Читать книгу Kursbuch 203 - Группа авторов - Страница 6

Оглавление

Armin Nassehi

Modi des (Über-)Lebens

Passen wir überhaupt in diese Welt?

Um den gesellschaftlichen Grundkonflikt der Moderne zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Kritik der Moderne im Moment ihres Anfangs. In Deutschland wäre es vor allem die frühe Romantik, in Frankreich die Kritik an der Revolution etwa des Gegenaufklärers Joseph de Maistre. Die Grundmotive der Frühromantik kann man als eine Kritik an den Entzweiungen der Moderne paraphrasieren. Philosophisch, ästhetisch, religiös und im Naturverständnis kritisierte diese Bewegung um 1800 den Verlust von Einheit und suchte nach der Versöhnung des Entzweiten. Vor allem in Jena hat sich um 1800 um die Schlegel-Brüder, um Ludwig Tieck, Friedrich Wilhelm Schelling und Novalis eine Bewegung etabliert, die gegen die Differenzierungsprozesse der Moderne deren inneren Zusammenhang setzt, die Natur und Geist nicht als Gegensatz betrachtet, die eine Wiederbelebung des Religiösen gegen die Säkularisierung des Denkens setzt. All das ist nicht besonders tiefenscharf formuliert, aber es ist eines der wirkmächtigsten Motive der Modernitätskritik überhaupt gewesen: den Zusammenhang von Identität und Differenz zu denken, die Trennungen und Differenzierungen der Moderne auszuhalten, unterschiedliche Kontexte zu erleben, mit Perspektivendifferenz zu leben. Die frühromantische Grundidee ist daher nicht einfach eine rückwärtsgewandte Ideologie, sondern sie ist bereits eine Reaktion auf jene Modernisierungserfahrungen, in denen sich die Wissenschaften versachlichen und rationalisieren, der Staat zum Anstaltsstaat wird und sich die Frage nach der Vernunft von der Religion entfernt. Es ist der Versuch, die Welt als Einheit beschreibbar zu machen und den Ursprung aller Teile in einem aufheben zu wollen – und darin ist sie auf eine erstaunliche Art und Weise modern, was immer man darunter genau verstehen will.

Es genügt zunächst diese unscharfe Charakterisierung, um das Bezugsproblem solcher Kritik zu verstehen: Es ist eine Reaktion darauf, dass diese moderne Welt mit ihren Inkonsistenzen und Diskontinuitäten offensichtlich die vormalige, wohlgemerkt: angebliche, ursprüngliche Passung von Welt und Mensch, von Individuum und Gesellschaft, von Einzelnem und Gemeinsamem verloren habe. Ob es jemals eine solche Entsprechung gegeben hat, spielt bei dieser Diagnose keine Rolle – als Projektion hat es sie ohne Zweifel gegeben, im Rekurs auf einen Volksgedanken, auf die Einheit spendende Idee einer beseelten Natur, als Hoffen auf die Monarchie als einer Einheit spendenden Verbindung des Menschen mit einem Fatum in der Figur des Königs etwa bei Novalis, nicht zuletzt als Rechtfertigung einer ständischen Ordnung. Letzteres ist vielleicht die radikalste Kritik der Moderne: der Versuch, die Gesellschaft als Assoziation von Freien und Gleichen wenigstens zu denken gegen den Gedanken, dass dann diese Freien und Gleichen ihren je eigenen Platz verlieren.1

In Frankreich setzt der Gegenaufklärer de Maistre mit seiner Kritik an Jean-Jacques Rousseaus Idee des Gesellschaftsvertrages an. Für ihn setzt die Voraussetzung potenzieller Vertragspartner, die dem Gesellschaftsvertrag zustimmen sollen, bereits jenes Gemeinsame voraus, das sich angeblich durch den Vertrag konstituieren solle. Er wehrt sich gegen die Forderung, die Gesellschaft beziehungsweise der Staat könnten Ergebnis einer Wahl, eines Willens sein, statt ihn tiefer zu fundieren, als etwas, das den Akteuren/Individuen ontologisch vorausgeht.2 Für den französischen Gegenaufklärer war die Revolution vor allem ein Verrat an einer Ordnung, die den Einzelnen ihren Ort zugewiesen hat. Der Verlust besteht gewissermaßen darin, dass die Menschen nun zu einer Freiheit gezwungen sind, die sie überfordert. Hegel hat später ebenfalls vertragstheoretische Modelle – etwa von Thomas Hobbes – ähnlich kritisiert, aber ihn interessierte eher die logische Struktur des Arguments: Es müsse bereits eine das Recht konstituierende staatliche Struktur existieren, damit der Vertrag, der die Grundlage dieses Rechts sein solle, Geltung bekommen könne. Aber anders als Hegel setzt de Maistre hier nicht auf Logik, sondern auf die empirischen Vorzüge einer ständischen Ordnung, die den Einzelnen davon entlasten könne, Autor des eigenen Lebens sein zu müssen. Der große Verrat der Revolution war gewissermaßen der Verrat an einer Ordnung, deren Bedingungen latent bleiben konnten, schon weil man sie gar nicht befragen konnte und durfte. Zugleich hat de Maistre die Gleichheitsunterstellung der Revolution bekämpft – und zwar mit dem Hinweis, dass das Medium, das solche Gleichheit am ehesten herzustellen in der Lage sein könne, das Geld nämlich, zugleich die Quelle neuer, dann aber eben nicht mehr quasi-natürlicher Ungleichheiten sein werde, was das Freiheitsversprechen korrumpiere. Jedenfalls beraube die moderne Idee der Freiheit die Menschen ihres Ortes, zu dem sie immer schon gehören.

Selbstkritik der Moderne

Es ist hier nicht der Ort, die Differenz dieser beiden Denkungsarten angemessen ideengeschichtlich zu rekonstruieren. Vielmehr ist das Motiv bemerkenswert, dass die Kritik der Moderne bereits in statu nascendi ein Motiv enthält, das die Grundkonflikte der westlichen Moderne seitdem ausmacht. Dieser Grundkonflikt ist der Konflikt um die Frage des Ortes, an dem die Einzelnen sich befinden. Wie findet der einzelne Mensch seinen Platz in einer Welt, deren Dynamik ganz offensichtlich solche Plätze nicht mehr einfach voraussetzen kann? Die Moderne scheint tatsächlich mit ihren entfesselten Prozessen, ihren akzelerativen Momenten und der Dezentrierung von Ordnungsbildung zumindest das Erleben von Ordnung schwieriger zu machen. Moderne meint hier keinen Fortschrittsmythos, auch keinen plötzlichen Epochenbruch, wie er in den gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen dominiert, sondern eher das Ergebnis einer Entwicklung, die auf Komplexitätssteigerungen der Gesellschaft reagiert. Diese sind unstrittig und haben etwas mit der Verlängerung von Interdependenzketten zu tun, mit technologischem Wandel und wissenschaftlichem Fortschritt, nicht zuletzt mit der Verselbständigung funktionaler Logiken und ihres Eigensinns – nicht im Sinne eines allgemeinen Fortschritts, wie klassische Modernisierungstheorien und ihre politischen Instrumentalisierungen suggerierten, aber schon im Hinblick auf die Gesellschaftsstruktur. Der sinnfälligste Ausdruck solcher Veränderungen ist schon die quantitative Steigerung von fast allem.

Der britische Informatiker Stephen Emmott hat dies in seinem Buch Zehn Milliarden an Diagrammen festgemacht. Das paradigmatische Diagramm ist das der Bevölkerungsentwicklung – auf der x-Achse die Zeit, auf der y-Achse die Weltbevölkerung. Erst auf den letzten beiden Zentimetern der x-Achse schnellt die Kurve von circa 0,5 Milliarden Menschen auf erwartete zehn Milliarden zum Ende dieses Jahrhunderts hoch. Der exponentielle Ausschlag beginnt vor 200 bis 300 Jahren. Das Buch enthält viele weitere Diagramme – über die Entwicklung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre, über den globalen Temperaturanstieg, den Verlust von Regenwäldern, Wasserverbrauch, Straßenverkehr, Energieparameter usw.3 Das ästhetisch Frappierende: Alle Diagramme sehen fast gleich aus. Die wachstumskritische Botschaft des Buches ist klar – aber auch positiv besetzte Parameter würden in ähnlichen Kurven abgebildet werden: Entscheidungsmöglichkeiten, Literalität, Krankenversorgung, Lebenserwartung, politische Partizipation, Versorgung mit Gütern, Überlebensrate bei Geburten, Gleichstellung von Frauen, Versorgung der Weltbevölkerung, wissenschaftliches Wissen usw.4

All dies jedenfalls ist nicht nur ein Skaleneffekt, nicht einfach eine Multiplikation von Bestehendem, sondern tatsächlich ein Hinweis auf eine qualitative Veränderung, die etwas mit der Komplexität der Gesellschaft zu tun hat. Die entscheidenden Veränderungen sind Optionssteigerungen auf ökonomischen, wissenschaftlichen, technischen, medizinischen, planerischen und politischen Gebieten.5 Die Kritiker der frühen Moderne, wie ich sie gerade paraphrasiert habe, treffen auf jeden Fall einen Punkt in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, der auf so etwas wie den Verlust von Eindeutigkeit, den Verlust von Einheit, den Verlust von primordialen Ordnungen abstellt – selbst wenn das Primordiale nur deswegen so erschien, weil die Hierarchie der Entscheidungswege und das Fehlen von Verbreitungsmedien so etwas wie kommunikative Entfesselung über kleine Oberschichten hinaus völlig unmöglich gemacht hat.

Das Überleben des Menschen

Die heutige Selbstbeschreibung der Gesellschaft kulminiert mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht mehr so sehr in der Frage des Überlebens primordialer Ordnungen, sondern in der Frage nach den Überlebensbedingungen der Menschheit – mit der Atombombe und im Kalten Krieg im Hinblick auf die Möglichkeit der militärischen Zerstörung aller menschlichen Lebensgrundlagen, heute im Hinblick auf den Klimawandel als Kulminationspunkt ökologischer Gefährdungen. Beide Gefahren sind reale Gefahren – aber auch auf einem Abstraktionsniveau, das nicht wirklich in die konkreten Konfliktlinien der Gesellschaft durchschlägt, selbst wenn sowohl die damalige Friedensbewegung als auch die heutige Klimabewegung zu den sichtbarsten Formen katastrophischer Proteste gerannen. Genau besehen aber gruppieren sich die Grundkonflikte der Gesellschaft wenigstens im industrialisierten Westen der Weltgesellschaft um die Frage, mit der ich diese Überlegungen eingeführt habe: mit der Frage nach dem Platz, den der Einzelne in solchen Gesellschaften hat oder beanspruchen kann. Es geht hier weniger um die Überlebensbedingungen der Menschheit als um das Überleben des Menschen als konkretem Exemplar.

Das ist kein modernes Phänomen, sondern eines der Bezugsprobleme gesellschaftlicher Ordnungsbildung überhaupt. Alles Gesellschaftliche muss irgendwie dafür sorgen, menschliches Leben an sich binden zu können – das ist ein universales Bezugsproblem, für das es historisch sehr unterschiedliche Lösungen gab, die allesamt mit der Struktur der Gesellschaft selbst zu tun hatten. In frühen stammesgesellschaftlichen Formen wurde das Problem etwa durch eine spezifische Form der Anwesenheit und Reziprozität gelöst. Menschen lebten in kleinen Gruppen, und Tätigkeiten waren so aufeinander bezogen, dass sie die Kontinuität ihrer Tätigkeiten durch reziproke Formen der Arbeitsteilung gelöst haben. In einer solchen Gesellschaft gab es zwar auch ausdifferenzierte Rollen und erste Hierarchieebenen, aber die Kontinuität eines Lebensverlaufs folgte fast vollständig der sozialen Position der einzelnen Individuen. Hier hatte jeder Mensch einen Platz, zum Teil gebrochen durch Alters- und Geschlechtsdifferenzierung ähnlicher Segmente. Kontinuität war leicht herzustellen, weil die Gesellschaft selbst kaum Diskontinuität kannte. Diskontinuität kam nicht von innen, sondern von außen – als Natur, als Angriff von Feinden oder als Veränderung ökologischer Bedingungen. Das Überleben der Gruppe und das Überleben der Einzelnen war gewissermaßen vollständig parallelisiert – und die Kontrollverhältnisse waren wenig komplex, schon weil eine solche Gesellschaftsstruktur für die Eigenentscheidung von Individuen so gut wie keine Verwendung hatte.

Diese Art von Lösung änderte sich spätestens dort, wo Arbeitsteilung stieg und Komplexität schon dadurch wuchs, dass sich Herrschaftsräume ausweiteten, Hierarchien zunahmen und symbolisch vermittelt werden mussten sowie Gesellschaften schlicht größer wurden. Solchen Gesellschaften gelang es, sich selbst intern zu integrieren, indem sie die Menschen selbst gar nicht als Menschen, sondern vollkommen eindeutig mit ihrer sozialen Position verschmelzen ließen. In historisch grober Ungenauigkeit gesprochen, ist das gewissermaßen der Ausgangspunkt jener ständischen Ordnungen, die Menschen eineindeutige Orte zugewiesen haben und nicht einmal auf die Idee kommen konnten, das »Ungleichheit« zu nennen, weil der Horizont von Gleichheit gar nicht erst auftauchen konnte. Ständische Ordnungen sind Ordnungen, die das erwähnte Bezugsproblem dadurch lösen, dass jede und jeder eindeutig weiß, wo er oder sie hingehört – weitgehend alternativlos. An den Körpern ihrer Existenz hing zugleich der soziale Ort – und die Lebensweise war bestimmt durch die Produktions- und Herrschaftsbedingungen, in denen sich die Individuen bewegten.

Der Nachteil dieser Lösung bestand darin, dass solche Modelle der eindeutigen Zugehörigkeit den Ort der konkreten Person in einem einseitigen Kontrollverhältnis bearbeiten konnten. Der Vorteil dieser Lösung bestand gleichzeitig darin, dass die Kontrollverhältnisse eindeutig waren. Nimmt man de Maistres Kritik an der Revolution ernst, dann ist es eine Kritik daran, dass mit der Aufgabe dieses Ordnungsmodells exakt jenes Kontrollverhältnis verschwindet. De Maistre war kein Romantiker – er glaubte nicht an die Göttlichkeit einer konkreten Ordnung. Er war einer der ersten Soziologen – und als solcher erkannte er die Funktion eines eindeutigen Kontrollverhältnisses: Wenn eine Gesellschaft nicht mehr die Tradition ihrer hierarchischen Gliederung anerkennt, wird sie ordnungslos, weil die Kontrollverhältnisse aus den Fugen geraten. Wie die romantische Variante dieser Diagnose aussieht, habe ich mit der Jenaer Romantik angedeutet: alle Gegensätze (Natur/Geist, Herrscher/Untertan, Mann/Frau usw.) zu überwinden, ohne aber klare Hierarchien infrage zu stellen.

Dass solche Denkungsarten an der Schwelle zur Moderne entstanden, ist eine Reaktion auf ihr Scheitern. Die interne Differenziertheit und Komplexität der Gesellschaft schließt solche eindeutigen Kontrollverhältnisse geradezu aus – nur um neue Kontrollverhältnisse zu etablieren, die aber nicht mehr von jener Latenz und jener primordialen Kraft leben konnten wie zuvor. Man kann es an den gesellschaftlichen Veränderungsstichworten des 19. Jahrhunderts festmachen: der Nationalstaat als komplexe Verwaltungseinheit mit starken bürokratischen Planungshorizonten; die Entstehung des Betriebskapitalismus als völlig neue Form der Organisation von Arbeitsteilung; die unter anderem daraus folgende Urbanisierung der Zentren; die Entstehung von Familienformen mit stabilen Geschlechterrollen; die Etablierung von Bildungskarrieren; die Gestaltung von sozialer Ungleichheit als staatlicher Aufgabe und die Entstehung der »sozialen Frage«; das rechtliche Gleichheitsversprechen bei gleichzeitiger ungleicher Verteilung von Lebensmöglichkeiten sowie die Verwissenschaftlichung des Wissens und so weiter.

Wahrscheinlich waren die Lebensverhältnisse in früheren Mangelgesellschaften für den Großteil der Bevölkerung erheblich schwieriger, aber das Verhältnis von individuellem Überleben und gesellschaftlicher Dynamik war sicher einfacher, zumindest einfacher zu verstehen und einfacher in dem Sinne, dass es wenig Alternativen der je individuellen Lebensgestaltung gab. Eine moderne, hoch arbeitsteilige, funktional differenzierte Gesellschaft musste diese Form der Lebensgestaltung je neu erfinden – und deshalb wurde auch die Schaffung konkreter Orte für das Leben der Menschen zum entscheidenden Gestaltungsthema gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Um eine unvollständige Liste solcher Gestaltungsfragen zu formulieren:

•Die Verbetrieblichung des Kapitalismus und die Organisation von Arbeit etwa mussten das Problem lösen, dass der kleine Beitrag des Einzelnen ökonomisch so viel Mittel abwerfen konnte, dass Personen in der Lage sind, davon zu leben.

•Diese Versorgungsleistung musste sich einerseits auf einem Markt selbst regulieren, andererseits stark genug sein, um Lebensverhältnisse zu etablieren, die Massenloyalität ermöglichten.

•Massenloyalität, auch vor dem Resonanzraum einer entstehenden Öffentlichkeit, ist in einer Demokratie nötig, die langsam erst allen Männern, viel später auch Frauen das Wahlrecht übertrug und das Risiko einging, Herrschaft vom Willen des Volkes abhängig zu machen.

•Das Bildungssystem musste zweierlei leisten – möglichst gute Bildung für die unterschiedlichen Klassen und Schichten, aber eben nicht zu viel davon, um die Schichtung der Gesellschaft durch ungleiche Zuweisung von Positionen stabilisieren zu können.

•Die Erfindung von Kindheit und Jugend als Bildungs- und Vorbereitungszeit versorgt das gesellschaftliche Personal mit ausreichend Komplexität für die Lebensführung.

•Die Versorgung der Gesellschaft mit Massengütern für Massen, die diese Güter nicht selbst herstellen.

•Eine Sozial- und Wirtschaftsplanung.

•Die Organisation von Daseinsvorsorge und Finanzierung von Ausfallzeiten, etwa durch Unterstützungs- und Versicherungssysteme.

•Was oft vergessen wird: Die Organisation der Daseinsvorsorge durch Sozialpolitik, Umverteilung und Formen der Anspruchsberechtigung konzentriert sich auf die Erreichbarkeit eines nationalen Rahmens, der erst Gestaltung und Planung, Kontrolle und Limitierung möglich macht.

•Das Erfolgsmodell der »Nation« als dem entscheidenden Schema der räumlichen Begrenzung von Einflusssphären nutzt zwar kulturelle Chiffren von Überlieferungen, Codierungen und Traditionen, hat aber vor allem den Sinn, Gestaltungsräume voneinander abzugrenzen und »Gesellschaft« als Raum der Limitation von Zugehörigkeit wie auch der Etablierung von Konflikten als Öffentlichkeit zu inszenieren.

•Die Erfindung des Inländers und des Fremden als exklusive Kategorien reguliert die Zugehörigkeit zum Volkskörper.

•Der Staatsbürgerstatus oder Derivate davon, die Aufenthaltsrecht und damit Lebensplanung ermöglichen, sind gewissermaßen das direkte Korrelat der Notwendigkeit, dass das Leben nicht einfach stattfindet, sondern sowohl aktiv geführt als auch passiv ermöglicht und staatlich kontrolliert werden muss.

Wie bereits erwähnt: Diese Liste ist nicht vollständig und zugegebenermaßen allzu technokratisch beschrieben. Aber sie macht eines deutlich: Sie reagiert auf eine Gesellschaft, die die Orte definierte, an denen sich Personen aufgehalten haben und die die Kontinuität ihres Lebensverlaufs selbst herstellen mussten – man nannte das »Lebensführung« –, ohne dass dies in der Gesellschaftsstruktur selbst verankert war. Das Entscheidende ist, dass gesellschaftliche Modernität bedeutet, dass die unterschiedlichen Elemente, die so etwas wie Orte der Lebensführung erzeugen, vergleichsweise unkoordiniert waren und eigens hergestellt werden mussten. Die Komplexität der modernen Gesellschaft war und ist darauf angewiesen, nicht zu viel festzulegen. Die Leistungsfähigkeit gerade der industriegesellschaftlichen westlichen Moderne bestand darin, dass Differenzierungsprozesse und die Unterbrechung von strikten Kontrollverhältnissen erst jene Kreativität und Flexibilität ermöglicht haben, die die Basis für die Selbstanpassung der Gesellschaft an ihre interne Dynamik ermöglicht hat.

Kontrollverhältnisse

Es geht um Kontrollverhältnisse. Gesellschaften unseres Typs verzichten auf starke Kontrollverhältnisse – sie reagieren auf Komplexität etwa mit der Erfindung des Individuums, das sich in den unterschiedlichen Ansprüchen der Gesellschaft selbst zurechtfinden darf und muss. Die Freiheitssemantik dockt an beide Erfahrungen an: Es ist im bürgerlichen Sinne frei, denken zu dürfen, was es will, Entscheidungen selbst zu treffen und Verantwortung für das Leben zu übernehmen; in Marx’scher Diktion ist es anders als der Sklave frei, seine Arbeitskraft auf den Markt zu tragen, aber eben auch frei von der Verfügung über die Produktionsmittel. Darin wird deutlich, wie die Gesellschaft gerade durch Verzicht auf eindeutige Kontrollverhältnisse das eigene Komplexitätsproblem löst – sie kann den freien Arbeiter/das freie Individuum ebenso loswerden, wie sich bisweilen von der freien Meinung ihres Personals unabhängig machen. Sie kann genügend Komplexität aufbauen, weil Freiheit Variation und Flexibilität aufbaut und ermöglicht, sie muss deshalb keine zu kompakten Lebensverhältnisse schaffen, in denen alles vorstrukturiert ist. Sie verzichtet damit auf quasi natürliche Ordnungen, muss aber mit der Volatilität ihrer eigenen Dynamik umgehen.

Das Individuum ist in diesem Sinne nicht unteilbar, sondern letztlich, wieder mit Marx gesprochen, ein »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«. Das Individuum steht nicht der Gesellschaft gegenüber, sondern wird durch seine Individualität von der Gesellschaft erzeugt – und zwar in differenzierter Vielfalt: Das Rechtssystem erzeugt ein zurechnungsfähiges Rechtssubjekt, Arbeitsmärkte erzeugen Karrierewege und damit individuelle Berufsbiografien, Produktmärkte erzeugen den individuell entscheidenden Konsumenten, die politische Öffentlichkeit verlangt politische Bekenntnisse und Wahlstimmen von jedem und jeder Einzelnen, der Staat macht aus Menschen Bürger, das Bildungssystem erzeugt Persönlichkeiten und einen Habitus der Langsicht im Hinblick auf spätere Tätigkeiten, die Medizin erzeugt eine Orientierung an der eigenen Körper-/Krankheitsgeschichte, die Massenmedien versorgen die Einzelnen mit Bildern und Chiffren, wie man sich als Individuum beschreiben und darstellen kann, und selbst die Religion verlangt in unseren Zeiten eine bewusste individuelle Entscheidung für Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit. Selbst die Erlösungsfähigkeit wird individualisiert.

Der Zusammenhang dieser unterschiedlichen Individualisierungsformen aber wird nicht durch kompakte Orte hergestellt. Zwar erzeugt die Gesellschaft erhebliche soziale Ungleichheiten, Milieus und sehr unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten, aber das ist eher das Ergebnis als die Voraussetzung der gesellschaftlichen Dynamik. Das moderne Versprechen, dass jeder und jede etwas werden kann, heißt eben auch, dass nicht jeder und jede auch etwas wird. Das ist das Bezugsproblem einer Gesellschaft, die darauf angewiesen ist, Individuen einerseits stark gesellschaftlich zu formieren, andererseits aber auch ausreichend unterbestimmt zu lassen.

Will man es systemtheoretisch formulieren: Dem Gesellschaftssystem und den Organisationssystemen stehen Mechanismen wie Differenzierung, Gleichzeitigkeit, Unterbrechungen, Selbstzerstörung von Strukturen, evolutionäre Brüche und radikale Beschleunigung zur Verfügung. Psychischen Systemen, den Körpern von Menschen, aber auch auf Langfristigkeit gebauten Versorgungsbeziehungen (wie Elternschaft, Pflege) stehen diese Mechanismen nicht zur Verfügung. In der Forschung der 1980er-Jahre hat man für die industriegesellschaftliche Moderne von der »Institutionalisierung des Lebenslaufs«6 oder von einem institutionengestützten »life course«7 gesprochen. Gemeint war die versicherungstechnische, institutionelle, sozialpolitische, gesetzliche, arbeitsorganisatorische und auch mentale Herstellung von Kontinuität in einer diskontinuierlichen Welt.

Die großen politischen Spieler der westlichen Länder gruppierten sich fast nur um diese Frage:

•Für Konservative ging es um die Rettung sogenannter gewachsener Lebensformen und die Verteidigung einer überkommenen Schichtung der Gesellschaft bei gleichzeitiger Anerkennung der modernen Komplexität, die sie vor allem durch Rekurs auf die imagined community der Nation als Einheit simulieren, die die Gesellschaft nicht ist. Die semantische Übersteigerung der Nation reagiert auf die Unmöglichkeit, mit ihr das zu kompensieren, was der Konservatismus für die eigene Tradition hält. Deshalb ist der Konservatismus eine eminent moderne politische Form, weil er eine semantische Problemlösung für Modernisierungsfolgen anbietet. Die Staatsnähe des Konservatismus ist eine Nähe zum Staat als Garant einer gewachsenen Ordnung, wozu meistens auch die Wirtschaftsordnung gehört, dazu gehört auch die Etablierung sozialpolitischer Maßnahmen – gerade in Deutschland deutlich an den unterschiedlichen Quellen in der katholischen und auch evangelischen Soziallehre einerseits, in der sozialistischen andererseits. Konservative Formen der Herstellung von Kontinuität sind Formen, die an Strukturen ansetzen, die in der Gesellschaft bereits als vorhanden gelten: regionale Traditionen, Berufsstände und familiale Kontinuitäten.

•Für die Sozialdemokratie oder sozialistische politische Akteure ging es noch expliziter um die Herstellung von Kontinuität in einer diskontinuierlichen Wirtschaftswelt. Es ging darum, trotz Volatilität von Märkten eine Lebens- und Versorgungsperspektive für die arbeitenden Menschen zu ermöglichen. Es ging um die Erzeugung von Kontinuität, weswegen solche Parteien in der Vergangenheit tatsächlich mehr als nur politische Organisationen waren, sondern auch Bildungs- und Kulturorganisationen als Identitätsangebot für diejenigen, die frei von traditionellen Versorgungsstrukturen waren. Klassische sozialdemokratische Politik zeichnete sich durch eine größere Bereitschaft zur Umverteilung aus.

•Der politische Liberalismus schließlich stand einerseits für Abwehrrechte gegen einen autoritären Staat, andererseits für die Idee, der Volatilität und Eigendynamik der Gesellschaft und den ordnungsbildenden Kräften des Marktes zu vertrauen. Der Liberalismus war auf der einen Seite eine starke Freiheitsbewegung, die von der Kritik der Bevormundung durch den Staat, die Kirche, durch Traditionen und tradierte Lebensformen geprägt ist. Darin ist der klassische Liberalismus vor allem an den Bürgerrechten orientiert. Andererseits neigt er bisweilen zu einer merkwürdigen Anfälligkeit für rechte Ideologien, weil eine der Konsequenzen eines staatsfernen Liberalismus dem Recht des Stärkeren und der Verdrängung des Schwachen nahesteht.

Genau gesehen gruppieren sich die zentralen politischen Konflikte noch immer um diese Formen, die Zugehörigkeiten, Zeitperspektiven und Kontinuitäten auf unterschiedliche Weise erzeugen wollen. Diese Differenzierung von politischen Bewegungen folgt letztlich einem einzigen Bezugsproblem: der Positionierung und Kontinuität von Leben in einer volatilen, ausdifferenzierten Gesellschaft. Die Lösungen sind unterschiedlich, aber das Bezugsproblem ist dasselbe.

Die Krise der klassischen Parteien, wie sie hier als konservative, sozialdemokratische und liberale Formen idealtypisch aufgelistet sind, liegt dann womöglich viel weniger an der Krise der konservativen, sozialdemokratischen oder liberalen Variante, sondern an einer Krise der politischen Konflikte. Die klassische westliche nationalstaatliche Gesellschaft, die zumindest der weltgesellschaftliche »Westen« seit dem 19. Jahrhundert für das gesellschaftliche Grundmodell schlechthin gehalten hat, hat diese Bedingungen des Überlebens als ein Problem der vor allem staatlichen Herstellung von Kontinuität gehalten. Dass zur staatlichen Aufgabe des Nationalstaates die Organisation einer dauerhaften Ordnung gehört, einer Ordnung, die erwartbare Abläufe sichert und Massenloyalität erzeugt, weist auf dieses Bezugsproblem hin. Die katastrophischen Teile der gesellschaftlichen Moderne haben stets etwas mit dem Problem zu tun gehabt, diesen Ort der Ordnung in Abgrenzung zu anderen zu etablieren. Dazu gehört die nationalistische Erfindung von communities8 als Ersatzorte für eine multizentrische Welt, die Erfindung des Fremden und die fast universale Etablierung des Antisemitismus und des Rassismus/Kolonialismus. Dazu gehören die totalitären Versuche der Gesamtsteuerung der Gesellschaft in ihrer faschistischen, nationalsozialistischen, aber auch in ihrer kommunistischen Variante. Diese Krisenformen der Moderne haben letztlich alle dort angesetzt, wo es um die Überlebensbedingungen des eigenen Personals ging – allesamt gepaart mit der historischen Ironie, dass diese Überlebensregime besonders viele Todesopfer durch Kriege, Vernichtung und Hungersnöte erzeugt haben. Sie sind allesamt keine Dementierung der Moderne, sondern laborieren direkt an ihrem Bezugsproblem, der Herstellung von Kontinuität in einer volatilen Welt.

Das Ende des »Goldenen Zeitalters«

Eric Hobsbawm hat die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa und Nordamerika als eine Art »Goldenes Zeitalter« bezeichnet. Vielleicht ist es damals noch am ehesten gelungen, ökonomische, politische, rechtliche und kulturelle Aspekte so miteinander zu verbinden, dass sich ökonomische Potenz und langfristige Versorgungsbeziehungen, Zugehörigkeiten und Weltoffenheit, geschlechtliche Arbeitsteilung und Bildungsorientierung miteinander verbinden ließen. Vielleicht liegt es an der Kombination einer industriellen Produktionsweise, die schon investitionstechnisch auf Langfristigkeit angelegt und zugleich auf langfristig verwertbare Arbeitskraft angewiesen war, mit den Kontinuitätserwartungen von Lebensformen und nationalstaatlicher Entscheidungsautonomie.

Diese Bedingungen geraten unter Druck: nationalstaatliche Autonomie, volatile Märkte mit tiefem globalem Vernetzungsgrad ebenso wie die durch Digitalisierung ungeklärte Frage des Beitrags der arbeitenden Menschen an der Wertschöpfung, die Frage der kulturellen Zugehörigkeit ebenso wie die Asymmetrie von Milieus und Geschlechtern haben diese Passung infrage gestellt. Jedenfalls zeichnet sich ab, dass die klassischen politischen Positionen nicht mehr genügend Konfliktpotenzial entfalten, um angesichts dieser Herausforderungen konkurrierende Lösungen für diese Überlebensfrage anzubieten. Zumindest sollte deutlich geworden sein, welche Sprengkraft die gesellschaftliche Institutionalisierung von Kontinuität und Überlebensbedingungen der Menschen birgt. Die Frage ist tatsächlich: Passen wir überhaupt in diese Welt?

Der Streit um die Identitätspolitik, der derzeit geführt wird, gehört übrigens direkt in diese Kategorie von Konflikt. Der Vorwurf gegen identitätspolitische Ansprüche lautet oft: Ihr kümmert euch nicht um die klassischen Konflikte der modernen Gesellschaft, um gerechte Verteilung von Gütern und Daseinsvorsorge, sondern nur um kulturelle Repräsentation. Und in der Tat geht es hier um Zugehörigkeiten und Anerkennungsverhältnisse, aber damit gehören sie geradezu in den klassischen Kanon der kontingenten und fragilen Herstellung von Orten, an denen sich Personen bewegen können. Denn gerade die Komplexität der Gesellschaft und ihre Indifferenz für konkrete Lebenslagen erzeugen geplante und ungeplante Strukturierungen von Zugehörigkeit und Anerkennung in bestimmten Räumen. Identitätspolitische Fragen docken vor allem an zugeschriebenen Merkmalen an – am Geschlecht, an der ethnischen Herkunft, an der Hautfarbe oder an der sexuellen Orientierung, und damit versuchen sie letztlich ähnliche Probleme zu lösen wie frühere Institutionenarrangements.

Weist das womöglich in die Richtung, in der Gesellschaften in Zukunft dieses Bezugsproblem lösen? Vielleicht – und wenn ja, wären das völlig andere Konstellationen als die bisherigen. Vielleicht sind sie auch nur ein Übergangsphänomen dort, wo die klassischen Institutionenarrangements noch einigermaßen funktionieren – deshalb ist die entsprechende Trägergruppe solcher Debatten auch eher weniger nah an der ökonomischen Wertschöpfungskette und doch in ökonomisch vergleichsweise stabilen und wenig volatilen Zusammenhängen zu finden. Vielleicht ist es ein Übergangsphänomen. Und vielleicht ist es eher das chinesische Modell, das sich durchsetzen wird, in dem der Zusammenhang von Individualität und Kontrolle ganz anders gelöst wird, aber eben auch über eine starke Semantik der Zugehörigkeit.

Zum Schluss: Überleben mit dem Virus

Die weltweite Covid-19-Krise ist ein guter Indikator für die Frage des Überlebens – im unmittelbaren Sinne. Man kann hier die unterschiedlichen Ergebnisse solcher institutioneller Überlebensarrangements in unterschiedlichen sozialpolitischen Regimes besichtigen – der eklatante Unterschied der Auswirkungen der gegenwärtigen Krise in den Vereinigten Staaten und etwa in Deutschland liegt nicht nur an den politischen Akteuren, sondern vor allem daran, wie unterschiedlich in den beiden Ländern so etwas wie ein Kontinuitätsmanagement des Überlebens ermöglicht wird. In Deutschland zahlt sich der stabile Sozialstaat ebenso aus wie eine robuste Förderpolitik für bestimmte Branchen. Das weitgehend frei zugängliche Gesundheitssystem und das Kurzarbeitergeld sind zwei Beispiele für die auch kurzfristige Bearbeitung von Diskontinuitäten zur Aufrechterhaltung von Strukturen – von unternehmerischen Strukturen ebenso wie von Strukturen zur Herstellung persönlicher Kontinuität. Die Unterschiede sind hier eklatant. Das US-Modell mit einer kaum wirksamen Sozialpolitik und einer für viele unzugänglichen medizinischen Versorgung trotz der wohl weltweit besten Hochleistungsmedizin stellt Überlebensbedingungen in Krisensituationen schlicht infrage. Zugleich erzeugt ein solches Arrangement eine deutliche strukturelle Ausgrenzung wohldefinierter Gruppen aus den Leistungsbereichen des Bildungs- und des Medizinsystems, aber auch im Hinblick auf ökonomische Sicherheit und Sicherheit für Leib und Leben.

An der Covid-19-Krise lässt sich jedenfalls die Fragilität gesellschaftlicher Überlebensarrangements gut ablesen – und damit ist nicht nur die medizinische Überlebensfrage gemeint. Wie sehr die Kontinuität unseres Lebens und ihrer erwartbaren Strukturen von vielfältigen und komplexen Bedingungen und Regelkreisen abhängig ist, lässt sich daran beobachten, wie schnell ökonomisch stabile Strukturen und mit ihnen Arbeitsplätze verschwinden, wenn der cashflow nur für kurze Zeit unterbrochen wird, wie sehr der cashflow davon abhängig ist, dass man als Kunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann, wie selbst einfache Produktionsketten davon abhängig sind, dass Zulieferung aus anderen Regionen und Ländern sichergestellt ist, wie sehr die Geschlechtergleichheit davon abhängig ist, dass Kinderbetreuungseinrichtungen geöffnet haben und wie sehr deren Öffnungszeiten von der Kontakthäufigkeit der Kinder und des Betreuungspersonals an anderen Orten abhängig sind. Man sieht in der Krise, wie die Familie als Kontinuitätsraum von der Diskontinuität der Kontakte ihres Personals abhängig ist, um nicht überlastet zu werden. Und man lernt, wie radikal die Unterbrechung von Bildungsprozessen Aufmerksamkeit erzeugt. Wir lernen in der Krise, wie existenziell wichtig zum Teil schlecht bezahlte Berufe im Einzelhandel, in der Krankenpflege und in der Müllabfuhr für die Kontinuität des Alltagslebens sind. Und wir werden sichtbar darauf aufmerksam gemacht, wie sehr private Versorgungs- und Pflegeleistungen geradezu Bedingung der Möglichkeit einer funktionierenden Lebensform sind. Wir lernen sogar, dass der sinnlose Konsum von Dingen, die niemand braucht, von der Wirtschaft gebraucht wird, um jene Kontinuität von Geldfluss herzustellen, der auch kontinuierliche Lebensformen zumindest für die erzeugt, die nicht über hohe Vermögen verfügen. Und wir lernen, wie abhängig wir von Infrastrukturen der Energie-, Geld-, Wasser-, Arzneimittel- und der Nahrungsmittelversorgung sind. Zugleich erleben wir, wie schwer jene Umstellung unserer Lebensform zu bewerkstelligen ist, die für die Bewältigung etwa des Klimawandels notwendig ist, ohne die Interdependenzen jener fragilen Wechselwirkungen infrage zu stellen. Die Krise lässt jedenfalls diese Grundfrage der gesellschaftlichen Moderne sehr sichtbar werden: Passen wir überhaupt in diese Welt? Die Antwort lautet streng genommen: Nein. Das wussten offensichtlich schon die Romantiker und die Gegenaufklärer vor 200 Jahren.

Anmerkungen

1 Zur philosophischen Frühromantik vgl. Manfred Frank: »Unendliche Annäherung«. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt am Main 1998.

2 Vgl. Joseph de Maistre: Von der Souveränität. Ein Anti-Gesellschaftsvertrag. Berlin 2016, S. 8.

3 Vgl. Stephen Emmott: Zehn Milliarden. Berlin 2013.

4 Vgl. dazu Hans Rosling: Factfulness. Berlin 2018.

5 Vgl. dazu Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft, 3. Aufl. Hamburg 2019, S. 106 ff.

6 Vgl. Martin Kohli: »Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), S. 1–29; ders.: »Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Ein Blick zurück und nach vorne«, in: Jutta Allmendinger (Hrsg.): Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Opladen 2003, S. 525–546.

7 Vgl. John W. Meyer: »The Self and the Life Course. Institutionalization and its Effects«, in: A. Sorensen et al. (eds.): Human Developement and the Life Course. Hillsdale 1986, S. 199–216.

8 Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York 1983.

Kursbuch 203

Подняться наверх