Individuums, der produktive Problemlösungen erleichtern, ja fördern kann. Bei Dis-Stress hingegen findet die Suche nach Problemlösungen, das → Coping-Verhalten unter überstarken, für die Lösung oft ungünstigen physiologischen Aktivationsbedingungen statt. Mit verschiedenen Formen von Coping beschäftigt sich inzwischen eine entwickelte Forschungsrichtung, die u. a. gezeigt hat, dass jedes Individuum über einen begrenzten Satz von Strategien und Schemata verfügt, mit Stresssituationen erfolgreich umgehen zu können (vgl. Abschnitt 2.1 und 2.2.2 zur Phänomenologie und Psychobiologie der traumatischen Situation).

Biologisch bedeutsame Stresssituationen versetzen den Organismus in der Regel in einen Aktivationszustand, in dem Kampf- und Fluchttendenzen einander abwechseln oder auch simultan einander widerstreiten (fight-flight reaction. nach Cannon in von Uexküll 1988). Kampf-/Fluchttendenzen und Coping Verhalten zielen darauf ab, die äußere Problemsituation zu bewältigen. Man kann diese Mechanismen, die im Situationskreis sowohl die rezeptorische wie die effektorische Sphäre maximal aktivieren und belasten können, als Anpassungsmechanismen bezeichnen. Mit ihnen passt sich der Organismus so weit den problematischen Umweltverhältnissen an, wie es die Situation erfordert. Dauert die bedrohliche Situation länger an, so arbeitet das psychophysische System in einem permanenten Alarmzustand, was seine Kapazität auf Dauer überfordert und erschöpft. So kann es bei dauerhaftem Dis-Stress zu einem psychophysischen Erschöpfungszustand kommen, den Cannon als das „General Adaptation Syndrome“ beschrieben hat mit zahlreichen psychophysischen Störungen wie Verlust der Immunkompetenz, Störung der Wundheilung, Erschöpfung der Energievorräte und Auftreten von organischen Beeinträchtigungen, wie z. B. Magengeschwüren.

Durch dauerhafte Coping- und Anpassungsbemühungen gerät der Organismus in einen Zustand, der wiederum seine Existenz gefährdet und das Ziel der Anpassungsbemühungen hintertreibt. Daher setzt das psychophysische System seiner Veränderung durch Anpassungsbemühungen normalerweise systemerhaltende → Abwehrmechanismen entgegen. Hier werden bestimmte störende Bedingungen der Umwelt oder auch der „Innenwelt“: der enteroceptiven und proprioceptiven Körperempfindungen aus der rezeptorischen Sphäre ausgeblendet. Der biologische Sinn von Abwehrvorgängen besteht darin, der Informationsüberflutung des Systems und übersteigertem Anpassungsdruck entgegenzusteuern. Führt aber weder Coping noch Abwehr zu einer Kontrolle der biologisch und/oder psychosozial bedrohlichen Problemsituation, so gerät das psychophysische Individuum aus dem Bereich der Stressbelastung in eine potenziell traumatische Erfahrungssituation hinein. Die regulativen Schemata versagen. In einer extrem bedeutsamen Situation kommt es so zu einer systematischen Diskrepanz zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten.

Definition der traumatischen Erfahrung. Von diesen Überlegungen aus können wir psychisches Trauma jetzt näher definieren, und zwar als ein

vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.

In der traumatischen Situation sind einige Regeln der normalen Erlebnisverarbeitung gewöhnlich außer Kraft gesetzt. Es kommt zu Veränderungen der rezeptorischen Sphäre (Veränderungen des Zeit-, Raum- und Selbsterlebens). Mit Bezug auf die effektorische Sphäre können wir Trauma als unterbrochene Handlung in einer vital bedeutsamen Problemsituation definieren. Aktuell tritt entweder eine (katatonoide) Lähmung und Erstarrung ein oder es kommt zu einem panikartigen Bewegungssturm. Langfristig setzt sich die aus der experimentellen Psychologie bekannte Tendenz zur Wiederaufnahme unterbrochener Handlungen durch. Dieses als „Zeigarnik-Effekt“ bekannte Phänomen tritt bei einer vital bedeutsamen unterbrochenen Handlung natürlich verstärkt in Erscheinung und kann zur Erklärung der verschiedenen Wiederholungstendenzen (Wiederholungszwang, → Traumatophilie, Traumasucht) herangezogen werden. Werden Traumabetroffene postexpositorisch über ihr Erleben befragt, so schildern sie vor allem Symptome des völligen Absorbiert- und Gefangenseins in der Situation, von Depersonalisierung (z. B. neben sich stehen) und Derealisierung (es ist nicht Wirklichkeit, Phantasie, nur ein Traum) sowie amnestische Erfahrungen des Vergessens entscheidender Vorkommnisse. Die Schemata unserer Wahrnehmungsverarbeitung werden durch traumatische Erlebnisse anscheinend strukturell verändert bzw. außer Kraft gesetzt. Bernstein und Putnam (1986) haben einen Fragebogen entwickelt, das „Peritraumatic Dissociative Experience Questionnaire“ (PDEQ), der wichtige dissoziative Erfahrungen erfasst. Der Fragebogen wurde u. a. Soldaten nach Kampfeinsätzen vorgelegt. Hohe Werte im PDEQ erwiesen sich in Untersuchungen als ein relativ zuverlässiger prognostischer Indikator für die spätere Ausbildung eines PTBS. Auch im Kölner Opferhilfe Modell zeigte sich diese Tendenz (Fischer et al. 1998). Um einen Eindruck zu vermitteln, führen wir im Folgenden einige Statements aus dem Fragebogen in Kurzform an.

„Ich wußte nicht mehr, was vor sich ging und war an den Ereignissen nicht mehr beteiligt; ich handelte automatisch und bemerkte erst später, daß ich Dinge tat, zu denen ich mich gar nicht bewußt entschlossen hatte; alles schien wie im Zeitlupentempo zu passieren; es schien mir unwirklich, als ob ich träume, oder einen Film bzw. ein Theaterstück sehe; ich fühlte mich wie ein Zuschauer, als ob ich das Geschehen wie ein Außenstehender betrachten und darüber schweben würde; ich fühlte mich abgetrennt von meinem Körper oder so, als ob mein Körper außergewöhnlich groß oder klein wäre; ich fühlte mich von Dingen, die anderen geschahen, unmittelbar selbst betroffen; später fand ich heraus, daß vieles passiert war, was ich nicht mitbekommen hatte, vor allem Dinge, die ich normalerweise bemerken würde; es gab Augenblicke, in denen mir nicht klar war, was um mich herum vor sich ging, ich war verwirrt; ich war desorientiert; es gab Momente, in denen ich mir unsicher war, wo ich war und welche Zeit es gerade war“.

Eine oft berichtete peritraumatische Erlebnisveränderung ist die so genannte „Tunnelsicht“. Das Blickfeld ist seitlich extrem eingeengt, so dass das Geschehen sich wie in einem Tunnel abspielt. Vom Situationskreismodell her könnte man eine spezifische Beeinflussung der rezeptorischen durch die motorische Sphäre vermuten. Der Betroffene kann zwar nicht fliehen, nimmt aber die Umgebung wie aus wachsender Entfernung wahr. Die Fluchtbewegung in der Wahrnehmung manifestiert sich auch in einigen anderen Phänomenen, wie über den Dingen schweben, aus dem eigenen Körper heraustreten, ein außenstehender Beobachter sein oder träumen, statt die Wirklichkeit zu erleben. Bedenkt man die gegenseitige Durchdringung von effektorischer und rezeptorischer Sphäre, von Motorik und Sensorik, die das Kreismodell impliziert, so kann der psychobiologische Sinn des peritraumatischen Erlebens darin gesehen werden, wenigstens eine Wahrnehmungsdistanzierung zu erreichen, wo die reale Flucht nicht möglich ist und/oder aktives Kampfverhalten sich als wirkungslos erweist. Die amnestischen Phänomene kann man zum Teil als Abwehr verstehen, die der Selbsterhaltung des psychobiologischen Systems dienen soll.

Depersonalisationserlebnisse, die wir auch als „Selbstverdopplung“ des Subjekts betrachten können, stellen ebenfalls einen solchen → Selbstschutzmechanismus dar. Das personale Erlebniszentrum trennt sich vom empirischen Selbst und schaut der bedrohlichen Szene von außen, oft schwebenderweise von oben zu. Folteropfer z. B., die über solche dissoziativen Fähigkeiten verfügen, sind gegenüber der unerträglichen traumatischen Situation möglicherweise besser geschützt als andere, denen diese Fähigkeit nicht zur Verfügung steht.

Bislang ist nicht eindeutig geklärt, ob dissoziative Fähigkeiten angeboren sind oder frühkindlich erworben werden. Die erwähnte positive Korrelation zwischen hohen Werten im PDEQ und späterem PTBS muss nicht dahin interpretiert werden, dass Personen mit hohen dissoziativen Fähigkeiten einem stärkeren PTBS-Risiko ausgesetzt sind. Es kann auch ein gemeinsamer Situationsfaktor zugrunde liegen, der sowohl peritraumatische → Dissoziation fördert wie auch das Folgesyndrom. Für die Verwandlung von Erinnerungen an die traumatische Situation in schematisiertes Wissen allerdings stellen dissoziative Tendenzen vermutlich ein besonderes Problem dar. Hier kann es leicht zur Bildung dissoziierter, fragmentierter Schemata kommen, die ein abgespaltenes Dasein im Gedächtnis führen und sich den Koordinationsregeln entziehen, die sonst den verfügbaren Wissensbestand der Persönlichkeit leiten.

Abbildung 4 zeigt das peritraumatische Erleben im Modell des Situationskreises. Bei den traumatisch bedingten Veränderungen der effektorischen Sphäre sind Leerlaufhandeln und Pseudohandeln zu erwähnen, Handlungstendenzen, die zwar nicht mehr effektiv eine Problemlösung herbeiführen können, dennoch aber für die psychische Befindlichkeit des Individuums von großer Bedeutung sind. Wir kommen auf diesen Punkt zurück. Ein zweiter Handlungszyklus setzt sich nun gewissermaßen durch den Realitätsfaktor hindurch in der Phantasie fort, im Diagramm durch die gestrichelte Fortführung des Kreissegmentes angedeutet. Hier haben wir jene Veränderungen des Selbst- und Realitätserlebens angeführt, die in der Selbstverdopplung des Subjekts (dargestellt in S2) zu einer phantasierten Existenz als außenstehender Beobachter führen. Depersonalisierung und Derealisierung betreffen das Merken des Merkens und das Merken des Wirkens. Auf dieser metakognitiven Ebene des Situationskreises greifen Depersonalisierung und Derealisierung an, indem sie die sensorische Reafferenz zur effektorischen bzw. rezeptorischen Sphäre unterbrechen. Reafferente sensorische Bahnen informieren das Gehirn über den Zustand der effektorischen Sphäre. Wird in der Derealisierung die motorische Reafferenz unterbrochen und das pragmatische Realitätsprinzip außer Kraft gesetzt, so unterbricht in der Depersonalisierungstendenz das Merken des Merkens und mündet ein in eine Selbstverdopplung des Subjekts im Sinne eines Selbstrettungsversuches.

Im Außenbereich des Diagramms sind rechts die traumatogenen Umgebungsfaktoren eingetragen, die sich ungehindert in das innere Zentrum des Situationskreises fortsetzen können und die Integrität des Selbst bedrohen. Hier ist der Ort der objektiven Situationsfaktoren, während auf der linken Seite der Subjektpol, die Innenperspektive des traumatisch verzerrten Situationskreises angegeben ist.


Erklärung zu Abb. 4: Das Schaubild stellt die wichtigsten Abwandlungen des Situationskreismodells dar, wie sie durch die psychotraumatische Erfahrung hervorgerufen werden. Das Diagramm ist vom inneren Zirkel her nach außen hin zu lesen. Zwischen U1 und S1 (für Subjekt 1 und Umgebungsfaktor 1) spielt sich der erste Zyklus ab. Die bedrohlichen Umgebungsfaktoren kommen auf das Subjekt zu in einer Weise, die dessen Deutungsschemata und Bewältigungsmöglichkeiten übersteigt. Im Inneren des Zirkels ist das Versagen der Bedeutungserteilung angedeutet. Die erste effektorische Handlungsbereitschaft dürfte das Kampfverhalten sein als Versuch, sich zur Wehr zu setzen und die bedrohliche Umweltkonstellation fernzuhalten. Das „Versagen“ der effektorischen Sphäre haben wir im Diagramm dadurch angedeutet, dass der Pfeil am Umgebungsfaktor gewissermaßen ins Leere zielt. So kann ungehindert der traumatogene Umgebungseinfluss mit U2 fortgesetzt werden. Hier wirkt sich nun die Fähigkeit zum Probehandeln in der Phantasie dahin aus, dass es zu den beschriebenen Veränderungen der Wahrnehmung kommt, wie z. B. zur Tunnelsicht, die wir hypothetisch als Ausdruck der Fluchttendenz in der Wahrnehmung verstanden hatten. Ein zweiter effektorischer „Durchgang“ durch den Situationskreis nach der gescheiterten Kampftendenz dürfte zunächst Flucht, dann ev. Erstarrung sein. Die Handlungstendenz scheitert an der Realität und wird auf sich zurückgeworfen, was wir über den in sich rückläufigen Handlungspfeil symbolisieren.

Abbildung 4: Traumatische Erfahrung im Modell des Situationskreises

Ausgangspunkt ist unsere Definition des Traumas als eines vitalen Diskrepanzerlebnisses zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten. Nach den vergeblichen Aktivierungszyklen im Situationskreislauf stellt sich als erstes Resultat die Erfahrung von Wirkungslosigkeit ein und das Gefühl, den bedrohlichen Umständen hilflos ausgeliefert zu sein. Wird die punktuelle traumatische Situationserfahrung nun weiter ausgearbeitet, in schematisiertes soziales Wissen oder entsprechende Sachschemata eingearbeitet, so kann es zu einer Haltung von generalisierter → Hilflosigkeit kommen, die wir auch als erlernte Hilflosigkeit bezeichnen können unter Bedingungen, die in Abschnitt 3.1.2. näher beschrieben werden. Auch die Erschütterung unseres Selbst- und Weltverständnisses, welche die traumatische Erfahrung bewirkt, kann mehr oder weniger stark verallgemeinert sein. Wird die traumatische Erfahrung als „repräsentativ“ für das kommunikative oder pragmatische Realitätsprinzip interpretiert (vgl. 2.2), so verwandelt sich die Stimmung der Hilflosigkeit in die einer generellen Hoffnungslosigkeit und Depression.

Das Situationskreismodell kann uns dem psychobiologischen Sinn, der „Teleologie“ der peritraumatischen Erfahrung näherbringen und eröffnet der Forschung so fruchtbare Wege. Dabei sind in der effektorischen Sphäre die angedeuteten Leerlaufhandlungen von besonderem Interesse. Wenn der Situationskreis unser psychophysisches Weltverhältnis korrekt beschreibt, dann können wir davon ausgehen, dass das Grundprinzip „Problemlösung durch Koordination von Sensorik und Motorik“ auch unter extremen psychotraumatischen Belastungen erhalten bleibt. Phantasmatisches Abwehrverhalten, Pseudohandeln oder Leerlaufhandlungen lassen sich unter diesen Bedingungen als biologisch sinnvoll verstehen. Tiere, die unter extrem beengten Verhältnissen gehalten werden, entwickeln stereotype Verhaltensabläufe, die an Leerlaufhandlungen oder an Rituale erinnern.

Kognitive Schemata sind über die motorische Komponente mit bestimmten organspezifischen Funktionskreisen gekoppelt. Gespaltene, in sich widersprüchliche Schemata gehen mit einer dysfunktionalen Aktivierung der zugeordneten biologischen Funktionskreise einher. So ließe sich hypothetisch etwa die gleichzeitige und gleichstarke Aktivierung von Kampf- und Fluchttendenzen als gegenseitige Blockierung verstehen, die wiederum zur katatonoiden Bewegungsstarre führt, wie sie Max Stern (1988) neben dem blinden Bewegungssturm als eine der beiden basalen Traumareaktionen beschreibt.

Das Situationskreismodell, das wiederum eine Vielzahl biologischer, teilweise organspezifischer Funktionskreise berücksichtigt, bietet einen Überblick über das komplexe psychosoziale und biologische Geschehen im peritraumatischen Erleben, also in der Expositionsphase der psychischen Traumatisierung. Hier ist das Individuum den traumatischen Situationsfaktoren unmittelbar exponiert. Neben ihrer Selbstschutz- und Selbstrettungsfunktion lassen sich die peritraumatischen Erlebnisphänomene auch als Beginn einer möglicherweise dauerhaften Schädigung der psychischen Selbstregulierung verstehen. Wie in der somatischen Krankheitslehre stellt sich auch hier die Frage nach den pathogenetischen Mechanismen.

2.2.1 Pathogenese des psychischen Traumas

Als „pathogenetisch“ verstehen wir solche Mechanismen und Rückkopplungskreise, die ein Störungsbild verfestigen bzw. aufrechterhalten. Diese Vorgänge sind zu unterscheiden von der Ätiologie als der Lehre von den Krankheitsursachen (von gr. aitia = Ursache oder auch „Schuld“). Während die Ätiologien in der Psychotraumatologie, zumindest was die äußeren Bedingungen des Traumas angeht, ungewöhnlich klar sind, bedarf die pathogenetische Frage eingehender Untersuchungen und begrifflicher Klärung. Aussichtsreich erscheint hier ein Mehr-Ebenen-Zugang nach dem Modell der „Hierarchie von Systemebenen“ (Abb. 2). Trauma kann vorwiegend oder auch ausschließlich auf der physiko-chemischen, der biologischen oder der psychosozialen Ebene verstanden werden. Ist vorzugsweise eine einzelne Ebene angesprochen, so sind die „Aufwärts- und Abwärtseffekte“ zu berücksichtigen. Unsere oben vorgeschlagene Definition spricht verschiedene pathogenetische Momente an, die sich unterschiedlichen Ebenen zuordnen lassen. Das Moment der Hilflosigkeit ist eine phänomenale Beschreibung des Taumaerlebens auf der psychologischen Ebene. In Seligmans Theorie der „erlernten Hilflosigkeit“ wurde dieses Konzept ausgearbeitet, allerdings nur mit Bezug auf Depression als eine der häufigsten Folgeerscheinungen. Das Stichwort „Trauma“ taucht seltsamerweise bei Seligman noch nicht einmal im Sachregister auf. Allerdings erwähnt Seligman verschiedene „Abwärtseffekte“ erlernter Hilflosigkeit wie den plötzlichen Tod im Zustand vollkommener Hilflosigkeit, der bei einigen KZ-Opfern zu beobachten war (Kap. 6). Wir gehen im Abschnitt 3.1.2 auf diese vor allem im Tierexperiment gewonnenen Befunde näher ein.

Das pathogenetische Moment der schutzlosen Preisgabe an bedrohliche Umweltfaktoren entspricht einem extremen Kontrollverlust in der traumatischen Situation. Seine Folgen und auch die Prinzipien, nach denen Traumaopfer ihr Kontrollbewusstsein wiedererlangen können, lassen sich nach der Kontrolltheorie von Rotter (1966) und anderen Autoren näher untersuchen.

Trauma als ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten zu beschreiben, ist ein relationaler Definitonsversuch, der zuvor auch als „ökologisch-dialektisch“ gekennzeichnet wurde. Diese Relation impliziert einen quantitativen und einen qualitativen Gesichtspunkt. Je stärker die traumatischen Situationsfaktoren, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Individuum über hinreichend Ressourcen verfügt, um die Erfahrung bewältigen zu können. Bei Extremtraumatisierung durch Folter oder andere Situationen fortwährender Lebensbedrohung dürfte so gut wie kein Mensch der psychischen Traumatisierung entgehen. Das qualitative Moment der Subjekt-Umwelt-Relation versuchen wir durch ein Konzept wie das → ZTST näher zu erfassen. Das kritische pathogenetische Moment besteht hier weniger in der objektiven Intensität der traumatischen Faktoren als in deren qualitativer Eigenheit, die sich entweder an ein schon bestehendes → Traumaschema anschließt oder zentrale Momente eines Lebensentwurfes oder auch erworbene traumakompensatorische Strategien jäh in Frage stellt. Ein vital bedeutsames Diskrepanzerlebnis liegt vor, wenn Bedeutungen oder „Bedeutungszuschreibungen“ von direkter oder mittelbarer biologischer Relevanz betroffen sind. Das ist bei lebensbedrohlichen Erlebnissen der Fall. Dazu gehört aber sicher auch ein Orientierungsbedürfnis, das wir wegen seiner basalen Bedeutung für das Überleben ebenfalls zu den biologisch verankerten „Trieben“ rechnen dürfen. Kaus (1995) schlägt eine entsprechende Erweiterung des psychoanalytischen Triebkonzeptes vor. Ein → Orientierungstrauma tritt ein, wenn dieses vitale Triebbedürfnis auf systematische und subjektiv ausweglose Diskrepanzen trifft, wie beispielsweise in → Double-bind-Situationen. Auch das → Beziehungstrauma beruht auf Paradoxien und Diskrepanzen im menschlichen Bindungssystem, welches ebenfalls erbgenetisch-biologisch verankert ist. Die menschliche Sexualität schließlich entwickelt sich in einem komplexen Spannungsfeld biologischer und sozialer Faktoren, was sie für traumatische Einflüsse besonders empfindlich macht.

Ein übergreifendes pathogenetisches Moment des Traumas aus der Sicht dieser Traumadefinition ist die dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Mit dieser absichtlich weit gefassten Formulierung wollen wir zum einen den Verlust von Selbstvertrauen ansprechen, den viele Traumaopfer beklagen, zum anderen den Vertrauensverlust in die soziale oder pragmatische Realität, der sich als Traumafolge einstellt. Die Erschütterung kann mehr oder weniger umfassend sein. In radikalen Erfahrungen dehnt sie sich aus auf das Realitätsprinzip als solches, das Korrelat der menschlichen Erkenntnisfähigkeit.

Ronnie Janoff-Bulman hat in ihrer Arbeit „Shattered Assumptions“ (1992) diesen Aspekt der Traumaerfahrung eindrucksvoll dargestellt. Wir alle hegen bestimmte Grundannahmen, die sich bei kritischer Betrachtung als illusionär herausstellen, welche für uns aber gleichwohl lebensnotwendig sind. So zum Beispiel die „illusionäre“ Überzeugung, dass der Tod noch relativ fern ist und dass wir beispielsweise die nächste Stadtfahrt mit dem Auto überleben werden. Durch ein Erlebnis von → Todesnähe etwa werden wir in einer Weise „desillusioniert“, die man als übermäßig und insofern „dysfunktional“ bezeichnen kann. Ein gewisses Maß an Illusion scheinen wir zur Bewältigung unseres Alltagslebens zu benötigen. Übermäßiger Illusionsverlust hingegen führt zu jener Hoffnungslosigkeit und dem Verlust der Zukunftsperspektive, unter der viele Traumaopfer leiden. Nicht immer ist die Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses so radikal wie infolge der Todesdrohung. Manche Grundannahmen oder „Grundillusionen“ sind umgrenzt. So erschüttern „natürliche“ Katastrophen tendenziell Annahmen des → pragmatischen Realitätsprinzips, nämlich unsere sicherlich illusionäre Überzeugung, dass die Kräfte der Natur und der Technik prinzipiell beherrschbar seien. Beziehungs- und Orientierungstraumata sowie vom Menschen verursachte Desaster erschüttern hingegen Annahmen des kommunikativen Realitätsprinzips und das Vertrauen in die Verlässlichkeit der sozialen Welt. Besonders beim Menschen haben negative soziale Erfahrungen oft auch negative biologische Auswirkungen im Sinne eines „Abwärtseffekts“ im Mehr-Ebenen-Modell vom Aufbau der Wirklichkeit.

Von besonderem Interesse für die Fortentwicklung der Psychotraumtologie als Wissenschaft sind pathogenetische Konzepte, die geeignet sind, Übergänge zwischen den Ebenen des Modells verständlich zu machen. Ein weiteres Desiderat sind Konzepte, die zwei oder mehrere Ebenen „übergreifen“ und eine integrierende Verständnisbasis bereitstellen, ohne dabei notwendigerweise „reduktionistisch“ zu verfahren.

Von besonderer Bedeutung sind hier wie auch sonst in den Wissenschaften die Begriffe Energie und Information. Bekanntlich hat Freud für viele seiner Konzepte den Energiebegriff, teils metaphorisch, teils buchstäblich herangezogen, so auch beim Trauma, das er gelegentlich als Reizüberflutung mit unphysiologischen Energien umschreibt. Trauma lässt sich nach Freud schlagwortartig auch als „Energietrauma“ beschreiben: der psychische Apparat ist außerstande, die anflutenden traumatischen Reizenergien durch Gegenbesetzung zu „binden“. Zudem verwandte Freud wiederholt eine biologische Metapher zur Kennzeichnung der psychischen Traumatisierung, die vom „lebenden Bläschen“, dessen Schutzhülle durch anflutende unphysiologische Außenreize einen Einbruch erfährt (1920, Jenseits des Lustprinzips).

Lindy (1993) hat diese Metapher mit seinem ebenfalls der biologischen Ebene entnommenen Bild der „Traumamembran“ weiter ausgearbeitet. Die biologische Funktion einer Membran besteht darin, aus der Umgebung Nährstoffe ins Zellinnere einzulassen und Schadstoffe abzuweisen oder auszuscheiden. Das wird erreicht durch Durchlässigkeit der Membran, die den selektiven Transport von Molekülen erlaubt. Wird die Membran nun verletzt, so verliert sie ihre selektive Kapazität. Schadstoffe können von Nährstoffen nicht länger unterschieden werden und dringen ins Zellinnere ungehindert ein. Nährstoffe werden wieder ausgeschieden. Die geschädigte Membran verliert nicht nur ihre Reizschutz-Funktion, sondern erleidet eine Funktionsumkehr. Die → Traumatherapie muss in diesem Bild also nicht nur eine Barriere nach außen hin wieder aufrichten, um das Zellinnere bzw. den Binnenraum des Selbst zu schützen. Das Bild von der Traumamembran erfordert vielmehr, dass der Therapeut die Selektionsfähigkeit des Selbst unterstützt, die Fähigkeit zwischen schädlichen und nützlichen Umweltreizen zu unterscheiden. Fast unmerklich hat sich die Freudsche Metapher bei Lindy von der Energie zur Information hin verschoben. Denn die Auswahlfunktion der Zelle beruht auf intakter Analyse der Umwelt und entsprechender Informationsverarbeitung. Eine Störung der Informationsverarbeitung wäre demnach der zentrale pathogenetische Mechanismus des Traumas.

Diese „Revolution“ des Freudschen Traumakonzepts vom Energie- zum Informationstrauma hat, von der psychoanalytischen Fachwelt vergleichsweise unbemerkt, der nordamerikanische Psychoanalytiker und Traumaforscher Mardi Horowitz vollzogen (1979). Wir werden uns mit seinen Beiträgen in den folgenden Abschnitten noch ausführlich befassen. Die traumatische Situation konfrontiert den Organismus mit „unverträglicher“ Information, die seine Kapazität zur Informationsverarbeitung nachhaltig übersteigt. In zeitlicher Hinsicht spielt hier einmal das Überraschungsmoment eine Rolle, das dem Individuum oft keine Zeit lässt, sich auf die Lage einzustellen, die Information zu kategorisieren und wirksame Handlungspläne zu entwerfen.

Das zweite unverträgliche Moment der „traumatischen Information“ ist das Unerwartete oder vielleicht auch generell Unerwartbare der Erfahrung. Der verfügbare schematische Wissensbestand des Individuums ist für die Kategorisierung und Verarbeitung dieser Information nicht vorbereitet. Die traumatische Information ist das generell Unfassliche, das uns mit dem Grauen des Unbekannten erfüllt. Gelingende Traumaverarbeitung besteht demnach darin, die vorhandenen Schemata so lange umzuarbeiten, bis die traumatische Information „prozessiert“, in den vorhandenen Bestand der kognitiv-emotionalen Schemata integriert werden kann.

Die Reorganisation des schematischen Wissensbestands erfordert normalerweise einen langen Zeitraum der seelischen Arbeit, wofür „Trauerarbeit“ als Beispiel gelten kann. Wie Freud gezeigt hat, müssen beim Verlust einer geliebten Person die entscheidenden Situationen durchgearbeitet werden, die uns an die verlorene Person erinnern, so lange, bis das gesamte Person-Schema mit der Negation, einem Verneinungssymbol versehen ist. In der Trauerarbeit kommt deutlich auch ein „energetischer“ Aspekt zum Ausdruck, der auf die Leistung der seelischen Arbeit verweist (Deserno 1992). Es scheint uns daher sinnvoll, in einem gewissen, eingegrenzten Sinne auch den Freudschen Energiebegriff, verstanden als seelische Arbeit im Traumaverständnis, mitzudenken. Das Informationskonzept eröffnet jedoch darüber hinaus einen erweiterten Verständnishorizont, worin sich beispielsweise so anregende Studien wie die von Janoff-Bulman entwickeln konnten, die mit ihrem Konzept der „shattered assumptions“ ausdrücklich an Horowitz anschließt. Der Übergang von Energie zu Information entspricht auch der Passage durch das Mehr-Ebenen-Modell von „unten“ nach „oben“ hin. Während im physiko-chemischen Bereich der energetische Aspekt dominiert, kommt Information und Energie auf der biologischen Ebene annähernd die gleiche Bedeutung zu. Dagegen nimmt die Bedeutung der Informationsverabeitung auf der psychosozialen Ebene zu bis hin zur Semantik der menschlichen Sprache, worin der materielle Bedeutungsträger dem Zeichen nur noch konventionell zugeordnet ist.

Aus dem von Horowitz und Janoff-Bulman vertretenen Konzept des „Informationstraumas“ lässt sich die Vorhersage ableiten, dass ein kritisches Ereignis um so eher traumatisch wirken wird, je größer seine Distanz zu den Vorerwartungen der betroffenen Persönlichkeit ist. Aus verschiedenen Untersuchungen ist aber nun bekannt, dass Personen mit traumatischer Vorerfahrung leichter traumatisiert werden können als Personen ohne diese Vorerfahrung. Die kognitive Distanz zur „traumatischen Information“ als solche kann nicht ausschlaggebend sein, da das Trauma in gewissem Sinne sogar erwartet wird. Dieser Einwand wurde kürzlich von Brewin et al. (1996) erhoben. Hier bleiben also für das Konzept des „Informationstraumas“ einige kritische Fragen offen.

Unseres Erachtens spricht der Einwand zunächst für eine Längsschnittbetrachtung psychischer Traumatisierung, wie unser Verlaufsmodell sie vorschlägt. Trauma sollte nicht nur aktuell, sondern aus der Lebensgeschichte heraus verstanden werden. Dann zeigt sich oft, dass bereits die vorbestehende Traumatisierung nicht integriert werden konnte, sondern in einen → „traumatischen Prozess“ übergegangen ist. In diesem Fall wird das frühere Traumaschema durch eine zweite Erfahrung stimuliert, indem es die neue Erfahrung assimiliert. Alternativ hierzu oder auch parallel versagen die traumakompensatorischen Strategien. Die Ausdehnung der Traumaanalyse auf den Lebenslauf könnte die Hypothese des „Informationstraumas“ stützen, da sie ja jetzt an der primären traumatischen Erfahrung zu überprüfen wäre. Die spannende alternative Frage bleibt allerdings bestehen, ob eine wirklich verarbeitete traumatische Vorerfahrung nicht möglicherweise sogar eine „immunisierende“ Wirkung haben kann. An vereinzelten klinischen Erfahrungen könnten wir diese Annahme untermauern. Ergebnisse systematischer Forschung wären jedoch wünschenswert. In keinem Falle sollte das Konzept vom „Informationstrauma“ zu eng im Sinne der „Computer-Metapher“ verstanden werden (kritisch hierzu Howard Gardner 1985). Schließlich scheint es nützlich zu sein, „Informationstrauma“ pathogenetisch nicht nur als Voraussetzung, sondern auch als Ergebnis traumatischer Erfahrung zu sehen; nicht nur als Bedingung für Kontrollverlust und Hilflosigkeit, sondern in vielen Fällen als deren Folge.

Abschließend wollen wir den von Lindy angedeuteten pathogenetischen Mechanismus von der biologischen Metapher auf die psychosoziale Ebene übertragen. Es handelt sich dann um die „Funktionsumkehr“ eines Beziehungsschemas, das die Fähigkeit verliert, zwischen nützlichen und schädlichen Beziehungsangeboten zu unterscheiden und gleichzeitig noch die Grenzziehung zwischen Selbst und Außenwelt. Schädliche Einflüsse werden gezielt aufgegriffen und dem Selbst zugeschlagen, nützliche „Nährstoffe“ dagegen an die Umwelt abgegeben. Wie die „Traumamembran“ ist dieses → Schema durch die Umkehr seiner normalen Funktion gekennzeichnet. In Anlehnung an einen terminologischen Vorschlag von Bion (learning from experience), jedoch aus einem völlig anderen erkenntnistheoretischen Bezugssystem heraus wollen wir diese Variante eines Traumaschemas als → bizarres Schema bezeichnen. Bion (1962) spricht von einem „bizarren Objekt“, das gezielt aus sog. „Beta-Elementen“ zusammengesetzt sei, während die synthetisierende „Alpha-Funktion“ ausfällt oder gar in eine Art „Beta-Funktion“ verkehrt wird. Wir wollen hier in die Bionsche Terminologie nicht näher eintreten, die u. E. in mystifizierender Weise einige Aspekte traumatischer Erfahrung zum Ausdruck bringt, wie z. B. zusammenhanglose Sinneseindrücke, die sich einer synthetischen Symbolisierung entziehen oder auch widersetzen (vgl. Abschnitt 2.2). Bizarre Schemata arbeiten im Sinne einer falschen Synthesis. An die Stelle der Synthese von Subjekt und Objekt wie im Situationskreis-Modell tritt als Folge der traumatischen Erfahrung zum einen die schroffe Antithese von Subjekt- und Objektpol, im Falle des „bizarren Schemas“ aber zusätzlich noch die im Bild der Traumamembran beschriebene Funktionsumkehr. Ein klinisches Beispiel für diesen pathogenetischen Mechanismus ist das → Victimisierungssyndrom. Hier übernimmt das Opfer die Weltsicht des Täters, wertet sich ab und verurteilt sich, während es den Täter idealisiert und sich mit ihm identifiziert.

2.2.2 Zur Psychobiologie der peritraumatischen Erfahrung

Das pathogenetische Konzept des „Informationstraumas“ legt es nahe, auch die intrasomatische Teilstrecke von Rezeption und Motorik unter dem Gesichtspunkt der Informationsverarbeitung zu untersuchen. Es fördert die Verbindung von biologischer und psychosozialer Untersuchungsebene.

Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Umstand, dass die Enkodierung traumatischer Situationskonstellationen in einem → Zustand höchster affektiver Erregung erfolgt. Wie vor allem Untersuchungen zur zustandsabhängigen Erinnerung (state dependent recall) nahelegen, werden über die Vermittlung neurohormonaler und anderer biochemischer Prozesse die traumatischen Gedächtnisengramme an die Physiologie des jeweiligen Erregungszustands gekoppelt und können hernach oft nur in Verbindung mit diesem wieder abgerufen werden. Hierzu ist eine Unterscheidung zwischen einem „heißen“ und einem „kühlen“ zentralnervösen Gedächtnissystem vorgeschlagen worden (Metcalfe u. Jacobs 1996). Während das kühle, alltägliche Gedächtnis der Hippocampusregion des limbischen Systems zugeordnet wird und den Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität unterliegt, übt die Mandelkernregion (Amygdala) eine affektgeleitete Verstärkerfunktion aus: sie führt zur überwiegend sensorischen Speicherung der Reize im impliziten Gedächtnis entsprechend ihrer emotionalen Relevanz.

Die vital bedrohlichen, potenziell traumatischen Reize aktivieren u. a. die im Hypothalamus gelegenen Steuerungszentren des autonomen Nervensystems und führen zur Ausschüttung von Stresshormonen (Post et al. 1997). Dabei werden Hippocampusregion und cingulärer Cortex im extremen Erregungszustand eher gehemmt, so dass sie ihre Filterfunktion nicht länger erfüllen können.

Jetzt werden Wahrnehmungseindrücke nicht mehr kategorial erfasst und geordnet. Zusammenhanglose Sinnesfragmente, in denen olfaktorische (Gerüche), visuelle (Bildfragmente), akustische (Geräusche) und kinästhetische Eindrücke vorherrschen, treten an die Stelle geordneter Wahrnehmungsbilder. Diese Sinneseindrücke – die neurokognitiven Anteile des „Traumaschemas“ – bleiben über lange Zeit hinweg lebendig; sie scheinen im Gedächtnis wie „eingefroren“ zu sein. Werden sie erneut stimuliert, sei es über situative Reize oder das Wiederaufleben der peritraumatischen Stimmungslage, so kehren sie in intrusiven Erinnerungsbildern wieder, die oft über Jahre bis Jahrzehnte hinweg das gleiche Szenario wiederholen (Galley u. Hofmann 1998).

Der Charakter des Zeitlosen, Unveränderbaren dieser traumatischen Erinnerungsfragmente lässt sich hypothetisch darauf zurückführen, dass die Kategorisierung und Kontextualisierung der Sinneseindrücke misslingt, so dass lediglich akausale, zeit- und raumlose Erinnerungsfragmente reproduziert werden können.

Auch andere zentralnervöse Strukturen, die mit der Integration von emotionaler und kognitiver Information befasst sind, werden gegenwärtig auf evtl. Funktionsänderungen beim PTBS hin untersucht. So werden über den Balken (corpus callosum) Informationen der linken und rechten Hirnhemisphäre zusammengefasst und damit die Charakteristika des symbolischen, problemlösungsorientierten, analytischen (linkshemisphären) Denkens mit den ganzheitlichen Merkmalen von nonverbaler Kommunikation und Wahrnehmung (rechtshemisphärische Verarbeitung) zusammengeführt (Tab. 9). Ein Hinweis auf die Störung dieser Funktion zeichnet sich in Untersuchungen ab, die bei traumatischer Information eine ausgeprägte hemisphärische Lateralisation feststellen im Sinne einer erhöhten rechtsseitigen und einer verringerten Aktivität der linken Hemisphäre.

Mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) konnten Rauch et al. (1996) nachweisen, dass PTBS-Patienten, die experimentell mit ihrem individuellen Traumascript konfrontiert wurden, eine gesteigerte Aktivität in der rechten Hemisphäre zeigten, insbesondere in Amygdala, Insula und im medialen Temporallappen. Gleichzeitig wurde eine erhöhte Aktivität im rechten visuellen Cortex festgestellt. Die linke Hemisphäre hingegen, vor allem der linke inferiore Frontal-bereich, in dem sich das expressive Sprachzentrum (Broca-Zentrum) befindet, war vergleichsweise weniger aktiviert.

Diesen Befund kann man hypothetisch dahin interpretieren, dass die experimentell in die traumatische Situation zurückversetzten Versuchspersonen das Geschehen einerseits bildhaft wiederbelebten, andererseits aber weitgehend außerstande waren, es sprachlich zu fassen und mit ihrer persönlichen Lebensgeschichte in Verbindung zu bringen (Funktion der Broca-Zone). Der Befund entspricht weitgehend auch den häufigsten psychologischen Erfahrungsberichten von Traumapatienten, ihrem Zwang, die traumatische Situation quasihalluzinatorisch durchleben zu müssen, ohne sie in Worte fassen zu können, dem Ausgeliefertsein an einen bildhaft erlebten wortlosen Panikzustand (speechless terror). Prä-Post-Vergleiche nach einer Trauma-Psychotherapie (EMDR), die van der Kolk und Mitarbeiter (1997) durchführten, zeigen nach gelingender Therapie eine erhöhte Aktivität des cingulären Cortex, nicht aber eine Verringerung in der Aktivität des Amygdalum. Der Befund lässt sich hypothetisch dahin deuten, dass die traumatischen Eindrücke emotional zwar unverändert wirksam sind, jetzt jedoch zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und aktueller Bedrohung unterschieden werden kann. Dabei scheint die selektive Aktivierung des cortex cingularis für die Differenzierung zwischen internaler und externaler Information ausschlaggebend zu sein. Eine sprachlich-symbolische Fassung der traumatischen Erfahrung ist bei diesem Vorgang besonders hilfreich.

Tabelle 9: Eigenschaften der Hemisphären

Eigenschaften der rechten HemisphäreEigenschaften der linken Hemisphäre
•beteiligt an Ausdruck und Verständnis globaler nonverbaler und emotionaler Kommunikationsformen (Stimmgebung, Gesichtsausdruck, bildhafte Darstellung)•ganzheitliche Kodierung über verschiedene Sinnesmodalitäten hinweg•die entwicklungsbiologisch frühe Reifung der rechten Hemisphäre stimmt mit der Bedeutung emotionaler Kommunikationsformen beim Kleinkind überein•eine möglicherweise enge Beziehung zum Amygdalum, das die Auswertung unter dem Gesichtspunkt emotionaler Relevanz vornimmt: freundlich vs. feindlich, sicher vs. bedrohlich•lediglich rudimentäre Fähigkeiten zu Syntax, Rationalität und analytischem Denken•sequenzielle Verarbeitung von Informationen, operatives, problemlösendes Denken•erzeugt Worte und Symbole, die persönliche Erfahrungen in kulturell geteilte Bedeutungen übersetzen•Kategorisierung der Erfahrung durch Abstraktionsprozesse•Generativität, Erzeugen neuer Bedeutungen und Symbole

Auch wenn einige der erwähnten Forschungsergebnisse aus „Simulationsstudien“ stammen, wie dem Symptom-Provokations-Experiment von Rauch und Mitarbeitern, so können wir doch mit der gebotenen Vorsicht Rückschlüsse auf die peritraumatische Erfahrung ziehen. Sie ist aller Wahrscheinlichkeit nach in dem Sinne „dissoziativ“, dass sensorische Komponenten erlebt und gespeichert werden ohne Bezug zu ihrer semantischen Referenz oder nur in vagem Bezug zu ihr. Die peritraumatische Erfahrung besteht oft lediglich in visuellen, olfaktorischen, auditiven oder kinästhetischen Eindrücken. In der Erinnerung können diese Wahrnehmungsfragmente oft nicht mit der traumatischen Szenerie in Verbindung gebracht werden und sind in diesem Sinne „dekontextualisiert“, von ihrem situativen Kontext abgelöst. Dennoch geben sie Aspekte der traumatischen Situation wieder, die sich nachträglich in den situativen Kontext detailgetreu einreihen lassen. In vielen Fällen beginnt die „Dekontextualisierung“ schon unmittelbar in der traumatischen Situation. Erlebnisphänomene wie Derealisierung und Depersonalisierung scheinen jene Ablösung von der Situation gewissermaßen vorwegzunehmen, die hernach für die Erinnerung vieler Traumapatienten charakteristisch ist. Diese Phänomene deuten physiologisch einmal darauf hin, dass die zentralnervösen „Filter“ oder, wie sie salopp genannt werden: „Flaschenhalsstrukturen“ (Markowitsch 1996) in ihrer Differenzierungsfunktion blockiert sind. Sie könnten ihrem psychobiologischen Sinn nach aber auch so verstanden werden, dass ein physiologisch verankerter Abwehr-mechanismus die extreme Bedrohung und mögliche Destabilisierung des psychophysischen Selbst in der kritischen Situation verhindert. Im Modell des Situationskreises lassen sich einige Phänomene der peritraumatischen → Dissoziation als „innere Fluchttendenz“ deuten: als antizipierte Auswirkung der Motorik in der Rezeptionssphäre.

Das Konzept des „Informationstraumas“ führt unter physiologischen wie psychologischen Gesichtspunkten zu einem komplementären Ergebnis. Auf beiden Ebenen scheint die Integration der traumatischen Erfahrung in die vorhandenen Schemata des Selbst- und Weltverständnisses bzw. die funktionell-neuronalen Strukturen zu misslingen. Ungeklärt ist bislang allerdings die genaue Wechselwirkung zwischen diesen Phänomenen. So kann die physiologische Teilstrecke der Informationsverarbeitung als Voraussetzung für die psychologische gesehen werden. Wenn die zentralnervöse Blockade aufgehoben ist und der Kontakt zu den kategorisierenden Hirnstrukturen (wieder) zustande kommt, kann die psychologische Verarbeitung auf dieser Voraussetzung aufbauen. Andererseits stellen sich in der Psychotherapie und in natürlichen Verarbeitungsprozessen möglicherweise auch „Abwärtseffekte“ (vgl. Abbildung 2) ein in dem Sinne, dass die sprachliche Kategorisierung oder „Rekategorisierung“ der traumatischen Erfahrung physiologische Integrationsprozesse erleichtert.

Ein Verfahren, das möglicherweise auf beiden Ebenen, der psychischen und der physiologischen parallele Integrationsprozesse fördert, ist das sog. „Eye Movement Desensitization and Reprocessing“ (EMDR) nach Shapiro (1995) Eine bildhafte und verbale Verarbeitung des Traumas soll durch rhythmische laterale Stimulation gefördert werden. Eine Hypothese zur Wirkungsweise besteht in der Annahme, dass laterale Stimulation, z. B. rhythmische seitliche Augenbewegungen, der traumabedingten Lateralisation entgegenwirkt und die Zusammenführung von links- und rechtshemisphärischer Information unterstützt.

2.3 Fassen des Unfasslichen – die traumatische Reaktion

Wir haben im vorigen Abschnitt versucht, das peritraumatische Erleben, die unmittelbare Erfahrung einer traumatischen Situation mit Hilfe des Situationskreis-Modells in ihrem psychobiologischen Funktionszusammenhang zu verstehen. Im Folgenden wenden wir uns dem postexpositorischen Zeitraum zu, den man auch als Einwirkungsphase der traumatischen Erfahrung bezeichnen kann. Die akute Bedrohung ist zwar vorüber, doch die Betroffenen stehen noch lange Zeit unter der Einwirkung des traumatischen Erlebnisses.

Die → traumatische Reaktion kann man analog etwa zur „Immunreaktion“ als einen komplexen Abwehrvorgang verstehen, in dem der psychophysische Organismus versucht, einen eingedrungenen Fremdkörper bzw. eingedrungene Mikroorganismen entweder zu vernichten und auszuscheiden oder aber zu assimilieren. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, mit dem „Trauma“ als nicht assimilierbarem innerem „Fremdkörper“ weiter zu leben – eine Situation, die für Phase 3 im Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung, den traumatischen Prozess charakteristisch ist. Diese somatischen Metaphern können den Überblick über das komplexe psychophysische Traumageschehen erleichtern.

Einige Charakteristika der postexpositorischen → traumatischen Reaktion lassen sich aus den Überlegungen des vorigen Abschnitts ableiten. Die traumatische Erfahrung hat zu Ausnahmezuständen geführt, die von der Normalverfassung des Subjekts abgespalten oder dissoziiert sind. Diese können auch in der Einwirkungsphase fortbestehen. Solche Ausnahmezustände wurden in der Geschichte der Psychotraumatologie bisweilen als „hypnoid“ (schlafähnlich) oder tranceartig bezeichnet. In diesen werden Bruchstücke der traumatischen Erfahrung wiedererlebt. Piérre Janet sah dissoziierte Erlebniszustände oder Stimmungslagen als zentrale Traumafolge an (van der Kolk et al. 1989), während Freud sich später von der Zustandstheorie der Traumafolgen abwandte und sich der Ausarbeitung seiner Abwehrlehre widmete. Beide Zugangsweisen erscheinen aber nicht unvereinbar. Ein Pionier der Traumaforschung, dem es gelingt, die Abwehrlehre und Zustandstheorie miteinander zu verbinden, ist der nordamerikanische Psychoanalytiker Mardi Horowitz, dessen Konzept der traumatischen Reaktion im Folgenden dargestellt wird.

Nach Horowitz durchläuft die post-expositorische Reaktion mehrere Phasen, die jeweils nach einer normalen und einer pathologischen Variante unterschieden werden können. Die normale Reaktion bezeichnet Horowitz als „stress response“, die pathologische Variante stellt die traumatische Reaktion im engeren Sinne dar:

1.Die peri-traumatische Expositionsphase. Die normale Antwort sind Aufschrei, Angst, Trauer und Wutreaktionen. Der pathologische → Erlebniszustand ist gekennzeichnet durch Überflutung von den überwältigenden Eindrücken. Die betroffene Persönlichkeit wird von der unmittelbaren emotionalen Reaktion überschwemmt und befindet sich manchmal noch lange Zeit über in einem Zustand von Panik bzw. Erschöpfung, der aus den eskalierenden emotionalen Reaktionen entsteht.

2.Verleugnungsphase (bzw. -zustand). Die Betroffenen wehren sich gegen Erinnerungen an die traumatische Situation. Pathologische Variante: Extremes Vermeidungsverhalten, evtl. unterstützt durch Gebrauch von Drogen und Medikamenten, um den seelischen Schmerz nicht erleben zu müssen.

3.Phase (bzw. Zustand): Eindringen von Gedanken oder Erinnerungsbildern. Pathologische Variante: Erlebniszustände mit ständig sich aufdrängenden Gedanken und Erinnerungsbildern vom Trauma (intrusive Phänomene des PTBS).

4.Phase bzw. Erlebniszustand: Durcharbeiten. Hier setzen sich die Betroffenen mit den traumatischen Ereignissen und ihrer persönlichen Reaktion auseinander.

5.Relativer Abschluss (completion). Ein Kriterium ist die Fähigkeit, die traumatische Situation in ihren wichtigsten Bestandteilen erinnern zu können, ohne zwanghaft daran denken zu müssen.

Die pathologischen Varianten zu den Phasen 4 und 5 sind „frozen states“: erstarrte Zustände mit psychosomatischen Symptomen, wie körperlichen Missempfindungen verschiedener Art und Verlust der Hoffnung, die traumatische Erfahrung durcharbeiten und abschließen zu können; ferner Charakterveränderungen als Versuch, mit der subjektiv nicht zu bewältigenden traumatischen Erfahrung zu leben. Ausgedehnte Vermeidungshaltungen gehen mit der Zeit in phobische Charakterzüge über. Als ein allgemeines Merkmal traumabedingter Charakterveränderung kann die Störung von Arbeits- und Liebesfähigkeit angesehen werden.

Die bahnbrechende Arbeit von Horowitz zur Stress- und Traumatheorie „Stress response syndroms“ erschien zum ersten Mal im Jahre 1976. Sie kann als eine Pionierarbeit gelten, die dazu beigetragen hat, dass psychotraumatologische Syndrome wie die PTSD in das diagnostische Manual der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft Eingang fanden. Die Psychotraumatologie verdankt Horowitz zudem die Entdeckung des biphasischen Charakters der traumatischen Reaktion als eines zentralen psychobiologischen Verarbeitungsmechanismus.

Es handelt sich um den regelhaft wiederkehrenden Wechsel von Intrusion (Eindringen) und Verleugnung der traumatischen Erinnerungsbilder. Dieser zweiphasische Charakter der traumatischen Reaktion steht nach Horowitz im Dienste einer Tendenz zur Erledigung unvollendeter Handlungen (completion tendency, → Vollendungstendenz), die in der Psychologie auch experimentell untersucht wurde. Ein Beispiel sind die Experimente zum so genannten „Zeigarnik-Effekt“. Zeigarnik konnte zeigen, dass künstlich unterbrochene Handlungen bevorzugt wieder aufgenommen werden, sobald die Versuchspersonen Gelegenheit dazu finden. Begriffe, die mit diesen unerledigten Handlungen assoziiert waren, wurden in einem Gedächtnistest weit häufiger erinnert als solche aus anderen Assoziationsfeldern.

Die „completion tendency“ als Tendenz zur Wiederaufnahme und Vollendung unterbrochener Handlungen hat in der Wahrnehmungspsychologie eine Entsprechung in der Tendenz zur „guten Gestalt“. Auch der von Freud beschriebene „Wiederholungszwang“ folgt in seinem positiven, zukunftsgerichteten Aspekt der → Vollendungstendenz und lässt sich als Versuch verstehen, unbewältigte lebensgeschichtliche Erfahrungen zu einem Abschluss, einer relativen Vollendung zu bringen. Nach Piaget folgen die sensomotorischen Schemata einer Tendenz zur Selbstbetätigung durch Wiederholung, die er als Tendenz zur „reproduzierenden Assimilation“ bezeichnet. Vom Situationskreismodell her ist anzunehmen, dass immer neue Zyklen der hypothetischen Bedeutungsunterstellung und Bedeutungserprobung durchlaufen werden, um den unassimilierbaren Fremdkörper, den die traumatische Erfahrung bildet, in den semantischen Deutungsbestand oder das schematische Wissen der Persönlichkeit integrieren zu können.

Da die traumatische Erfahrung auf einem vital bedeutsamen Diskrepanzerlebnis beruht, kann sie vom psychischen System nicht auf Dauer ignoriert und gewissermaßen beiseite geschoben werden. Die Verleugnungsversuche des „denial state of mind“ sind langfristig zum Scheitern verurteilt.

Horowitz nimmt an, dass vital bedeutsame unerledigte Handlungen vom Typus des Traumas in einer Art Arbeitsgedächtnis (working memory) gespeichert werden, das gegenüber den alltäglichen Agenda und deren kognitiver Verarbeitung eine „Vorzugsschaltung“ genießt. Sobald die äußeren Verhältnisse und die kognitive Kapazität dies gestatten, dringen die Agenda des „working memory“ in die Bewusstseinssphäre, gleichsam in den „Arbeitsspeicher“ des psychischen Systems vor. Dabei handelt es sich um einen dynamischen, konflikthaften Vorgang mit instabilem Gleichgewicht. Personen beispielsweise, deren Traumaverarbeitungsprozess im Erlebniszustand der Verleugnung und Vermeidung fixiert ist, müssen mit der Zeit zu immer stärkeren Mitteln greifen, um den Eintritt der traumatischen Agenda in die Bewusstseinssphäre zu verhindern. Der Traumaverarbeitungsprozess ist hier pathologisch entgleist. Im günstigen Falle aber können im biphasischen Wechsel von Verleugnung und Intrusion die Agenda des „working memory“ schrittweise aufgearbeitet werden. Die (kognitiv-emotionalen) Schemata des bisherigen Selbst- und Weltverständnisses müssen dabei in einem oft langwierigen Prozess so lange modifiziert werden, bis die traumatische Erfahrung in den überdauernden schematischen Wissensbestand der Persönlichkeit integriert ist und der Verarbeitungszyklus zu einem relativen Abschluss kommt.

Abbildung 5 gibt eine Übersicht über den Zyklus der Traumaverarbeitung im post-expositorischen Zeitraum. Die Quadranten I bis IV entsprechen den Phasen der traumatischen Reaktion bzw. den zeitlich überdauernden Erlebniszuständen, die bei einer Fixierung dieser Phasen zu erwarten sind. Wir beginnen von links mit Quadrant I. Dieser entspricht der peritraumatischen Erlebnissituation mit Aufschrei bzw. Reizüberflutung. Hier setzt ein erster Abwehrversuch ein mit dem Ziel, die überschießenden Affekte zu kontrollieren oder zu modulieren. Dieser leitet über zur Vermeidungs- bzw. Verleugnungsphase (Quadrant II). Wird diese Phase fixiert, so kommt es zu Gefühlsabstumpfung (→ numbing) oder einer allgemeinen Erstarrung der Persönlichkeit, bedingt durch übermäßige Abwehr im Sinne einer pathologischen Übermodulation der vorausgehenden oder drohenden Reizüberflutung.

Bei Lockerung der Abwehr oder einer dispositionellen Abwehrschwäche kommt es zum Übergang in die Intrusionsphase bzw. den Intrusionszustand mit sich aufdrängenden Vorstellungsbildern, Gedanken und Körperempfindungen, die assoziativ mit der traumatischen Situation vernetzt sind (Quadrant III). Ein funktionsfähiges Kontrollsystem aus → Coping- bzw. → Abwehrmechanismen kann verhindern, dass sich die Intrusionsphase in einen Zustand dauerhafter pathologischer Reizüberflutung verwandelt. Die Rückkopplungsschleife deutet in der Graphik den für die Traumareaktion und das PTBS charakteristischen biphasischen Wechsel von Verleugnung und Intrusion an. Das Durcharbeiten traumatischer Agenda wird möglich, wenn die Fähigkeit zur Selbstberuhigung so weit gestärkt ist, dass ein kontrolliertes Wiedererleben der traumatischen Situation möglich wird. Jetzt kann der in den kognitiv-emotionalen Schemata der Persönlichkeit organisierte Wissensbestand so weit umgearbeitet werden, dass die traumatische Erfahrung integriert wird. Die erschütterten Annahmen des Selbst- und Weltverständnisses werden in mühsamen Schritten qualitativ neu wieder aufgebaut.


Abbildung 5: Übersicht über die biphasische Reaktion und den Zyklus der Traumaverarbeitung

Gegenüber dem Modell der traumatischen Reaktion nach Horowitz wurde kritisch eingewandt, dass nach der peritraumatischen Erfahrung, dem „Aufschrei“, nicht immer eine Phase der Verleugnung, sondern bisweilen intrusive Reizüberflutung zu beobachten sei (so etwa Brewin et al. 1996). Unseres Erachtens liegt hier ein Missverständnis vor. Die Phasenfolge entspricht einer erwartbaren Sequenz, die sich aus dem Streben des Organismus ergibt, anhaltende Panikzustände zu vermeiden und sie mit den verfügbaren Abwehrkräften zu beenden. Dass dieses Bestreben im Einzelfall scheitern kann aus Gründen, die in der Persönlichkeit liegen (z. B. Abwehrschwäche) oder in spezifischen Situationsfaktoren (etwa untergründiges Fortbestehen der traumatischen Situation), stellt keinen prinzipiellen Einwand gegen die Phasenfolge dar. Das Modell ist im Gegenteil klinisch insofern nützlich, als es dazu anhält, bei Abweichungen vom erwartbaren Verlauf nach Gründen zu forschen, die dafür verantwortlich sind.

Das basale PTBS, wie es in DSM und ICD formuliert ist, erweist sich von der Dynamik der Traumareaktion her als Spezialfall des Verlaufsprozesses. Hier werden die Quadranten II und III gleichzeitig fixiert und weisen beide gleichzeitig pathologische Über- bzw. Untermodulationen auf. Symptombilder, die manifest nur durch eine der beiden Phasen bestimmt sind, fallen aus dem diagnostischen Algorithmus des PTSD bislang heraus, obwohl sie zweifellos zum Traumaspektrum gehören. Daher sollte sich auch die psychotraumatologische → Diagnostik an der dynamischen Gestalt der Traumareaktion sowie der übergreifenden Verlaufsgestalt von Situation, Reaktion und Prozess traumatischer Erlebnisverarbeitung orientieren.

Das biphasische Modell der traumatischen Reaktion mit seiner Schaukelbewegung von Intrusion und Verleugnung lässt Mechanismen erkennen, mit denen das überforderte bzw. verletzte biopsychische System die Beeinträchtigung zu überwinden versucht. In körperbezogener Analogie ausgedrückt, stellt es einen „Wundheilungsmechanismus“ der verletzten Psyche dar. Wie das Situationskreismodell in Bezug auf das peritraumatische Erleben eröffnet es einen ersten Zugang zum psychobiologischen Sinn verschiedener psychotraumatologischer Symptome und Syndrome. Diese lassen sich als „Entgleisung“ von Phasen eines natürlichen Selbstheilungsprozesses oder als Fixierung dieser Phasen verstehen.

Der Verarbeitungszyklus kann in jeder Phase entgleisen oder „einfrieren“. Unter welchen näheren Bedingungen dies geschieht, ist eine interessante, bislang unbeantwortete Forschungsfrage. Einer Fixierung z. B. in Phase II, die einer generellen Abstumpfung mit „frozen states“ und psychosomatischer Symptomatik entspricht, kann ein positiver Rückkopplungskreis zwischen verzerrter Erinnerung an die traumatische Situation und Abwehr zugrunde liegen. Je unzugänglicher die Erinnerung ist, desto bedrohlicher wird sie erlebt, desto wichtiger wird zugleich die Abwehrform der Erinnerungs- und Affektvermeidung. Das therapeutische Vorgehen sollte dann gezielt auf die Unterbrechung und Auflösung solcher Regelkreise gerichtet sein.

Eine andere Form der Stagnation im Verarbeitungszyklus kann sich daraus ergeben, dass die traumatische Situation unterschwellig fortbesteht. Dies ist bei vielen Betroffenen mit einer Victimisierungserfahrung der Fall. Unser → Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung geht von der Annahme aus, dass der Prozess der Traumaverarbeitung besonders in diesen Fällen auch sozialer Natur ist. Wird den Opfern nicht jene Anerkennung und Unterstützung zuteil, die von ihrem Gerechtigkeitsempfinden her angebracht erscheint, so kann sich das erschütterte Selbst- und Weltverständnis nicht regenerieren. Das Trauma bleibt „unfasslich“. Die Betroffenen fühlen sich fremd in einer sozialen Welt, die das Unrecht, das ihnen widerfuhr als solches nicht anerkennt. Auch durch – äußerlich betrachtet – geringe „Dosen“ von Retraumatisierung kann der Erholungsprozess unterbrochen werden. Die Betroffenen verlieren dann die Hoffnung auf einen relativen Abschluss des Verarbeitungszyklus und eine Restitution ihres erschütterten Weltverständnisses. In diesem Falle geht die traumatische Reaktion, entsprechend unserem Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung, in die dritte Phase über, den traumatischen Prozess (im Folgenden Kapitel).

Allgemein sind 3 unterschiedliche Ausgänge der postexpositorischen Reaktion denkbar: A) deren Abschluss im Sinne der „completion-tendency“, B) vorzeitige Unterbrechung des Verarbeitungsprozesses oder C) chronisches Fortbestehen der traumatischen Reaktion. Im ersten Fall ist es der Persönlichkeit gelungen, die traumatische Erfahrung mit ihrem Selbst- und Weltverständnis in Einklang zu bringen. Es besteht keine Neigung mehr, in unrealistischer Weise Schuld zuzuschreiben oder eine Wiederkehr des Traumas zu erwarten. Es bestehen keine Erinnerungsverzerrungen oder Abwehrprozesse. Reizkonstellationen, die an das Trauma erinnern oder traumabezogene Stimmungslagen können zugelassen und in ihrer Bedeutung erkannt werden. Personen, die ihre traumatische Erfahrung erfolgreich durchgearbeitet haben, sprechen mit adäquatem Affekt (z. B. Empörung) von den Erlebnissen und sind in der Lage, einen vollständigen Bericht zu geben.

Personen (B), die den Verarbeitungsprozess vorzeitig unterbrechen, zeigen zwar nach einiger Zeit keine Symptome mehr, bleiben aber untergründig mit der traumatischen Erfahrung beschäftigt. Sie zeigen Erinnerungsverzerrungen und reagieren auf traumabezogene Reizkonstellationen mit Schrecken und intensivem Vermeidungsverhalten. Eine erhöhte Somatisierungsneigung ist charakteristisch. Zu den disponierenden Faktoren gehören u. a. eine verstärkte Tendenz zu Verleugnung und Verdrängung, eine unrealistisch optimistische Weltsicht (Myers u. Brewin 1994; 1995) sowie ausgeprägte dissoziative Neigungen. In Abhängigkeit von sehr unterschiedlichen traumatischen Situationen und dem Lebensalter bei der traumatischen Erfahrung ergeben sich zahlreiche „vorzeitig beendete“ Verläufe und entsprechende Varianten des traumatischen Prozesses, den wir im Folgenden Abschnitt näher untersuchen werden.

Chronisches Fortbestehen der traumatischen Reaktion (C) ist vor allem nach Extremtraumatisierung zu beobachten und entspricht dem chronischen und dem → komplexen PTBS.

Lehrbuch der Psychotraumatologie

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