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Leipzig, Titelseite der Leipziger Volkszeitung
Оглавление"Fünfzehnjähriges Mädchen vermisst – Polizei bittet Bevölkerung um Mithilfe."
Leipzig (MT). Die Kriminalpolizeiinspektion Leipzig bittet um Mithilfe bei der Suche nach der vermissten Leonie S. Die Fünfzehnjährige verließ am vergangenen Freitag gegen 07:00 Uhr die elterliche Wohnung in der Limburger Straße. Nach bisherigen Ermittlungen fuhr das Mädchen von ihrem Zuhause mit dem Fahrrad zum Robert-Schumann-Gymnasium.
Wie die Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen, unterbrach sie ihren Schulweg zwischen 07:10 Uhr und 07:18 Uhr für einen Besuch des „REWE“-Supermarktes in der Zschocherschen Straße. Danach verliert sich ihre Spur.
Trotz umfangreicher polizeilicher Maßnahmen, wie beispielsweise die Überprüfung möglicher Kontaktpersonen der Vermissten, ist der derzeitige Aufenthaltsort von Leonie S. nicht bekannt. Die Fünfzehnjährige ist ca. 165 cm groß und hat lange, dunkelbraune Haare. Sie ist bekleidet mit einer schwarzen, langen Sporthose, einem roten „Adidas“-Pullover und weißen Turnschuhen der Marke „NIKE“. Weiterhin hat sie einen schwarzen Rucksack der Marke „EASTPAK“ bei sich.
Die Kriminalpolizeiinspektion Leipzig bittet um Hinweise zum Aufenthalt der Vermissten. Personen, die Leonie S. seit Freitagmorgen gesehen haben oder Angaben über ihren derzeitigen Aufenthaltsort machen können, werden gebeten, sich bei der Kriminalpolizeiinspektion in Leipzig oder bei jeder anderen Polizeidienststelle zu melden.
Leipzig, Dimitroffstraße Kriminalpolizeiinspektion Dienstag, 11:00 Uhr
Das Dienstgebäude der Kriminalpolizeiinspektion war so konzipiert, dass sich keine abgeschlossenen Büros an dunkle, lange Flure angliederten. Stattdessen waren die Büros mit raumhohen Glaswänden ausgestattet und um eine sogenannte Kombizone herum gebaut. Diese Anordnung hatte nicht nur den Vorteil, dass die Räume lichtdurchflutet waren, sondern sie förderte ebenso die Transparenz der Arbeitsabläufe wie die Kommunikation zwischen den Kollegen.
Im Kommissariat 11, das sich mit Straftaten gegen Leben und Gesundheit beschäftigte, war die Kombizone als Besprechungs- und Konferenzbereich eingerichtet. Hier fanden nicht nur die regelmäßigen Dienstbesprechungen statt, sondern bei Bedarf tagten hier auch die Mord- und Sonderkommissionen. An einer der Stirnseiten war ein Smartboard angebracht, mit dessen Hilfe wichtige Ermittlungsergebnisse, Tatortaufnahmen und andere relevante Dokumente für alle Anwesenden sichtbar gemacht werden konnten.
In den vergangenen zehn Minuten hatten sich hier zwei Dutzend Beamtinnen und Beamte eingefunden. Sie gehörten zur Sonderkommission „Leonie“.
Um Punkt 08:00 Uhr fehlte nur noch der Leiter der Sonderkommission, Kriminalhauptkommissar Bernd Alme. Einige der Beamten drehten den Kopf immer wieder und schauten durch das Glas in Almes Büro, doch sein Ledersessel war leer.
Als Hauptkommissar Alme endlich erschien, verstummten die Gespräche schlagartig. Alme trat an den Kopf des Konferenztisches, legte einen prall gefüllten Aktenordner vor sich hin und klopfte verheißungsvoll auf den Pappdeckel. „Ich bin heute Nacht einen riesigen Schritt vorangekommen. Erinnern Sie sich an den Namen Frank Schüssler?“
Die Kommissarin Finja Kröger konnte kaum glauben, was sie gerade gehört hatte. „Frank Schüssler?“, schoss es aus ihr heraus. „Was soll Schüssler mit dem verschwundenen Mädchen zu tun haben?“
Berlin, 9 Jahre zuvor
„Wir dürfen keine Zeit verlieren!“, ermahnte Kommissarin Finja Kröger ihre Kollegen und klopfte energisch an die Tür.
„Ich verstehe nicht, warum so etwas ausgerechnet in meiner Schicht passieren muss!“, hörte sie jemanden hinter sich murmeln. Ein Weiterer raunte: „Wir hätten heute Nachmittag schon nach Leipzig fahren sollen!“
„Das Landeskriminalamt hat die Freigabe für den Ortswechsel erst jetzt erteilt“, erwiderte Finja Kröger knapp und stieß die Tür auf. Dann betraten die Polizeibeamten den Raum, in dem sie Frank Schüssler einige Tage zuvor provisorisch untergebracht hatten. Auf dem Linoleumboden lag eine Matratze, links waren an der Wand mehrere Umzugskartons abgestellt, rechts zeugten ein Campingtisch und eine Kühltasche davon, dass der Aufenthalt nicht von Dauer sein sollte.
In der Mitte des Raumes saß Frank Schüssler auf einem Klappstuhl. Er hatte den Rücken zur Tür gewandt und hielt den Controller einer Playstation in den Händen. Er hatte Kopfhörer aufgesetzt und bewegte seinen Oberkörper ruckartig hin und her. Auf dem Bildschirm war zu sehen, wie mehrere Soldaten eine zerstörte Stadt im Laufschritt durchkämmten. Sie feuerten fortwährend mit ihren Waffen. Jeder Treffer wurde mit großen Mengen Blut quittiert.
Finja Kröger verteilte die Aufgaben: „Klaus, Du nimmst einen der Pappkartons und verstaust die Playstation samt Kabeln. Tim, Du nimmst den Campingtisch und den Klappstuhl. Ich trage die Kühltasche. Den Bildschirm kann Schüssler selbst zu den Autos schleppen. Der Rest bleibt erst einmal hier. Die Kollegen können das Zeugs später nach Leipzig bringen.“
„Und was soll ich machen?“, fragte Polizeimeister Kai Wessling. Er war der jüngste Beamte im Team.
„Du sprichst mit Schüssler. Du kommst am besten mit ihm klar.“
Wessling nickte, durchquerte den Raum und baute sich so vor Schüssler auf, dass dieser nicht mehr auf den Bildschirm sehen konnte. „Herr Schüssler?“
„Verpiss dich!“, brüllte Schüssler. „Noch zehn Minuten, dann habe ich den Prestige-Rang!“
„Wir müssen jetzt leider Ihre Sachen packen! Die Zeit drängt!“ Ohne Schüsslers Reaktion abzuwarten, ging Wessling zum Bildschirm und trennte die Verbindung zur Playstation.
„Du blödes Bullenschwein!“, schrie Schüssler und sprang auf. Er riss sich die Kopfhörer von den Ohren und schmetterte sie gegen die Wand. „Verdammtes Dreckspack!“
Daraufhin nickte Wessling seinen Kollegen zu: „Wir wären dann soweit.“
Leipzig, Dimitroffstraße Kriminalpolizeiinspektion Dienstag, 11:05 Uhr
„Wie kommen Sie ausgerechnet auf Frank Schüssler?“, wollte Kommissarin Finja Kröger wissen. Ihre Verblüffung war nicht zu überhören.
Hauptkommissar Bernd Alme setzte sich, schaltete seinen Laptop an und rief eine Powerpoint-Präsentation auf. Nur wenige Augenblicke später erschienen die Bilder zweier junger Frauen auf dem Smartboard.
„Links sehen Sie eine Aufnahme von Susann Meissner. Sie war Frank Schüsslers erstes Opfer. Im Jahr 1985 wurde er wegen Vergewaltigung und Totschlags zu 13 Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Rechts sehen Sie die vermisste Leonie Schenk.“
Ein Raunen ging durch den Besprechungsraum.
Finja Kröger war die einzige, die vehement den Kopf schüttelte. „Die Ähnlichkeit der beiden ist zwar verblüffend, trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass Frank Schüssler etwas mit Leonies Verschwinden zu tun hat.“
Autobahn A 9 zwischen Berlin und Leipzig, 9 Jahre zuvor
„Ich mag Leipzig sehr“, sagte Kommissarin Finja Kröger, während sie den Dienstwagen über die Autobahn lenkte. Mit einem Lächeln blickte sie hinüber zu Polizeimeister Kai Wessling und zeigte dabei auf ein Verkehrsschild, das gerade an ihnen vorbeizog: Herzlich willkommen in Sachsen.
„Ich auch“, erwiderte Wessling. „Aber unter diesen Umständen hätte ich gut auf einen Besuch verzichten können. Wir wechseln unseren Aufenthaltsort mittlerweile zum fünften Mal innerhalb kürzester Zeit.“
Finja Kröger nickte. „Die Presse ist uns ständig auf den Fersen. Je länger das Versteckspiel dauert, desto schwieriger wird es.“
Wessling seufzte und drehte sich um. Er blickte Frank Schüssler an, der auf der Rückbank saß. „Waren Sie schon einmal in Leipzig?“
Keine Reaktion.
„Kennen Sie das Völkerschlachtdenkmal?“
Wiederum keine Reaktion.
„Von der Aussichtsplattform hat man einen großartigen Blick auf die Stadt und das Umland.“
Schüssler blickte Wessling für einen kurzen Moment an: „Nur zehn Minuten. Dann hätte ich den Prestige-Rang erreicht.“
„Und im Café Kandler gibt es ein sensationelles Kuchenbuffet“,
ergänzte Finja Kröger.
„Meine Kopfhörer sind kaputt“, erwiderte Schüssler.
Wessling drehte sich wieder nach vorne. „Wann kommen die
Kollegen, um uns abzulösen?“
„Erst einmal müssen die übrigen Einsatzkräfte von Berlin nach Leipzig verlegt werden“, antwortete Finja Kröger. „Ich denke, dass wir morgen Abend wieder in den normalen Schichtdienst zurückkehren werden.“
„Weißt du, worauf ich mich am meisten freue?“
Sie schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung.“
„Die Leipziger Lerchen.“
Leipzig, Dimitroffstraße Kriminalpolizeiinspektion Dienstag, 11:10 Uhr
Hauptkommissar Bernd Alme zog die Augenbrauen zusammen und fixierte Finja Kröger. „Wie kommen Sie zu dieser Annahme?“
„Ein Bauchgefühl“, erwiderte sie. „Ich habe ihn nach der Entlassung mehrere Monate begleitet und kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Schüssler seine Tat wiederholt.“
„Ein Bauchgefühl“, murmelte Alme und blickte noch einmal auf die Fotos. „Ich erinnere mich, dass Schüssler sich mit Händen und Füßen gegen seine Entlassung gewehrt hat. In den Akten wird er wie folgt zitiert: Ich bin schneller zurück, als ihr Bullenschweine denkt. Notfalls schlachte ich wieder jemanden ab!“
Finja Kröger runzelte die Stirn. „Die Äußerung ist darauf zurückzuführen, dass seine Impulskontrolle sehr eingeschränkt ist.“
„Soso“, kommentierte Alme, „eine eingeschränkte Impulskontrolle.“ Die Ironie, die in seiner Stimme mitschwang, war ungewohnt deutlich.
Ein verhaltenes Gelächter ging durch den Besprechungsraum.
„Also … ich meine … rein verbal“, versuchte Finja Kröger zu erklären.
„Sie werden verstehen, dass ich mich in diesem Fall nicht auf Ihr Bauchgefühl verlassen möchte.“
Sie seufzte.
„Ich denke, Sie sind am allerbesten geeignet, Verbindung mit ihm aufzunehmen“, sagte Alme.
Leipzig, Innenstadt, 9 Jahre zuvor
Frank Schüssler hatte sich in einem Elektrogeschäft neue Kopfhörer ausgesucht und drückte sie der Kassiererin wortlos in die Hand.
„Bar oder Karte?“, wollte sie von ihm wissen.
Wortlos zog er sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und nahm eine Girocard heraus. Zuerst studierte er das Kartenlesegerät ganz genau, dann führte er die Girocard umständlich in das Gerät ein.
Die Kassiererin schüttelte daraufhin den Kopf. „Magnetstreifen unten links. Dann die PIN und mit grün bestätigen.“
Schüssler trat einen Schritt zur Seite. Hilfesuchend blickte er sich zu Finja Kröger und Kai Wessling um, die jeden seiner Schritte beobachteten. Die beiden Beamten kamen zur Kasse, und Wessling zeigte auf das Kartenlesegerät: „Wenn Sie sich den Aufkleber genau ansehen, können Sie erkennen, wie die Karte eingesteckt werden muss. Bei diesem Gerät mit dem Magnetstreifen unten links. Mit der PIN meint die Dame Ihre Geheimzahl. Erinnern Sie sich an die vier Zahlen?“
„3-7-5-9“, erwiderte Schüssler und nickte. Dann führte er die Plastikkarte korrekt in das Gerät ein und bediente das Zahlenfeld.
„Jetzt müssen Sie die Eingabe mit dem grünen Knopf bestätigen.“
„Das ist alles eine neumodische Scheiße hier! Ihr Vollidioten hättet mich einfach dort lassen sollen, wo ich hingehöre!“
Leipzig, Dimitroffstraße Kriminalpolizeiinspektion Dienstag, 11:15 Uhr
Die Dienstbesprechung war beendet. Finja Kröger saß in ihrem Büro und wählte die Nummer von Frank Schüssler.
Er nahm das Gespräch sofort an.
„Herr Schüssler, können wir uns treffen?“
„Wann?“
„Jetzt.“
„Wo?“
„Wie immer?“
„Ja, ist okay.“
Kurz nachdem Finja Kröger das Gespräch beendet hatte, klopfte ein Kollege an ihre Tür. Sie bat ihn herein, und er stellte sich als Beamter des Spezialeinsatzkommandos vor. Er hatte den Auftrag, sie zu begleiten und für ihre Sicherheit zu sorgen.
„Ich hätte gern ein paar Informationen, mit wem ich es zu tun habe“, sagte der SEK-Beamte, während Finja Kröger ihre Lederjacke anzog.
„Frank Schüssler ist 1985 wegen Vergewaltigung und Totschlags zu einer dreizehnjährigen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt worden. Während der Haft und der anschließenden Sicherheitsverwahrung hat er jede Form von Therapie verweigert. Daher ist die Sicherheitsverwahrung mehrmals unbefristet verlängert worden. Im Jahr 2011 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die unbefristete Verlängerung der Sicherungsverwahrung für rechtswidrig erklärt. Daher musste Schüssler aus der Justizvollzugsanstalt entlassen werden. Er selbst wollte gar nicht zurück in die Freiheit.“
„Man hat ihn sozusagen rausgeschmissen?“
„Er hat damals um eine Vorbereitungszeit gebeten, um sich überhaupt wieder an ein Leben in Freiheit gewöhnen zu können. Selbst das wurde abgelehnt.“
„Ich habe gehört, dass Sie noch immer eine Verbindung zu ihm haben?“
„Wir haben Frank Schüssler ein halbes Jahr lang mit zwei Dutzend Polizeibeamten jeweils in Vierer-Teams rund um die Uhr bewacht. Das Landeskriminalamt ging damals davon aus, dass er eine tickende Zeitbombe ist. Schlussendlich war er ein gebrochener Mann, und wir mussten ihn vor der Presse und der Gesellschaft schützen. Wir haben ihm geholfen, zumindest ein wenig in ein geregeltes Leben zurückzufinden. Ich treffe ihn noch heute ein bis zwei Mal pro Jahr.“
„Ist er in Leipzig geblieben?“ Finja Kröger nickte. „Ja, er hat bis heute kaum soziale Kontakte. Es gibt nur einen Hund, der ihn seit vielen Jahren begleitet. Ich unterstütze ihn gelegentlich bei Behördengängen.“
„Glauben Sie, dass er mit dem aktuellen Fall zu tun hat?“ Sie schüttelte den Kopf vehement. „Nein, außerdem möchte ich allein mit ihm sprechen. Ich bin der einzige Mensch, zu dem er überhaupt Vertrauen hat. Das möchte ich nicht aufs Spiel setzen.“
Leipzig, Thomaskirchhof Café Kandler Dienstag, 11:45 Uhr
Finja Kröger betrat das Café. Sie erkannte Frank Schüssler sofort. Mit dem schütteren Haar, den eingefallenen Wangen und dem rotkarierten Holzfällerhemd sah er immer noch genauso aus wie früher.
Sein Schicksal fesselte sie bis zum heutigen Tag, und gelegentlich trafen sie sich hier auf einen Kaffee. Dieser Ort stand symbolisch für die damalige Zeit, und sie unterstützte ihn bis heute bei Herausforderungen, die er nicht allein lösen konnte. So hatte sie beispielsweise dafür gesorgt, dass er Arbeitslosengeld bezog und in einer Sozialwohnung lebte.
Finja Kröger ging zu Schüsslers Tisch, begrüßte ihn und kniete sich zu seinem Hund hinunter. „Hallo Timmy“, sagte sie zu dem Border Collie und streichelte über das warme Fell. Dann blickte sie Schüssler an. „Wie geht es Ihnen beiden?“ Sie erwartete keine ausschweifende Antwort, denn 27 Jahre Haft hatten aus Schüssler einen wortkargen Mann gemacht. Daran hatten auch die vergangenen neun Jahre in Freiheit nichts geändert.
„Okay.“
Einige Tische weiter saß der SEK-Beamte. Er hatte das Café bereits vor zehn Minuten betreten und gab sich den Anschein, er sei mit seinem Handy beschäftigt.
„Möchten Sie einen Kaffee?“, fragte Finja Kröger, während sie sich setzte. Schüssler nickte.
Finja Kröger hatte sich während der Autofahrt den Kopf zerbrochen, wie sie das Gespräch auf das vermisste Mädchen lenken sollte. Auf der einen Seite wollte sie das Vertrauensverhältnis zu Schüssler nicht gefährden, auf der anderen Seite wollte sie unbedingt einen Weg finden, ihn als Täter auszuschließen.
Noch ahnte sie nicht, dass dieses Treffen völlig anders verlaufen sollte, als sie in diesem Moment annahm.
Leipzig, Dimitroffstraße Kriminalpolizeiinspektion Dienstag, 11:45 Uhr
Zur gleichen Zeit wurde Kriminalhauptkommissar Bernd Alme vom Klingeln des Telefons aus seinen Gedanken gerissen. Er blickte von der Akte auf, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und sah auf das Telefon.
Führungs- und Lagezentrum, las er im Display.
Das Führungs- und Lagezentrum stellte die Leitstelle der Polizeidirektion Leipzig dar. Hier liefen alle Notrufe und Informationen zusammen. Egal ob Notarzt, Rettungswagen, Feuerwehr oder Polizei – die Kollegen der Leitstelle stellten die Kommunikation zwischen allen beteiligten Einsatzkräften sicher und sorgten somit für einen reibungslosen Ablauf.
„Scheiße“, murmelte Alme. In der Regel bedeuteten diese Anrufe, dass Arbeit auf ihn wartete.
„Ja?“
„Ich rufe an wegen der vermissten Fünfzehnjährigen. Sie ist wieder da.“
Alme ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen und atmete tief durch. „Sie wurde am Bahnhof in Berlin aufgegriffen. Anscheinend hat sie sich dort ein paar schöne Tage gemacht.“
Alme fiel ein Stein vom Herzen. Zuerst genoss er seine Erleichterung für ein paar Momente, dann beauftragte er einen Beamten der Sonderkommission, Verbindung mit Leonies Eltern aufzunehmen. Schließlich schickte er eine WhatsApp an die Kommissarin Finja Kröger.
Abbruch. Das Mädchen ist gefunden.
Leipzig, Thomaskirchhof Café Kandler Dienstag, 11:50 Uhr
Finja Kröger gab die Bestellung auf und bemühte sich, ein Gespräch mit Schüssler in Gang zu bringen. Wie üblich beantwortete er sämtliche Fragen lediglich mit „ja“ oder „nein“. Die Kommissarin wusste, dass sie ihn bald mit dem eigentlichen Grund dieses Treffens konfrontieren musste.
Die Kellnerin servierte gerade zwei Tassen Kaffee und die Leipziger Lerchen, als Finja Krögers Smartphone in ihrer Hosentasche vibrierte. Sie ignorierte es, denn sie selbst hätte es als unhöflich empfunden, wenn ihr Gegenüber sich während eines Gespräches mit seinem Handy beschäftigen würde.
Sie nahm einen Schluck Kaffee, setzte die Tasse ab und sagte: „Wir suchen ein Mädchen, das seit letztem Freitag vermisst wird.“
Schüssler kaute das Gebäck voller Genuss und antwortete mit vollem Mund. „Ich weiß.“
Instinktiv warf die Kommissarin dem SEK-Beamten einen Blick zu.
Schüssler bemerkte nicht nur dies, sondern er nahm auch das winzige Nicken wahr, mit dem der SEK-Beamte Finja Krögers Verbindungsaufnahme quittierte.
Prompt geriet die Situation außer Kontrolle.
Schüssler schmetterte die Kaffeetassen und die Kuchenteller vom Tisch. Er sprang auf und schrie. „Du bist genauso wie alle anderen Bullenschweine! Ich hätte es wissen müssen!“
Im nächsten Moment war der SEK-Beamte zur Stelle. Er stieß Schüssler zu Boden und fixierte ihn mit seinen Knien.
Schüssler blutete aus der Nase. „Dreckspack!“, schrie er. „Lass mich los!“
Finja Kröger zückte ihr Smartphone, um weitere Kollegen zu Hilfe zu rufen. Sie blickte aufs Display – und es traf sie wie ein Schlag.
Zunächst schien es, als sei sie zu Eis erstarrt, dann murmelte sie: „Abbruch.“
Der SEK-Beamte meinte, er hätte sich verhört. „Wie bitte?“
„Loslassen“, erwiderte sie bestürzt. „Bitte loslassen!“