Читать книгу CHANGE! - Graeme Maxton - Страница 8
ОглавлениеTeil 1
DAS PROBLEM
»Eine enorme Bastion aus Vorurteilen, Privilegien, Lügen, Missbrauch, Gewalt, Ungleichheit und Dunkelheit steht in dieser Welt, mit Türmen aus Hass. Sie muss fallen. Diese monströse Masse muss zerbröckeln.«
V ICTOR HUGO, LES MISÉRABLES (ADAPTIERT)
Ein Buch für gestern, heute und morgen
Es gibt nur wenige Bücher, die an Bedeutung gewinnen, je älter sie werden. Und nahezu keines hat Zukunftsszenarien entwickelt, die sich 50 Jahre später als richtig erweisen würden.
Diese Geschichte beginnt mit einem dieser wenigen Bücher.
Es wurde 1972 von einem wissenschaftlichen Team am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston veröffentlicht und befasste sich mit zukünftigen Wegen für die Menschheit. Um zu verstehen, wie die Zukunft aussehen könnte, wählte das Team fünf Langzeittrends zur Analyse aus: Bevölkerung, Nahrungsmittelproduktion, Industrieproduktion, Nutzung nicht erneuerbarer Ressourcen und Umweltverschmutzung. Ausgehend von einer Grundannahme, die das Team als »Standard Run« beziehungsweise Standardszenario bezeichnete, analysierte es die komplexen Wechselbeziehungen zwischen den Variablen, um ihre Folgen für die menschliche Entwicklung zu verstehen. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Wissenschaftler in ihrem Buch Die Grenzen des Wachstums.
Die Grenzen des Wachstums – Standardszenario, Weltmodell »World 3«3
Die Grafik veranschaulicht das Standardszenario. Sie zeigt, wie sich die Menschheit entwickeln würde, wenn Bevölkerungswachstum, Nahrungsmittelproduktion, Industrieproduktion, Verschmutzung und Nutzung nicht erneuerbarer Ressourcen ihren jeweiligen Kurs unverändert beibehalten.
Das Ergebnis dieses Szenarios war erschütternd: Wenn wir nichts ändern, wird die menschliche Zivilisation zusammenbrechen, so das Fazit. Mit zunehmender Bevölkerung und Industrieproduktion würde die Verfügbarkeit nicht erneuerbarer Ressourcen sinken und der Verschmutzungsgrad der Umwelt steigen. Das ganze System würde aufgrund höherer Ressourcenkosten und größerer Verschmutzung instabil werden. Die Industrieproduktion würde dann sinken und die menschliche Bevölkerung schrumpfen.
Noch erschreckender war, dass in praktisch jedem untersuchten Szenario dasselbe geschah. Wenn das Team die Annahme zugrunde legte, dass natürliche Ressourcen unbegrenzt verfügbar und die Verschmutzung unter Kontrolle sei, kam es ebenfalls zum Kollaps. Diesmal war die Ursache die begrenzte Verfügbarkeit von landwirtschaftlichen Flächen. Die Nahrungsmittelproduktion würde nicht ausreichen, um die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren. Wurden dem Szenario unbegrenzte Ressourcen, kontrollierte Verschmutzung und doppelt so hohe landwirtschaftliche Produktivität zugrunde gelegt, brach das System ebenfalls zusammen. In diesem Fall lag es an der wachsenden Bevölkerung, welche die Industrieproduktion derart ansteigen ließ, dass die Verschmutzung nicht mehr kontrollierbar war. Wenn das Team das Modell mit nur sehr geringem Bevölkerungswachstum testete, kam es ebenfalls zum Kollaps. Es dauerte bloß ein paar Jahrzehnte länger. Im Szenario unbegrenzte Ressourcen, viel Recycling, doppelte Nahrungsmittelproduktion und minimales Bevölkerungswachstum brach das System ebenso zusammen. Die steigende Verschmutzung führte zu einer höheren Sterblichkeit und damit zu einer Krise. Auch bei konstanter Bevölkerung brach das System letztendlich zusammen.
Die einzigen Szenarien, die nicht zum Kollaps führten, waren jene, bei denen alle Faktoren stabilisiert wurden – Bevölkerung, Rohstoffnutzung und Industrieproduktion. Nur wenn diese annähernd auf dem Niveau der 1970er-Jahre gehalten wurden, blieb das System langfristig stabil. Aber auch in diesem Fall müsste man die Luftverschmutzung drastisch reduzieren, die Produkte für eine längere Nutzungsdauer konzipieren und die Nahrungsmittelproduktion reformieren.
In einer Zeit, als der Mensch gerade seinen ersten Schritt auf den Mond getan hatte und es so schien, als gäbe es keine Grenzen mehr für das, was der Mensch erreichen kann, warnte das Team am MIT vor einer drohenden Krise. Die menschliche Entwicklung würde zum Stillstand kommen, so ihre mahnenden Worte, falls wir uns wirtschaftlich und ökologisch nicht einbremsen. Die Grenzen der Nachhaltigkeit würden gesprengt werden. Das Team beschrieb auch, wie eng die Variablen zusammenhängen und dass komplexe Rückkopplungsprozesse, die oftmals erst mit Verzögerung greifen, nicht durch Technologie verändert werden können. Ein Mensch kann sich erst ab einem gewissen Alter fortpflanzen. Kapital und Bodennutzung können nicht einfach verlagert werden, um neue Bedürfnisse zu decken. Es dauert lange, bevor eine zunehmende Umweltverschmutzung messbare Folgen für die menschliche Gesundheit hat.
»Wer glaubt, dass exponentielles Wachstum in einer begrenzten Welt unbegrenzt fortgesetzt werden kann, ist entweder verrückt oder Wirtschaftswissenschaftler. «
Kenneth Boulding, Wirtschaftswissenschaftler
Aus ihrem Modell ging auch hervor, dass ein Zusammenbruch nicht schnell eintreten würde, zumindest nicht schnell im Sinne eines durchschnittlichen menschlichen Lebens. Niemand würde eines Tages aufwachen und feststellen, dass die Wirtschaft des Landes über Nacht ins Chaos gestürzt wäre. Das System würde nicht in sechs Monaten und auch nicht in sechs Jahren zusammenbrechen. Der Prozess würde sich über Jahrzehnte hinziehen. Im Standardmodell trat der große Wendepunkt – an dem das Wachstum zum Stillstand kam und sich deutlich zurückzubilden begann – Mitte der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts ein, zwischen 2030 und 2040. Doch die Folgen des Zusammenbruchs würden bereits Jahrzehnte vorher und Jahrzehnte danach deutlich zu erkennen sein.
Denn große Umbrüche treten in der Geschichte der Menschheit nie plötzlich auf, auch wenn die Jahreszahlen der Geschichtsbücher vielleicht etwas anderes nahelegen. Es dauert lang, bis sich so viel Druck aufgebaut hat, dass Veränderungen als unausweichlich erkannt werden. Gesellschaftliche Entwicklungen schreiten langfristig voran, wirken sich oft erst mit Verzögerungen aus und sind komplexen Rückkopplungsprozessen unterworfen. Große Veränderungen können sich über Generationen hinziehen, mitunter auch länger, siehe einige der großen Wendepunkte in der Geschichte der Menschheit: Untergang des Römischen Reichs, Französische Revolution, Erster Weltkrieg, Zerfall der Sowjetunion. Die Stürme, die zu diesen historischen Umbrüchen führten, waren Jahrzehnte im Voraus bereits erkennbar, und ihre Folgen waren viele Jahrzehnte danach noch spürbar.
Warum ein Zusammenbruch so schwer zu erkennen ist
Das vergleichsweise langsame Tempo, in dem Veränderungen in komplexen Systemen stattfinden, macht es für die Betroffenen sehr schwer zu begreifen, was da passiert. Die Veränderungen scheinen so allmählich zu erfolgen, zumindest in Menschenleben gemessen, dass sie als normal empfunden und nicht erkannt werden. Und wenn diese Erkenntnis fehlt, lässt sich ein Zusammenbruch nur schwer aufhalten oder gar umkehren. Auch wenn letztlich doch ausreichend viele Menschen die Problematik erkennen, fällt es sogar diesen extrem schwer, die wahre Dimension der notwendigen Gegenmaßnahmen zu erfassen und zu verstehen, wie lange es dauert, bis ihre Handlungen tatsächlich etwas bewirken, und wie lange diese Handlungen durchgezogen werden müssen. Noch schwieriger ist es in der Regel, andere davon zu überzeugen, dass eine Veränderung notwendig ist. Denn die meisten Menschen denken kurzfristig. Ihnen fehlt das Wissen beziehungsweise die Erfahrung, um zu verstehen, welche Kräfte in komplexen Systemen langfristige Veränderungen bewirken.
Seit der Veröffentlichung vor 50 Jahren hat das wissenschaftliche Team die Daten rund um die Grenzen des Wachstums regelmäßig neu geprüft, so, wie auch viele anderen Experten. Manches musste berichtigt werden, aber im Wesentlichen haben sich die Zukunftsszenarien des Standardmodells als korrekt erwiesen. Bevölkerung, Ressourcennutzung, Industrieproduktion, Nahrungsmittel und Verschmutzung: Alle haben sich in den letzten 50 Jahren nahezu exakt so entwickelt wie in den Analysen des MIT-Teams vorhergesagt. Das Gros der Menschheit ist sich dessen zwar nicht bewusst, aber wir befinden uns mitten in einer schweren Krise, angetrieben von mächtigen, langfristigen sozialen und ökologischen Kräften, die extrem schwer zu verstehen und noch schwieriger zu kontrollieren sind.
Das sichtbarste Zeichen des beginnenden Zusammenbruchs ist der Klimawandel. Dieser ist bereits viel weiter fortgeschritten – und wesentlich weniger leicht reversibel –, als den meisten klar ist. Es gibt aber auch viele andere Anzeichen dafür, dass der Menschheit eine große Krise droht. Das Migrationsproblem zum Beispiel. Menschen verlassen aufgrund von wirtschaftlichen Strukturproblemen und den Auswirkungen des Klimawandels ihre Heimat. Das zunehmende Artensterben ist ein weiterer Indikator, ebenso die weitverbreitete Verschmutzung der Meere. Oder die steigende Anzahl bewaffneter Konflikte im Kampf um Bodenschätze. Der wachsende politische Extremismus und Populismus. Immer größere Ungleichheit.
Wie ich noch erklären werde, haben all diese Probleme dieselben Ursachen. Sie sind alle eine Folge davon, dass wir wirtschaftlich und ökologisch viel zu lang nicht vom Gaspedal gestiegen sind. Das sind keine Lämpchen, die am Dashboard rot aufleuchten, um uns zu warnen, dass wir mal halblang machen müssen. Sie sind vielmehr Anzeichen für ein System, das im Zerfall begriffen ist.
Dass jene Menschen, denen wir die Geschicke unserer Gesellschaft anvertraut haben, den Wissenschaftlern am MIT 1972 kein Gehör schenkten, ist jammerschade, geradezu fatal. Hätten sie auf sie gehört und gehandelt, wären wir vielleicht in der Lage gewesen, ein systemisches Problem zu verhindern, aus dem wir uns mittlerweile auf Jahrzehnte hinaus kaum werden befreien, egal, was wir tun. Hätte die Menschheit vor 50 Jahren das Entwicklungstempo deutlich gedrosselt, wäre ein jahrhundertelanger gedeihlicher Fortschritt machbar gewesen. Jetzt ist das nicht mehr möglich.
Für nachhaltige Entwicklung ist es zu spät
Da der Zusammenbruch bereits relativ weit fortgeschritten ist, lassen sich viele der gravierenden Folgen, die uns bevorstehen, mit keiner Maßnahme der Welt mehr verhindern. Das trifft ganz besonders auf den Klimawandel zu. Auch wenn die gesamte Welt morgen schon aufhören würde, Treibhausgase zu produzieren, würde die Temperatur auf der Erde unaufhörlich weiter steigen, und es würde Jahrhunderte dauern, bis die CO2-Konzentration in der Atmosphäre wieder auf ihr vorindustrielles Niveau gesunken wäre.
Statt den Zusammenbruch zu verhindern, wie dies 1972 noch möglich gewesen wäre, geht es heute darum – und das ist die große Herausforderung –, den Zusammenbruch in kontrollierbare Bahnen zu lenken und seine langfristigen Folgen zu reduzieren. Nichts davon geschieht. Die Menschheit steuert geradewegs und immer schneller auf eine noch viel schlimmere Krise zu, die ihr langfristiges Überleben ernsthaft infrage stellt.
Eine schwierigere Zukunft zu verhindern wird nicht einfach werden. Das Problem zu lösen ist jetzt so dringlich, dass wir es nicht mehr unseren Kindern und Enkeln überlassen können. Bis dahin wäre es nämlich schon zu spät. Ob die Menschheit auch nur in annähernd ähnlicher Form wie jetzt überleben kann, hängt davon ab, was wir in den nächsten 20 Jahren tun. Mehr Zeit bleibt uns nicht. Nur 20 Jahre haben wir noch Zeit, um die destruktiven Elemente unserer Wirtschaftssysteme abzubauen und darüber nachzudenken, wie wir eine beständigere Zivilisation aufbauen können.
Da die Menschheit so lange nicht erkannt hat, was wir mit der Erde anrichten, und da wir bereits so viel Zeit verloren haben, müssen wir weitaus radikalere Maßnahmen ergreifen, als den meisten lieb ist. Diese Veränderungen werden viel kosten und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der reichen Welt schmälern, zumindest für eine gewisse Zeit. Wenn wir jedoch zögern oder die nötige Wende nicht radikal vollziehen, werden wir einen noch höheren Preis zahlen, und die meisten heute lebenden Menschen wären einer trostlosen Zukunft ausgeliefert, die sie auch mit größter Anstrengung nicht mehr ändern können.
Das ist das Problem. Im zweiten Teil werde ich genau erklären, was geschieht, wenn wir nichts ändern.