Читать книгу ZwischenWelten - Группа авторов - Страница 5
ОглавлениеELVIRA BERNDT
FÜR EIN SELBSTBESTIMMTES LEBEN DANACH.
STREETWORK UND HAFT
Straßensozialarbeit folgt konsequent Prinzipien wie Freiwilligkeit, Vertraulichkeit und Lebensweltorientierung. Auf den ersten Blick scheint dies nicht zusammenzupassen mit einer Arbeit innerhalb einer Jugendstrafanstalt. Schließlich ist ein Gefängnis ein Ort, der wie kein anderer von Unfreiwilligkeit geprägt ist.
Gangway gibt es jetzt 30 Jahre. Von Beginn an hatten Streetwork-Teams auch mit der Jugendstrafanstalt zu tun. Und wenn ich darüber so nachdenke, wie sich unsere Beziehung zur Jugendstrafanstalt in diesen drei Jahrzehnten entwickelt und gewandelt hat, fällt mir auf, dass man – mit einer leichten Überzeichnung – diese Entwicklung in diese Jahrzehnte aufteilen kann. Vermutlich sagt das, was sich in dieser Zeit in unserer Kooperation mit der Jugendstrafanstalt Berlin vollzogen hat, eine ganze Menge aus auch über die Entwicklung des Jugendstrafrechts bzw. die Vollstreckung von Jugendstrafen im vereinigten Deutschland.
Das hier vorliegende Buch mit wundervollen Texten von ebenso wundervollen, weil sich einlassenden und kreativ werdenden jugendlichen Insassen der Jugendstrafanstalt Berlin ist vielleicht der richtige Ort, sich diese drei Jahrzehnte aus der Sicht von Streetwork mal genauer anzuschauen.
Das erste Jahrzehnt – die 1990er Jahre
Zunächst waren es nur die ungeliebten Knastbesuche, um den Kontakt zu den Jugendlichen nicht zu verlieren, deren Taten letztlich in einen Gefängnisaufenthalt mündeten. Die Gedanken, die die Streetworker*innen dieser Zeit mit der Jugendstrafanstalt verbanden, waren vor allem:
• Wie bekomme ich einen Besuchstermin, ohne dass dieser der Familie des Jugendlichen abgezogen wird?
• Wie kann ich eine Gelegenheit abpassen, um mit meinem Jugendlichen im Vertrauen zu sprechen?
• Welche Grüße der Gruppe darf ich keinesfalls vergessen?
• Habe ich Zigaretten gekauft? (Die wichtigsten Mitbringsel, auf die alle besuchten Jugendlichen warteten.)
• Bekomme ich wirklich Einlass oder werde ich an der Pforte wieder weggeschickt? (Ein Grund dafür fand sich immer; Widerspruch erschien kaum möglich.)
Einen Dialog miteinander gab es im Prinzip nicht. Nachfragen, ja selbst Beschwerden versanken irgendwo im Nirwana. Selbst wenn wir „draußen“ mit aller Kraft darum gekämpft hatten, dass ein Jugendlicher seiner Aufforderung zum Haftantritt wirklich nachkam und nicht „abtauchte“ (was seiner Lebensperspektive letztlich ziemlich geschadet hätte), und der betreuende Kollege nach Tagen intensivster Einzelbetreuung und unermüdlicher Überzeugung mit dem Jugendlichen pünktlich vor dem Tor der JSA stand, konnte es passieren, dass er lapidar gesagt bekam: „Wir haben heute nun doch keinen Platz frei; kommen Sie in zwei Wochen wieder.“ Ein Satz, der wochenlange Arbeit zunichtemachen konnte. Interessiert hat das „drinnen“ kaum jemanden.
In der zweiten Hälfte dieses ersten Jahrzehnts gelang es uns mithilfe der Sozialpädagogischen Fortbildungsstätte des Landes Berlin (damals Haus am Rupenhorn), den damaligen Leiter der Jugendstrafanstalt Berlin in die Fortbildung der Streetwork-Teams zu locken. Damit begann in ganz vorsichtigen Schritten auch ein inhaltlicher Diskurs. Im Gedächtnis geblieben ist mir sein spontaner Stoßseufzer: „Hach, so ein Streetwork-Team, das nicht in die Hierarchien eingebunden und einfach für die Jugendlichen da ist, könnte ich in der Jugendstrafanstalt eigentlich auch gut gebrauchen.“
Tatsächlich bewegt hat sich noch wenig, aber um das Jahr 2000 herum war wenigstens ein Fenster etwas geöffnet – was auf ein Gefängnis bezogen zugegebenermaßen ein etwas unpassendes Bild ist.
Das zweite Jahrzehnt – die 2000er Jahre
Der begonnene Gesprächsfaden mit der JSA mündete relativ bald in Gespräche darüber, wie man die Weiterbetreuung junger Menschen durch die Streetwork-Teams während der Haftzeit erleichtern und verbessern kann und auch darüber, wie vielleicht in der Zeit der Jugendhaft eine Aktivierung Jugendlicher über ihre Interessen und jugendlichen Ausdrucksformen möglich wäre. Aus diesen Gesprächen ist mir ebenfalls ein Satz des damaligen Leiters der JSA im Gedächtnis geblieben: „Eher bekomme ich vom Abgeordnetenhaus ganz viel Geld für einen neuen Sicherheitszaun, als dass ich das Kleingeld für einen Tuschkasten bekäme.“
Ungeachtet dieser leider realistischen Erkenntnis bewegte sich einiges. Gangway wurde seitens der JSA als Partner ernster genommen. Das hatte vielleicht etwas damit zu tun, dass die Straßensozialarbeit von Gangway in Berlin inzwischen etabliert und anerkannt war. Es könnte aber auch sein, dass wir davon profitiert haben, dass in den Zeiten der Bezirksfusionen (Berlin reduzierte2001 die 23 Bezirke auf die heutigen 12) und der Einführung der Sozialraumorientierung in den Berliner Jugendämtern (ab 2002) bei gleichzeitiger Reduzierung des Personals im Öffentlichen Dienst die Jugendgerichtshilfen personell und strukturell so beeinträchtigt waren, dass sie von der Justiz zeitweilig nicht mehr als verlässlicher Partner wahrgenommen wurden.
Mitte der 2000er Jahre, genauer gesagt auf der Party zum 15. Gangway-Geburtstag in der Treptower Arena, erreichte uns aus der JSA die Frage, ob wir nicht jemanden wüssten, der dort Rap-Workshops geben könnte. (Rap im Knast! Bis dahin einfach unvorstellbar!) Die Vernetzung der JSA mit einem geeigneten Künstler erfolgte noch vor Ort auf der Party; eine Verbindung, die übrigens bis heute gehalten hat. Irgendwie haben wir dies als Geburtsstunde der wirklich gemeinsamen Arbeit abgespeichert. Die Gruppe Gitta Spitta entstand in der JSA, und die jungen Männer waren vermutlich die ersten Rapper, die in der Jugendhaft eine von der Institution akzeptierte Karriere begannen. Als diese am Ende der 2000er Jahre aus der Haft entlassen wurden, war es schon selbstverständlich, dass die Streetworker von Gangway sie noch während der Haftzeit kennenlernen und nach der Entlassung mit ihnen draußen weiterarbeiten konnten. Mit der in dieser Zeit bei Gangway entstehenden Arbeit an den GangwayBeatz-Alben (um eine vollwertige Alternative zu GangstaRap-Phantasien zu etablieren), mit der Entstehung der BronxBerlinConnection (um die Wurzeln der HipHop-Kultur erlebbar zu machen) und Projekten wie der Kooperation mit Eastpak „Gangway goes fashion week“ gab es für die jungen Haftentlassenen attraktive Möglichkeiten, um neben der mühseligen Lösung von alltäglichen Lebensproblemen die eigene Kreativität zu entdecken und Talente zum Blühen zu bringen.
Auch auf der formalen Ebene tat sich einiges. Die Zutrittsbedingungen für die Streetwork-Teams wurden erleichtert, die Gesprächsmöglichkeit „ohne Beisein eines Beamten“ wurde vom Einzel- zum Regelfall, beginnend mit beruflicher Beratung konnte Streetwork-spezifische Beratung auch innerhalb der JSA etabliert werden, und der inzwischen neue Leiter der JSA brachte sich gemeinsam mit einigen seiner Kolleg*innen bei Gangway-Veranstaltungen außerhalb der JSA ein. Mit der Ausstellung „Grauzone Leben“ thematisierten Streetworker*innen und junge Haftentlassene gemeinsam all die Dinge, die für ein gutes Ankommen in einem Leben in Freiheit nicht förderlich sind – und bei diesem kritischen Feedback hörten die Kolleg*innen aus der JSA zu und kamen ins Gespräch, statt es – wie so oft vorher – zu bekämpfen.
Das dritte Jahrzehnt – die 2010er Jahre
Wir wussten gemeinsam, dass ein guter Übergang in die Freiheit auch für diejenigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen gebraucht wird, die den Streetwork-Teams nicht schon vor der Haft bekannt waren. Und auch die Jugendhilfe in Berlin erkannte, dass ihre Arbeit an der Schnittstelle zur Justiz intensiviert werden musste. Die Jugendgerichtshilfen hatten sich zwar wieder gefangen, aber auch sie erreichten mit ihren Angeboten nur einen Bruchteil der jungen Haftentlassenen. 2011 entstand so bei Gangway das Team Startpunkt; ein Streetwork-Team, das zu sogenannten Endstrafern (Jugendliche, welche die Haft bis zum letzten Tag absitzen und ohne weitere Betreuung entlassen werden) und zu Jugendlichen, die voraussichtlich aus der U-Haft entlassen werden, schon während der Haftzeit Kontakt und Vertrauen aufbaut, die Entlassung vorbereitet und die Jugendlichen nach der Entlassung mehrere Monate betreut und begleitet.
Intensiviert wurde auch die Kooperation mit der Schulabteilung der JSA (heute Helmuth-Hübener-Schule), wo mehr und mehr nicht nur schulische Curricula vermittelt, sondern auch kreative Prozesse in Gang gesetzt wurden. Mit dem Projekt ZwischenWelten wurde seit 2016 eine gemeinsame Möglichkeit aufgebaut, intensive Reflexionsprozesse mit Insassen zu gestalten, die von Gewalt- und Radikalisierungstendenzen betroffen sind und die vordem kaum eine adäquate Möglichkeit gefunden haben, ihre kreativen Ressourcen zu entdecken und zu entwickeln. Die mit dem Projekt beabsichtigte intensive Kommunikation zwischen „drinnen“ und „draußen“ wird durch die parallele Arbeit mit Insassen in der JSA und mit jungen Haftentlassenen außerhalb der JSA realisiert. Damit haben wir auch erreicht, dass sowohl die kreative Arbeit als auch die Unterstützung bei der Bewältigung handfester Lebensprobleme nach der Haftentlassung nahtlos weitergehen kann. Äußerst wichtig ist dabei aber auch, dass sich die Jugendlichen schon während ihrer Haftzeit „gesehen fühlen“ und durch diese beständige Kommunikation nicht nur unter sich bleiben.
Ein weiterer Dialog, nicht nur zwischen drinnen und draußen, sondern auch zwischen sehr verschiedenen Lebenswelten, wird durch die jährlich mindestens zwei bis dreimal stattfindenden Veranstaltungen zur Präsentation der Arbeitsergebnisse erreicht, die wechselnd innerhalb und außerhalb der JSA als Ausstellung oder Bühnenperformance stattfinden und immer Gesprächs- und Dialogräume beinhalten.
ZwischenWelten wird stetig weiterentwickelt. Im aktuellen Jahr 2020 – etwas gebeutelt durch Corona und die Folgen – haben wir den Diskurs zu gesellschaftspolitischen Themen, welche die Jugendlichen unmittelbar bewegen, in den Mittelpunkt gestellt und integrieren den Dialog mit Expert*innen aller Art „von draußen“ unmittelbar in die jeweiligen Workshop-Reihen. Beständig bleibt allerdings bei aller Weiterentwicklung unser Ansatz, alles Neue an die biografischen Erfahrungen der Jugendlichen anzuknüpfen und so gemeinsam kleine, aber nachhaltig wirkende Schritte zu gehen.
Und es geht weiter: Eine Kooperationsvereinbarung zwischen der Helmuth-Hübener-Schule in der JSA und dem Street College von Gangway eröffnet neue Bildungsperspektiven, indem auch hier eine personelle Kontinuität hergestellt wird zwischen den Bildungsansätzen innerhalb und außerhalb der Haft.
Diese drei Jahrzehnte sind natürlich nicht so glatt verlaufen, wie es in einem so kurzen Rückblick aussehen mag. Unsere Streetwork-Prinzipien wie Freiwilligkeit, Vertraulichkeit und Lebensweltorientierung sind für uns nicht verhandelbar; egal, in welcher Lebenswelt wir junge Menschen aufsuchen. Natürlich gab es – auch, aber nicht nur deshalb – auch Unverständnis, Rückschläge und Auseinandersetzungen. Diese Retrospektive ist auch nur die Streetwork-Perspektive – ein Rückblick aus Sicht der JSA würde sicher etwas anders aussehen, weil die Zwänge innerhalb einer Strafanstalt sich natürlich noch wesentlich komplexer darstellen. Aber wir sind uns sehr sicher, dass wir uns in dem Ziel einig sind, den straffällig gewordenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein selbstbestimmtes Leben nach der Haft zu ermöglichen und schon während der Haft dafür so viel wie nur irgendwie möglich in Gang zu setzen. Und wir finden, dass uns der Erfolg Recht gibt.