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DER ERFINDER DES MARXISMUS

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Kein Zweifel: Ohne Engels wäre das Marx’sche Werk kaum zustande gekommen. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf seine äußere, finanzielle Unterstützung und so manchen darüber hinaus gehenden Freundschaftsdienst, sondern gleichermaßen für seine wesentlichen inhaltlichen Beiträge, für die gemeinsame literarische und politische Arbeit, für die Tätigkeit als Herausgeber und für die – wie wir noch sehen werden, nicht immer unproblematische – Popularisierung und Verbreitung des Marx’schen Denkens. Den größten Teil seines Lebens hat Engels in den Dienst des Werkes seines Freundes und Kampfgefährten gestellt. Ihn aus dem übergroßen Schatten des Karl Marx herauszuholen, ihn als eigenständigen, originellen Denker und als Intellektuellen des 19. Jahrhunderts von außergewöhnlichem Format vorzustellen: Dies ist unter anderem das Anliegen dieser kleinen kommentierten Textsammlung.

»Der Mann, der den Marxismus erfand« – So lautet der Untertitel einer der besten Engels-Biografien (Hunt 22017). Und tatsächlich war es Engels, der aus den vielfältigen Elementen der Marx’schen kritischen Gesellschaftstheorie ein in sich geschlossenes, umfassendes Lehrgebäude zu errichten bestrebt war, was der Intention von Karl Marx selbst allerdings zuwiderlief und dessen Denken groben Entstellungen und Missverständnissen aussetzte. Darin liegt wohl die Tragik des Friedrich Engels: In seinem Bestreben, Marx groß zu machen, hat er ihn zugleich auch verfälscht, hat er zumindest einer recht einseitigen Rezeption Vorschub geleistet. »Eins ist sicher: Ich bin kein Marxist.« (vgl. MEW 37, 436) Nach Auskunft seines Schwiegersohns Paul Lafargue soll Marx mit diesem Satz darauf reagiert haben, dass die französische Arbeiterpartei in ihrem Programm erstmals vom Marxismus sprach. Und in der Tat: Das Marx’sche Werk weist zwar ohne Zweifel starke sich durchhaltende Denkmotive auf (ich zähle hierzu vor allem seinen »historischen Materialismus« und seine Charakterisierung der kapitalistischen Ökonomie als »Fetisch«), die es verbieten, sich daraus einfach nach Belieben zu bedienen. Andererseits aber ist es, liest man es diachron, so vielen Selbstkorrekturen unterworfen, enthält es neben Grundsätzlichem so viel der Tagespolitik Geschuldetes, führt es so viele wichtige Denklinien nur andeutungsweise aus, dass es sich einer vollständigen Systematisierung sperrt. Vor allem aber hatte Marx selbst keinen »weltanschaulichen« Anspruch in dem Sinne, dass er eine umfassende Deutung der Wirklichkeit im Stile Hegels liefern wollte. In seinem Bestreben, das Marx’sche Denken dem positivistischen und szientistischen Geist einer Zeit nahezubringen, die geprägt war von den atemberaubenden Fortschritten in fast allen naturwissenschaftlichen Disziplinen, ist Engels der Versuchung erlegen, sich und seinen Freund Marx diesem Zeitgeist anzudienen – mit fatalen Folgen.

Als Friedrich Engels am 28. November 1820 in Barmen geboren wird, ist seine Familie bereits in dritter Generation im Textilgeschäft tätig. Friedrichs Urgroßvater Johann Kaspar hatte die industrielle Karriere mit einer Bleicherei begonnen und den Aufstieg der ursprünglich bäuerlichen Familie zu führenden Fabrikanten ihrer Zeit initiiert. Der Vater, Friedrich Engels sen., führte diese Tradition fort und gründete zusammen mit den aus den Niederlanden stammenden Brüdern Ermen eine Baumwollspinnerei mit einer Niederlassung in Manchester.

Die Textilproduktion bescherte den Gemeinden im Wuppertal einen Boom. Flachsbleichereien, Garnspinnereien, Spitzenfabrikation usw. in mehr als 200 Produktionsstätten sorgten für einen Zulauf an Arbeitskräften und wirtschaftlichen Aufschwung, dessen Kehrseite allerdings das Elend und die Verwahrlosung der Arbeiter und Arbeiterinnen selbst war. Das geistig abstumpfende Klima seiner Heimatstadt schildert der junge Friedrich Engels selbst mit galligem Spott:

Von Bildung – keine Idee; wer Whist und Billard spielen, etwas politisieren, ein gewandtes Kompliment machen kann, das ist in Barmen und Elberfeld ein gebildeter Mann. Es ist ein schreckliches Leben, was diese Menschen führen, und sie sind doch so vergnügt dabei; den Tag über versenken sie sich in die Zahlen ihrer Konti, und das mit einer Wut, mit einem Interesse, dass man es kaum glauben möchte; abends zur bestimmten Stunde zieht alles in die Gesellschaften, wo sie Karten spielen, politisieren und rauchen, um mit dem Schlage neun nach Hause zurückzukehren. So geht es alle Tage, ohne Veränderung, und wehe dem, der ihnen dazwischenkömmt; er kann der ungnädigsten Ungnade gewiss sein. – Die jungen Leute werden brav von ihren Vätern in die Schule genommen; sie lassen sich auch sehr gut an, ebenso zu werden. Ihre Unterhaltungsgegenstände sind ziemlich einförmig; die Barmer sprechen mehr von Pferden, die Elberfelder von Hunden; wenn’s hochkommt, werden auch Schönheiten rezensiert oder es wird von Geschäftssachen geplappert, das ist alles. (MEW 1, 428)

Der Geschäftsgeist der aufstrebenden Fabrikherren paarte sich in Barmen und Elberfeld mit einem vom Pietismus durchdrungenen geistigen Klima. Diese im 17. Jahrhundert entstandene Frömmigkeitsbewegung setzte der protestantischen Orthodoxie eine sehr gefühlsbetonte, allein jenseitsorientierte Innerlichkeit entgegen. In Engels’ Heimat ging diese Art von Religiosität eine fatale Verbindung mit einer kalvinistischen Ethik ein, die den wirtschaftlichen Erfolg als Zeichen der Auserwählung deutete und so den erbärmlichen sozialen Zuständen eine religiöse Legitimation verschuf.

Im jungen, äußerst begabten Gymnasiasten Friedrich Engels wird bald ein reges Interesse an den Künsten, vor allem an der Literatur, geweckt, was aber den Plänen seines Vaters gar nicht entspricht. Mit 17 Jahren muss er auf dessen Betreiben das Gymnasium verlassen, um die Familientradition fortzuführen und den Kaufmannsberuf zu erlernen – zuerst im väterlichen Betrieb in Barmen und schließlich in Bremen, wo er von der räumlichen Distanz zum Elternhaus profitiert, seinen literarischen Neigungen nachgeht und, froh, der heimatlichen, von pietistischer Frömmigkeit triefenden Atmosphäre entkommen zu sein, sein Junggesellenleben genießt. Der Bremer Ratskeller rühmt sich heute noch des jungen Friedrich Engels als eines seiner prominenten Stammgäste. Literarisch beginnt sich Engels von seiner ursprünglichen Begeisterung für die Romantik zu lösen und schließt sich der Bewegung des »Jungen Deutschland« an, die durchaus von radikalliberalen politischen Ideen durchdrungen ist. In ihrem von Karl Gutzkow herausgegebenen Organ, dem Telegraph für Deutschland, begegnen uns denn auch die ersten bedeutenden, noch unter dem Pseudonym Friedrich Oswald veröffentlichten, Texte des jungen Engels (s. S. 21 ff).

Einen bedeutsamen biografischen Einschnitt stellt der Militärdienst dar, den er 1841/1842 in Berlin absolviert. Zeit seines Lebens bleibt Engels ein begeisterter und offenbar kenntnisreicher und gewandter Militärstratege. Im Zuge der Revolution von 1848/49 wird er sich August Willichs Truppen in Baden und in der Pfalz anschließen und dort sein militärisches Talent unter Beweis stellen. Und den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 begleitet er mit einer Reihe von Veröffentlichungen, die die strategische Ausgangsposition genau analysieren und den Verlauf der einzelnen Kriegshandlungen präzise voraussagen (vgl. Über den Krieg; MEW 17, 9–264). Noch wichtiger jedoch ist: Der junge Offiziersanwärter genießt vor allem das Privileg, während seines Militärdienstes als Gasthörer an der Berliner Universität Vorlesungen zu besuchen. Er schließt sich bald dem Kreis der Junghegelianer an, deren führender Kopf neben Bruno Bauer einst Karl Marx gewesen war. Den »schwarzen Kerl aus Trier« – so bezeichnet ihn Engels in einem kleinen humorvollen Gedicht auf die Junghegelianer – lernt er dort nicht mehr persönlich kennen, wohl aber bekommt er mit, welchen Ruf Marx in diesem Kreis immer noch genießt.

Ein wesentlicher Aspekt von Friedrich Engels’ Emanzipation von seiner Herkunft ist sein mühevoller Ablösungsprozess von der in der Familie praktizierten Religion. Er hat es sich damit keineswegs leicht gemacht, wie seine eigenen überlieferten Selbstzeugnisse belegen:

Ich bete täglich, ja fast den ganzen Tag um Wahrheit, habe es getan, sobald ich anfing zu zweifeln, und komme doch nicht zu eurem Glauben zurück […]. Die Tränen kommen mir in die Augen […]. Du liegst freilich behaglich in deinem Glauben wie im warmen Bett und kennst den Kampf nicht, den wir durchzumachen haben, wenn wir Menschen es entscheiden sollen, ob Gott ist oder nicht; du kennst den Druck solcher Last nicht, die man mit dem ersten Zweifel fühlt, der Last des alten Glaubens, wo man sich entscheiden soll, für oder wider, forttragen oder abschütteln. (MEW 41, 407–408)

Vom Pietismus führt sein Weg zunächst über die aufgeklärte Form des Protestantismus, dessen herausragender Vertreter Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher ist. Einen entscheidenden Einfluss übt dann David Friedrich Strauß aus, der in seinem Buch Das Leben Jesu, kritisch betrachtet im Anschluss an Hegel ein radikales Entmythologisierungsprogramm des Christentums vorlegt und letztlich den Weg vom positiven Christentum zum Humanismus weist. Den letzten Schritt der Überwindung der Religion vollzieht Engels schließlich mit Ludwig Feuerbach, dem Hegel-Schüler, der in seinem bahnbrechenden Werk Das Wesen des Christentums Gott mitsamt all seinen Attributen als Projektion des Gattungswesens Mensch erklärt. Engels beschreibt dessen Wirkung auf ihn:

Mit einem Schlag zerstäubte es den Widerspruch, indem es den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron erhob […] außer der Natur und den Menschen existiert nichts, und die höhern Wesen, die unsere religiöse Fantasie erschuf, sind nur die fantastische Rückspiegelung unsers eignen Wesens. Der Bann war gebrochen; das »System« war gesprengt und beiseite geworfen […]. Man muss die befreiende Wirkung dieses Buchs selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen. Die Begeisterung war allgemein. Wir waren alle momentan Feuerbachianer. (MEW 21, 272)

Auch nach dieser endgültigen religionskritischen Wende und nach der ausdrücklichen Kritik an Feuerbachs abstraktem, sensualistischem Materialismus, die Engels später zusammen mit Marx entwickeln sollte, bleibt die Religion noch in der Gestalt ihrer Negation ein bestimmendes Lebensthema bis in seine späten Jahre (s. S. 108 ff; 138 ff).

Noch vor seiner schicksalhaften Begegnung mit Karl Marx1 hatte Engels bereits zu einem dezidiert sozialistischen Standpunkt gefunden. Sein kritischer Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, der zunächst hauptsächlich biografisch motiviert scheint, wandelt sich nun zur immer klareren Analyse der ökonomischen Mechanismen, und zwar ganz offensichtlich unter dem Einfluss des jüdischen Kaufmannssohns Moses Heß, mit dem zusammen er später in Elberfeld eine rege sozialistische Propagandatätigkeit entfalten sollte, bis es zu einem unschönen privaten Zerwürfnis kam. Eine erstaunliche Parallele zu Marx ist hier festzustellen: Auch Marx kam in der Person von Moses Heß zum ersten Mal in Berührung mit sozialistischem Gedankengut, lernte ihn in Köln in seiner Zeit als Redakteur der Rheinischen Zeitung persönlich kennen und nahm vermutlich regelmäßig an seinen Gesprächszirkeln teil. In diese Zeit fiel übrigens auch die erste flüchtige Begegnung Marx’ mit Engels, die allerdings recht unterkühlt verlief, da Marx inzwischen mit den Berliner Junghegelianern, denen er Engels zuordnete, gebrochen hatte. Erst in Paris wurde Marx wieder auf Friedrich Engels aufmerksam: Der Redakteur der Deutsch-Französischen Jahrbücher bekam einen beeindruckenden Essay über Ökonomie aus Engels’ Feder auf den Tisch (s. S. 27 ff), der die wohl bemerkenswerteste Freundschaft der Geistesgeschichte und eine lebenslange Zusammenarbeit begründen sollte.

In Manchester, dem Ort der Textilfabrik, an der auch sein Vater beteiligt war, fand Engels reiches Anschauungsmaterial für den englischen Frühkapitalismus. Der Fabrikantensohn nahm hier einen erstaunlichen gesellschaftlichen Standortwechsel vor, pflegte engen Kontakt zu den Arbeitern und ging eine Liaison zu zwei irischen Arbeiterinnen, den Schwestern Mary und Lizzy Burns, ein. Jenny Marx, die Ehefrau von Karl Marx, rümpfte über diese unkonventionelle Ménage a trois deutlich die Nase, und nachdem Karl Marx auf die Nachricht von Marys Tod sehr unsensibel reagiert hatte, wäre es fast zum Bruch zwischen den Freunden gekommen. Engels lebte danach mit Lizzy zusammen und schloss mit der gläubigen irischen Katholikin noch an deren Totenbett den Ehebund nach katholischem Ritus.

Ein literarisches Dokument ersten Ranges sollte diesem Nahverhältnis zum Industrieproletariat entspringen, das vielen als Engels’ Hauptwerk gilt: Die Lage der arbeitenden Klasse in England (s. S. 41 ff). Manchester war auch der Ort, an dem der utopische Sozialist Robert Owen eine zahlreiche Anhängerschaft besaß. Seine im religiösen Stil propagierten Ideen standen in scharfem Kontrast zum Bestreben von Marx und Engels, an die wirkliche geschichtliche Bewegung anzuknüpfen.

Einen Höhepunkt der Zusammenarbeit zwischen Marx und Engels bildete die Zeit im Brüsseler Exil. Hier sollten zwei Gemeinschaftswerke mit einer außergewöhnlichen Wirkungsgeschichte entstehen: Die deutsche Ideologie, in der Marx und Engels in Auseinandersetzung mit den Junghegelianern, vor allem mit Ludwig Feuerbach, ihren »historischen Materialismus« (s. S. 81 ff) entwickeln, und das Manifest der Kommunistischen Partei, eine Programmschrift für den Bund der Kommunisten, die ein Bestseller der Weltliteratur werden sollte.

Kaum war das Kommunistische Manifest gedruckt, flammten allenthalben in Europa die revolutionären Kämpfe auf. Marx und Engels kehrten in dieser Situation ins preußische Rheinland zurück. Sie waren davon überzeugt, dass es zunächst darum gehe, zusammen mit den fortschrittlichen bürgerlichen Kräften eine demokratische Verfassung zu erkämpfen. Erst in einem zweiten Schritt wollten sie, vor allem mithilfe eines Netzwerks von Arbeitervereinen, der Bewegung gegen das alte Regime den Charakter einer sozialen Revolution aufprägen. Der konkrete Verlauf der Auseinandersetzungen sollte sie jedoch alsbald eines Besseren belehren. Marx nutzte seine guten Kontakte in Köln, um die Neue Rheinische Zeitung zu gründen und die revolutionären Ereignisse journalistisch zu begleiten und zu orientieren. Engels verbrachte einen großen Teil der Zeit im Schweizer Exil. In seiner Heimatstadt versuchte er, sich dem Sicherheitsausschuss als Militärexperte anzudienen, bis die aufgeschreckte Bourgeoisie der Stadt, in der Sorge, er wolle die »rote Republik« proklamieren, für seine Entfernung sorgte. Von den Barrikaden herab soll es bei dieser Gelegenheit zu einer unerfreulichen Begegnung mit dem Vater gekommen sein. Im Zuge des Kampfes um die Reichsverfassung schloss sich nun Engels den kämpfenden revolutionären Truppen in der Pfalz und in Baden an. Er gab im Jahr 1850 in einer Schrift über diese Zeit (vgl. Die deutsche Reichsverfassungskampagne; MEW 7, 109–197) Rechenschaft, die zu Recht als »ein Meisterstück deutscher beschreibender Prosa« (Hirsch 1968, 5) bezeichnet wurde.

In den Wirren der Revolution hatten sich die Freunde Marx und Engels schließlich aus den Augen verloren, bis sie sich nach einer wahrhaften Odyssee durch Europa in England wiederfanden. Marx ließ sich in London nieder, hielt sich mit seiner Familie unter schwierigsten Bedingungen über Wasser und musste den Tod mehrerer Kinder verkraften. Engels rang sich schließlich widerwillig dazu durch, ins Geschäft seines Vaters in Manchester einzusteigen, und erwies sich dort bald als unentbehrlich. Von nun an konnte er die mittellose Familie Marx finanziell unterstützen, galt den Töchtern des Ehepaares Marx bald als ein zweiter Vater und ermöglichte großzügig die theoretische Arbeit seines Freundes. Allerdings führte Engels in dieser Zeit ein recht erstaunliches Doppelleben: Er verkehrte in Manchester durchaus standesgemäß unter Seinesgleichen, in den Salons, auf den Fuchsjagden, und war den Stimulantien seiner sozialen Klasse, dem Champagner und dem Portwein, mehr als zugetan. Darüber hinaus aber fühlte er sich vor allem dem politischen Wirken und dem theoretischen Werk seines Freundes Marx verpflichtet und versuchte mit ihm zusammen die soziale Emanzipation des Proletariats voranzutreiben. Gemeinsam versuchten sie in mühsamen Auseinandersetzungen verschiedener Strömungen die Internationale Arbeiterassoziation zu einem nützlichen Instrument zu formen.

Im Vordergrund allerdings stand die Theoriearbeit. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 teilten Marx und Engels die Überzeugung, dass eine Transformation der Gesellschaft nur vor dem Hintergrund einer ökonomischen Krise stattfinden könne. Marx vertiefte sich in der Bibliothek des British Museum ins Studium, aus dem vor allem sein Hauptwerk, Das Kapital, hervorgehen sollte. Die reichhaltige Korrespondenz zwischen Marx und Engels zeigt, welchen großen theoretischen Anteil Engels an diesem epochemachenden Werk hatte, dessen zweiten und dritten Band er selbst aus den von Marx hinterlassenen Aufzeichnungen in akribischer Redaktionsarbeit zusammenstellte und edierte. Und Engels wirkte vor allem als der große Propagator und Popularisierer des Marx’schen Werkes – nicht unbedingt zu dessen Vorteil. Im szientistischen und positivistischen Geist seiner Zeit versuchte Engels, die kritische Gesellschaftstheorie »salonfähig« zu machen, indem er ihr die Weihen einer erschöpfenden Erklärung der Wirklichkeit insgesamt verlieh, sie zur »Weltanschauung« adelte, mit den bekannten fatalen Folgen (s. vor allem S. 91 ff). Auch nach Marx’ Tod verstand sich Engels als dessen Sachwalter und war – nicht ohne Erfolg – bemüht, in der Arbeiterbewegung und den sozialdemokratischen Parteien den Einfluss des »Marxismus« geltend zu machen.

Vor allem nach seinem Ausscheiden aus dem Geschäftsleben widmete sich Engels selbst der theoretischen Arbeit, und sein Spätwerk, aus dem hier auszugsweise einige Kostproben wiedergegeben sind, ist bis heute voller anregender Denkanstöße. Engels wurde für Sozialistinnen und Sozialisten aus ganz Europa ein wichtiger Inspirator und Gesprächspartner. Er nahm lebhaft Anteil an der Gründung der Zweiten Internationale in Paris im Jahr 1889 und am Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie. Nicht zuletzt seinem Einfluss ist es zu verdanken, dass die deutsche Sozialdemokratie, die ein erstaunliches Wachstum verzeichnete und sich zu einem wesentlichen politischen Faktor entwickelte, vom »marxistischen Zentrum« (Karl Kautsky, August Bebel …) dominiert wurde. Der Zuwachs an Mitgliedern, Wählerstimmen und Mandaten der deutschen Sozialdemokratie veranlasste Engels übrigens zu einem Plädoyer für eine Machtübernahme auf demokratischem Weg.

Gegen Ende seines Lebens ist bei Engels in einem wesentlichen Punkt ein erstaunlicher Sinneswandel zu verzeichnen, der hier nicht unerwähnt bleiben soll. Der begeisterte Militärstratege hat bei vielen Gelegenheiten bellizistische Töne angeschlagen, die aus heutiger Sicht durchaus befremden. Seine Verachtung der slawischen Völker – die er übrigens mit Marx teilte – kann heute nur Unverständnis auslösen. Und ganz von der chauvinistischen Hegel’schen Geschichtsphilosophie durchdrungen, sprach er gar von »geschichtslosen Völkern«, die im Sinne eines zivilisatorischen Fortschritts der Menschheit insgesamt von der Bühne der Weltgeschichte verschwinden sollten. Im Namen dieses Fortschritts begrüßte er etwa auch, dass »das herrliche Kalifornien den faulen Mexikanern entrissen« wurde. Bis ins Jahr 1859 zumindest kann man Äußerungen in diesem Sinne nachweisen, und beim Lesen dieser Textpassagen ist man mehr als erstaunt darüber, dass sich spätere antikoloniale Bewegungen gerade auf Marx und Engels beriefen (vgl. Hunt 22017, 227–288; Hirsch 1968, 101–102). Nun aber, als sich am Ende des Jahrhunderts die Antagonismen zwischen den führenden Mächten der Zeit zuspitzten und erstmals die Gefahr eines großen Krieges zu erahnen war, lässt Engels eine besorgte Nachdenklichkeit erkennen, die in scharfem Kontrast zu seinen früheren Aussagen steht. In einem Brief an August Bebel äußert er die Befürchtung, dass die Arbeiter im Fall eines Krieges von einer Welle des Chauvinismus erfasst werden würden (MEW 36, 527). Und Engels erkennt erstaunlich früh die völlig andere Qualität, die ein neuerlicher Krieg haben würde. Selbst wenn er den Boden für eine Arbeiterrevolution bereiten würde, sei er abzulehnen, da die moderne Technik und die industrialisierte Tötungsmaschinerie einen beispiellosen Blutzoll fordern würden:

Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen … (MEW 21, 350–351)

Man spürt aus diesen prophetischen Worten den Geist der Rosa Luxemburg und ihres verzweifelten Kampfes gegen Militarismus und Krieg heraus. Nicht zuletzt in solchen redlichen Selbstkorrekturen erweist sich die Größe eines Denkers.

Engels stirbt im Jahr 1895 an Speiseröhrenkrebs. Am Totenbett noch gesteht er, dass der Sohn der Haushälterin der Familie Marx, Helene Demuth, für den er die Vaterschaft übernommen hat, in Wahrheit der Sohn von Karl Marx sei. Er habe mit diesem Freundschaftsdienst die Ehe des Karl Marx retten wollen.

Engels war eine außergewöhnliche Persönlichkeit eines in vieler Hinsicht erstaunlichen Jahrhunderts. In zwölf Sprachen bewegte er sich wie in seiner Muttersprache, kaum einer hat die wissenschaftlichen Errungenschaften seiner Zeit so umfassend aufzuarbeiten und zu durchdringen versucht. Bei aller Ambivalenz, die auch seinem Werk und seinem Wirken anhaftet, gilt doch das Wort des französischen Marxologen Maximilien Rubel: »Die Texte von Engels verdienen es, aus dem Schatten hervorgeholt zu werden.« (zit. nach Hirsch 1968, 89). Dazu will dieser kleine Band einen bescheidenen Beitrag leisten.

Bruno Kern

1Zum gemeinsamen Weg von Marx und Engels vgl. vor allem Kern 2017 b.

Friedrich Engels // Im Widerspruch denken

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