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Ostpreussen, Januar 1945

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Den Fluchtweg säumten tote Menschen und tote Pferde und Gertrud dachte pragmatisch, dass die Kälte mit minus zehn Grad gewisse Vorteile hatte. Die Leichen gingen nicht so schnell in Verwesung über. Kranke und Verletzte lagen am Wegesrand im Sterben.

Der Wind war schneidend kalt und die, die sich noch auf den Beinen halten konnten, zogen Kleidung und Decken eng um sich und taumelten vornüber gebeugt durch den Schnee wie eine lebende Illustration der Behauptung, dass Gehen eine Unterbrechung des Falls ist. Der Treck bestand überwiegend aus Frauen, Kindern und invaliden und alten Männern, die von Trauer, Wunden, Schmerzen, Hunger und Kälte gequält wurden und völlig erschöpft waren.

Sie bewegten sich in kleinen Gruppen vorwärts, einige mit Kinderwagen, Bollerwagen und Karren, andere mit Bündeln, Taschen oder Koffern. In den ersten Tagen waren noch viele Pferdewagen im Flüchtlingstreck, doch die Wagen waren bevorzugte Ziele der russischen Jagdflugzeuge, und wenn russische Panzer den Treck angriffen, wurden die Pferdewagen in den Graben gestoßen und man schoss auf Pferde und flüchtende Passagiere. Jetzt bewegten sich die meisten in diesem Teil des Trecks zu Fuß vorwärts.

Hinter ihnen leuchtete der Himmel rot im Schein der brennenden Städte und über ihnen kreisten russische Jagdflugzeuge, die immer wieder ihre todbringende Last auf den scheinbar endlosen Flüchtlingsstrom abwarfen.

Ein Gerücht ging um, dass es irgendwo in zehn Kilometern Entfernung Kohlrabisuppe geben sollte, was die kläglichen Gestalten für eine Weile zur Eile antrieb. Eine jüngere Familie aus Gertruds und Doras Stadt ließ einen sterbenden Onkel zurück, um die Suppe nicht zu verpassen.

Gertrud, die 58 Jahre alt war, hatte Krieg und Flucht schon einmal erlebt. Vielleicht hielt sie deshalb so gut durch. Sie empfand keinen Schmerz und keine Todesangst. Nur eine abgrundtiefe Trauer. Sie band das Kopftuch unter dem Kinn fest und bat Gott still um einen Schlaganfall oder einen anderen plötzlichen Tod, während ihre Beine sich mechanisch bewegten und sie und den Bollerwagen mit ihren Habseligkeiten weiterbrachten. Ihre schwangere Schwiegertochter Dora hatte Schwierigkeiten, ihr zu folgen.

Auf der letzten Flucht vor dreißig Jahren war Gertrud selbst schwanger gewesen. Ein Kind im Bauch und eins an der Hand. Sie hatte die Kleinen durch den Ersten Weltkrieg gebracht, damit für den Zweiten Weltkrieg auch noch Kanonenfutter übrig war. Ihr Sohn Karl war 1942 bei Leningrad gefallen und von ihrem anderen Sohn, Winfried, hatte sie seit einem halben Jahr kein Lebenszeichen erhalten. Aus Geheimhaltungsgründen durften die Soldaten nicht schreiben, wo sie Dienst taten, aber sie hatte Grund zu der Annahme, dass er an der Ostfront war und keiner kannte Namen oder Zahlen der dort gefallenen Soldaten.

Dora war mit Winfried verheiratet und erwartete ihr drittes Kind. Im Gehen weinte sie um ihre zwei Kinder Rosemarie und August. Gestern hatten sie bei einem freundlichen Bauernpaar einen Platz auf einem Pferdewagen bekommen. Der Wagen war von der Bombe eines russischen Jagdfliegers getroffen worden und später hatten sie ein Bein von Rosemarie und den Kopf von August gefunden. Sie waren drei und fünf Jahre alt gewesen. Dora schrie und weinte abwechselnd über den Tod der Kinder, die Bosheit der Welt, die Toten am Wegesrand, ihre Schmerzen, ihr ungeborenes Kind und die verzweifelten Zukunftsaussichten.

»Alle haben Verluste erlitten. Hör auf zu weinen. Die Toten leiden nicht. Du musst deine Kräfte zum Gehen einsetzen, wenn das Kind in deinem Bauch eine Chance haben soll«, sagte Gertrud zu ihrer Schwiegertochter.

»Warum, warum?«, weinte die Jüngere.

»Warum, warum bist du so dumm?«, äffte ein frecher oder verstörter Typ, der die beiden Frauen überholte, sie nach.

Die Ältere wischte sich die entzündeten Augen, starrte an ihr vorbei und antwortete tonlos: »Die Männer wollen immer Krieg.«

Dann begann sie leise zu beten: »Vater unser ...«

Als der formelle Teil des Gebets beendet war, wurde sie persönlicher: »Und dann bitte ich dich um Vergebung, dass ich dem alten Mann in die Beine geschnitten habe«, sagte sie. »Es musste sein, um ihm die Stiefel auszuziehen, und er war schließlich tot – oder zumindest fast. Dora würde ohne die Stiefel nicht überleben und so retten die Stiefel vielleicht zwei Menschen das Leben ...«

Leichenfledderei war sehr verbreitet. Sobald ein Flüchtling das Zeitliche segnete, fielen die Hungernden und Frierenden wie die Geier über ihn her. Alte Frauen zerrten an leichenstarren Körpern, um Kleidung zu ergattern, in die sie Kleinkinder oder sich selbst packen konnten. Eine Decke konnte ein Leben retten. Hier kämpfte jeder gegen jeden. Im Großen und Ganzen und mit nur wenigen Ausnahmen respektierten die Flüchtlinge das Eigentum der anderen, achteten jedoch genau darauf, wer von den Sterbenden niemanden hatte, der sein Eigentum verteidigte. Es galt, der Erste zu sein.

Gertrud hatte vorgestern den schwachen, alten Mann mit den guten Stiefeln ausgeguckt, ihm ein Stück Wurst gegeben und ihn sich ihr und ihrer Schwiegertochter anschließen lassen. In der Nacht verlor er das Bewusstsein und gegen Morgen starb er, aber seine Stiefel saßen so verdammt fest, dass sie ihr Faltmesser zu Hilfe nehmen musste, um sie von den geschwollenen Beinen zu bekommen. Sie hatte sich gewundert, dass Blut geflossen war, als sie schnitt. Vielleicht war er doch noch nicht richtig tot gewesen?

Ihr blieb keine Zeit, über ihre mögliche Sünde nachzugrübeln. Ein russischer Jagdflieger flog dicht über ihre Köpfe hinweg. Instinktiv riss sie Dora mit sich in den Graben und auch dieses Mal kamen sie mit dem Leben davon. Die Bombe fiel ein gutes Stück von ihnen entfernt. Als sie später an dem Krater vorbeikamen, sahen sie eine kleine Menschengruppe um einen Berg zerfetzter Körper stehen. Sie erkannten Kopf und Oberkörper des frechen Jungen wieder: »Warum, warum bist du so dumm?«

Klageschreie mischten sich mit Verwünschungen.

In dieser Nacht hatten sie das Glück, Platz in einer Scheune zu finden. Dort lagen sie zu Hunderten, sozusagen aufeinander gestapelt. Die Alten zuunterst, die Kinder obenauf. Man konnte sich kaum rühren und ein übler Gestank breitete sich aus, weil die Kranken und Verletzten nicht hinauskamen, wenn sie ihre Notdurft verrichten mussten. Zwei Tote wurden im Laufe der Nacht hinausgetragen. Eine Frau gebar ein Kind. Viele Kleinkinder schrieen. Kanonenfeuer erklang wie Donner in der Ferne und ein Mann fragte: »Weiß eigentlich jemand, wo die Front verläuft?«

Die Männer, die alle alt oder Invaliden waren, begannen zu diskutieren. Es war schwer zu sagen, wo die Front verlief. Manchmal konnte man meinen, sie verlaufe hinter ihnen, manchmal vor ihnen und oft hatten die Flüchtlinge das Gefühl, sich direkt an der Front zu befinden – wenn die russischen Jagdflieger Bomben auf sie abwarfen oder feindliche Panzer sie beschossen oder überfuhren.

»Die Front?«, fragte Doras alter Lehrer Dr. Bruno, der den größten Teil des Weges in ihrer Gruppe gegangen war, »die Front verläuft zwischen denen, die das Leben ehren und denen, die das nicht tun.«

In tiefem Schlaf

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