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2. Eine provisorisch zusammengeflickte Liebe

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Während Aline in der Küche die nächste Zigarette paffte und vermutlich auch die nächsten Morddrohungen gegen ihren Ex-Freund plante, ging ich zurück in mein Zimmer und packte weiter meinen Koffer. Einen kurzen Augenblick dachte ich darüber nach, warum ich, um Himmels Willen, überhaupt so viele Winterpullover zurechtlegte, in Neuseeland begann schließlich gerade der Frühling. Überall auf dem Boden verstreut lagen Zettel, Quittungen und die Boarding-Cards der vergangenen 6 Monate: Tokio, Chongqing, Korea, Hong Kong, Kapstadt, Peru, Wellington, dazwischen in hübscher Schrift ein Brief von Finn.

Meine liebe Sophie,

in der vergangenen Woche regnete es jeden Tag in Strömen und die Wolken hingen so tief, dass man kaum das Meer sehen konnte. Dafür ist der Garten jetzt so grün, dass du eine neue Farbe dafür erfinden würdest. Ich war heute übrigens wieder surfen. Als ich in Pakiri ankam, brach der Himmel auf. Im Flur hängt dein Shorty, ich habe mich geweigert, ihn im Schrank zu verstauen.

Überall vorm Haus linsen die Gänseblümchen aus der Wiese und die Spatzen machen morgens einen Höllen-Rabatz. Ich habe, mitten in der Wildnis, eine neue Bar entdeckt. Es sieht dort aus wie bei den Dukes of Hazzard. Alles ist für dich vorbereitet!

Liebend küsst dich, Finn

Seit ich mit Finn zusammen war, flogen wir für seine Jobs um die Welt, heute hier, morgen dort, ich verlor irgendwann den Überblick, denn es wurde zur Normalität in einem anderen Land, in einem anderen Hotelbett oder in einem anderen Leben aufzuwachen. Genauso wie es für Finn als gefragten Industriedesigner normal war, wenn ihn irgendwelche Firmen-Bosse für Vorträge kurzfristig von einem Ende der Welt ans andere einfliegen ließen, nur um das "International" im Titel ihrer Veranstaltung zu rechtfertigen. Wir reisten nie mit viel Gepäck, die Reden, die er über nachhaltiges Design hielt, kannte er auswendig. Manchmal bezeichnete ich mich als sein Handgepäck. Finn konnte, im Gegensatz zu mir, nie darüber lachen. Mit jedem Flug fiel es mir schwerer, die Länder, Städte und Hotels, die wir bereisten, voneinander zu unterscheiden. Ich war müde, furchtbar müde. Mein Leben fühlte sich wie ein nicht enden wollender Jetlag an. Am Anfang ist ja immer alles so neu und furchtbar aufregend und ich weiß noch, wie ich es zu Beginn dieser Reisen kaum erwarten konnte, dass der Flieger landete. Aber irgendwann, nach endlosen Flug-Meilen, tauschte ich meine Neugier an der Passkontrolle einfach gegen einen neuen Stempel ein.

Wie bereits schon oft zuvor, sollte Finn ein weiteres Mal über Design und Nachhaltigkeit referieren. Dieses Mal sollte es nach China gehen, Heidewitzka, ich in China! Früher hätte ich das bestimmt unheimlich aufregend gefunden. Ist es nicht wunderbar, wenn man seinen Freund überall hin begleiten kann? Und natürlich begleitete ich ihn auch dieses Mal, obwohl mich seine Vorträge und diese ganze Fachsprachen-Poetik nur wenig interessierten. Wir verbrachten auf dem Weg nach China zweieinhalb Tage im Flugzeug, um wiederum ebenfalls zweieinhalb Tage vor Ort zu sein - das ergab schon einen beachtlichen Karbon-Fußabdruck, fand ich, der ganz gewiss zu den Top-Schweinereien meiner persönlichen Öko-Bilanz zählt. Übernächtigt und wie ferngesteuert landeten wir nach einer gefühlten Endlos-Odyssee in einer schönen, smogreichen Millionenstadt in den Bergen Südwestchinas, einer Stadt, die in der Liga der Klimakiller garantiert ganz oben spielt: Chongqing - die am schnellsten wachsende Metropole der Welt, geteilt vom Jangtse, gebaut aus genügend Beton um Finns neue Heimat Neuseeland in einen meterdicken Sarkophag zu hüllen, ein grauer Superlativ der Plattenbauten von Berlin-Hellersdorf. Ich konnte es noch immer nicht glauben. Ich war tatsächlich schon wieder mitgeflogen. Ich in China, was sollte ich hier überhaupt?

In der Flughafenhalle erwartete uns unser persönlicher Fahrer, ein kleiner, etwas älterer Mann mit gutmütigen Augen, Schiebermütze und Pappschild in der Hand. Freundlich distanziert begrüßte er uns und ließ sich nicht davon abbringen, unser Gepäck zu tragen. Wir bestiegen einen jungfräulichen chinesischen Luxusschlitten und hupten auf dem Weg ins Hotel alles vom Autobahn-Asphalt, was nicht schnell genug zur Seite kam: BMWs, Limousinen, unzählige amerikanische Modelle, überladene Mopeds, russische 40-Tonner, Spaziergänger. Sechs Spuren Wahnsinn und Raserei. Wohin ich auch schaute, überall wurde gebaut. Es erinnerte mich fast ein bisschen an Berlin-Mitte! Baustellen, Baustellen, Baustellen. Ach, ich wollte am liebsten sofort wieder nachhause. Finn würde sowieso keine Zeit für mich haben, da war ich mir sicher. Irgendwie musste ich an Ole denken, als ich sehnsüchtig einem der vielen Rikscha-Fahrern hinterherschaute. Ich stellte mir vor, hinten bei ihm einzusteigen und er würde mich dann nicht nur ins Hotel fahren, sondern auch aufs Zimmer begleiten. Und dort würde dieser fremde, chinesische Rikscha-Fahrer mein pseudo-vernunftbasiertes Dasein, das inzwischen gewiss lächerlich anmutete, zusammen mit meinem Kleid abstreifen wie die Last einer provisorisch zusammengeflickten Liebe. Dass ich aber auch schon wieder so gefühlsduselig sein musste! Ich konnte es einfach nicht lassen, ich konnte es aber auch nicht lassen, über unsere Beziehung nachzudenken und darüber zu grübeln.

Längst glich sie inzwischen einer dieser vorhersehbaren Serien im RTL-Vorabendprogramm, deren Dialoge wie ein Springbrunnen an Belanglosigkeiten emotionslos vor sich hinplätschern. Im normalen Leben schaltet man dann einfach um oder den Fernseher gleich ganz ab, ein Klick und er ist aus, ein Klick und Ruhe im Karton. Aber leider fand ich in dieser Beziehung den Schalter dafür nicht. Es gab für mich kein An oder Aus, es gab für mich nur weiter, weiter, immer weiter. Dabei hätte es doch so einfach sein müssen, diese Liebe nach all ihren nicht genutzten Chancen endlich aufzugeben, erst recht, weil wir beide, Finn und ich, schon ewig nicht mehr miteinander geschlafen hatten. Ja, so war das. Tatsächlich ist es so gewesen. Nichts hielt mich fest, ich war es selbst, die sich anleinte und dass, obwohl Finn keine meiner elementarsten Bedürfnisse, nicht einmal die kleinsten und augenscheinlichsten befriedigte. Und ich war mir auch sicher, dass ich ihn nicht glücklich machte, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschte. Also warum, um Himmels Willen, nicht ein für alle Male die Reißleine ziehen? Ich litt doch inzwischen sowieso schon unter dem permanenten Gefühl in einem Hochdruckkessel eingesperrt zu sein, der jeden Moment zu explodieren droht.

Meine Güte, mein Liebeshunger war unerträglich, ich fühlte mich wirklich vollkommen lächerlich, ich bin doch eine Frau, die Männer begehrt, die begehrt werden möchte, ich bin doch keine Puppe, die man in einen Koffer packt und dann im Hotelzimmer zurücklässt. Es war schrecklich und es fühlte sich auch nicht richtig an, aber imaginär schlief ich jetzt schon im Minutentakt mit Phantommenschen, sie mussten kein Gesicht haben, namenlos, willenlos, nur Körper sein, jeden Tag wurden es mehr.

Ich fragte mich, ob ich Finn mit dem falschen Geständnis schocken könnte, ihn mit dutzenden Männern zu betrügen. Mein Körper war für ihn doch sowieso nichts weiter als ein Gegenstand geworden, den er weder brauchte, noch benutzte, eine Hülle, die - wäre sie nicht in Spitze gehüllt - eigentlich ausgelagert werden könnte. Ja, tatsächlich! Nun gut, vielleicht übertrieb ich auch. Vielleicht ging ich damit wirklich einen Schritt zu weit, aber

für mich fühlte sich das Ganze an, als hätte irgendein kaputter, liebessatter Freak, um nicht zu sagen Finns alter ego, den Wunsch nach Sex von seiner Festplatte gelöscht. Sex war für Finn, so glaubte ich, bestimmt so eine Art Virus, den man sich gelegentlich einfängt, aber mit der richtigen Schadstoff-Software erfolgreich bekämpft.

Die Fahrt von unserem Flughafen in die chinesische Riesenmetropole dauerte ganze siebenundvierzig Minuten. Im Auto stand die Luft. Ich schaute steile Flusstäler hinab und riesige Hochhäuser hinauf, blickte auf Mauerreste, Seilbahnen und Fachwerk-Konstruktionen, die mich an Raumschiffe erinnerten, und gelegentlich staunte ich ein bisschen über ein paar goldene Tempel und rubinrote Pagoden, vergessene Rudimente des alten Chinas, wie Finn, dessen Hand die gesamte Fahrzeit über auf meinem Knie lag, mir fachmännisch erklärte. Er redete und redete und sprach von China, als ob es sein zweites Zuhause war, mich interessierte das alles herzlich wenig, ich hasste mich schon wieder ein bisschen dafür, dass ich überhaupt mitgeflogen war. Dieser Stress – das war es einfach nicht wert.

Lustlos schaute ich aus dem Autofenster und ließ den Blick über eine endlose Wüste aus zurechtgezimmerten und ästhetisch vereinfachten Wohnriegeln schweifen. Komische Häuser, dachte ich. So unpersönlich, so lieblos in den Boden gestampft, gänzlich ohne erkennbare Infrastruktur schmiegten sich die riesigen Betonskelette dicht aneinander als wollten sie sich umarmen. Wenigstens das war ihnen geblieben, dachte ich. Schon aus dem Autofenster sah diese Vororteinöde schlimm aus, doch wie muss sich wohl das Leben der Leute anfühlen, die hinter diesen kleinen Fenstern leben? Ich war mir wirklich sicher, dass die Bruthöhle von SARS ungefähr so aussehen musste.

Als wir im Hotel ankamen, wurden wir schon erwartet. Lan Li, eine jugendlich gebliebene Mitvierzigern mit rötlich leuchtendem Pagenkopf und einem hübschen verschmitztem Lächeln, stellte unser Empfangskomitee dar. Ich war nun doch ein bisschen überwältigt. Wir checkten in ein riesiges Hotel in der Nähe der Chongqing University im College of Fine Art ein. Meine Güte, dieser Luxus! Was hier wohl ein einfacher Kaffee kostet?

Im historisch aussehenden Foyer unserer Luxusherberge erwarteten uns, irgendwie sehr süß und irgendwie auch sehr aufgeregt, verlegen kichernde Designstudenten. Sie überreichten uns kleine Tüten mit Gast-Geschenken. Ja, und natürlich erwarteten sie nicht uns, sondern vielmehr Finn. Er bedankte sich mehrmals, so entzückt war er. Dann drückte er mir geistesgegenwärtig die Zimmerkarte in die Hand und verschwand, ohne Kuss, mit dem Empfangskomitee in der Lobby. Wieder einmal war ich also allein. Mir war schon klar, dass sich das den gesamten Abend über nicht ändern würde.

Auf dem Weg zum Fahrstuhl musterte ich frech die Hotelmitarbeiter: den Mann hinter der Rezeption, zwei lässig aussehende Herren vom Housekeeping in nachtfarbenen Zweireihern, und einen Pagen. Jeder von ihnen schien mir für die kommenden, einsamen Stunden als potentieller Tröster infrage zu kommen. Vielleicht, so dachte ich, könnte ich mich in einen der Hotelmitarbeiter sogar sparsam verlieben. Rein prophylaktisch, wirklich nur für den Fall der Fälle, ließ ich mir schon mal die Durchwahl zur Rezeption geben.

Unsere Suite befand sich im 18. Stock. Es dauerte ewig bis ich oben ankam, sowieso sollte der Fahrstuhl in den folgenden zwei Tagen einen Großteil meiner Zeit in Anspruch nehmen. Und mich zusätzlich auch noch mit irritierenden Angaben über westliche Edelmarken versorgen. Hach, ich war schon wieder gehässig! Denn leider hörte diese Versorgung bei der Unterhaltungselektronik abrupt auf, wie ich gleich feststellen sollte. Unsere Suite war sehr hell und riesengroß. Ich schnappte mir sofort die Fernbedienung und schaltete mich durch die Programme. Es gab fast fünfzig Kanäle, auf den meisten liefen asiatische Casting-Veranstaltungen, Comedy-Sendungen und Telenovelas. Im einzigen englischsprachigen Kanal gab es aber eine Show, deren Kulisse wie eine Kopie des Studios von Larry King aussah. Okay, englisch, dachte ich, wenigstens etwas! Da bist du zwar auch keine Leuchte drin, aber du verstehst es immerhin besser als chinesisch. Ich setzte mich aufs Bett, testete die Matratze und starrte auf den Bildschirm. Der Daily-Show-Moderator der Sendung kam zwar ohne Hosenträger auf die Bühne, punktete beim Publikum aber mit der Berichterstattung über den Tiefflug der weltweiten Börsen. Oh Mann, Börsen-News, ich war schwer begeistert. Perfekt frisierte Gäste spekulierten in feinem BBC-Englisch darüber, wann die Zeit endlich reif sei, um dem Dollar den Gnadenstoß zu erteilen. So habe ich es jedenfalls verstanden. Ich kann mich auch geirrt haben, ich wusste nicht, was Gnadenstoß auf Englisch heißt. Hach, dass ich die Sprache aber nicht besser beherrschte! Echt schändlich.

Ich seufzte in ein kupferfarbenes Zierkissen mit Gold verzierter Schrift, zippte die Nummern der Fernbedienung ein letztes Mal nach dem Pay-TV-Kanal durch und machte mich, nachdem ich ihn dann doch gefunden hatte, auf die Suche nach einem guten und verlässlichen Freund in der Fremde: der Minibar. Fix nahm ich mir einen schlecht gekühlten Weißwein heraus, goss die halbe Flasche in eines der Longdrink-Gläser, die auf dem Beistelltisch standen und setzte mich wieder vor die Glotze, wo gerade ein Achtzigerjahre Softporno begann. Konnte das wahr sein? Saß ich just in diesem Moment in einem chinesischen Luxushotel, glotzte Pornos und leerte die Minibar? Naja, warum auch nicht? Ständig Kulturprogramm geht einem ja auf Dauer auch auf den Keks! Jetzt erst einmal ein unanständiges Filmchen. Voilà! Es beginnt die erste Szene: Ein Typ, der aussieht wie der Sänger von Duran Duran, Simon le Bon, ist Gast auf einer Vernissage. Er schaut sich die überdimensional großen Aktbilder an, die an den Wänden hängen. Während er sich langsam den Weg durch die Menge bahnt, öffnet er seine Gürtelschnalle. Er schnappt sich eine Flasche Champagner, die links und rechts von ihm in großen Eiskühlern stehen, geht auf die Tür am Ende des Ganges zu und verschwindet dahinter. Schnitt.

Zweite Szene: Im Zimmer brennt in einer Ecke ein schwach gedimmtes Licht, eine platinblonde Frau räkelt sich auf einer breiten rostroten Chaiselongue, die vor einem Spiegel steht, und beobachtet den Mann wie er auf sie zukommt. Sie ist nackt. Der Kerl zieht sich nun mit einer erstaunlichen Gelassenheit vor ihr aus, sie streckt ihm die Hand entgegen und er legt sich zu ihr. Neugierig beginnen sie, jeden Zentimeter ihrer Körper zu erforschen, mit Händen und Mündern. Ab und zu gönnen sie sich eine kleine Pause und nehmen einen Schluck aus der Champagnerflasche. Manchmal lacht sie gespielt verlegen und zögert, weil er zu neugierig ist und mit seiner Zunge überall gleichzeitig sein möchte, dann aber überkommt sie die pure Wollust: „Fuck me“, sagt sie und zieht ihn auf sich und in sich hinein. Das Spiel verselbständigt sich. Dass sie ihm mit ihren Fingern den Weg zeigt, ist nicht nötig, denn er kennt sich aus. Und nun beginnt es richtig, sie werden in gewisser Weise immer berechnender, dosieren aber ihre Lust mit Kalkül, um das Spiel hinauszuzögern. Und dann geschah Folgendes: Ich schnappte mir eine zweite Flasche Wein aus der Minibar, und gluck, gluck, gluck – hatte auch ich mein persönlichen Höhepunkt an diesem Abend. Seltsam stillgelegt schlief ich, nachdem ich die Weinpulle bis auf das letzte Tröpfchen komplett geleert hatte, ein. Das letzte Glas muss mir wohl den Rest gegeben haben.

Ziemlich matt erwachte ich irgendwann. Keine Ahnung, wie lange ich weggedöst war. Ich starrte an die Decke. Huch, habe ich da gerade meine Hand in meinem Slip? Ich bin doch noch vollkommen knülle! Na und? Warum auch nicht? Man wird sich ja wohl noch streicheln dürfen! Ich fuhr immer wieder an denselben Stellen entlang, erst gefühlvoll und langsam, dann energischer und mit festem Druck. Aber nichts geschah. Nichts. Trockenheit. Als würde ich in einem Neoprenanzug stecken! Mit mir stimmt doch was nicht! Also wirklich. Bin ich krank? Enttäuscht brach ich mitten in der Bewegung ab. Ich muss hier raus, dachte ich. Ich will Sex! Sofort Sex. Sex mit Finn, Sex mit dem Hotelpersonal, Sex mit meinen imaginären Bettpartnern, Sex mit Simon le Bon, Sex mit Ole, von mir aus Sex mit einem Betonskelett. Ich muss nicht geliebt, nur befriedigt werden. Los jetzt! Unternimm etwas! Raff dich auf. Tu was! Tu was! Lass dich nicht so gehen! Lethargisch schleppte ich mich ins Bad, schüttete mir kaltes Wasser ins fahle Gesicht und machte mich, soweit es ging, ein wenig hübsch. Die Betonung liegt auf: soweit es ging, denn mein Anblick stimmte mich revolutionär. Ich war verdammt wütend, ich hatte das Gefühl, mich selbst verraten zu haben. Ich hätte am liebsten das Mobiliar zerschlagen. Eine ungeahnte Wut überkam mich. Ich wusste gar nicht, dass ich überhaupt zu so viel Wut fähig war! Oh Gott, vielleicht war der Wein ja vergiftet! Oder mit dem Wut-Virus gepanscht! Vielleicht hat mir jemand das Wut-Virus aber auch intravenös verabreicht, während ich schlief und von Simon le Bon träumte? Ich war ganz sicher infiziert! Denn ich war so unsagbar, so unvorstellbar wütend! Auf Finn. Auf mich. Und wieder auf Finn. Rasend vor Entrüstung begann ich, laut Selbstgespräche zu führen!

Ich betrachte mich im Spiegel, während ich zornig mein Spiegelbild zusammen brüllte: ‘Eine Frechheit, dass er dich nicht berührt! Eine Schande, was er aus dir gemacht hat, alles ist eine Schande! Du bist eine Schande! Deine Umtriebigkeit! Eine Schande! Deine Lust, eine Schande, Schande über dich!!! Und dann dieses beschissene schlechte Gewissen und dein beschissener selbst auferlegter moralischer Kodex, pah! Erst recht diese Sauferei, schäm dich! Schämst du dich nicht? Pfui, deine jämmerliche Anhänglichkeit, dein Hoffen, bäh! Geh mir aus den Augen! Dieser feine, arbeitsversessene Herr fasst dich nicht an, wenn du dich an ihm reibst, sein Blut gerät nicht in Wallung, wenn er dich nackt sieht, nichts gerät in Wallung, nichts, nichts, nichts!‘

Ich musste mich beruhigen, sonst würde ich ausflippen. Ich machte mir in diesem Hotelzimmer vor allem selbst Vorwürfe, aber nun musste ich eben da durch, ich war ja schließlich mitgeflogen! Ich musste jetzt also das Beste draus machen. Und irgendwie war ich auch froh an seiner Seite zu sein. Der Abstand zwischen uns war jedoch inzwischen so groß geworden, dass ich das Gefühl hatte, tausende Kilometer von Finn entfernt zu sein.

Ich dachte das sogar, wenn er ganz dicht neben mir lag. Unsere bis auf wenige Sätze reduzierte Kommunikation konnte auch keine neuen Brücken bauen.

Ich hätte Finn und auch mir selbst – wie eben im Badezimmerspiegel- deswegen ständig eine Szene machen können, aber meistens lächelte ich nur brav. Es war wie so eine Rolle, in die ich geschlüpft war, ja, in die ich mich selbst hineingepresst hatte. Vollkommen lächerlich. Ich nahm beinahe eine andere Identität an, nur um mich nicht wutentbrannt ständig selbst zu ohrfeigen, ob meiner lieblosen Aussicht auf eine finanziell abgesicherte, aber lustlose Zukunft an seiner Seite. Was war ich doch für eine blöde Kuh!

Nach dem Softporno mit Simons Double und meinem Wutanfall wurde mein Verlangen, Finn mehr und mehr zu betrügen, intensiver als je zuvor. Es manifestierte sich richtig in meinem Kopf zu einem bösen, verhängnisvollen Plot und verfing sich in dem Labyrinth, in dem ich längst umherirrte und dessen Auswüchse sich über den letzten Funken Hoffnung legten, mit nur einem Ziel: unsere Beziehung mit der ganzen Wut zu kontaminieren, die sich in den vergangenen Monaten in mir angestaut - und die sich jetzt gerade erstmals richtig entladen hatte.

Ich spülte mir die Empörung zusammen mit der verschmierten Wimperntusche von den Wangen. Dabei kam mir der Verdacht, Finn könnte all das mit Absicht machen, womöglich würde er mich aus purer Ignoranz nicht berühren. Wäre doch immerhin möglich, wenn nicht sogar ziemlich plausibel?

Ich überlegte, die Nummer der Rezeption zu wählen und den Zimmerservice zu bestellen. Vielleicht standen in der Menükarte unter Extra-Wünsche ein paar Streicheleinheiten oder etwas Trost, aber anstatt wirklich so weit zu gehen und tatsächlich nachzuschauen, schlüpfte ich aus meinen Klamotten, stieg in die Badewanne, drehte den Wasserhahn bis Anschlag auf und erteilte dem Duschkopf neue Aufgaben. Ich brauchte wahrlich nicht lange, um zu kommen, eins fix drei – fertig! Erschöpft und desillusioniert kletterte ich anschließend ins Bett und fiel sofort in Tiefschlaf.

Im Zimmer war es kühl als ich am Morgen erwachte. Finn war wohl schon lange vor mir aufgestanden. Draußen dröhnte lauter Verkehr. Nur zwei weitere Flaschen Wein oder zumindest ein halber Liter Wodka hätten die dumpfen Geräusche in meinen Ohren abfedern können. Neben mir lag ein Zettel: Bin frühstücken. Kuss Finn.

Mein Mund war trocken wie eine Wüste. Schwerfällig schleppte ich meinen ermatteten Körper erneut ins Bad. Auf der Ablage des Waschtisches standen Shampoo, Reinigungsmilch und Lotion. Ich schob die Flaschen zur Seite und stellte beim Blick in den Spiegel fest, dass ich ungefähr so aussah wie Chongqings Vorstadt, durch die wir am Tag unserer Ankunft gefahren waren: total verfallen, unsympathisch, grau. Ergänzend fiel mir noch verknittert und ungeliebt ein. (im Grunde war die Reihenfolge umgedreht.) Wie zum Trost oder um mich aufzuheitern oder was weiß ich weshalb, ergoss sich aus dem Wandradio eine liebliche Melodie. Es war so eine Mischung aus Wasserfall plätschern und Vogelgezwitscher. Eigentlich ganz süß. Dass die Tapete dieses komischen Luxushotels von der Badezimmerdecke blätterte und mir so ein komisch stechender Geruch aus Fäulnis in die Nase kroch, nahm ich kaum wahr. Ich war sowieso schon spät dran. Ich wusste zwar überhaupt nicht wieso und wofür, aber es blieb nur wenig Zeit für das Frühstück. Schnell machte ich mich zurecht und fuhr mit Lift die 18 Stockwerke in die Halle nach unten.

Mit dunklen Gläsern über meinen müden Augen betrachtete ich das fast vollständig aus fleischhaltigen Gerichten und undefinierbaren, hellen Soßen bestehende Frühstückssortiment. Würgereflexe durchzuckten mich. Als könnte China etwas dafür, dass ich am Abend zu viel gebechert habe! Jetzt machte ich auch schon das Frühstück madig. Ich entschied mich für Filterkaffe mit Milchpulver, das wie eine zerdrückte Tablette bröselte und verließ griesgrämig den Frühstücksraum. Auf dem Weg in die Hotelhalle traf ich Finn.

„Da bist du ja, Schatz“, rief er, „alles klar? Du hast so unruhig geschlafen! Bin ständig von deinen Bewegungen wachgeworden. Hast du das Vogelzwitschern im Bad gehört? Lustig, oder?“

„Ja, lustig“, murmelte ich und strich ihm über die erhitzte Stirn.

Ich versuchte mich zu erinnern, wann wir das letzte Mal gemeinsam aufgewacht waren, noch ein Weilchen nebeneinander liegen blieben, uns in die Augen schauten und ich ihm sanft über seine morgendliche Erektion streichelte. Es fiel mir nicht ein. Finn küsste mich. Er tat das auf jene vertraute Art von Menschen, die viel Zeit miteinander verbringen und eigentlich gar nicht wissen, warum. Ich verspürte das tiefe Bedürfnis, ihn zu packen und zu schütteln. Ich war überzeugt, dass er, würde ich Dartpfeile auf ihn werfen, nicht einmal so etwas wie Schmerz empfinden würde. Sein Herz schien die perfekte Zielscheibe. Er hatte viele Prioritäten, aber der Austausch intensiver Zärtlichkeit gehörte definitiv nicht dazu. Tja, alles haben geht eben scheinbar nicht, dachte. Dafür hast du das Glück, in einer 5 Sterne Suite mit einer grandiosen Aussicht genächtigt zu haben. Bingo. Für manche ist das mindestens genauso gut, wenn nicht sogar besser als Sex. Meine Güte, war ich muffelig und undankbar!

In der Lobby trafen wir auf Finns Kollegen, die extra für das Symposium aus Holland angereist waren. Einer von ihnen hieß Boon und sollte der China-Experte schlechthin sein, der andere hieß Jarne von der Sonst was. Ein Wunder, dass ich ihre Vornamen nicht sofort wieder vergaß, denn sie erschienen mit ihren Assistentinnen im Schlepptau pünktlich anderthalb Stunden zu spät. Jarne, ein graumelierter Impresario mit verlockendem, geheimnisvollen Blick, weichen Gesichtszügen und großen, hellen Augen, war mit allem ausgestattet, was einen Designer optisch zum Designer macht: maßgeschneidertes Jackett, große Gesten, kleiner Schal, Umhängetasche von der letzten Konferenz in Genf und die Insignien: Apple und Leica, die ihm seine Begleiterin, eine zierliche Dame in einem türkisblauen, eng anliegenden Kleid, vor jedem Einsatz aufs Neue erklären musste. Ob sie sich ein Zimmer teilten, fragte ich mich. Ob sie miteinander schliefen? Vielleicht hatte sich Jarnes dauerlächelnde Begleitung von ihm abbrausen lassen, als sie mit dem Sex fertig waren? Die Phantasie ging schon wieder mit mir durch. Ich stellte mir vor, wie ihre Brüste, die durch ihr Kleid stark betont wurden, über seinem schönen Gesicht wackelten und sich sein Magic Stick bei diesem Anblick aufrichtete wie der Mast eines Segelbootes. Vielleicht küssten sie sich im Fahrstuhl und sie drückte auf Stopp, um es gleich noch einmal miteinander zu tun, während er bereits einen Finger in sie hineingeschoben hatte, vielleicht trug sie nur Pumps, um schneller aus ihren Schuhen schlüpfen zu können, wenn sie ihm ihren kleinen, wohlgeformten Fuß unter dem Tisch zwischen seine Beine schob? Periodisch wiederkehrende Tagträume und Fragen wie diese hielten mich auf Zusammenkünften wie diesen davon ab, mich zu Tode zu langweilen.

Ich war wirklich froh, dass Finns Kollegen nicht ahnten, was mir da gerade durch den Kopf ging, während ich neugierig lächelnd Interesse bekundete. Gleichzeitig beruhigte es mich, dass ich meine Augen hinter dunklen Sonnenbrillengläsern verbergen konnte. Der Tag durfte also beginnen, ein neuer Tag, ein Tag mit ganz vielen Designern und ganz wenig Sex, ausgenommen natürlich dem, den ich mit mir selbst hatte.

Die folgenden Stunden sollte ich aber erst einmal mit Händeschütteln, Small Talk halten und vor dem Essen bangen verbringen, denn jede Einladung von Finns Kollegen stellte eine feinmotorische wie kulinarische Herausforderung dar. Was hatte ich da bloß zu suchen? Permanent überlegte ich, wie ich jeglichem geschmacklichen Neuland entgehen- und stattdessen Trockenobst, Schokoriegel und literweise Rotes Gold aufs Zimmer schmuggeln könnte. Doch einmal im Restaurant angekommen, gab es vor der asiatischen Gastfreundschaft kein Entrinnen. Gerade erst mit dem Frühstück fertig, fand ich mich auch schon inmitten einer zehnköpfigen Professorenschaft im Separee eines chinesischen Restaurants wieder. Alle flüsterten durcheinander und waren sehr darauf bedacht, nicht das Lächeln einfrieren zu lassen. Ich beobachtete die Kellnerin beim Servieren.

Immer mehr neue Gedecke wurden aufgetischt und zeitnah abgetragen, ohne dass das Essen darauf auch nur ansatzweise nachgelassen hatte. Ich stolperte und hakte mich durch undefinierbare Gerichte und dachte wehmütig an eine Butterstulle. Geruchsschwaden benebelten meine Sinne, Fleisch, Fische, Meeresfrüchte, Insekten, Penisse: alles schob ich in den Mund. Während wichtig aussehende Konzerndirektoren Finn nach Indien und Japan einluden, spuckte ich die schwer verdaulichen Teile vorsichtig in eine Serviette und versteckte sie zwischen den benutzten Desserttellern.

Plötzlich jedoch ertappte ich mich, wie ich Jarne, Finns Kollegen, einen Moment zu lange anstarrte. Dieser hatte stattdessen nur Augen für seine geheimnisvoll lächelnde Begleitung. Er hing an ihr wie die Gräten zwischen meinen Zähnen.

Nach dem Essen fotografierten wir uns in der Lobby gegenseitig vor schwefelgelben Sofas und schlechten Aquarellen und machten uns anschließend auf in die chinesische Freiheit. Zufrieden und beeindruckt von der asiatischen Gastfreundschaft rauchte Finn vor der Hotelhalle noch mit den anderen Designern eine Zigarette und verabredete sich mit ihnen zur Abendgala. Mit einer plumpen Ausrede sagte ich meinen Einsatz als anschmiegsame Begleitung ab, verabschiedete mich von der versammelten Design-Welt und verschwand frustriert im Fahrstuhl.

Ich saß allein auf dem Hotelzimmer. Vom Fenstersims aus betrachtete ich die blassgrauen Wolken. Die Aussicht bestand aus schwach beleuchteten Wohnriegeln. Es sah aus wie Krankenhauslicht. Kalt und Weiß. Von oben sahen die Häuser wie ramponierte Miniaturen einer Spielzeug-Anlage aus. Ich hauchte gegen die Fensterscheiben und schrieb ein Wort in den Dunst, wischte es weg und schrieb ein neues. So verging die Zeit. Finn schien es auf der Gala zu gefallen. Über meine Rage von vergangener Nacht legte sich nun die neue wie Grind. Ja, ich hatte mich wieder beruhigt. Alles war okay. Ich beschloss, mir das Warten erneut mit einem guten Freund zu versüßen und die Erosion in meinem Herzen ganz galant zu ignorieren. Man gibt sich einfach die Kante und bechert bis es nicht mehr geht.

Am folgenden und letzten Tag unseres Aufenthalts, sollte uns zum krönenden Abschluss des Kongresses via Bustour die Schönheit Chongqings und des Jangtse vermittelt werden. Ich konnte mir nun wirklich nichts Spannenderes vorstellen als mit den anderen Konferenz-Teilnehmern durchs Landesinnere zu tuckern. Gespielt freudig erregt nahm ich im hinteren Teil des Busses Platz, dem einzigen mit Schiebefenster. So entging ich glücklicherweise der muffigen Vergangenheit der Sitzpolster und war in der Lage zu erahnen, was hinter den vollständig beschlagenen Scheiben geboten wurde. Solides Grau und sozialistische Details mischten sich mit kapitalistischer Gier. Touristen aßen sich durch die engen Gassen und bestaunten die bärtigen Handwerker der Gegend. Am Fluss ragte eine unfertige Schnellstraßen-Trasse über den Restaurant-Booten. Der freundliche Reiseleiter fragte mich, warum ich nichts kaufe. Mir war nicht klar, was ich kaufen sollte. Außer Sex vielleicht.

Mein Blick huschte von Jarnes Po über mehrstöckige Ausflugsdampfer und verirrte sich schließlich zwischen bunten Leucht-Drachen und schillernden Girlanden. Der Fluss zwang sich durch ein meterhohes Korsett aus Beton und Stahl, daneben lagen, der Propaganda nach unbewohnt, verrostete Lastkähne. Darauf trocknete Wäsche im Neonlicht der Hochhaustürme.

Das Einzige, was ich mir nach diesem Ausflug öfter vorstellte war, Jarne zu berühren und mit ihm und seiner Assistentin aufs Hotelzimmer zu verschwinden. Während unseres Menge á trois würde im Hintergrund leise der Softporno mit Simon le Bons Double über die Mattscheibe flimmern, wir würden uns einander bis in die frühen Morgenstunden hingeben und ich würde Finn mit Jarne nicht nur betrügen, sondern ihn rigoros abstrafen. Was für ein entzückender Gedanke.

Ein Mann fürs Herz und einer fürs Bett

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