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2Deutschland im »Jahre Null«

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NACH DEM KRIEG ging es in der Familie meines Vaters nie um Politik, Diskussionen am Tisch waren eher selten: Die Kinder durften nur sprechen, wenn man ihnen ausdrücklich das Wort erteilte, und taten sie es doch, mussten sie damit rechnen, die Hucke vollzubekommen, da Karl eine autoritäre Vorstellung von Vaterschaft besaß.

In der apokalyptischen Atmosphäre Nachkriegsdeutschlands hatte nicht die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Priorität, es ging vielmehr darum, so schnell wie möglich ein neues Leben aufzubauen und zu organisieren. Die Familie Schwarz lebte in einer Dreizimmerwohnung in der ersten Etage eines kleinen Mietshauses, das 1902 vom Vater meiner Großmutter errichtet worden war, einem Tischler, der es 1935 seiner Tochter hinterlassen hatte, da sie die einzige Überlebende seiner neun Kinder war. Die Chamissostraße war hart von den alliierten Bombenangriffen getroffen worden, doch wie durch ein Wunder hatte das dort gelegene Wohnhaus das Schlimmste überstanden, während die Gebäude der gegenüberliegenden Straßenseite zu einer Ruinenwüste zertrümmert worden waren. Diese urbane Entstellung empfanden einige dennoch als Glück: »Das war für uns Kinder ein Terrain unglaublicher Abenteuer, wir konnten laufen, springen, klettern, uns verstecken und haufenweise Schätze entdecken«, erinnert sich mein Vater.

Während des gesamten Krieges waren Mannheim und seine Nachbarstadt Ludwigshafen, beide am Zusammenfluss von Rhein und Neckar gelegen, häufiger als jede andere Stadt dieser Gegend Ziel der Angriffe – insgesamt 304 –, was ihrer Infrastruktur als Hafenstädte, ihren industriellen Zentren für Maschinenbau und Elektronik sowie ihrer chemischen und pharmazeutischen Produktion geschuldet war. In Wirklichkeit aber hatten die Briten, gemessen an der Anzahl ihrer Luftangriffe, insbesondere die Wohngebiete ins Visier genommen, die am dichtesten besiedelt waren. Mannheim schien ihnen bestens geeignet gewesen zu sein, um eine Bombardierungstechnik zu testen, die man Carpet bombing oder Flächenbombardement nannte und deren Zweck, wie es der Name besagt, darin bestand, eine urbane Fläche so weit zu schleifen, bis sie einem Teppich glich. Die Stadt schien für dieses Experiment aufgrund der Einteilung ihres Zentrums in Karrees wie geschaffen, da diese eine genaue Auswertung der Explosionsfolgen mithilfe von Luftaufnahmen ermöglichte. Zum Glück meiner Großeltern lag ihr Mietshaus vom Stadtzentrum leicht abgelegen. Einige der Bomben hatten jedoch eine so große Sprengwirkung, dass ihre Detonationen Wohngebiete im Umkreis von mehreren Kilometern beschädigen konnten – Schäden, die mein Großvater nach und nach peinlich genau den deutschen Obrigkeiten vorlegte, um entsprechende Wiedergutmachung zu erhalten.

Mein Vater und ich sind die Akten durchgegangen, die Opa sein ganzes Leben lang sorgsam im Keller aufbewahrt hatte, als hätte er noch Jahre nach Kriegsende befürchtet, es käme einer, der seine erlittenen Verluste leugnen und von ihm verlangen würde, die Abgeltungen zurückzuzahlen. Nach jedem Angriff kamen die Behörden, um die Schäden für eine Wiedergutmachung festzustellen, die häufig erst viel später ausbezahlt wurde: »Durch Luftdruckeinwirkung infolge Bombeneinschlags bei dem Fliegerangriff vom 5./6.8.41 wurde auf oben bezeichnetem Grundstück Gebäudeschaden verursacht. Es entstand Dach- u. Glasschaden. Wände und Decken sind gerissen. Der Schaden wurde dem Grunde nach durch das Augenscheinprotokoll des städt. Hochbauamtes vom 4.11.1941 der Höhe nach durch die vorgelegten, von Architekt Anke geprüften und bestätigten Handwerkerrechnungen mit zusammen RM 4841,83 nachgewiesen. Außerdem wurden dem Geschädigten Ersatzleistungen in Natur in Höhe von RM 340,67 gewährt. Die Entscheidung ergeht kostenfrei.« Dieser Brief der Feststellungsbehörde des Oberbürgermeisters ist auf den 15. Mai 1943 datiert, das heißt fast zwei Jahre nach dem Schaden, vor allem aber inmitten des Zusammenbruchs, in dem sich das Dritte Reich bereits befand, und ich finde es ziemlich faszinierend, dass aller chaotischen Zustände zum Trotz die deutsche Bürokratie weiterhin mit einer solchen Präzision funktionierte.

Der verheerendste Angriff war jener in der Nacht vom 5. auf den 6. September 1943. In nur wenigen Stunden warf eine Flotte von 605 Maschinen der Royal Air Force 150 Minen, 2.000 Sprengbomben, 350.000 Brandbomben sowie 5.000 mit weißem Phosphor bestückte Bomben ab. Die Stadtbewohner flüchteten sich in die etwa 52 großräumigen Bunkeranlagen, die mehr als 130.000 Personen Schutz boten. Es ist dieser Infrastruktur zu verdanken, dass die Anzahl der zivilen Opfer der Bombardements auf etwa 1.700 Tote in Mannheim beschränkt blieb, verhältnismäßig wenige also, bedenkt man die Massivität der Angriffe. Als am 6. September die Bewohner wie Zombies aus ihren unterirdischen Verstecken hervorkletterten, war das Stadtzentrum nur mehr Schutt und Asche, brennende Ruinen. Der gesamte Komplex der Gesellschaft für Mineralölprodukte meines Großvaters, dessen Lage sich in unmittelbarer Nähe zum Hafen befand, war ausgebrannt. Das Gebäude auf der Chamissostraße hatte ebenfalls Schaden genommen, der im Keller eingerichtete und den Einwohnern als Schutzraum dienende Bunker jedoch hatte standgehalten. Seine Grundfesten existieren im Übrigen heute noch – große, in die Decke eingezogene Stahlbalken sowie eine hermetisch verschließbare Panzertür, die so unglaublich schwer ist, dass ich sie als kleines Kind gar nicht allein öffnen konnte, wollte ich aus dem Keller Marmelade holen. Es war meine Tante Ingrid, die mir Jahre später erklärte, dass mit Beginn des Krieges die NSDAP Männer geschickt hatte, um den Keller in einen Privatbunker umzubauen, was ein Privileg gegenüber all jenen war, die in den öffentlichen Bunkern Schutz suchen mussten.

Zum Zeitpunkt des Angriffs vom September hatte meine Oma, wie viele andere Frauen und Kinder, die vor den immer häufigeren Bombardierungen Schutz gesucht hatten, Mannheim bereits mit der sechsjährigen Ingrid und meinem eben erst geborenen Vater verlassen. »Er war ein krankes Kind, er hatte Bronchitis und wollte einfach nicht aufhören zu husten«, berichtet meine Tante. »Der Doktor hatte zu uns gesagt: ›Bei all dem Staub aus den Ruinen sollten Sie die Stadt besser meiden!‹« Ihr erstes Ziel war dann der Odenwald, eine hübsche, hügelige Landschaft direkt hinter Mannheim. »Wir lebten bei zwei alten Fräuleins, die bald schon die Nase voll hatten von dem schreienden Baby. Also hatten sie zu meiner Mutter gesagt: ›Lydia, du musst woandershin, das ist uns zu viel.‹« Ihr Weg führte sie weiter nach Franken zu den Eltern von Karl Schwarz. »Das waren arme Bauern, die schon drei Kinder ernähren mussten. Wir lebten auf engstem Raum miteinander, und da es gar nicht genug Teller gab für alle, steckten wir unsere Löffel einfach direkt in einen mitten auf den Tisch gestellten Kessel, ich fand das ulkig.« Davon weitaus weniger amüsiert war allerdings Oma, die es nicht mehr ertrug, sich noch länger aufzudrängen, und die bald schon dem Bürgermeister des kleinen Marktfleckens damit drohen sollte, »Dummheiten zu begehen«, falls er nicht schnellstmöglich eine Unterkunft für sie finden sollte. »Ich hatte sie begleitet, und sie sagte zu ihm so etwas Furchtbares wie: ›Ich hänge mich auf oder werfe mich mit meinen Kindern in den Fluss‹«, erinnert sich meine Tante. Ein Bauer bot ihnen ein Zimmer an, im Gegenzug dafür musste meine Großmutter bei jedem Wetter hart auf den Feldern arbeiten und Tag für Tag die Kühe melken.

Ich habe Fotos aus dieser Zeit des Exils gefunden, das sich über zwei Jahre erstrecken sollte. Ingrid mit ihren beiden blonden Zöpfen, leichtfüßig wie eine Gazelle in den grünen Hügeln, und mein Vater, sein hellblond leuchtendes Haar wie eine Mähne über seinem Puppengesicht tragend, wie er mühsam vor einem Gänsegehege herumkraxelt und strahlend offen lacht. Manchmal ist auch Opa auf diesen Negativen zu sehen, er kam sie jedoch selten in dieser Zeitspanne besuchen.

Als 1939 der Krieg ausbrach, war Karl Schwarz 36 Jahre alt, wurde aber nicht einberufen, was neben seinem Alter vielleicht auch daran lag, dass die Kriegsanstrengungen des Reiches zunächst noch nicht so vieler Männer bedurften, nachdem die Wehrmacht ihre Schlachten in Polen, Skandinavien, den Beneluxländern und im Juni 1940 schließlich auch in Frankreich per Blitzsieg entschieden hatte. Der Auftakt zum Unternehmen Barbarossa am 22. Juni 1941 jedoch, das über drei Millionen Soldaten der Achsenmächte in den Ansturm auf die Sowjetunion entlang einer Front warf, die sich von der Ostsee bis hin zu den Karpaten zog – eine in der Militärgeschichte noch nie da gewesene Ausdehnung –, veränderte die Ausgangslage: Je tiefer das Dritte Reich in diesem soldatenfressenden Krieg stecken blieb, desto geringer wurde die Chance, dem Leidensweg an der Ostfront zu entkommen.

Karl, ein Lebemann, der keinerlei Lust verspürte, in den eisigen Steppen Russlands den kleinen Soldaten des Nazi-Regimes zu spielen, musste sich von nun an geschickt anstellen, wollte er sich drücken. Seine Parteimitgliedschaft in der NSDAP als Trumpf allein stach nicht mehr. Er musste höhere Instanzen von der unbedingten Notwendigkeit seiner Anwesenheit in Mannheim überzeugen und ihnen klarmachen, dass er seine Geschäfte weiterhin betreiben musste. Werde seine Kundschaft der Mineralölprodukte beraubt, so mochte er argumentiert haben, bestünde die Gefahr, dass sie ihren Beitrag zur deutschen Wirtschaft nicht mehr leisten könne. Bedenkt man die sehr bescheidene Größe seiner Gesellschaft, sowie die Drosselung seiner Produktion während des Krieges und andererseits den dringlichen Mangel an Männern für die Front, muss Karl Schwarz ein außergewöhnliches Überzeugungstalent an den Tag gelegt haben, um von der Verpflichtung zum Dienst in der Wehrmacht freigestellt worden zu sein. Gut möglich, dass er bereits in ebendiesem Augenblick den Einfall hatte, die Wehrmacht zu seinem Kunden zu machen, indem er zweifelsohne einen für Letztere vorteilhaften Preis anbot. So machte er sich der Wirtschaft des Reiches nützlich.

Ich muss ihm zumindest ein gewisses Talent zugestehen, das es ihm erspart hat, einer kriminellen Bande megalomaner und suizidaler Nazis als Kanonenfutter zu dienen. Vor Kurzem jedoch, als mein Vater und ich die im Keller gehorteten Ordner durchgingen, schien der Hintergrund von Opas Freistellung plötzlich unter einem anderen Licht auf. In einem auf den 4. März 1946 datierten Brief klagt sein Geschäftspartner der Schwarz & Co. Mineralölgesellschaft, Max Schmidt1, meinen Großvater an, die Nazi-Obrigkeiten darüber informiert zu haben, dass er, Schmidt, kein Mitglied der NSDAP war, und er damit allein die Absicht verfolgt habe, dass Schmidt an seiner statt zur Armee eingezogen würde. »Ihr damaliger Vorwurf, dass Sie mich wegen meiner Nichtzugehörigkeit zur Partei haftbar machen sollten, ist kein Fantasiegebilde, sondern leider Tatsache gewesen, genau wie Ihre sonstigen Aussagen, die Sie heute nicht mehr wahrhaben wollen. Im Übrigen drehten Sie bisher den Wind stets so, wie es für Ihre eigenen Zwecke günstig war, während ich Ihrerseits nur als das notwendige geldgebende und auftragsbringende Übel angesehen wurde.« Und er fügt hinzu: »Ich bin ja nicht freiwillig Soldat geworden. Durch meine Einziehung zur Wehrmacht wurde Ihnen ja erst die Möglichkeit gegeben, für den Betrieb unabkömmlich gestellt zu werden.«

Bei den Behörden muss mein Großvater geahnt haben, dass, sollte denn überhaupt eine Chance bestanden haben, der Wehrmacht mit der Begründung entkommen zu können, die Firma benötige einen Geschäftsführer, diese dann nur für ihn oder seinen Partner gegolten hätte, keinesfalls aber für beide zugleich. Und gut möglich, dass er eben in diesem Moment und ganz nebenbei hatte durchsickern lassen, dass sein Partner Max Schmidt kein Parteimitglied war.

Vom Frühling 1943 an lebte Karl allein, da Frau und Kinder inzwischen aufs Land gezogen waren. Die Abende müssen ein wenig traurig gewesen sein in dem halb leeren Gebäude auf der Chamissostraße, dessen Einwohner entweder aus der Stadt verbannt oder aber an der Front dem Tod und der Kälte trotzten, abgesehen von drei oder vier Seelen, die in dieser gespenstischen Kulisse diverser Wohnungen zusammenlebten, in deren Decken, Böden und Wänden Risse klafften und deren zerborstene Fenster mithilfe großer Kartonstücke abgedichtet worden waren. Um ein wenig Aufmunterung zu erfahren, begab sich mein Großvater in das Kabarett Eulenspiegel, auf der Langen Rötterstraße, einer kleinen Seitenstraße. Viele Kabaretts, Varietéhäuser und Theater des Dritten Reiches hatten bis zum 1. September 1944 ihren Betrieb fortgeführt, als schließlich Propagandaminister Joseph Goebbels deren Schließung anordnete. Bis dahin waren viele Künstler vom Armeedienst befreit, da ihre Rolle im Wesentlichen darin gesehen wurde, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von den allgegenwärtigen Schreckensszenarien, in die Hitler sie zu stürzen im Begriffe war, abzulenken.

Das Etablissement existiert nicht mehr, aber ich habe in den Papieren meines Großvaters ein Blatt gefunden, dessen Briefkopf in hübscher roter Kalligrafie den Schriftzug »Eulenspiegel – Parodistisches Kabarett« trägt. Am unteren Seitenrand sind Auszüge positiver Pressestimmen wiedergegeben. Aus Saarbrücken: »Selten wird Kunst in dieser pikanten Form serviert. Mit klassischem und volkstümlichem Gesang paart sich ein schalkhafter Humor, durchweht von sprühendem Geist. Das Ganze als Eulenspiegelparodie war, man kann es nicht anders bezeichnen, eine Glanzleistung.« Aus Mannheim: »Die Eulenspiegel gewannen schnell Sympathie, denn sie zeigten Originalität, Geist und – welch seltene Wohltat – Niveau.« Auf halber Höhe des auf den 2. Februar 1948 datierten Briefes steht geschrieben: »Wir bestätigen hiermit, dass Herr Karl Schwarz zu unserer Gruppe gehört«, und unten auf der Seite bezeugt dies die Unterschrift des Leiters des Kabaretts, Theo Lustfeld2. Welches Motiv sich auch immer hinter diesem Dokument verbergen mag, das zweifellos als Alibi gedient haben musste, um meinen Großvater nach dem Krieg von möglichen Unregelmäßigkeiten reinzuwaschen, so verweist es doch darauf, dass Karl das Etablissement häufiger aufgesucht haben muss, um ein solch heimliches Einverständnis erlangt haben zu können. Tatsächlich hatte er vor allem mit einer Dame verkehrt, einer Künstlerin, die zugleich die Ehefrau des Chefs war, Frau Lustfeld, und sich dem Paar so sehr angenähert, dass er nach der Zerstörung seiner Firma im September 1943 sein Büro und seine Lagerhalle gleich neben ihrer Wohnung in einer an den Randgebieten von Mannheim gelegenen Ziegelei einrichtete, wo er dann auch bis zum Ende des Krieges wohnte. Und da es kaum vorstellbar ist, dass der Ehemann von der intimen Nähe, die seine Frau an ihren neuen gemeinsamen Freund band, keinen Wind bekommen hatte, hält mein Vater es für durchaus wahrscheinlich, dass sie eine Art Ménage-à-trois führten, die bis zum Tode meines Großvaters halten sollte. Als Oma begriff, dass die Lustfelds, die sich während ihrer Abwesenheit so rührend um ihren Ehemann gekümmert hatten, mehr als nur Freunde waren, stürzte sie dies in einen Schmerz, von dem sie sich nie mehr wirklich erholen sollte. Glücklicherweise hat sie diese unangenehme Entdeckung erst sehr viel später gemacht und nicht schon nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 bei ihrer Rückkehr mit den Kindern nach Mannheim. Ein anderer Schock erwartete sie dort bereits: Die Stadt, in der sie das Licht der Welt erblickt hatte, war zur Hälfte verschwunden.

Mannheim war im Südwesten Deutschlands eine der am meisten zerstörten Städte; 70 Prozent des Zentrums und 50 Prozent der restlichen Stadt lagen in Trümmern. Es hatte den desaströsen Luftangriff vom September 1943 gegeben und zahlreiche weitere, und schließlich flogen die Bomber der Royal Air Force am 2. März 1945 noch ein letztes Mal los, obwohl das Ende des Krieges bereits absehbar war, und entzündeten einen Feuersturm, der den Rest der historischen Altstadt mit sich davontrug. Ende März hatten die Mannheimer bei der Ankunft der Amerikaner die Waffen gestreckt und waren auf diese Weise, ohne es zu wissen, dem Schlimmsten überhaupt entkommen, denn ein amerikanischer Geheimplan sah vor, über mehreren Städten nukleare Sprengbomben niedergehen zu lassen, sollten die Deutschen Widerstand leisten – Mannheim und Ludwigshafen zählten zu den möglichen Zielen.

Falls Oma mit dem Zug angekommen sein sollte, so hat sie neben dem Bahnhof das große Barockschloss, von dessen 500 Zimmern ein einziges unberührt geblieben war, an allen Ecken und Enden durchlöchert gesehen. Um zur Chamissostraße zu gelangen, hat sie die alten großen Einkaufsstraßen überqueren müssen, die einst von prächtig erleuchteten Kaufhäusern gesäumt gewesen waren, vor Leben nur so wimmelnd und jeglichen Überfluss zur Schau stellend – Magnete, in die man aus der ganzen Region herbeigeströmt war, um Einkäufe zu erledigen. Karstadt und die ehemaligen jüdischen, nun aber arisierten Kaufhäuser Kander, Gebrüder Rothschild, Hermann Schmoller & Co waren zum Großteil wie Kartenhäuser unter den Bomben zusammengesackt. Von den Cafés, die im Sommer stets ihre schönen Terrassen geöffnet hatten, um den Damen Sahnetorten und Kaffee zu servieren, war keine einzige Spur mehr verblieben, abgesehen vielleicht von einigen aus ihren Firmenschildern herausgerissenen Buchstaben oder auch den Scherben des Geschirrs, das den Namen des Caféhauses trug und nun als Splitter aus den Trümmerbergen herausragte, die sich an den Gehsteigkanten auftürmten, um den Weg freizugeben. Ganze Straßenzüge waren verschwunden, verwandelt in großflächige, schemenhafte Terrains, auf denen hier und da die Karkassen von Gebäuden und die körperlosen Fassaden fortbestanden, aufgestellt wie Theaterkulissen im Nichts. Ich stelle mir Oma vor, wie sie, eine äußerst gläubige Protestantin, die altvertraute Silhouette einer Kirche mit ihren Blicken sucht und an deren Stelle nichts als das nackte Skelett eines Kirchenschiffs vorfindet und ein vor der klaffenden Öffnung eines Glockenturms schief hängendes Kreuz.

Wie viele Deutsche haben wohl, meinen Großeltern gleich, ihre Geburtsstadt derart entstellt gesehen, die Identität eines Lebens? Hamburg war in ein Feuermeer verwandelt worden, das bis zu 40.000 Menschen das Leben kostete und die Hälfte aller Wohnungen zerstörte, Dresden, Meisterwerk des Barocks, war nach einem Bombensturm, der circa 25.000 Einwohner tötete, zu einer Geisterstadt geworden. Hannover, Kassel, Nürnberg, Magdeburg, Mainz, Frankfurt waren zu 70 Prozent verschwunden, während das gesamte Ensemble im Industriebecken an Rhein und Ruhr – Köln, Düsseldorf, Essen, Dortmund – unter den Bomben zusammengebrochen war. Einige Gemeinden wie Düren, Wesel oder Paderborn waren sogar zu mehr als 96 Prozent verschwunden. Summa summarum verlor jede fünfte Familie ihr Zuhause. Die Zahlen schwanken, aber vermutlich starben während der Luftangriffe etwa 300.000 bis 400.000 Menschen, so der Historiker Dietmar Süß. Mindestens ebenso viele erlitten lebenslange Folgeschäden und Millionen weitere waren traumatisiert.

Am 14. Februar 1942 hatte London über eine Anweisung dem Oberkommandierenden des Bomber Command der Royal Air Force, Arthur Harris, mitgeteilt, dass er seine Streitkräfte ohne jede Beschränkung einzusetzen habe, die Operationen sollten » on the morale of the enemy civil population and in particular the industrial workers « fokusiert werden, sprich auf Wohngebiete. Arthur Harris erhielt den Spitznamen Bomber Harris. Bevor ich dieses Buch zu schreiben begann, war mir dieser Held der Briten nicht bekannt, und ich muss, als ich in London studierte, wohl zigmal an seiner 1992 enthüllten Statue vorübergegangen sein, ohne ihr jemals meine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Seit die Erinnerungsarbeit jedoch für mich zur Obsession geworden ist, jage ich ihr in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen nach, wo immer ich mich aufhalte. Für gewöhnlich widme ich mich ihr ganz allein, denn den Tag mit Toten zu verbringen trifft nicht gerade aller Welt Geschmack. So nutzte ich auch einen Blitzbesuch in London, um mir die Statue anzusehen, auf der Arthur Harris vor der St. Clement Danes Church thront. Dieses Mal las ich das Epitaph: »Im Gedenken an einen exzellenten Befehlshaber und die mutigen Besatzungen der Bombergeschwader, von denen über 55.000 ihr Leben für die Freiheit ließen. Die Nation schuldet jedem von ihnen unermesslichen Dank.«

Die Bombardierung der Zivilbevölkerung hatte zum Ziel, die Moral der Deutschen und ihre Unterstützung für Hitlers Krieg zu brechen, Historiker sind sich heute aber einig, dass sie nicht dazu beigetragen hat, den Krieg zu verkürzen. Diese Angriffe, ursprünglich als Vergeltung für die zerstörerischen Luftangriffe der Deutschen auf Coventry, auf London und auch auf Rotterdam gedacht, wandelten sich im weiteren Verlauf zu mordsüchtiger Rache. In den letzten Monaten des Krieges bombardierten die Briten und Amerikaner Deutschland beinahe täglich, obwohl die Niederlage des Reiches längst klar war.

Abgesehen von der Masse der zivilen Todesopfer führten diese Verheerungen dazu, dass Deutschland ganze Teile seiner kulturellen und historischen Identität verlor. Sieht man sich Bilder von Mannheim, Berlin oder Köln vor dem Krieg an, so wird einem ein vollkommen anderes Land präsentiert. Doch auch wenn die Alliierten Verbrechen begangen haben, die primäre Verantwortung für diese Gewaltspirale fällt zweifellos dem Dritten Reich zu, denn hätte es den Krieg in Europa nicht vom Zaun gebrochen, Deutschland hätte niemals auf diese Weise gelitten und wäre nicht in solchem Maße verunstaltet worden. Das allergrößte Leid aber brachten nicht die Bomben über die Deutschen, sondern der mörderische Wahn des Führers, der auf den Schlachtfeldern mehr als fünf Millionen deutschen Soldaten das Leben kostete.

Meine Großeltern waren von diesem Blutbad nicht direkt betroffen. Doch unzählige jener, die ihnen nahestanden, hatten den Tod eines der Ihren in diesem Krieg zu beweinen, den Hitler weiterzuführen sich in den Kopf gesetzt hatte, obwohl mehrere Generäle ihm geraten hatten, sich doch zurückzuziehen. Der Mann von Karls Schwester Heidi, ein Offizier der Wehrmacht und glühender Nationalsozialist, war an der Ostfront gestorben, so wie mindestens 3,5 Millionen andere deutsche Soldaten auch, die die Weigerung ihres Führers, angesichts der evidenten Überlegenheit der Sowjets in den letzten Kriegsjahren einen Rückzieher zu machen, mit ihrem Leben bezahlt hatten. Nachdem sein Plan, die UdSSR in den wenigen Monaten des Sommers 1941 zu erobern, misslungen war, trieb Hitler seine Männer an, ihren Vormarsch bei eisigem Winter ohne jegliche Ausrüstung gegen die Kälte bis vor die Tore Moskaus fortzusetzen. Trotz Temperaturen von minus 50 Grad Celsius und ohne Handschuhe geschweige denn Mäntel, erteilte er ihnen den Befehl, um jeden Preis anzugreifen und ihre Position zu halten. »Wir wussten nicht, wo sich die Front befand. Wir knieten oder lagen im Schnee. Die Knie froren uns am Boden fest«, schrieb ein Wehrmachtssoldat in seinen Aufzeichnungen. Unfähig, Gräben in das harte Eis zu ziehen, um darin Schutz zu finden, starben die deutschen Soldaten wie die Fliegen, erschossen von russischen Kugeln oder erledigt von Kälte und Hunger. Ein Jahr später, der Warnhinweise seiner Generäle über den katastrophalen Zustand der Truppen zum Trotz, zwang der Führer die ausgemergelten Soldaten noch einmal zum Angriff, diesmal gegen Stalingrad – eine Offensive ohne jegliche Aussicht auf Erfolg, die darauf hinauslief, seine Männer in den sicheren Tod zu schicken. Die rund 220.000 Soldaten der 6. Armee wurden eingekesselt, sie trugen nichts als dünne Kleidung und litten unter beißendem Hunger. Nur etwa 6.000 kehrten in ihre Heimat zurück.

In Nordafrika, einem weiteren Kriegsschauplatz, fiel die Opferbilanz für die Deutschen mit einigen Zehntausend Toten vergleichsweise niedrig aus, da Erwin Rommel, der als »Wüstenfuchs« gefeierte General, der die Offensive des Afrikakorps gegen die Briten leitete, den Mut besessen hatte, Hitler zumindest einmal nicht zu gehorchen. Bei der Schlacht von El Alamein hatte der Führer trotz der offensichtlichen logistischen Unmöglichkeit, den Feind zurückzudrängen, einen seiner gefürchteten Durchhaltebefehle gegeben: »Ihrer Truppe können Sie keinen anderen Weg zeigen als den zum Siege oder zum Tode.« Rommel, der seinem Chef gegenüber stets äußerst loyal gewesen war, wies jedoch alle beweglichen Einheiten an, sich zurück- und nach Westen abzuziehen. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944, die den Niedergang des Reiches bestätigte, redete Rommel dem Führer zu, den Krieg doch zu beenden; er provozierte damit aber nur den Zorn eines Tyrannen, der von seinem maßlosen Machtstreben verblendet war. Wenig später wurde ihm unterstellt, er habe an einem fehlgeschlagenen Putsch der Offiziere gegen das Nazi-Regime teilgenommen. Erwin Rommel, dessen Kühnheit und Triumphe Deutschland jubeln und den Feind zittern ließen, erhielt den Befehl, sich umzubringen – und führte ihn auch aus.

Ähnlich wie er versuchte am Ende des Krieges eine wachsende Zahl von Generälen, Hitler zur Vernunft zu bringen, aber der Führer beharrte unerschütterlich auf seiner Position und konnte sich dabei auch auf die anhaltende und nicht nachvollziehbare Unterstützung eines Teils des Oberkommandos stützen. Wenige Monate vor der Kapitulation, obgleich alle Hoffnung bereits verloren war, fiel den Anführern der Nazis in ihrem selbstmörderischen Wahn nichts Besseres ein, als den Kreis der potenziellen Opfer noch einmal zu erweitern, indem sie auch noch die wenigen, die als Kanonenfutter verblieben waren, einziehen ließen. Vor allem Jungen im Alter von 16 oder 17 Jahren und Männer über 45 Jahre bildeten den »Volkssturm«, der kaum bewaffnet die Städte verteidigen sollte, die längst nicht mehr zu verteidigen waren. Sie wurden skrupellos in den Tod geschickt, um das selbstherrliche Bild des Deutschen, das der Eitelkeit des Führers entsprach, bis zum Äußersten zu pflegen: entweder vollständiger Sieg oder totale Niederlage.

Die Deutschen, die jene letzten Kriegsmonate durchlebten, erinnern sich an diese wie an eine Apokalypse. Das Land fiel in sich zusammen, brannte, explodierte, schrie, zerbrach und ging in einem Danteschen Inferno unter. Wie ein Löwe im Käfig umherirrend, versank Adolf Hitler in der bedrückenden Atmosphäre seines Bunkers unter der Berliner Reichskanzlei in einem trotzigen, selbstzerstörerischen Wahn und zog der Kapitulation den Untergang vor, in den er sein eigenes Volk zu stürzen trachtete, welches sich der nationalsozialistischen Revolution als »unwürdig« erwiesen hatte. Am 30. April schoss er sich, nachdem er seinen Hund getötet hatte, eine Kugel in den Kopf, und Eva Braun, seine Partnerin, die kurz vor seinem Tod zu heiraten er endlich eingewilligt hatte, vergiftete sich mit Zyankali. Am 1. Mai dann war es an seinem Propagandaminister, Joseph Goebbels, einem fanatischen Antisemiten, und seiner Frau Magda, einer besessenen Anhängerin des Nationalsozialismus, Zyankali zu schlucken, nachdem sie es zuvor ihren sechs Kindern verabreicht hatten, die in Propagandafilmen als hellblonde Engel dafür hatten herhalten müssen, die Deutschen innerlich zu rühren.

Selbstmord verbreitete sich in dem Augenblick, da die Ankunft der Roten Armee unausweichlich erschien, wie eine Epidemie. Pastoren, vor allem in Berlin, waren wegen des Ansturms Gläubiger beunruhigt, die sie aufsuchten, um ihnen anzuvertrauen, dass sie stets eine Ampulle Zyankali bei sich trugen. Die Anzahl der Berliner, die sich in den letzten Kriegswochen das Leben nahmen, lag wahrscheinlich bei mehr als 10.000. In Demmin, einer kleinen, in Vorpommern gelegenen Stadt mit etwa 15.000 Einwohnern, die am 30. April von der Roten Armee erobert worden war, nahmen sich zwischen 500 und 1.000 Personen das Leben, darunter nicht wenige Frauen, die zuvor ihre eigenen Kinder umgebracht hatten. Andere Städte erlitten ein ähnliches Schicksal. Meine Tante erinnert sich an die Verzweiflung ihrer Mutter: »Die Amerikaner waren bereits im Lande und meine Mutter rief noch immer aus: ›Wir werden den Krieg nicht verlieren! Der Führer wird gewinnen! Wenn wir den Krieg verlieren, bringe ich mich um!‹«

Dass Oma nicht zur Tat schritt, mag daran gelegen haben, dass ihr Schicksal im Vergleich zu anderen nicht ganz so furchtbar war. Nachdem sie das zu Ruinen zerfallene Stadtzentrum Mannheims durchquert hatte, muss ihr beim Anblick des noch stehenden Familienhauses ein schweres Gewicht vom Herzen gefallen sein. Aber um überleben zu können, reichte die eigene Bleibe nicht aus, erst recht nicht, wenn sie überall durchlöchert war. Ganze Wände, ein Stück der Bedachung und ein Teil der Treppe waren weggerissen und sämtliche Fenster in tausend Scherben zerborsten. Nach und nach kehrten die Mieter vom Land zurück, um sich wieder in ihren Wohnungen niederzulassen. Aber sie mussten diese mit jenen teilen, die alles verloren hatten. In Mannheim waren von etwa 86.700 Wohnungen nur 14.600 nicht von den Bomben getroffen worden. Angesichts der drückenden Wohnungsnot war bestimmt worden, dass mindestens acht Personen sich eine Wohnung der Größe wie im Gebäude auf der Chamissostraße teilen mussten, wobei jede etwa 90 Quadratmeter umfasste. Opa entkam der Reglementierung, da er vorgegeben hatte, sein Bruder Willy würde mit seiner Familie unter seinem Dach wohnen. Allerdings erinnert sich meine Tante, dass ihre Eltern regelmäßig Familienmitglieder, die in Not geraten waren, aufnahmen und sie selbst im Wohnzimmer hinter einem großen Laken schlafen musste, das als Vorhang diente. Im Erdgeschoss fand sich hingegen ein alter, allein lebender Junggeselle mit einer ganzen Flüchtlingsfamilie wieder. »Wir nannten die Flüchtlinge Rucksackdeutsche, wir konnten nur ahnen, dass sie einen wirklichen Albtraum hinter sich hatten«, sagt Ingrid.

Die 12 bis 14 Millionen Vertriebenen aus dem Osten, denen die Heimat entrissen worden war, in der sie sich seit Generationen verwurzelt fühlten, gehörten zweifellos zu den am schwersten betroffenen deutschen Zivilisten. Insbesondere die aus den deutschen Ostgebieten waren unter furchtbaren Bedingungen vor der Ankunft der Roten Armee geflohen, die aufgebracht vom Anblick der von der Wehrmacht während ihres Rückzugs niedergebrannten Dörfer und vom Tod von Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen einen nicht gerade geringen Tatendrang verspürt haben dürfte. Mehr als 1,4 Millionen deutsche Frauen wurden vergewaltigt und Hunderttausende Männer in die Gulags gesteckt und zur Zwangsarbeit verdammt.

In der Tschechoslowakei ging es weniger blutig zu, doch der erzwungene Fortzug von drei Millionen Deutschen war ebenfalls sehr schmerzhaft verlaufen. Im österreichisch-ungarischen Kaiserreich waren die Sudetendeutschen in Böhmen und Mähren im Norden des Landes zu Wohlstand gelangt. Aber ihre Situation verschlechterte sich nach der Zerschlagung des Kaiserreichs im Jahr 1918, als ein neuer unabhängiger tschechoslowakischer Staat seine deutschsprachige Minderheit zu diskriminieren begann.

Die Notwendigkeit beschwörend, seinen »Blutsbrüdern« zu Hilfe eilen zu müssen, annektierte Hitler das Sudetenland im Oktober 1938 unter den Bravorufen einer überwiegenden Mehrheit der örtlichen Bevölkerung, die erst gar keine Zeit verlor, nun ihrerseits die Tschechen zu diskriminieren und aus der Region zu vertreiben. Nach der Niederlage des Reiches wechselte die Rache wieder die Seiten, und nun war es an den Deutschen, auf die Straße gesetzt und wie Aussätzige verjagt zu werden, wobei Tausende vor Erschöpfung starben oder ermordet wurden. Der tschechoslowakische Präsident Edvard Beneš ordnete per Dekret an, dass sämtliche Güter der Deutschen »beschlagnahmt«, sprich gestohlen werden sollten. 2002 verurteilte der tschechische Präsident Václav Havel diese Vertreibungen öffentlich.

Der Empfang dieser Flüchtlinge in Westdeutschland war nicht besonders herzlich, schließlich hatte man mit den Wohnungslosen aus der eigenen Region schon genug zu tun. Empathie findet sich selten in Kraft gesetzt, wenn alle Welt leidet. So hatten meine Großeltern zwar Mieter, aber diese konnten nur wenig Miete zahlen. Die Schäden der Angriffe vom September 1943, die sowohl das Gebäude als auch Opas Fabrik getroffen hatten, waren noch immer nicht ausgeglichen worden. Mein Großvater verbrachte ganze Tage damit, bei den Behörden vorstellig zu werden. Glücklicherweise hatte er vor dem großen Bombardement ein vollständiges Inventar seiner Güter erstellt, das ich im Keller in Mannheim gefunden habe.

Bei der Lektüre dieser Liste, die jedes einzelne Kleidungsstück, das gesamte Mobiliar, jedes einzelne Zubehör, das meine Großeltern besaßen, aufzählt, fand ich mich in jener Kulisse wieder, in der Oma gelebt hatte, als ich noch ganz klein war, und von der ich gedacht hatte, mich nur noch vage an sie erinnern zu können: Nach ihrem Tod – ich war sechs Jahre alt – hatte mein Vater die Wohnung vollkommen umgestaltet. Nicht ohne einen Kloß im Hals zu spüren, sah ich vor mir deutlich das Zimmer meiner Großmutter wiedererstehen, in dem sich schwere dunkle Holzmöbel befanden, ein Bild, das eine idyllische germanische Landschaft darstellte, ein für die Größe des Zimmers viel zu massives Bett und über diesem ein beeindruckendes Kruzifix, vor dem Lydia jeden Abend gebetet hatte. Die Wohnung bestand aus einem Salon, einer großen Küche, in der Oma ganze Tage damit verbrachte, Gebäck auf Blechen so groß wie ihr Ofen für die sonntäglichen Runden zu Kaffee und Kuchen zu backen, sowie einem Herrenzimmer, in welchem man in Sesseln, die einer Art-déco-Bibliothek und einem dazu passenden Schreibtisch gegenüberstanden, sitzend Pfeife und Zigarre rauchen durfte, wenn die Finanzen es erlaubten, allerdings nur unter Männern. Eine andere Liste, die ich fand, ist auf den Tag nach den Verwüstungen durch die Bombardements im September 1943 datiert und verzeichnet die Verluste. Wie detailliert Opa den Schaden notierte – er gibt dabei auch »einen Kanarienvogel samt Käfig« an, »eine Türklinke«, »leere Flaschen« und »leere Obstkisten« –, liefert einen Eindruck von der angespannten finanziellen Situation meiner Großeltern während dieser Zeit.

Sehr schnell war es Karl Schwarz gelungen, eine weitaus effizientere Lösung zu finden, als auf die Schadensersatzleistungen des Staates zu warten, um die Lebensbedingungen seiner Familie zu verbessern. Zwar hatten die Alliierten ihn der Kontrolle seiner Gesellschaft enthoben, aber sie wussten nicht, dass er in einer Ziegelei außerhalb der Stadt noch über ein ganzes Lager an Öl- und Petroleumfässern verfügte. In jenen Zeiten des Mangels glichen diese Reserven purem Gold auf dem Schwarzmarkt, von wo mein Großvater die unglaublichsten Schätze mit nach Hause schleppte: Lagen an Eierkartons, die er im Gartenhäuschen im Hof unterbrachte, Hunderte von Äpfeln, die im kühlen Keller frisch gehalten wurden, ganze Schinken, die im Badezimmer von der Decke hingen, und sogar – unerhörter Luxus in diesen entbehrungsreichen Zeiten – Knallkörper und Sekt zu Silvester. Karl war der Einzige im Viertel, der ein Auto besaß und davon profitierte, »dass immer ausreichend Platz zum Parken vorhanden war«, wie mein Vater belustigt erzählt. In der Nachbarschaft galt die Familie Schwarz als außergewöhnlich gut situiert, wohingegen andere Jungen in der Schule mit leerem Magen und in Schuhen mit löchrigen Sohlen erschienen. »Man war ein wenig neidisch auf uns«, sagt meine Tante, die ihrem Vater stets dankbar gewesen ist, »sich für seine Familie so durchgebissen zu haben«.

Jeder schlug sich in diesem am Boden liegenden Deutschland so gut durch, wie er es vermochte. Eine der größten Attraktionen meines Vaters als Kind bestand darin, zum Fenster zu eilen, sobald er das Hupen der schweren Jeeps hörte, die vor dem Hauseingang hielten, wenn amerikanische Soldaten kamen, um ihre Begleitung für den Abend abzuholen. »Es gab die beiden Töchter der Dame über uns sowie eine Nachbarin, die zwar verheiratet war, aber nicht wusste, ob ihr Mann zurückkehren würde, und man musste ja doch weiterleben«, erinnert er sich. Zahlreiche deutsche Kriegsgefangene kehrten erst viele, manche sogar erst zehn Jahre nach Kriegsende heim, während sie ihre Ehefrauen allein auf sich gestellt und voller Ungewissheit zurücklassen mussten. Etwa 1,3 Millionen von ihnen kehrten niemals aus der Sowjetunion zurück und wurden unter verabscheuungswürdigen Bedingungen zur Arbeit gezwungen, nachdem das Reich seinerseits 3,3 von 5,7 Millionen russischen Kriegsgefangenen ermordet oder sterben lassen hatte.

Materiell war für eine deutsche Frau in dieser Zeit ein für tot erklärter Ehemann besser als ein vermisst gemeldeter. Im ersten Fall konnte sie sofort eine Rente erhalten, im zweiten musste sie oft über mehrere Jahre kümmerlich ihr Leben ohne Pension oder Witwenrente fristen und dabei häufig doch nur auf die Bestätigung warten, dass der Ehemann tatsächlich tot war. »Die jungen Frauen aus Mannheim begannen mit den Amerikanern auszugehen, die sie in ihre Kasernen mitnahmen, wo sie tanzen, ins Kino gehen, sich satt essen und sich mit den jungen Männern amüsieren konnten, die in ihren Uniformen ziemlich attraktiv wirkten«, erzählt mein Vater.

Manchmal bildeten diese Zusammenkünfte den Anfang einer schönen Liebesgeschichte, wie etwa bei einem der beiden Mädchen aus dem oberen Stockwerk, das einen Amerikaner geheiratet hatte und dessen Tochter Cynthia dann die Kindheitsfreundin meines Vaters wurde, bevor ihre Eltern 1949 in die Vereinigten Staaten umsiedelten. Für andere wiederum, wie etwa für die mit einem Mann in Gefangenschaft verheiratete Nachbarin, glichen diese Treffen eher einer Art Prostitution. Alle im Gebäude wussten Bescheid, aber schlecht angesehen war sie deshalb nicht, denn die Zigaretten der Amerikaner konnten manchmal einer ganzen Familie helfen zu überleben. »Offiziell hatten die Amerikaner ihren Soldaten verboten, mit deutschen Mädchen zu verkehren, aber das funktionierte nur wenige Monate. Und wenn mein Vater sie in seinem Hause akzeptierte, dann geschah dies wahrscheinlich im Austausch gegen einige Geschäfte und Zigaretten.« Mit dem Wertverfall der Reichsmark waren Zigaretten zur Referenzwährung auf dem Schwarzmarkt gediehen und es gab keinen Weg an ihnen vorbei, da die Lebensmittelmarken 1946 je nach Versorgungslage für einen Erwachsenen täglich zwischen 800 und 1.500 Kalorien vorsahen. Viele hungerten, einige starben, selbst vor Kälte, da auch die Kohle rationiert und der Winter 1946/47 extrem hart war. In Opas Fotoalbum gibt es ein Bild des zugefrorenen Rheins, auf dem Mannheimer flanieren, als befänden sie sich auf der Newa in Sankt Petersburg.

Weitere neue Besucher des Wohnhauses waren die sogenannten »Onkel«. Da die Rente an Kriegswitwen nur unter der Bedingung ausgezahlt wurde, dass sie alleinstehend blieben, hatten sie keinerlei Interesse daran, wieder zu heiraten. Und da das Gesetz es nicht verheirateten Paaren verbot zusammenzuleben, machte sich die Gewohnheit breit, seinen neuen Partner als einen Onkel vorzustellen. Der Vermieter war angehalten, auf die Einhaltung dieses Gesetzes von seinen Mietern zu achten, andernfalls hatte er eine Strafe zu zahlen. Karl Schwarz aber drückte ein Auge zu, brillierte er doch selbst in der Illegalität. Er war ein großzügiger Mensch und teilte seine Beute vom Schwarzmarkt gern mit seiner Familie und Freunden an einem sonntäglichen Tisch. »Die Gespräche handelten von den Renten, die nicht zu erhalten man befürchtete, wenn man im Dritten Reich Beamter oder Soldat gewesen war. Die Inflation, die unauffindbaren Produkte und der Klatsch der Nachbarschaft … das waren die Hauptfragen der Zeit – und nicht etwa, wer was unterm Nationalsozialismus gemacht hatte«, erklärt mein Vater.

Manchmal beklagte man jene, deren Schicksal noch schlimmer war, wie etwa die Berliner, deren Zukunft ebenso unfassbar erschien wie der Anblick der Ruinen, in denen herumirrende Flüchtlinge spukten, die nach Ratten jagten, um was zu essen zu haben, oder Frauen, die sich als Prostituierte den Soldaten vor den Augen von Kindern hingaben, die vorbeiziehenden Kleinlastern auflauerten, um etwaige herunterfallende Kohlestücke aufzusammeln. Der Film Deutschland im Jahre Null von Roberto Rossellini, der 1947 in Berlin gedreht wurde, ist eines der atemberaubendsten Zeugnisse dieser vom Gefühl des Nichts angefassten Zeit. Inmitten der Ruinen der Hauptstadt erzählt der italienische Regisseur die Geschichte eines zwölfjährigen Jungen, Edmund, der seiner Familie im Elend hilft, indem er mehrere kleine Jobs an Land zieht. Um seinen kranken Vater zu retten, ruft er seinen ehemaligen Schullehrer zu Hilfe, der ihm, beherrscht von der Nazi-Ideologie, rät, sich vom kranken Glied der Familie zu befreien, welches das Überleben der Gruppe gefährde. Nachdem er seinen Vater vergiftet hat, springt Edmund von einer Ruine in den Tod.

1Pseudonym

2Pseudonym

Die Gedächtnislosen

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