Читать книгу Die vier Jahreszeiten des Sommers - Grégoire Delacourt - Страница 6

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Anfang Juli machte sich das halbe Dorf auf den Weg nach Le Touquet oder Saint-Malo, die andere Hälfte fuhr nach Knokke-le-Zoute oder De Panne.

Victoria und ich blieben in Sainghin. Wie meine Mutter, die für ihre Buchhaltungsprüfung lernte. Wie ihr Vater, der das Gesicht verzog, während er die Darlehensanträge der Studenten studierte. Wie ihre Mutter, die sich bemühte, aus ihrer Feder Worte fließen zu lassen, die eines Tages das Herz der Welt berühren und die Schwermut der Verzweifelten ins Wanken bringen würden. Pauline war in Spanien, sie lebte nachts, von Ponche Caballero und von Unbekannten.

Neben uns wohnten die Delalandes. Sie waren erst zwei Jahre zuvor aus Chartres hergezogen. Er war zum Autozulieferer Quinton Hazell in Fretin versetzt worden, sie fand im Jahr darauf eine Stelle als Dozentin für Bibelexegese an der Katholischen Universität von Lille. Beide waren um die vierzig, kinderlos, ein sehr schönes Paar. Er ähnelte dem Schauspieler Maurice Ronet, nur dunkelhaariger. Sie ähnelte Françoise Dorléac, in Blond. Sie sah ihn mit den Augen einer Aufseherin und einer Verliebten an. Einer eifersüchtigen Frau. Ihr Haus war eins der wenigen im Dorf, die einen Swimmingpool besaßen, und dank guter Nachbarschaftsbeziehungen hatte Gabriel – nenn mich Gabriel, hatte mich Monsieur Delalande gebeten – mich mit der Reinigung des Pools beauftragt, während er mit seiner Frau bis Anfang September an der baskischen Küste Urlaub machte. Sie suchten den Wirbel des Südwindes, den vent fou, wie man ihn dort nennt, und das Peitschen des Ozeans, hatte er uns erklärt, als wollte er uns daran erinnern, wie platt, traurig und ausweglos hier alles war.

Mit dem Geld für die Reinigung des Pools würde ich mir an meinem sechzehnten Geburtstag ein Mofa kaufen können. Victoria und ich hatten schon eins ins Auge gefasst, eine gebrauchte Motobécane, eine »Bleue« in gutem Zustand, die ein Rentner des Dorfes verkaufen wollte. Ich sah uns bereits auf dem langen, mit schwarzem Klebeband geflickten Plastiksattel sitzen, ihre Arme um meine Taille, meine linke Hand auf ihrer, ihr Atem in meinem Nacken, auf dem Weg in ein Leben zu zweit.

Ich konnte es kaum erwarten, dass sie älter wurde.

Ich konnte es kaum erwarten, dass ihre kindliche Anmut und ihr Duft nach Seife und Blumen verflogen.

Ich konnte es kaum erwarten, dass sie endlich auch so einen scharfen und warmen Geruch verströmte, wie ich ihn manchmal bei Pauline, bei einigen Mädchen meiner damaligen Klasse, bei manchen Frauen auf der Straße wahrnahm.

Jeden Morgen wartete ich bei ihrem Haus. Jeden Morgen kam sie auf mich zu geradelt. Sie lachte. Die Smaragde in ihren Augen glänzten. Und jeden Morgen rief die Dichterin aus einem Fenster im Obergeschoss, bevor sie sich wieder ihren melancholischen Versen zuwandte:

»Macht keine Dummheiten! Bring sie zum Mittagessen zurück!«

Wir waren allein auf der Welt. Wir waren Victoria und Louis, wir waren unzertrennlich.

Wir flitzten zur Marque, die bis Bouvines fließt – wie die gleichnamige Schlacht im Juli 1214 –, und wenn wir uns erschöpft auf den Boden warfen, flocht ich ihr Eheringe aus Gras, die sie lachend über ihre zarten Finger schob, und zählte die Anzahl unserer zukünftigen Kinder in der Falte ihres kleinen Fingers. Aber ich werde dich nicht heiraten, sagte sie. Und als ich fragte, warum nicht, antwortete sie, dann wäre ich nicht mehr ihr bester Freund. Ich verbarg meine Kränkung und protestierte:

»Doch! Ich bleibe immer dein Freund, mein ganzes Leben.«

»Nein. Wenn man sich richtig liebt, kann man sich verlieren, und ich will dich nicht verlieren, Louis.«

Dann sprang sie auf wie ein Zicklein und schwang sich wieder auf den Fahrradsattel.

»Wer als Erster zu Hause ist!«

Ihre Unschuld hielt mich auf Abstand. Das Ende der Unschuld nahm sie mir weg.

Da unterdrückte ich mein Jungsbegehren. Ich lernte Geduld – ein heftiger Schmerz.

Wenn wir zur Mittagszeit nach Hause kamen, hatte uns ihre Mutter im Schatten der großen Linde im Garten ein Picknick vorbereitet: Schinken, Salat, Limonade, wenn es kühler war, eine Käsetorte, zum Nachtisch Arme Ritter oder Mousse au Chocolat. Ich mochte den Schnurrbart, den der Kakao auf Victorias Lippen zeichnete, ich träumte davon, ihn mit meiner Zunge wegzuwischen, während mein Blut sich staute und meinen Penis in ein gieriges Männerglied verwandelte. Hastig senkte ich vor Lust und Scham den Blick.

Die Nachmittage verbrachten wir im Garten der Delalandes. Victoria hatte Gabriel nur einmal kurz gesehen, das hatte genügt, sie fand ihn schön, »hoffnungslos, zum Sterben schön«.

Mit einem großen Kescher half sie mir, die auf dem Wasser schwimmenden Blätter aus dem Pool zu fischen. Einmal in der Woche musste ich mit einem Teststreifen den pH-Wert des Wassers prüfen und mich vergewissern, dass er immer bei 7,4 lag.

Die meiste Zeit über aber badeten wir.

Manchmal schwammen wir mehrere Bahnen um die Wette. Es war entzückend, wie Victoria auf dem Rücken schwamm, ihre Armbewegungen ähnelten denen einer Eisläuferin. Wenn sie so auf der Wasseroberfläche lag, dachte ich, sie werde davonfliegen. Im unendlichen Blau verschwinden. Mich verlassen. Dann tauchte ich, packte ihre Füße, hielt sie fest. Sie schrie, tat so, als hätte ich sie erschreckt. Und ihr Lachen flog sehr hoch, bevor es in mein Herz zurückfiel. Ich zog sie in die hellen Tiefen. Ich wollte untergehen, mit ihr untergehen, endlos versinken, wie in Abyss, und dieses Paradies, den Ort aller denkbaren Vergebung finden. Aber im letzten Moment stiegen wir immer wieder auf. Verschreckt und lebendig.

Wie gerne wäre ich mit ihr gestorben, in jenem Sommer.

Manchmal spielten wir Wasserball, aber in ihrer Ungeschicklichkeit katapultierte sie den Ball oft ans Ende des Gartens, und ich musste aus dem Wasser steigen, um ihn zu holen. Sie sah mir lachend zu, und ich sprang sofort wieder mit einer riesigen Fontäne in den Pool, um sie zu beeindrucken. Sie verdrehte die Augen, mit einem schon so weiblichen Überdruss. Ihre Augen waren gerötet, wie von Frauen, die viel weinen. Von Frauen, die sich verlieren werden. Ihre lockigen nassen Haare lagen wie ein Kranz auf ihrer Stirn.

Sie war meine Prinzessin.

»Irgendwann darfst du mich küssen«, flüsterte sie mir eines Nachmittags zu, dann schwamm sie zur Leiter, hinter sich ein Lichtstreifen.

Wir lagen nebeneinander auf den Holzplatten, die das Becken umgaben, und ließen uns von den Sonnenstrahlen trocknen. Sie trug einen Bikini, das hübsche Oberteil verbarg zwei sanfte Wölbungen, und wenn sie es auszog, um ihr Kleid wieder überzustreifen, befahl sie mir, mich umzudrehen, und ließ mich schwören, nicht hinzusehen. Sonst bringe ich dich um und werde dich mein Leben lang hassen. Ich lachte laut, und mein Lachen ärgerte sie, sie floh und ließ mich allein im Garten zurück. Unser Eden.

Da, wo die Schlange lauert.

Meine Mutter machte sich Sorgen.

Es wäre ihr lieber gewesen, wenn ich meine Zeit mit Jungs in meinem Alter verbracht hätte, wenn ich abends mit blutigen Knien nach Hause gekommen wäre, wenn ich mich geprügelt hätte, mein Gesicht rot vom Rennen und mein Herz wie eine fröhliche Trommel. Meine Mutter wünschte sich zerrissene T-Shirts, Baumhütten, Stürze, Splitter, rostige Nägel, Krankenwagen, Mutterängste und Auferstehungen.

Sie wünschte sich für mich eine raue, männliche Jugend. Sie fürchtete, dass mich das Fehlen eines Vaters zur Memme machen würde. Sie hatte mich zum Judo geschickt, aber nach einem bösen kuchiki-daoshi hatte ich aufgegeben. Sie hatte mich beim Fußball angemeldet, aber wegen meiner Unfähigkeit landete ich auf der Ersatzbank.

Ich war ein Kind, das wenig sprach. Ich hütete mich vor Brutalität, hütete mich vor den anderen. Vor unbändiger Gewalt. Vor Spucke, vor Dreck. Vor allem, was demütigt.

Jungen interessierten mich nicht. Ich mochte die sanfte Stille, die zarte Art, mit der sich Mädchen ihre Geheimnisse zuflüsterten und erröteten, wenn sie die Welt entwarfen und ihre Fäden spannen.

Manchmal verspotteten mich die anderen Schüler, schubsten mich im Schulflur, auf den Treppen. Einer rief Louise, das verletzte mich. Ein Großer versuchte es mit einem Fausthieb. Wehr dich! Wehr dich, wenn du ein Mann bist! Los! Ich zuckte mit den Schultern, aber er warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen meine Brust. Es gab böses Gelächter, aber ich ging nicht zu Boden. Ich weinte nicht. Ich schützte mein Gesicht. Meine Mutter sollte nicht sehen, wie ich mich schämte, sie sollte sich keine Sorgen machen, nicht den toten Vater zu Hilfe rufen, der mich mit seiner schmerzlichen Abwesenheit die unsichtbare Schönheit der Dinge sehen ließ.

Später, als Victoria nicht mehr da war, stürzte ich mich in das Getümmel der Männer auf den Sportplätzen. Ich ertrank unter den Schlägen, die die Zärtlichkeit und die ungewisse Sanftheit der Gefühle vernichten. Und ich betete jedes Mal dafür, dass dieser Teil meiner Kindheit zertrümmert und ganz und gar zerstört werde.

Aber die Gewalt siegt nicht über alles.

»Du kannst doch nicht deine ganze Zeit mit Victoria verbringen«, sagte meine Mutter immer wieder, »das gehört sich nicht. Vergiss nicht, dass sie noch ein kleines Mädchen ist, und du bist fast schon ein Mann.«

»Mama, ich bin fünfzehn! Das ist doch kein Männeralter.«

»Ich habe einen Bruder, ich weiß Bescheid. Du brauchst Freunde.«

»Sie ist meine Freundin.«

»Und was macht ihr den ganzen Tag?«

»Ich warte.«

Ich warte darauf, dass sie größer wird, Mama. Ich warte darauf, dass sie den Kopf an meine Schulter lehnt. Ich warte darauf, dass ihr Mund zittert, wenn ich mich ihr nähere. Ich warte auf die betörenden Düfte, die sagen, komm, du kannst dich jetzt in mir verlieren, in mir verbrennen. Ich warte darauf, ihr Worte zu sagen, die man nicht zurücknehmen kann. Die Worte, die die Weichen stellen für ein Leben zu zweit. Für das Glück. Und manchmal für eine Tragödie.

Ich warte darauf, dass sie auf mich wartet, Mama. Dass sie ja sagt. Ja, Louis, ich werde deinen Ehering aus Gras tragen und ich werde dir gehören.

»Ich warte.«

Da nahm mich meine Mutter in die Arme, erstickte mich fast, wie um mich zurückzuholen zu der Zeit, als wir zu dritt waren, als nichts Böses passieren konnte, der Zeit vor dem roten Wagen und dem explodierenden Herzen.

»Du bist wie er, Louis. Du bist wie dein Vater.«

Die vier Jahreszeiten des Sommers

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