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SELBSTVERSCHACHERUNG DES MENSCHEN UND DER ERDE Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie 1844

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»Friedrich Engels, mit dem ich seit dem Erscheinen seiner genialen Skizze zur Kritik der ökonomischen Kategorien einen steten schriftlichen Ideenaustausch unterhielt, war auf anderm Wege […] mit mir zu demselben Resultat gelangt …« (MEW 13, 10). Noch im Jahr 1859 spricht Karl Marx in einer kleinen Rechenschaft über seinen bisherigen intellektuellen Werdegang dieser Schrift aus Engels’ Feder solch hohes Lob aus. Tatsächlich waren die »Umrisse« der unmittelbare Anlass für die wohl außergewöhnlichste und fruchtbarste Freundschaft in der abendländischen Geistesgeschichte.

Nach dem endgültigen Verbot der Rheinischen Zeitung hatte Marx mit Arnold Ruge zusammen in Paris, das heißt außer Reichweite der preußischen Zensur, das ehrgeizige Projekt der Deutsch-Französischen Jahrbücher begründet. Es sollte ein Flop werden. Zunächst gelang es nicht, wie beabsichtigt, prominente französische Autoren dafür zu gewinnen. So mancher zog seine ursprüngliche Zusage wieder zurück, weil er mit den »deutschen Atheisten« nichts zu tun haben mochte. Letztlich erschien nur eine Doppelnummer. Bei der Auslieferung nach Deutschland wurden die meisten Exemplare davon beschlagnahmt, und im österreichischen Herrschaftsgebiet stellte Fürst Metternich den Verkauf in den Buchhandlungen unter Strafe. Gegen Karl Marx wurde ein Haftbefehl ausgesprochen, der vollstreckt worden wäre, sobald er preußischen Boden betreten hätte. Allerdings: Diese eine Doppelnummer hatte es in sich: Sie enthielt zwei äußerst bedeutsame Aufsätze von Karl Marx selbst, nämlich Zur Judenfrage, jener Schrift, in der er die wichtige Unterscheidung zwischen politischer und allgemein menschlicher Emanzipation traf, und Vorwort zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie. Hier begründet Marx die besondere Rolle des Proletariats für die gesellschaftliche Transformation, und auch die klassische Passage zur Religionskritik findet sich in diesem Text (vgl. TS, 53–89). Neben diesen gewichtigen Texten enthielt die Nummer auch jene »geniale Skizze«, durch die Marx erneut – nach einer ersten kurzen Begegnung in Köln – auf Friedrich Engels aufmerksam wurde. Der Stil verrate – so meinen manche Interpreten – die redaktionelle Bearbeitung durch Karl Marx. Andererseits aber könne man Marx’ gesamte spätere Arbeiten zur Ökonomie als den Versuch verstehen, diese frühe Skizze seines Freundes Engels konkret und im Detail auszuarbeiten (Hirsch 1968, 33).

Tatsächlich können die »Umrisse« in ihrer Bedeutung für das spätere Gesamtwerk von Karl Marx gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Zum ersten Mal wird hier die kapitalistische Produktionsweise als dynamisches System begriffen. Keiner der klassischen Ökonomen vorher hat dies in dieser Weise beschrieben. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln ist die zentrale Kategorie. Aus ihm entspringt das Konkurrenzverhältnis, die Anarchie profitorientierter Einzelkapitalien, aus der sich alle Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft, ihre periodischen Krisen der Überproduktion und die daraus resultierende Verelendung, ableiten lassen. Einzig die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln selbst kann den Krisen, dem Elend und der Ausbeutung ein Ende setzen. Die Anarchie kapitalistischer Einzelinteressen muss durch eine planmäßig organisierte Produktion ersetzt werden, um die soziale Ungleichheit und vor allem die absurde Situation zu beseitigen, dass gerade der Überfluss an Gütern Elend verursacht. Von diesem Ausgangspunkt her analysiert Engels die zentralen ökonomischen Begriffe wie Arbeitslohn, Wert, Preis, Geld usw. In brillanter Formulierung nimmt er viele Elemente vorweg, die Marx später präzise analysieren sollte. Die begriffliche Erfassung der Arbeitskraft als Ware etwa bereitet der späteren Marx’schen Mehrwerttheorie den Boden. In seiner Beschreibung des bewusstlosen, unkoordinierten Zusammenwirkens der Menschen innerhalb der kapitalistischen Ökonomie klingt bereits der von Marx später sogenannte »Fetischcharakter« an, der für ihn das Hauptcharakteristikum des Kapitalismus überhaupt bildet: Was den Köpfen und Händen der Produzenten selbst entspringt, verselbstständigt sich, verwandelt sich in ein von ihnen unabhängiges, von ihnen nicht mehr kontrollierbares Produkt, dem sie schließlich völlig unterworfen sind (vgl. Kern 2017 b, 109–111).

Mit diesem Aufsatz also begann die Freundschaft zwischen Marx und Engels, ohne die das Marx’sche Werk nie zustande gekommen wäre.

… Das achtzehnte Jahrhundert, das Jahrhundert der Revolution, revolutionierte auch die Ökonomie; aber wie alle Revolutionen dieses Jahrhunderts einseitig waren und im Gegensatz steckenblieben, wie dem abstrakten Spiritualismus der abstrakte Materialismus, der Monarchie die Republik, dem göttlichen Recht der soziale Kontrakt entgegengesetzt wurde, so kam auch die ökonomische Revolution nicht über den Gegensatz hinaus. Die Voraussetzungen blieben überall bestehen; der Materialismus griff die christliche Verachtung und Erniedrigung des Menschen nicht an und stellte nur statt des christlichen Gottes die Natur dem Menschen als Absolutes gegenüber; die Politik dachte nicht daran, die Voraussetzungen des Staates an und für sich zu prüfen; die Ökonomie ließ sich nicht einfallen, nach der Berechtigung des Privateigentums zu fragen. Darum war die neue Ökonomie nur ein halber Fortschritt; sie war genötigt, ihre eigenen Voraussetzungen zu verraten und zu verleugnen, Sophistik und Heuchelei zu Hülfe zu nehmen, um die Widersprüche, in die sie sich verwickelte, zu verdecken, um zu den Schlüssen zu kommen, zu denen sie, nicht durch ihre Voraussetzungen, sondern durch den humanen Geist des Jahrhunderts getrieben wurde. So nahm die Ökonomie einen menschenfreundlichen Charakter an; sie entzog ihre Gunst den Produzenten und wandte sie den Konsumenten zu; sie affektierte einen heiligen Abscheu gegen die blutigen Schrecken des Merkantilsystems und erklärte den Handel für ein Band der Freundschaft und Einigung zwischen Nationen wie zwischen Individuen. Es war alles lauter Pracht und Herrlichkeit – aber die Voraussetzungen machten sich bald genug wieder geltend und erzeugten im Gegensatz zu dieser gleißenden Philanthropie die Malthus’sche Bevölkerungstheorie, das raueste barbarischste System, das je existierte, ein System der Verzweiflung, das alle jene schönen Redensarten von Menschenliebe und Weltbürgertum zu Boden schlug; sie erzeugten und hoben das Fabriksystem und die moderne Sklaverei, die der alten nichts nachgibt an Unmenschlichkeit und Grausamkeit. Die neue Ökonomie, das auf Adam Smiths »Wealth of Nations« gegründete System der Handelsfreiheit, erweist sich als dieselbe Heuchelei, Inkonsequenz und Unsittlichkeit, die jetzt auf allen Gebieten der freien Menschlichkeit gegenübersteht. […]

Der einzige positive Fortschritt, den die liberale Ökonomie gemacht hat, ist die Entwicklung der Gesetze des Privateigentums. Diese sind allerdings in ihr enthalten, wenn auch noch nicht bis zur letzten Konsequenz entwickelt und klar ausgesprochen. Hieraus folgt, dass in allen Punkten, wo es auf die Entscheidung über die kürzeste Manier, reich zu werden, ankommt, also in allen strikt ökonomischen Kontroversen, die Verteidiger der Handelsfreiheit das Recht auf ihrer Seite haben. Wohlverstanden – in Kontroversen mit den Monopolisten, nicht mit den Gegnern des Privateigentums, denn dass diese imstande sind, in ökonomischen Fragen auch ökonomisch richtiger zu entscheiden, haben die englischen Sozialisten längst praktisch und theoretisch bewiesen. […]

Die Wissenschaft sollte unter den jetzigen Verhältnissen Privatökonomie heißen, denn ihre öffentlichen Beziehungen sind nur um des Privateigentums willen da. […]

Smith hatte recht, wenn er den Handel als human pries. Es gibt nichts absolut Unsittliches in der Welt; auch der Handel hat eine Seite, wo er der Sittlichkeit und Menschlichkeit huldigt. Aber welch Huldigung! Das Faustrecht, der platte Straßenraub des Mittelalters wurde humanisiert, als er in den Handel, der Handel, als seine erste Stufe, welche durch das Verbot der Geldausfuhr charakterisiert, in das Merkantilsystem überging. Jetzt wurde dieses selbst humanisiert. […] Haben wir nicht die Barbarei der Monopole gestürzt, rufen die Heuchler aus, haben wir nicht die Zivilisation in entfernte Weltteile getragen, haben wir nicht die Völker verbrüdert und die Kriege vermindert? – Ja, das alles habt ihr getan, aber wie habt ihr es getan! Ihr habt die kleinen Monopole vernichtet, um das eine große Grundmonopol, das Eigentum, desto freier und schrankenloser wirken zu lassen; ihr habt die Enden der Erde zivilisiert, um neues Terrain für die Entfaltung eurer niedrigen Habsucht zu gewinnen; ihr habt die Völker verbrüdert, aber zu einer Brüderschaft von Dieben, und die Kriege vermindert, um im Frieden desto mehr zu verdienen, um die Feindschaft der Einzelnen, den ehrlosen Krieg der Konkurrenz, auf die höchste Spitze zu treiben! – Wo habt ihr etwas aus reiner Humanität, aus dem Bewusstsein der Nichtigkeit des Gegensatzes zwischen dem allgemeinen und individuellen Interesse getan? Wo seid ihr sittlich gewesen, ohne interessiert zu sein, ohne unsittliche, egoistische Motive im Hintergrund zu hegen?

Nachdem die liberale Ökonomie ihr Bestes getan hatte, um durch die Auflösung der Nationalitäten die Feindschaft zu verallgemeinern, die Menschheit in eine Horde reißender Tiere – und was sind Konkurrenten anders? – zu verwandeln, die einander eben deshalb auffressen, weil jeder mit allen andern gleiches Interesse hat, nach dieser Vorarbeit blieb ihr nur noch ein Schritt zum Ziele übrig, die Auflösung der Familie. Um diese durchzusetzen, kam ihr ihre eigene schöne Erfindung, das Fabriksystem, zu Hülfe. Die letzte Spur gemeinsamer Interessen, die Gütergemeinschaft der Familie, ist durch das Fabriksystem untergraben und – wenigstens hier in England – bereits in der Auflösung begriffen. Es ist etwas ganz Alltägliches, dass Kinder, sobald sie arbeitsfähig, d. h. neun Jahre alt werden, ihren Lohn für sich verwenden, das elterliche Haus als ein bloßes Kosthaus ansehen und den Eltern ein Gewisses für Kost und Wohnung vergüten. Wie kann es anders sein? Was kann anders aus der Isolierung der Interessen, wie sie dem System der Handelsfreiheit zugrunde liegt, folgen? Ist ein Prinzip einmal in Bewegung gesetzt, so arbeitet es sich von selbst durch alle seine Konsequenzen durch, die Ökonomen mögen Gefallen daran haben oder nicht.

Aber der Ökonom weiß selbst nicht, welcher Sache er dient. Er weiß nicht, dass er mit all seinem egoistischen Räsonnement doch nur ein Glied in der Kette des allgemeinen Fortschritts der Menschheit bildet. Er weiß nicht, dass er mit seiner Auflösung aller Sonderinteressen nur den Weg bahnt für den großen Umschwung, dem das Jahrhundert entgegengeht, der Versöhnung der Menschheit mit der Natur und mit sich selbst. […]

Es war der letzte Schritt zur Selbstverschacherung, die Erde zu verschachern, die unser Eins und Alles, die erste Bedingung unsrer Existenz ist; es war und ist bis auf den heutigen Tag eine Unsittlichkeit, die nur von der Unsittlichkeit der Selbstveräußerung übertroffen wird. Und die ursprüngliche Appropriation, die Monopolisierung der Erde durch eine kleine Anzahl, die Ausschließung der übrigen von der Bedingung des Lebens, gibt der spätern Verschacherung des Bodens an Unsittlichkeit nichts nach. […]

Wir haben gesehen, dass am Ende alles auf die Konkurrenz hinausläuft, solange das Privateigentum besteht. Sie ist die Hauptkategorie des Ökonomen, seine liebste Tochter, die er in einem fort hätschelt und liebkost – und gebt Acht, was für ein Medusengesicht da herauskommen wird. […]

Weil das Privateigentum jeden auf seine eigene rohe Einzelheit isoliert und weil jeder dennoch dasselbe Interesse hat wie sein Nachbar, so steht ein Grundbesitzer dem andern, ein Kapitalist dem andern, ein Arbeiter dem andern feindselig gegenüber. In dieser Verfeindung der gleichen Interessen eben um ihrer Gleichheit willen ist die Unsittlichkeit des bisherigen Zustandes der Menschheit vollendet; und diese Vollendung ist die Konkurrenz. […]

Der Widerspruch der Konkurrenz ist ganz derselbe wie der des Privateigentums selbst. Es liegt im Interesse jedes Einzelnen, alles zu besitzen, aber im Interesse der Gesamtheit, dass jeder gleich viel besitze. So ist also das allgemeine und individuelle Interesse diametral entgegengesetzt. Der Widerspruch der Konkurrenz ist: dass jeder sich das Monopol wünschen muss, während die Gesamtheit als solche durch das Monopol verlieren und es also entfernen muss. Ja, die Konkurrenz setzt das Monopol schon voraus, nämlich das Monopol des Eigentums – und hier tritt wieder die Heuchelei der Liberalen an den Tag –, und solange das Monopol des Eigentums besteht, solange ist das Eigentum des Monopols gleichberechtigt; denn auch das einmal gegebene Monopol ist Eigentum. Welche jämmerliche Halbheit ist es also, die kleinen Monopole anzugreifen und das Grundmonopol bestehen zu lassen. […]

Das Gesetz der Konkurrenz ist, dass Nachfrage und Zufuhr sich stets und ebendeshalb nie ergänzen. Die beiden Seiten sind wieder auseinandergerissen und in den schroffen Gegensatz verwandelt. Die Zufuhr ist immer gleich hinter der Nachfrage, aber kommt nie dazu, sie genau zu decken; sie ist entweder zu groß oder zu klein, nie der Nachfrage entsprechend, weil in diesem bewusstlosen Zustande der Menschheit kein Mensch weiß, wie groß diese oder jene ist. Ist die Nachfrage größer als die Zufuhr, so steigt der Preis, und dadurch wird die Zufuhr gleichsam irritiert; sowie sie sich im Markte zeigt, fallen die Preise so bedeutend, dass die Nachfrage dadurch wieder aufgereizt wird. So geht es in einem fort, nie ein gesunder Zustand, sondern eine stete Abwechslung von Irritation und Erschlaffung, die allen Fortschritt ausschließt, ein ewiges Schwanken, ohne je zum Ziel zu kommen. Dies Gesetz mit seiner steten Ausgleichung, wo, was hier verloren, dort wieder gewonnen wird, findet der Ökonom wunderschön. Es ist sein Hauptruhm, er kann sich nicht satt daran sehen und betrachtet es unter allen möglichen und unmöglichen Verhältnissen. Und doch liegt auf der Hand, dass dies Gesetz ein reines Naturgesetz, kein Gesetz des Geistes ist. Ein Gesetz, das die Revolution erzeugt. Der Ökonom kommt mit seiner schönen Theorie von Nachfrage und Zufuhr heran, beweist euch, dass »nie zu viel produziert werden kann«, und die Praxis antwortet mit den Handelskrisen, die so regelmäßig wiederkehren wie die Kometen und deren wir jetzt durchschnittlich alle fünf bis sieben Jahre eine haben. Diese Handelskrisen sind seit achtzig Jahren ebenso regelmäßig gekommen wie früher die großen Seuchen – und haben mehr Elend, mehr Unsittlichkeit mit sich gebracht als diese. […] Natürlich bestätigen diese Handelsrevolutionen das Gesetz, sie bestätigen es im vollsten Maße, aber in einer anderen Weise, als der Ökonom uns glauben machen möchte. Was soll man von einem Gesetz denken, das sich nur durch periodische Revolutionen durchsetzen kann? Es ist eben ein Naturgesetz, das auf der Bewusstlosigkeit der Beteiligten beruht. Wüssten die Produzenten als solche, wie viel die Konsumenten bedürften, organisierten sie die Produktion, verteilten sie sie unter sich, so wären die Schwankung der Konkurrenz und ihre Neigung zur Krisis unmöglich. Produziert mit Bewusstsein, als Menschen, nicht als zersplitterte Atome ohne Gattungsbewusstsein, und ihr seid über alle diese künstlichen und unhaltbaren Gegensätze hinaus. Solange ihr aber fortfahrt, auf die jetzige unbewusste, gedankenlose, der Herrschaft des Zufalls überlassene Art zu produzieren, solange bleiben die Handelskrisen; und jede folgende muss universeller, also schlimmer werden als die vorhergehende, muss eine größere Menge kleiner Kapitalien verarmen und die Anzahl der bloß von der Arbeit lebenden Klassen in steigendem Verhältnisse vermehren – also die Masse der zu beschäftigenden Arbeit, das Hauptproblem unserer Ökonomen, zusehends vergrößern und endlich eine soziale Revolution herbeiführen, wie sie sich die Schulweisheit der Ökonomen nicht träumen lässt.

Die ewige Schwankung der Preise, wie sie durch das Konkurrenzverhältnis geschaffen wird, entzieht dem Handel vollends die letzte Spur von Sittlichkeit. Von Wert ist keine Rede mehr; dasselbe System, das auf den Wert so viel Gewicht zu legen scheint, das der Abstraktion des Wertes im Gelde die Ehre einer besondern Existenz gibt – diesselbe System zerstört durch die Konkurrenz allen inhärenten Wert und verändert das Wertverhältnis aller Dinge gegeneinander täglich und stündlich. Wo bleibt in diesem Strudel die Möglichkeit eines auf sittlicher Grundlage beruhenden Austausches? In diesem fortwährenden Auf und Ab muss jeder suchen, den günstigsten Augenblick zum Kauf und Verkauf zu treffen, jeder muss Spekulant werden, d. h. ernten, wo er nicht gesäet hat, durch den Verlust anderer sich bereichern, auf das Unglück andrer kalkulieren oder den Zufall für sich gewinnen lassen. Der Spekulant rechnet immer auf Unglücksfälle, besonders auf Missernten, er benutzt alles, wie z. B. seinerzeit den Brand von New York, und der Kulminationspunkt der Unsittlichkeit ist die Börsenspekulation in Fonds, wodurch die Geschichte und in ihr die Menschheit zum Mittel herabgesetzt wird, um die Habgier des kalkulierenden oder hasardierenden Spekulanten zu befriedigen. Und möge sich der ehrliche, »solide« Kaufmann nicht pharisäisch über das Börsenspiel erheben – ich danke dir Gott usw.2 Er ist so schlimm wie die Fondsspekulanten, er spekuliert ebenso sehr wie sie, er muss es, die Konkurrenz zwingt ihn dazu, und sein Handel impliziert also dieselbe Unsittlichkeit wie der ihrige. Die Wahrheit des Konkurrenzverhältnisses ist das Verhältnis der Konsumtionskraft zur Produktionskraft. In einem der Menschheit würdigen Zustande wird es keine andre Konkurrenz als diese geben. Die Gemeinde wird zu berechnen haben, was sie mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln erzeugen kann, und nach dem Verhältnis dieser Produktionskraft zur Masse der Konsumenten bestimmen, inwieweit sie die Produktion zu steigern oder nachzulassen, inwieweit sie dem Luxus nachzugeben oder ihn zu beschränken hat. […]

Der Kampf von Kapital gegen Kapital, Arbeit gegen Arbeit, Boden gegen Boden treibt die Produktion in eine Fieberhitze hinein, in der sie alle natürlichen und vernünftigen Verhältnisse auf den Kopf stellt. Kein Kapital kann die Konkurrenz des andern aushalten, wenn es nicht auf die höchste Stufe der Tätigkeit gebracht wird. Kein Grundstück kann mit Nutzen bebaut werden, wenn es nicht seine Produktionskraft stets steigert. Kein Arbeiter kann sich gegen seine Konkurrenten halten, wenn er nicht seine ganzen Kräfte der Arbeit widmet. Überhaupt keiner, der sich in den Kampf der Konkurrenz einlässt, kann ihn ohne die höchste Anstrengung seiner Kräfte, ohne die Aufgebung aller wahrhaft menschlichen Zwecke aushalten. Die Folge von dieser Überspannung auf der einen Seite ist notwendige Erschlaffung auf der andern. Wenn die Schwankung der Konkurrenz gering ist, wenn Nachfrage und Zufuhr, Konsumtion und Produktion sich beinahe gleich sind, so muss in der Entwicklung der Produktion eine Stufe eintreten, in der so viel überzählige Produktionskraft vorhanden ist, dass die große Masse der Nation nichts zu leben hat; dass die Leute vor lauter Überfluss verhungern. In dieser wahnsinnigen Stellung, in dieser lebendigen Absurdität befindet sich England schon seit geraumer Zeit. Schwankt die Produktion stärker, wie sie es infolge eines solchen Zustandes notwendig tut, so tritt die Abwechslung von Blüte und Krisis, Überproduktion und Stockung ein. Der Ökonom hat sich diese verrückte Stellung nie erklären können; um sie zu erklären, erfand er die Bevölkerungstheorie, die ebenso unsinnig, ja noch unsinniger ist als dieser Widerspruch von Reichtum und Elend zu derselben Zeit. Der Ökonom durfte die Wahrheit nicht sehen; er durfte nicht einsehen, dass dieser Widerspruch eine einfache Folge der Konkurrenz ist, weil sonst sein ganzes System über den Haufen gefallen wäre. […]

Wir haben […] die tiefste Erniedrigung der Menschheit, ihre Abhängigkeit vom Konkurrenzverhältnisse kennengelernt; sie hat uns gezeigt, wie in letzter Instanz das Privateigentum den Menschen zu einer Ware gemacht hat, deren Erzeugung und Vernichtung auch nur von der Nachfrage abhängt; wie das System der Konkurrenz dadurch Millionen von Menschen geschlachtet hat und täglich schlachtet; das alles haben wir gesehen, und das alles treibt uns zur Aufhebung der Erniedrigung der Menschheit durch die Aufhebung des Privateigentums, der Konkurrenz und der entgegengesetzten Interessen. […]

Die Konkurrenz setzt also Kapital gegen Kapital, Arbeit gegen Arbeit, Grundbesitz gegen Grundbesitz, und ebenso jedes dieser Elemente gegen die beiden andern. Im Kampf siegt der Stärkere, und wir werden, um das Resultat dieses Kampfes vorauszusagen, die Stärke der Kämpfenden zu untersuchen haben. Zuerst sind Grundbesitz und Kapital jedes stärker als die Arbeit, denn der Arbeiter muss arbeiten, um zu leben, während der Grundbesitzer von seinen Renten und der Kapitalist von seinen Zinsen, im Notfalle von seinem Kapital oder dem kapitalisierten Grundbesitz leben kann. Die Folge davon ist, dass der Arbeit nur das Allernotdürftigste, die nackten Subsistenzmittel zufallen, während der größte Teil der Produkte sich zwischen dem Kapital und dem Grundbesitz verteilt. Der stärkere Arbeiter treibt ferner den schwächeren, das größere Kapital das geringere, der größere Grundbesitz den kleinen aus dem Markt. Die Praxis bestätigt diesen Schluss. Die Vorteile, die der größere Fabrikant und Kaufmann über den kleinen, der große Grundbesitzer über den Besitzer eines einzigen Morgens hat, sind bekannt. Die Folge hiervon ist, dass schon unter gewöhnlichen Verhältnissen das große Kapital und der große Grundbesitz das kleine Kapital und den kleinen Grundbesitz nach dem Recht des Stärkeren verschlingen – die Zentralisation des Besitzes. In Handels- und Agrikulturkrisen geht diese Zentralisation viel rascher vor sich. – Großer Besitz vermehrt sich überhaupt viel rascher als kleiner, weil von dem Ertrag ein viel geringerer Teil als Ausgaben des Besitzes in Abzug kommt. Diese Zentralisation des Besitzes ist ein dem Privateigentum ebenso immanentes Gesetz wie alle andern; die Mittelklassen müssen immer mehr verschwinden, bis die Welt in Millionäre und Paupers, in große Grundbesitzer und arme Tagelöhner geteilt ist. Alle Gesetze, alle Teilung des Grundbesitzes, alle etwaige Zersplitterung des Kapitals hilft nichts – dies Resultat muss kommen und wird kommen, wenn nicht eine totale Umgestaltung der sozialen Verhältnisse, eine Verschmelzung der entgegengesetzten Interessen, eine Aufhebung des Privateigentums ihm zuvorkommt. […]

Die Konkurrenz hat alle unsere Lebensverhältnisse durchdrungen und die gegenseitige Knechtschaft, in der die Menschen sich jetzt halten, vollendet. Die Konkurrenz ist die große Triebfeder, die unsre alt und schlaff werdende soziale Ordnung, oder vielmehr Unordnung, immer wieder zur Tätigkeit aufstachelt, aber bei jeder neuen Anstrengung auch einen Teil der sinkenden Kräfte verzehrt. Die Konkurrenz beherrscht den nummerischen Fortschritt der Menschheit, sie beherrscht auch ihren sittlichen. Wer mit der Statistik des Verbrechens sich etwas bekannt gemacht hat, dem muss die eigentümliche Regelmäßigkeit aufgefallen sein, mit der das Verbrechen alljährlich fortschreitet, mit der gewisse Ursachen gewisse Verbrechen erzeugen. Die Ausdehnung des Fabriksystems hat überall eine Vermehrung der Verbrechen zur Folge. Man kann die Anzahl der Verhaftungen, Kriminalfälle, ja die Anzahl der Morde, der Einbrüche, der kleinen Diebstähle usw. für eine große Stadt oder einen Bezirk mit jedes Mal zutreffender Genauigkeit alljährlich vorausbestimmen, wie dies in England oft genug geschehen ist. Diese Regelmäßigkeit beweist, dass auch das Verbrechen von der Konkurrenz regiert wird, dass die Gesellschaft eine Nachfrage nach Verbrechen erzeugt, der durch eine angemessene Zufuhr entsprochen wird, dass die Lücke, die durch die Verhaftung, Transportierung oder Hinrichtung einer Anzahl gemacht, sogleich durch andere wieder ausgefüllt wird, gerade wie jede Lücke in der Bevölkerung sogleich wieder durch neue Ankömmlinge ausgefüllt wird, mit andern Worten, dass das Verbrechen ebenso auf die Mittel der Bestrafung drückt wie die Völker auf die Mittel der Beschäftigung. Wie gerecht es unter diesen Umständen, abgesehen von allen andern, ist, Verbrechen zu bestrafen, überlasse ich dem Urteil meiner Leser. Mir kommt es hier bloß darauf an, die Ausdehnung der Konkurrenz auch auf das moralische Gebiet nachzuweisen und zu zeigen, zu welcher tiefen Degradation das Privateigentum den Menschen gebracht hat.

(MEW 1, 500–523)

2Anspielung auf das neutestamentliche Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner; vgl. Lukasevangelium 18,9–14.

Friedrich Engels // Im Widerspruch denken

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