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ОглавлениеKnut Cordsen
Brief eines Lesers (30)
Auch das Kursbuch ist eines: ein Überbleibsel. Ein »Überlebsel«, wie man einst das englische Wort »survival« eindeutschte – seinerzeit, als der britische Anthropologe Edward Burnett Tylor, im 19. Jahrhundert war das, über Handlungen, Sitten und Gebräuche schrieb, die einer verklungenen Kulturepoche, einem »erloschenen Kultus« (Meyers Großes Konversations-Lexikon, 1909) und »früheren Culturgrad« (Friedrich Nietzsche, in dessen Nachlass sich eine Notiz zum »Überlebsel« findet) entstammten und deren Sinn sich den Nachgeborenen kaum mehr erschließe, ja »oft ganz unverständlich geworden« sei. Gut, ganz so ist es bei dieser altehrwürdigen Zeitschrift, dem Überlebsel Kursbuch, glücklicherweise noch nicht gekommen.
Gegründet wurde es von einem, der sich heute selbst als »ein Relikt aus dem zwanzigsten Jahrhundert« bezeichnet in seinem Buch Fallobst. Seltsamerweise empfindet Hans Magnus Enzensberger diesen Status als Relikt weder als Nachteil noch als Defekt – »eher so, als hätte man den Jüngeren etwas voraus«. Vielleicht wird gerade in unseren Zeiten etwas voreilig geurteilt, dies oder das habe »sich überlebt«: Das Bargeld ist es für die einen, ganze Geschäftsmodelle sind es für die anderen. Oft steckt Wunschdenken dahinter. Ganz deutlich ist das an einem viel zitierten Satz Wladimir Putins von 2019 abzulesen: »Die liberale Idee hat sich endgültig überlebt.« Kaum hatte die Pandemie in diesem Frühjahr ganze Bürotürme und also auch den Post Tower in Bonn verwaisen lassen, gab der Personalvorstand der Deutschen Post, Thomas Ogilvie, in der Süddeutschen Zeitung zu Protokoll: »Das starre Präsenzmodell hat sich überlebt, es geht um eine bedarfsgerechte Anwesenheit.«
Als Konsumenten werden wir seit Langem schon darauf konditioniert, Dinge für veraltet zu halten: Bereits beim Kauf von Laptops und Smartphones wissen wir um deren vom Hersteller bei der Fertigung einprogrammierten Verschleiß, wofür Ökonomen schon in den frühen 1930er-Jahren den Begriff »geplante Obsoleszenz« oder – schöner – »Produktvergreisung« erfunden haben. Das »Endgerät« heißt schließlich nicht umsonst so. Dass auch jedem Denkmal eine – freilich nicht so leicht abzuschätzende – Obsoleszenz eingeschrieben ist und es somit ein historisches Relikt par excellence darstellt, zeigen die Sockelstürze der vergangenen Monate. Die in den Vereinigten Staaten wie in Europa einsetzende Denkmälerdämmerung, die Kritik an Heldenstatuen für Sklavenhalter und brutale Kolonisatoren, rief einem jene Zeilen in Erinnerung, die Robert Musil am 10. Dezember 1927 in einem Feuilleton in der Prager Presse geschrieben hatte. Er störte sich an der Machart der überlebensgroßen Standbilder und daran, »wie rückständig unsere Denkmalskunst ist, verglichen mit der zeitgenössischen Entwicklung des Anzeigenwesens« (eine bemerkenswert hellsichtige Feststellung). Musil weiter: »Mit einem Wort, auch Denkmäler sollten sich heute, wie wir es alle tun müssen, etwas mehr anstrengen. Ruhig am Wege stehen und sich Blicke schenken lassen, könnte jeder; wir dürfen heute von einem Monument mehr verlangen … Warum greift der in Erz gegossene Held nicht wenigstens zu dem anderwärts längst überholten Mittel, mit dem Finger an eine Glasscheibe zu klopfen? Weshalb drehen sich die Figuren der Marmorgruppe nicht umeinander, wie es bessere Figuren in den Geschäftsauslagen tun, oder klappen wenigstens die Augen auf und zu? Das Mindeste, was man verlangen dürfte, um die Aufmerksamkeit zu erregen, wären bewährte Aufschriften wie ›Goethes Faust ist der beste!‹ oder ›Die dramatischen Ideen des bekannten Lyrikers X. sind die billigsten!‹. Leider wollen das die Bildhauer nicht. Sie verstehen, wie es scheint, nicht unser Zeitalter des Lärms und der Bewegung. Wenn sie einen Herrn in Zivil darstellen, dann sitzt er reglos auf einem Stuhl oder steht da, die Hand zwischen dem zweiten und dritten Knopf seines Rockes, auch hält er zuweilen eine Rolle in der Hand, und es zuckt keine Miene in seinem Gesicht. Er sieht gewöhnlich aus wie die schweren Melancholiker in den Nervenheilanstalten. Wenn die Menschen nicht für Denkmale seelenblind wären und bemerken würden, was oben vorgeht, so müßten sie, wenn sie vorbeikommen, das Gruseln haben wie an den Mauern eines Irrenhauses.«
Natürlich ist all das mit ironischem Soupçon formuliert. Man kann nur hoffen, dass die Ironie zu Musils Lebzeiten einen besseren Stand hatte als heute, wo ihr Reliktcharakter vor allem in den todernsten sogenannten sozialen Medien (»irony off«) jeden Tag aufs Neue offenbar wird. Man darf davon ausgehen, dass der alte Otto-Gag der Autorengruppe Gernhardt/Eilert/Knorr aus dem Seniorenheim – »›Seid ihr alle da?‹ – ›Jaaaa!‹ – ›Aber nicht mehr lange!‹« – heutzutage als »Altersrassismus« diskutiert werden würde. Es gibt einfach sehr viele »Berufsernstbolde« (Otto Waalkes) unter den Twitterati.
Ein Lob des Relikts, das in der Rubrik »Brief eines Lesers« erscheint, muss nicht zuletzt natürlich das Überlebsel des Leserbriefs als unbedingt erhaltenswert verteidigen. Bei all dem Hass und der Häme, die sich im digitalen Raum breitmacht, lernt man den vordem als oberlehrerhaft bespöttelten Leserbriefschreiber auf einmal wieder schätzen. Die allermeisten Hörerbriefe, die einen beim Rundfunk erreichen, sind von ausgesuchter Höflichkeit und Klugheit. Man kann dem Philosophen Markus Gabriel nur zustimmen, wenn er in seinem jüngsten Buch Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert eine Gefahr darin erkennt, »dass moralische Selbstverständlichkeiten wie der Wert des Respekts gegenüber Menschen, die wir (noch) gar nicht kennen, online außer Kraft gesetzt sind. Das beweisen die Kommentarspalten jedes sozialen Mediums genauso wie diejenigen, die von traditionellen Presseportalen freigeschaltet werden. Die Bereitschaft, fremde Menschen zu beschimpfen, ohne irgendeinen Versuch zu unternehmen, sie zu verstehen, ist deutlich höher als bei klassischen Leserbriefformaten, was einfach daran liegt, dass es online keinerlei zeitlichen Abstand und keinen Filter gibt zwischen dem Impuls, seine Meinung zu äußern, und der Möglichkeit, sie umgehend publik zu machen.« Möge also auch dem klassischen Leserbrief sein Überleben, sein »Überlebnis« (Ulla Unseld-Berkéwicz) gesichert sein – nicht nur im Kursbuch.