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Der schüchterne Bub vom Bauernhof Eine Kindheit auf dem Land

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Ich bin 1960 geboren und das zweitjüngste von vier Kindern. Vermutlich sind aber dazwischen zwei gestorben. Der jüngste von uns hatte einen Herzfehler und ist 1969 operiert worden. Da mussten sich die Eltern um ihn kümmern. Ich bin da immer eher hintenangestanden. Die Schwester ist das älteste Kind, Jahrgang 1953. Da fehlen zwei, aber wir haben auch nie genau rausgefunden, was da vorgefallen ist. Und die Mutter hat nie drüber geredet, aber immer viel geweint. Wir Kinder sind halt einfach so mitgelaufen, mit den Eltern, mit der Arbeit. Wir haben auch mithelfen müssen. Das sowieso. Das war immer vorrangig. Wenn dann mal Zeit war, hat man halt was Anderes angestellt. Es gab immer was zu tun: Stallarbeiten, Erntezeit usw. Wir Kinder haben überall mithelfen müssen. Das war ganz normal. Da wäre auch nie einer auf die Idee gekommen, dass er gesagt hätte, Nein ich mag jetzt nicht. Darauf wären wir nie gekommen.

Die familiäre Situation war eher sachlich. Die Eltern haben mit sich selber viel zu tun gehabt. Der Vater war krank, er war Diabetiker. Das Geld war immer knapp. Die Eltern haben den Hof bewirtschaftet, waren haupterwerblich Landwirte. Der Vater hat damals schon viele Sachen probiert. Er war bei den anderen Bauern, den Nachbarn, ein Außenseiter. Er hat 1950 als erster einen elektrischen Weidezaun eingeführt, da haben sie ihm die Polizei geschickt. Die sind dann wieder gegangen, haben nur gesagt: Respekt. Die Saatkartoffelvermehrung hat er gemacht, das haben die anderen Bauern nicht verstanden. Er hat Sachen angebaut, die die anderen gar nicht kannten, z. B. Markstammkohl. Er hat seine kleine Landwirtschaft mit Würde und Stolz betrieben, er hat alles gut gemeistert. 12 Kühe und 16 Hektar Grund, rein als Weideland und zur Futtergewinnung für den Winter genutzt. Und er hat im Gegensatz zu den anderen Bauern, die laufend Grund verkauft haben, sogar noch Grund dazugekauft. Er hat mal ein paar Hektar Weide zugekauft. Die anderen haben damals schon immer vom Verkauf gelebt. Den Vater haben sie respektiert, aber er hat nicht dazu gepasst zu den anderen Bauern. Ich weiß von einem Bauern, dem S. Lois, zu dem hat mein Vater gesagt, er solle den Hans, der hatte nichts gelernt, er solle den doch auf die Landwirtschaftsschule schicken. Da hat der alte Bauer gesagt, Wenn er von mir nicht genug lernt, dann soll er blöd bleiben. So dumme Ansichten wie die anderen Bauern hatte mein Vater nicht. Er war schon ein bisschen belesen. Er konnte Schach spielen, das konnte keiner der anderen Bauern. Er war CSU-Ortsvorsitzender. Wir Geschwister sind eher Mitte-Links eingestellt. Wir halten zu den Schwachen. Wir sind immer schon sozial eingestellt.

Sein einziges Hobby war, am Sonntag mit mir spazieren zu gehen. Überall im Wald sind wir die Grenzsteine abgelaufen. Er hat mir gezeigt, wo die Steine liegen und wie groß unser Grund ist. Alle Grenzsteine hat er mir gezeigt, auch wenn es mich nicht interessiert hat. Das hat er gar nicht gemerkt. Genauso wie nachts, wenn er uns rausgeholt hat, wenn eine schöne sternenklare Nacht war. Dann hat er uns den Sternenhimmel gezeigt und das Sternenbild erklärt. Uns hat gefroren, aber das hat ihn nicht großartig interessiert. Da hat er uns mitten in der Nacht aufgeweckt. Die Mutter hatte sich da kaum durchsetzen können.

Der Vater wollte eigentlich nach der Kriegsgefangenschaft nach Kanada, da ist eine entfernte Verwandtschaft drüben. Mein Onkel war heuer drüben, der hat da mal ein wenig nachgeforscht. Die sind ja schon ein paar Generationen drüben. Um 1880, da haben die Kanadier die großen Eisenbahnlinien gebaut und haben links und rechts neben den Eisenbahnen ein paar Kilometer breite Streifen an Siedler verschenkt, damit das Land bewirtschaftet wird, und die Indianer die Eisenbahn nicht so oft überfallen. Die Besiedelung diente der Bewachung. Und da haben die Kanadier Unmengen an Ländereien vergeben in der Nähe von Winnipeg. Der Vater wollte da rüber, er war schon dabei aufzubrechen, aber es ist nicht gegangen, weil die Kanadier haben damals einen Unterschied gemacht zwischen Reichs- und Volksdeutschen. Wenn er Österreicher gewesen wäre, dann hätte er rüber gedurft. Aber weil er Volksdeutscher war aus dem ursprünglichen deutschen Gebiet, haben sie ihn nicht genommen. Außer er hätte sich sofort bei der kanadischen Armee verpflichtet und damit für den Einsatz im Korea-Krieg. Das wollte er aber nicht. Er war ja gerade erst aus einem Krieg zurückgekehrt. Vom Krieg ist mein Vater 1948 oder 1949 heimgekehrt. 1951 lernte er meine Mutter kennen. Der Hof war von der Mutter, der Vater war aus der Nähe von W.. Wir wissen nicht, wie er zu uns runterkam. Das ist uns bis heute ein Rätsel. 1950 war in P. ein deutscher Katholikentag. Angeblich haben sie sich da getroffen.

Der Vater hat nicht viel erzählt vom Krieg. Mit uns Kindern war er manchmal sehr aufbrausend. Vor allem der Jüngste hatte einiges abbekommen. Ich bin immer meistens so durchgerutscht, habe mir das auch nicht stark zu Herzen genommen. Er hat nicht viel erzählt damals, was er und seine Kameraden alles durchgemacht haben. Einmal erzählte er von einer Kaserne in Würzburg. Da haben sie ihm gelehrt, wie man sich mit Zeitungspapier vor Erfrierungen an den Füßen schützen kann. Er erwiderte nur, Wenn‘s keine gscheiden Schuhe ned habts für uns, dann brauchts keinen Krieg anfangen. Da wanderte er dann gleich mal drei Wochen in den Bau. Später war er in Frankreich, dann in Jugoslawien und Albanien. Irgendwann ist er in russische Gefangenschaft gefallen. Da war er dann eine ganze Zeit in Russland. Da muss ein unheimliches Unglück passiert sein auf dem Gefangenentransport. Es muss sich auf dem Weg übers Schwarze Meer nach Odessa ereignet haben. Er war so traumatisiert davon, dass er, kurz bevor er gestorben ist, im Bett Schwimmbewegungen gemacht hat. Wir vermuten, dass das Schiff untergegangen ist, viele ertrunken sind. Beim Erzählen hat er unheimliche Zeitsprünge gemacht. Das war schon auf dem Sterbebett. Das erste Mal, als er wieder deutschen Boden betreten hatte, war er in Erfurt im Rathaus. Er hat sich oben im Dachboden ans Fenster gesetzt und die Füße und Hände raushängen lassen. Das hat er erzählt, recht viel mehr nicht. Gestorben ist er 1978, daheim im eigenen Bett, auf seinem Hof. Seine Niere war total kaputt. Sie war so geschädigt, da konnte auch die Dialyse nicht mehr helfen. Ich habe mich auch nicht großartig nachfragen getraut. Ich habe mich immer so durchgewurschtelt. Wenn es was zum Unterschreiben gab von der Schule, dann habe ich das auch oft selber getan. Mit Anton Schönbrunn unterschrieben. Aus Angst. Das habe ich öfters gemacht. Ich bin den Schwierigkeiten immer aus dem Weg gegangen.

Die Kirche und ihre Rituale, das habe ich nie verstanden. Der Vater ist immer zu spät gekommen mit uns zum Gottesdienst. Wir sind immer hinten rauf auf die Empore, zum Organisten und zum Chor. Jahrelang habe ich gar nicht gewusst, was sich da überhaupt abspielt während des Gottesdienstes. Ich wusste gar nicht, was ich da soll. Stellenweise habe ich gemeint, dass der predigende Pfarrer eingemauert ist. Ich habe lange Zeit gar nicht gewusst, warum wir da überhaupt hingehen. Ich habe auch nicht nachgefragt, das hat man einfach nicht gemacht. Später ist bin ich mit der Schulklasse in die Kirche gegangen. Da habe ich erst mal gesehen, was da los ist und warum man dort hingeht. Wir haben dann auch beichten müssen. Ich habe mich vor dem Beichten gedrückt, bin ein bisschen hintenherum gegangen und habe einen Stoß Heiligenbilder gefunden. Die habe ich dann mitgenommen und habe sie verkauft. Taschengeld hatte ich keins. So habe ich mir was verdient. Die Bilder hat man sonst nur bekommen, wenn man beichten war. Also haben sie mir die anderen Schüler abgekauft, weil sie dann nicht mehr beichten gehen mussten. Ein Zehnerl habe ich pro Bild verlangt. Davon habe ich nichts gekauft, keine Süßigkeiten oder sonst was. Das Geld habe ich gehütet wie einen Schatz.

Bei der Erst-Kommunion war es so, da haben die Eltern vergessen, ein Foto zu machen. Da habe ich dann zwei Wochen später nochmal den Anzug anziehen, die Kerze halten und mich vor die Haustüre stellen müssen. Dann haben sie ein Foto gemacht: So, jetzt kannst du dich wieder umziehen. Das Foto ist 14 Tage später gemacht worden. Das hatten die Eltern vergessen. Aber ich muss ehrlich sagen, bei dem Unterricht zur Vorbereitung, vor der Kommunion und vor der Firmung habe ich nicht gewusst, worum es da geht. Wir haben gewusst, da kommt der Bischof zur Firmung, aber wieso und warum, das ist uns nicht vermittelt worden. Nachfragen haben wir uns nicht getraut, weil vielleicht wären wir dann geschimpft worden, weil wir es nicht wussten. Das weiß ich bis heute nicht, was das genau sein hätte sollen und wozu. Ich weiß es nicht, ich habe aber auch nie aufgepasst.

Die Grundbedürfnisse waren in der Kindheit abgedeckt. Wir haben auch Urlaub auf dem Bauernhof angeboten. Ende der 1950er Jahre. Wir hatten immer wieder Urlauber von weiter her: Köln, Hannover. Das hat mich auch interessiert, wo die Orte liegen, wo unsere Gäste herkamen. Da waren auch Stammgäste dabei, die immer wieder kamen. Das war eine schöne Abwechslung. Aber eigentlich habe ich immer ganz alleine für mich gelebt. Geografie hat mich schon damals interessiert. Ich bin mit 14 Jahren das erste Mal aufgebrochen. Die Mutter hat ganz traurig nachgeschaut, der Vater hat gar nicht geschaut. Da bin ich fast drei Wochen unterwegs gewesen. Von hier nach E. zu meinem Onkel, das war eine Tagestour. Da war ich dann ein paar Tage. Die Eltern haben nicht viel machen können, ich bin einfach gefahren. Ich habe das einfach gemacht. Ich habe alle meine Onkel besucht, die waren in ganz Bayern verstreut. In S.-R. habe ich einen Lehrer besucht. Ich habe ein paar Straßenkarten gehabt, danach habe ich mich orientiert. Dann bin ich nach W., weiter nach M., zwischenzeitlich nach K.. Da war ich drei Wochen unterwegs. Die Onkels haben wir sonst nur sehr selten gesehen. Zum Teil wussten die gar nicht, dass ich komme. Aber ich habe überall hingefunden. Einer, der wollte ein wenig mit mir mitradeln, aber der ist nicht mitgekommen. Oft bin ich vom Hof in die Stadt geradelt, etwa 40 km, und bis ich wieder daheim war, haben die gar nicht gemerkt, dass ich weg war. Das war so ein Rad mit Drei-Gang-Schaltung. Drei, vier Stunden habe ich dafür gebraucht. Ich kann auch nicht erklären, warum ich das gemacht habe. Ich wollte einfach weg. Vielleicht eine Art Flucht. Meine Kinder sind auch so, die wollen auch was sehen von der Welt. Mein Sohn war in Portugal mit Rucksack unterwegs, meine Tochter ein halbes Jahr in Shanghai. Das Fernweh liegt uns in den Genen. Eine andere Erklärung habe ich nicht.

Manche Sachen waren unheimlich stark geregelt, so empfand ich es zumindest. Am Samstagvormittag z. B. mussten die Schuhe geputzt werden. Dann wurde das Vorhaus geputzt. Da haben alle zusammengeholfen. Warum das so gemacht wird – das haben die Eltern uns Kindern nie erklärt. War halt einfach so. Weihnachten hat es kleine Geschenke gegeben und wir sind in die Christmette gegangen. Es hat keinen Streit gegeben. Streit gibt‘s nur heutzutage, weil alle Leute meinen, es muss alles perfekt sein. Auch mit meinen Geschwistern gab es nicht oft Streit. Wir haben untereinander nicht großartig gerauft. Die Geschenke sind per Post gekommen. Von Neckermann. Da ist nicht groß zum Einkaufen gefahren worden. Ab und zu ist man mit dem Papa mal wohin gefahren. Mit einer BMW Isetta. Da sind wir zu fünft rumgefahren. Aber auch nicht weit. Mal ins nächste Dorf zur Verwandtschaft an einem Sonntag. Urlaub hat es nie gegeben. 1968, da habe ich auch im Stall mithelfen müssen, der Vater war im Krankenhaus. Wie die Russen in Prag einmarschiert sind, im August. Da haben sie sogar meinen achten Geburtstag vergessen. Das weiß ich noch wie heute. Meine Mutter und meine Geschwister haben ihn komplett vergessen, weil alle so Angst gehabt haben, der Russ käme auch zu uns. Der Vater lag im Krankenhaus wegen seinem Zucker. Er hatte einen Zuckerschock erlitten. Und so habe ich 1968 gar nichts bekommen zum Geburtstag. Ein paar Tage später ist es ihnen eingefallen, aber da meinten sie, nächstes Jahr sei ja auch wieder Geburtstag.

Ich habe schon Zeitung gelesen, da war ich erst acht Jahre alt. Ich habe schon gewusst, was los war in der Welt. Ich hatte einen alten Radio, mit dem habe ich aus Ostberlin immer Nachrichten gehört. Ich habe mir selber ein Bild gemacht. Heimlich natürlich. Als ich so 10 war, da habe ich einfach das Band am Radio überspannt und dann habe ich andere Wellen empfangen. Den Radio hatte ich mal geschenkt bekommen, das war meiner. Den habe ich heute noch. Ich habe mir selber über dem Stall ein Zimmer gebaut. Wir Kinder hatten schon immer jeder sein eigenes Zimmer. Wenn im Sommer Urlauber da waren, dann mussten wir unsere Zimmer hergeben und bekamen eine Kammer. Das war aber mehr Abenteuer, kein Problem. Die Urlauber hatten selber große Familien und nicht die Ansprüche wie heute. Die wussten, die Kinder können mitlaufen auf den Feldern, und die Gäste haben auch bei uns in der Stube gefrühstückt. Da kam dann das schöne Porzellan auf den Tisch. In meinem Bett, in meinem selbst gebauten Verschlag, habe ich viel gelesen. Robinson Crusoe habe ich gelesen. Einmal habe ich ein Buch gelesen "Reise nach Accra". Das hat der Vater beschlagnahmt. weil das nichts für mich sei. Das weiß ich noch. Aber sonst habe ich fast immer alles heimlich gemacht, was ich machen wollte. Es ist eigentlich alles immer an mir vorbeigegangen. So richtig bewusst war mir vieles nicht. Etwa dass man das, was man macht, bewusst macht.

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