Читать книгу Die vier Jahreszeiten des Sommers - Grégoire Delacourt - Страница 8
ОглавлениеSie war mein erster Liebeskummer. Und der letzte.
Als ich aus Le Touquet zurückkam, war meine Mutter beunruhigt.
Mütter sind Hexen. Sie wissen, welchen Schaden die Mädchen in den Herzen ihrer Söhne anrichten können. Sie blieb da, bei mir, für den Fall der Fälle.
Und als die Tränen flossen, nahm sie mich in die Arme, wie früher, nach dem Unglück mit dem roten Wagen. Ihre warmen und zärtlichen Arme empfingen meine ersten Tränen, die die Welt wertvoller machten, wie sie mir damals erklärte, die meinen Eintritt in die Welt der Erwachsenen markierten. Meine Taufe.
Victoria wartete auf mich im Garten der Delalandes.
Sie saß auf dem Beckenrand, ihre Füße im Wasser sahen aus wie zwei rosige Fischchen.
Sie trug ein weißes Blüschen über dem Bikini und eine Brille à la Audrey Hepburn, mit der sie wie eine kleine Erwachsene aussah. Zum ersten Mal sah ich sie mit knallroten Fingernägeln, zehn kleine, glitzernde Blutstropfen. An ihrem Hals nahm ich einen Hauch von Schnittlauch, Vanille und Orangenblüte wahr, das Parfum, das die Frauen aus den vornehmen Vierteln von Lille und die aufgedonnerten Mädchen hinter dem Bahnhof benutzten.
Ich setzte mich neben sie und steckte wie sie die Füße ins Wasser, ließ sie kreisen, wie die von Victoria. Dann wurden die Kreise größer, unsere neugierigen Füße streiften einander, berührten sich in einem aufregenden Wasserballett. Ich sorgte dafür, dass meine Füße ihre streichelten, sich in der Intimität des Wassers einen Moment mit ihnen vereinten. Sie lächelte. Ich senkte den Kopf und erwiderte ihr Lächeln.
Die Körperteile, die am weitesten von unseren Herzen entfernt waren, lernten einander kennen.
Ich tastete mich mit den Fingern vor: Meine Hand näherte sich ihrer in dem langsamen Tempo fünf kleiner Blindschleichen; doch als mein kleiner Finger ihren kleinen Finger streifte, schnellte ihre Hand hoch, wie eine Heuschrecke, und landete auf ihrem Bauch, auf der Wärme ihres Bauches, und es kam mir vor, als wäre es um uns herum plötzlich ganz still, wie im Kino vor der spannendsten Szene.
Ich sah sie an. Sie wich meinem Blick aus. Ihre Stimme war ernst geworden.
»Ich kann nicht mehr mit dir Weißer Hai spielen, Louis. Auch nicht das idiotische Water Polo, obwohl du so witzig bist, wenn du eine Bombe machst, um mich zu beeindrucken.«
»I-Ich …!«
»Ich bin kein kleines Mädchen mehr«, unterbrach sie mich und ahmte die Damen nach, die zu Besuch kamen, um die Gedichte ihrer Mutter zu hören und Kuchen zu essen. »Ich bin auch kein niedliches kleines Mädchen mehr. Und dann bist du, bist du … du …«
Sie holte hastig beide Füße aus dem Wasser, zog in einer unvergleichlichen Bewegung die Beine an sich. Und ich verstand.
Das, was uns vereinen sollte, entzweite uns.
Ein blutiges Rinnsal entriss uns einander.
Ich hatte das Gefühl, dass sie mich in diesem Moment aus sich verstieß, mich, der ich nie in sie eingedrungen war, der brav und geduldig im Vorzimmer ihres Herzens gewartet hatte.
Als sie verstummte, hatte ich weder Kraft zu sprechen noch wütend zu sein. Ich, der schlaksige Fünfzehnjährige, der Verliebte ohne Liebesworte, der blasse Träumer, ich entdeckte den Kummer, den riesigen Kummer, den, von dem Sylvie Vartan sang, On était des enfants/Notre peine valait bien celle des grands/Wir waren Kinder/Aber unser Kummer war schon erwachsen.
Ich wollte meinen Körper im Schwimmbecken versinken lassen, das Wasser sollte mir in Mund, Nase, Ohren eindringen, mich verschlingen.
Ich wünschte mir, zu Füßen meiner Prinzessin zu sterben, überflutet und ertränkt von ihrem ersten Blut.
Ich stand auf. Gott, war mein Körper schwer! Er hatte soeben die Anmut der Kindheit verloren.
Ich schnappte mir den Kescher und fing an, das Wasser zu reinigen. Ich fischte nach dem Blatt eines Pflaumenbaumes, Rosenblätter, halbtoten Insekten und meinen Träumen.
Kurz darauf stand auch Victoria auf und kam um das Becken herum. Sie schmiegte sich an meinen Rücken. Ihre Arme umschlangen meinen Oberkörper, wie sie es sicher auf der »Bleue« gemacht hätte, wenn wir zusammen einem Leben zu zweit entgegengerollt wären. Bis ans Ende der Welt. In eine Zukunft, die eine Chance ist. Wir blieben lange so stehen. Unsere Körper atmeten im gleichen Rhythmus, wir waren eins. Victorialouis. Louisvictoria. Sieundich. Ein Moment vollkommenen Glücks. Unauslöschlich. Eine Erinnerung für ein ganzes Leben.
Endlich verstand ich meine Mutter.
So langsam, wie das Meer sich bei Ebbe zurückzieht, lösten ihre Arme die Umarmung, und die zehn Blutstropfen verflüchtigten sich. Sie drückte einen Kuss auf meinen Rücken. Und das war alles. Ich spürte eine riesige Leere, und als sie sich entfernte, legte ich meinen ersten Männerschwur ab:
»Ich werde schnell groß, das verspreche ich dir. Wenn ich wiederkomme, sage ich dir das, was eine Frau verliebt macht.«
Ende Juli fuhren die Augusturlauber fort. Sainghin leerte sich.
Diejenigen, die schon lange nicht mehr wegfuhren, trafen sich am Tresen der Kneipen. Das waren ihre Häfen, ihre Aufbruchsorte. Sie zitierten Audiard: »Ich habe auch mal viel getrunken. Und ich bin weiter gekommen als bis nach Spanien. China, Yangtsekiang, haben Sie davon schon mal gehört? Manchmal passt er in ein einziges Zimmer!«
Am 31. Juli gab es in der Allée de la Seigneurie einen Einbruch, aber die Diebe nahmen nur eine Louis-XV-Kommode mit. Deshalb vermutete die Polizei hinter dem Diebstahl ein Familiendrama, eine schlecht geregelte Erbschaft oder schlecht verteilte Liebe.
Meine Mutter wollte den Bankier und die Dichterin einladen, um ihnen zu danken, weil sie mich mit nach Le Touquet genommen hatten. Ihr schwebte ein Grillabend im Garten vor, mit einem guten Rosé – ein guter Rosé bringt alle in Schwung –, ich versuchte, es ihr auszureden.
»Mama, das ist keine gute Idee, ihre Mutter ist krank, sie hat Probleme, sie verträgt kein Fleisch. Das vergiftet ihr Blut.«
»Na, dann gibt es eben gegrilltes Gemüse, Gemüse ist immer gut.«
»Bitte hör auf, Mama. Victoria und ich sehen uns nicht mehr so oft.«
»Sieh an. Ich habe mich schon gefragt, wann du mir das erzählst. Du weißt doch, Mütter merken alles. Ich sehe dir an, dass du Kummer hast und morgens mit Augenringen aufstehst. Ich habe dir schon mal gesagt, dass du ruhig weinen darfst. Tränen reinigen, sie ertränken den Schmerz.«
Dann versuchte sie, meinen Schmerz in der Erinnerung an ihre große Liebe zu ertränken.
»Stell dir vor, dein Vater hat mich am Anfang überhaupt nicht gereizt. Er mochte mich sofort, aber ich fand ihn nicht besonders interessant. Sogar sein Werben fand ich ziemlich langweilig: eine Einladung ins Café, zum Bummel entlang der Deûle, wir sahen uns einen alten Truffautfilm an, ich liebte Jules und Jim, oder hörten in seinem Studentenzimmer die Schallplatten der Ronettes. Ich war neunzehn und träumte davon, überrascht zu werden, wie alle Mädchen. Ich träumte davon, überwältigt oder gekidnappt zu werden. Den großen Blonden mit Brille, der Schriftsteller werden wollte, fand ich viel aufregender als deinen Vater. Wir trafen uns im Café, wo er ganze Hefte vollschrieb. Aber ich habe schnell begriffen, dass Schriftsteller nur das lieben, was sie schreiben, und nur die Frauen aus ihren Büchern, auch wenn sie die am Ende immer um die Ecke bringen, damit sie ihre großartige Tragödie kriegen. Ich dachte, ich ende als alte Jungfer.
Dann bekam ich plötzlich Blumen. Ich wusste nicht von wem. Jeden Tag eine andere. Anfangs gefiel mir das nicht, jeden Tag eine andere Blume. Eine Lilie. Eine Rose. Eine Mohnblume. Eine Dahlie. Und am letzten Tag erhielt ich ein Buch über die Sprache der Blumen. Ich schlug die Bedeutung aller Blumen nach, die ich bekommen hatte: Jede einzelne Blume war eine Liebeserklärung. So hat sich dein Vater in mein Herz gedrängt. Und als er mit seinem alten Alfa Romeo, den er über alles liebte, vor meiner Tür stand, habe ich mich pflücken lassen. Ich habe mich neben ihn gesetzt und gewusst, dass ich angekommen bin. Ich war endlich da, wo ich hingehörte, bei ihm. Erundich. Am Tag seines Todes wollte er Blumen kaufen, um unser Fünfjähriges zu feiern.«
Diese Blumen. Mein Erbe.
Es war sehr heiß.
8 à Huit verkaufte aufblasbare, überteuerte Schwimmbecken – das hatte es in Sainghin-en–Mélantois, wo es ungefähr einhundertfünfzig Tage im Jahr regnet, noch nie gegeben. Die Leute beklagten sich über die Hitze, die Leute beklagen sich immer, sie ahnten nicht, was für ein Sommer sie 2003 erwartete.
Ich verbrachte meine Tage im Schwimmbecken des Nachbarn, auf einer Luftmatratze mit einem hässlichen Schildkrötenbild. Chlor- und Salzgehalt waren perfekt. Die Frische des Wassers war perfekt. Das Himmelsblau war perfekt. Das Leben war perfekt.
Plötzlich spürte ich die Frische eines Schattens. Ich dachte, eine Wolke hätte die Sonne verdeckt, und öffnete ein Auge. Da stand Gabriel. Groß, schön und braungebrannt. Er sah mich lächelnd an. Ich wollte mich aufsetzen und fiel dabei jämmerlich ins Wasser. Gabriel lachte, auch sein Lachen war schön.
»Ich sehe, du kümmerst dich gut um den Pool.«
»Er ist picobello, Monsieur.«
»Gabriel.«
»Gabriel. Sind Sie schon zurück? Sie wollten doch erst Anfang September wiederkommen.«
Er streckte mir die Hand hin, als ich zum Rand des Beckens kam. Ich hielt mich fest. Er zog mich mit väterlicher Kraft raus.
»Ich. Ich bin zurück. Allein. Sie ist weg.«
Hatten die baskischen Winde seine Frau weggetragen? War es der vent fou gewesen? Der Sog einer mächtigen Welle? Kurz dachte ich, er hätte sie vielleicht verstoßen. Keine Frau verlässt einen so schönen Mann. Ich fröstelte und schnappte mir mein Handtuch, um mich abzutrocknen. Er zuckte mit den Schultern.
»So was kommt vor.«
Ich weiß, dachte ich. Die Frauen verlassen uns.
Er gab mir das Geld, das er mir schuldete. Leider fehlte durch seine vorzeitige Rückkehr der Lohn für ganze zwei Wochen, um die »Bleue« zu kaufen und den Doppelsattel durch einen Einzelsattel zu ersetzen.
Als er meine Enttäuschung bemerkte, schlug er mir vor, seinen Pool weiter zu pflegen.
»Bis die Schule wieder losgeht, wenn du willst.«
Von nun an verbrachte ich die meiste Zeit zu Hause.
Vormittags las ich im Schatten der Bäume Comics. Meine Mutter machte sich rauchend mit den Regeln der Buchführung vertraut – Nikotin hilft, das ist gut für die Konzentration, sagte sie. Wir waren ein kleines, braves Paar ohne große Illusionen. Gegen Mittag kümmerte ich mich um Gabriels Pool. Dann ging ich zum Mont des Tombes, wo ich früher mit Victoria gewesen war und wo wir unsere Räder am Feldrand liegen gelassen hatten, um zu dem berühmten Grabhügel zu rennen. Wir stellten uns die Toten vor, die seit mehr als zweitausend Jahren dort lagen, den Staub, der von ihnen übrig war, wir erfanden ihre Geschichten und versuchten, mit ihren ausgedachten Leben unser eigenes zu beschreiben.
Dann ging ich nach Hause, noch trauriger als vorher.
C’est le silence/Qui se remarque le plus/Und die Stille/Hört man am lautesten, sang Cabrel in Hors Saison.
In der Nacht, inmitten dieser »Stille, die man am lautesten hört«, dachte ich immer an sie.
Und wie man es von Sterbenden erzählt, ließ ich unser kurzes Leben an mir vorüberziehen: die Versprechen, die Kinderängste, die im Heranwachsen zum Begehren wurden, das Lachen, so leicht wie verliebte Körper, all die Träume, die ich allein für zwei träumte. Ich hatte von dem geträumt, was sie mir vorenthielt. Ich war Bruder, Freund, Verliebter gewesen, verflucht bis ins Mark. Ich war ihr Vertrauter gewesen, niemals eine mögliche Liebe.
Ich versuchte, einen Satz zu finden, den ich in der Sprache der Blumen, der Sprache meines Vaters hätte schreiben können, aber mir fehlten die Worte.
Um ihr diese Worte eines Tages zu schenken, wollte ich Schriftsteller werden.