Читать книгу Schwabens Abgründe - Группа авторов - Страница 12

Auf dem Seitenstreifen der A 8, kurz vor der Drachenlochbrücke

Оглавление

Dass jeder eines Tages für seine Übeltaten zur Rechenschaft gezogen werde, war ein Ammenmärchen. Das war das Erste, was er seinen Mandanten erklärte. Noch bevor er ihnen von dem dehnbaren Gummiband erzählte, das zwischen Recht und Unrecht gespannt war und das er für sie zur Seite biegen konnte, sobald sie seine Honorarvereinbarung unterschrieben hatten. Und er war jeden Cent wert. Nicht umsonst nannten seine Anwaltskollegen ihn Magic Ted.

Teds linke Hand, mit der er seine Aktentasche umklammerte, öffnete sich etwas. Auch er würde nicht in den Knast wandern, natürlich nicht. Gesetze, Gefängnis, das war etwas für Minderbemittelte. Er hatte alles unter Kontrolle. Die letzten Unterlagen, die ihn in Verbindung mit dem unerklärlichen Verschwinden von zwei Millionen Euro aus dem Aktienfond der Kanzlei und dem Unfalltod des Seniorpartners beim Bergwandern brachten, waren sicher in seiner Tasche verwahrt, da er von einem seiner Kontakte bei der Polizei rechtzeitig von der heutigen Kanzleidurchsuchung erfahren hatte. Sobald er zu Hause war, würde er die Papiere im Kamin verbrennen, und dann aus die Maus für den fetten Staatsanwalt, der bei der Befragung gekeucht hatte wie ein Mops beim Treppensteigen. Eine Kleinigkeit wie diese Autopanne mit seiner jungen Chefin Susanne brachte einen Magic Ted nicht aus der Ruhe. Der Abschleppwagen, auf den sie seit zwanzig Minuten warteten, musste gleich hier sein. Alles würde gut werden, morgen um diese Zeit saß er bereits im Flieger in die Südseeoase ohne Auslieferungsabkommen mit Deutschland. Er hätte fast gelächelt, aber im letzten Moment fiel ihm ein, dass ihn der Unfalltod seines Chefs und Mentors Moritz offiziell sehr mitgenommen hatte und es daher unklug war zu lächeln. Ganz besonders bei Susanne im Auto, die seit drei Wochen Schwarz trug und die tägliche Trauer-Schweigeminute ins Leben gerufen hatte. Moritz’ Chefstelle hatte sie allerdings, ohne mit der Wimper zu zucken, übernommen, aber das änderte natürlich nichts an ihrem Betroffenheits-Getue. Den trauernden Tonfall hatte sie nicht mal abgestellt, als sie vorhin mit dem Pannendienst gesprochen hatte.

»Mein Auto hat mich noch nie im Stich gelassen«, sagte sie in diesem Moment mit ihrer leidenden Kleinmädchenstimme. »Das ist mir so unangenehm.«

»Kein Problem«, knurrte er. Seine Nachlässigkeit, dass er nicht darauf bestanden hatte, mit seinem Maserati zu diesem auswärtigen Termin zu fahren, wenn sie schon wegen des Briefings zusammen fahren mussten. Dass Susannes Oldtimerklapperkiste schlappmachen würde, wenn sie ein bisschen Dezemberregen abbekam, hätte er sich denken können.

»Ausgerechnet an Ihrem vorletzten Arbeitstag. Sie werden unsere Kanzlei nachher noch schlecht in Erinnerung behalten«, säuselte Susanne.

»Ich hatte eine großartige Zeit bei Liebermann & Snyder«, erwiderte er. Das war nicht mal gelogen, wenn man die Jahre mit dem cholerischen, alterssenilen Moritz als Chef und Susanne als seiner rechten Hand einmal beiseiteließ.

Susanne legte ihm für eine Sekunde die Fingerspitzen mit den langen roten Fingernägeln auf den Unterarm, wie sie es auch immer bei Moritz gemacht hatte. Nur hatte sie ihre Hände bei Moritz noch auf ganz andere Stellen gelegt. »Wir werden Sie vermissen, Magic Ted. Sie gewinnen doch immer!«

Ihre Berührung machte ihn unruhig, aber natürlich fühlte er sich geschmeichelt und konnte es sich nicht verkneifen, ein paar Anekdoten von seinen letzten vernichtenden Siegen über diverse Staatsanwälte loszuwerden. Den Satz »Meine Mandanten gehen niemals ins Gefängnis« äußerte er gleich mehrfach, so was konnte man in seiner momentanen Situation gar nicht oft genug wiederholen. Nebenbei erwähnte er, wie er seine Ex-Frau in spe Eva bei ihrem laufenden Scheidungsverfahren fertiggemacht hatte, ein juristischer Geniestreich, brillant und hart an der Grenze zur Illegalität. Ein bisschen Abschreckung schadete nicht, keine Ahnung, auf was für Ideen Susanne sonst kam, wenn sie hier noch lange mit ihm im Auto saß. Es war zu befürchten, dass er in ihr Beuteschema passte. Und sie sah nicht mal übel aus. Sie hatte einen großen, sexy Mund mit vollen Lippen. Für ein kurzes Abenteuer, bei dem sie nicht mit leidender Kleinmädchenstimme sprechen konnte, weil sie oral beschäftig wäre, würde sie vielleicht schon taugen, aber eine solche Schwäche konnte er sich im Moment nicht erlauben. Nicht auszudenken, wenn der fette Staatsanwalt anrief, und er, Ted, Unvorsichtigkeiten ins Telefon stöhnte, wo äußerste Vorsicht angezeigt wäre. Oder, noch schlimmer, wenn er während des Orgasmus in wilder Ekstase versehentlich seine Aktentasche aufriss und die Papiere herausfielen.

»Ich spüre, Sie leben für den Anwaltsberuf.« Susanne tätschelte erneut seinen Arm. »Warum hören Sie auf?«

Ted zog seinen Arm weg. Draußen prasselte der Regen auf die Scheiben. »Moritz’ tragischer Unfall hat mir mehr als deutlich vor Augen geführt, dass wir nicht ewig leben«, sagte er salbungsvoll. »Wenn wir etwas ändern wollen, müssen wir es jetzt tun, nicht irgendwann! Ich möchte ein einfaches Leben leben und die kleinen Dinge genießen.« Was sich mit insgesamt fast dreieinhalb Millionen auf einer Südseeinsel sicherlich gut bewerkstelligen ließ. Er lächelte nun doch, versuchte aber, dem Lächeln einen nachdenklich-melancholischen Touch zu geben. Schwierig, denn es war so ein Genuss, sich vorzustellen, was seine zukünftige Ex-Frau Eva für ein Gesicht machen würde, wenn sie erfuhr, dass er sie nicht nur bei Gericht abgezockt hatte, sondern auch noch mit dem gesamten restlichen Vermögen, sogar ihrem Geld und dem der Kinder, abgehauen war.

»Was haben Sie denn vor?«, fragte Susanne.

»Gärtnern«, sagte er nur.

»Wie wundervoll. Und wo?«

»In meinem Garten.«

Susannes Handy klingelte. Sie nahm ab, hörte eine Weile zu, schimpfte dann »Selbstverständlich, zur Not gehen wir bis in die höchste Instanz!«, legte auf und wandte sich wieder Ted zu. »Die durchsuchen schon wieder die Kanzlei«, sagte sie verärgert. »Die glauben, dass ich zwei Millionen Kanzleigeld beiseitegeschafft habe, nur weil ich eine winzige Briefkastenfirma auf Guernsey besitze, die ich bei der letzten Steuererklärung versehentlich vergessen hatte anzugeben. Unverschämtheit! Wahrscheinlich kommen die als Nächstes, um mir anzukreiden, ich hätte Moritz den Abhang hinuntergestoßen.«

»Die Wahrscheinlichkeit ist gering«, bemerkte Ted. »Immerhin waren Sie nicht mal dabei bei unserem Firmenausflug.«

»Aber ich profitiere als Einzige von seinem Tod, Ted! Als einzige! Ich erbe die Kanzlei und seine Villen. Und ich habe kein Alibi für den Tag. Herrgott, Sie sind doch seit Jahrzehnten Strafverteidiger, Sie wissen doch, was das heißt.«

»Ich weiß, dass das gar nichts heißt«, sagte er jovial. Und der guten Ordnung halber fügte er hinzu: »Schade, dass ich meine Anwaltszulassung abgebe, sonst hätte ich Sie da raushauen können.«

Dass Moritz sogar sein Testament geändert und diese Tussi eingesetzt hatte, war ja grauenhaft. Aber wunderbar, dass sie nun verdächtigt wurde, das verschaffte ihm noch mehr Zeit. Eine Weile schwiegen sie. Mit einem leisen Klicken verabschiedete sich die Beleuchtung des Oldtimers, das Licht im Inneren wurde dämmrig-düster. Der Dezemberregen peitschte auf die Windschutzscheibe, das Prasseln nervte Ted.

Susanne versuchte immer wieder, ihr Auto anzulassen. Ständig drehte sie am Autoschlüssel. Dann hielt sie kurz inne. »Ich … Sie waren doch dabei bei dem Firmenausflug vor drei Wochen. Als Moritz … Als die Sache mit Moritz …« Sie schien den Tränen nahe. »Was ist eigentlich genau passiert? Dort am Berg, meine ich?«

Ihre Stimme klang so merkwürdig, dass Ted für eine Sekunde alarmiert war. Aber ein weiterer Blick zu seiner Chefin, die zum bestimmt dreißigsten Mal vergeblich versuchte, ihr Auto zu starten, wobei nach dem ersten Mal schon klar gewesen war, dass hier Hopfen und Malz verloren waren, zerstreute seine Bedenken. Von der ging mit Sicherheit keine Gefahr aus. Die bemerkte eine kriminelle Handlung wahrscheinlich erst dann, wenn jemand direkt vor ihren Augen erschossen wurde. Abgesehen davon hätte sie ihn kaum im Auto mitgenommen, wenn sie einen Verdacht gehabt hätte.

»Ich …«, fuhr Susanne fort, »ich weiß, Sie wollen eigentlich nicht darüber sprechen, weil es Ihnen verständlicherweise zu Herzen geht, aber …« Eine Träne rann nun ihre Wange hinunter. »Ich habe Moritz geliebt, ich muss es wissen. Ob er gelitten hat. Sie waren doch ganz in der Nähe, Ted. Haben … haben Sie ihn abstürzen sehen?«

Ted sah in den Fußraum. Auf die Aktentasche. Erneut legte Susanne ihm ihre Hand mit den roten Fingernägeln auf den Arm. »Bitte«, flehte sie. »Können Sie mir erzählen, was passiert ist? Und falls die Staatsanwaltschaft mich wirklich beschuldigen sollte, etwas mit Moritz’ Tod zu tun zu haben … Können Sie denen sagen, dass die sich irren? Bitte, Ted.«

Daher wehte also der Wind. Es hätte ihn auch gewundert, wenn Susannes Liebe zu dem über vierzig Jahre älteren Moritz echt gewesen wäre. Er nickte ernst.

»Moritz’ Tod war eindeutig ein Unfall. Ich habe es gesehen«, sagte er und sah Susanne direkt in die Augen. »Eine Tragödie.« Es gelang ihm, eine Träne zu verdrücken. Was schwierig war, denn es war so ein herrliches Gefühl gewesen, dort auf dem schmalen Pfad an der Felswand endlich nicht mehr zu buckeln, sondern Moritz mit einem harten Stoß in die ewigen Jagdgründe zu verabschieden. »Ein Fehltritt von Moritz auf dem nassen Untergrund … Er hat das Gleichgewicht verloren … Ich habe noch versucht, zu ihm vorzudringen, ihn zu retten, aber es war bereits zu spät, ich war zu weit weg.« Ted rieb sich mit einer theatralischen Geste über die Stirn, als hätte er Kopfschmerzen. »Ich habe immer dieses Bild vor Augen, dieses Entsetzen in seinem Gesicht, als er den Halt verloren hat.« Er räusperte sich, legte nun seinerseits die Hand für einen Moment auf Susannes Arm. »Aber es ging schnell, Moritz hat nicht gelitten. Ein kurzer Flug, ein platschendes Geräusch …«

Susanne stöhnte auf.

»Er hatte noch so viel vor, trotz seines stattlichen Alters.« Ted senkte den Kopf. »Ein wundervoller Mensch, ein herausragender Anwalt.«

Ohne die Tricks, die ihm der alte Arsch seinerzeit beigebracht hatte, hätte er nie im Leben so viel Geld unbemerkt beiseiteschaffen können, dachte er gehässig. Und wahrscheinlich hätte er seinen ersten Mord auch nicht durchgezogen. Sein damaliger Vermieter, eine uralte Geschichte, die ihm heute noch peinlich war, unüberlegt, schlecht geplant, riskant. Ein Wunder, dass er nicht im Knast gelandet war. So was würde ihm heute nicht mehr passieren, er hatte gelernt, seine Gefühle zu beherrschen, er hatte nicht mal Eva umgelegt, und da war er die letzten Monate seiner Ehe ganz dicht davor gewesen. Und Susanne auch nicht, obwohl sie ihm vor vier Jahren, mit achtundzwanzig, die Leitung der Strafrechtsabteilung weggeschnappt hatte und trotz ihrer hübschen Fassade nervig war wie die Pest. Er war ja kein verrückter Serienmörder. Er löste nur gelegentlich Probleme, die sich anders nicht lösen ließen. Und Moritz war selbst schuld. Hätte er mal seine Nase nicht in Dinge gesteckt, die ihn nichts angingen, dann wäre er jetzt noch am Leben. Aber Moritz musste ja die falschen Fragen stellen. Abgesehen davon hatte er Ted die saftige Gehaltserhöhung und die Partnerstelle verweigert, die ihm zugestanden hätten. Sich das Geld, das ihm gebührte, selbst zu verschaffen und Moritz zu beseitigen, war der einzige Ausweg gewesen.

Ted bewegte seine kalten Füße, immer darauf bedacht, ja nicht an die Aktentasche zu stoßen. Der Regen prasselte unvermindert auf die Scheibe. Er holte sein Handy aus seiner Jackentasche, steckte es jedoch wieder zurück, ohne seine WhatsApp-Nachrichten abzufragen. Langsam verspannten sich seine Schultern. Wie lange konnte so ein verdammter Abschleppwagen brauchen?

»Irgendwas ist mit der Standheizung nicht in Ordnung«, murmelte Susanne in die Stille. Ihre großen Augen sahen aus wie die eines verletzten Rehs. »Es ist wirklich sehr frisch hier drin.«

Er wusste nicht genau, ob es der Urinstinkt des Beschützers oder einfach ein Moment geistiger Umnachtung war, aber er bot Susanne seinen Mantel an. Sie zog ihn über ihre Jacke, und er blieb in Jackett und Armanihemd zurück. Kurze Zeit später fing er an zu bibbern. Der dreibeinige Edelstahlbrotkorb, den ihm seine Sekretärin zum Abschied geschenkt hatte und der ihm als Vorwand für seinen etwas überstürzten Aufbruch kurz vor der Kanzleidurchsuchung gedient hatte, eine der kreativsten Problemlösungs-Ideen seines Lebens im Übrigen, lag neben der Tasche im Fußraum und fror wie die stachelige Eisskulptur eines außerirdischen Virus fast an seinem Knöchel fest. Wenn der Abschleppdienst nicht bald kam, war es vermutlich nur noch eine Frage der Zeit, bis der Schnitter an die Scheiben des Oldtimers klopfte. Normalität vorspielen war das eine, aber warum hatte er sich aufführen müssen wie ein Heiliger? Er war ja besser als Sankt Martin! Der hatte nur den halben Mantel abgegeben. Was gar nicht so blöd gewesen war. Aber jetzt den Fehler zu beheben und mit dem Metalleiskratzer einen Teil des Mantels abzuschneiden, war definitiv keine so gute Idee. Außerdem würde die kleinste Bewegung dazu führen, dass sich seine mittlerweile ziemlich volle Blase in Susannes Fußraum ergoss. Wo blieb der verdammte Abschleppdienst?

»Kennen Sie sich mit Autos aus, Ted?« Susannes Augenaufschlag war kokett.

»Natürlich«, gab er zurück, in einem Ton, als wäre es absurd, etwas anderes auch nur zu denken.

»Meinen Sie, Sie könnten mal einen Blick auf den Motor werfen? Ich fürchte, wir müssen uns selbst helfen. Ich erfriere gleich.«

Erfrieren. Im Auto. Mit zwei Mänteln. Er lachte sich kaputt. Das Bedürfnis, ihr einfach den Hals abzudrücken, flammte für eine Sekunde auf, wurde so stark, dass er sich auf die Wange beißen musste. Er zwang sich, »mit dem größten Vergnügen schaue ich nach dem Motor« zu sagen und stieg in den Eisregen hinaus. Er hatte ein Ziehen im Magen wegen der Aktentasche, die er zurücklassen musste, aber sie mitzunehmen wäre kaum erklärbar gewesen. Und er konnte immer noch über einen Plan B nachdenken, der Halszudrücken mit einschloss, falls Susanne an seine Papiere ging. Das Inferno prasselte auf ihn nieder und durchweichte in wenigen Sekunden sein Jackett und seine Hose, während seine Chefin gemütlich durch die Scheibe zu ihm hinaussah und nebenher mit ihrem Handy herumspielte. Gott, hatte er Lust, sie umzulegen.

Es dauerte eine Weile, aber schließlich bekam er die Motorhaube auf, und pro forma starrte er kurz auf das Gewirr aus Schläuchen und Kabeln. Er beugte sich sogar weit nach vorne und tat so, als ob er einen Fehler begutachtete, und der gottverdammte Eisregen lief ihm ins Genick. Sein Kopf tat weh. Er spürte seine Hände nicht mehr. Außerdem stand seine Blase kurz vor der Eruption. Und die Blöße, vor seiner Chefin an den Straßenrand zu pinkeln, konnte er sich nicht geben. Vielleicht sollte er sein Wissen aus dem Gleichberechtigungsseminar, das die ganze Kanzlei letztes Jahr hatte besuchen müssen, anwenden und Susanne mit Gewalt aus dem Auto zerren, damit sie ihre Karre mal schön selbst reparierte. Was sein Technikverständnis anging, war er nämlich gleichberechtigt mit Frauen: Dieser Motor war ein Buch mit sieben Siegeln für ihn.

Er schluckte. Tief durchatmen. Das war nicht der richtige Moment für Emanzipation. Bibbernd, aber entschlossen ging er den kurzen Weg zur Beifahrertür und stieg wieder ein. Hatte die Frau sich gerade ruckartig aufgerichtet? Hatte sie etwa in seine Aktentasche geschaut? Und warum hatte sie ihr Handy so schnell weggesteckt? Der Brotkorb sah schwer genug aus, um ihr damit den Schädel … Er schüttelte den Kopf. Er musste ruhig bleiben. Keine weitere Leiche. Die Papiere in den Kamin werfen hatte oberste Priorität. Und am nächsten Tag den Flieger besteigen. Jahre, bevor der fette Staatsanwalt durchschaut hätte, wie genau das Geld beiseitegeschafft worden war, dass es Ted gewesen war und vor allem, dass Moritz’ Sturz kein Unfall gewesen war. Mit einem Ärmel wischte er sich über Gesicht und Haare. Widerlicher Regen! Susanne sah ihn erwartungsvoll an.

Er zeigte nach draußen: »Auch wenn ich den größten Teil meiner Jugend unter Motorhauben verbracht habe, dieses Auto ist nicht mehr zu retten.« Es gelang ihm, herablassend zu klingen, obwohl er die Beine zusammenkneifen musste, weil seine Blase so schmerzte. Aber er würde die Tasche nicht noch einmal alleine lassen.

Mit leidender Kleinmädchenstimme hauchte sie: »Oh.«

»Mit dem passenden Werkzeug kann ich jedes Auto wieder in Gang setzen«, fuhr er fort, und während er noch überlegte, ein gemeines »nicht meine Schuld, dass Sie außer einer Wimpernzange kein Werkzeug haben« an den Satz anzuhängen, fragte sie: »Warum starren Sie eigentlich die ganze Zeit so auf Ihre Aktentasche? Was ist da drin?«

Sein Herzschlag setzte für eine Sekunde aus, auch wenn er auf den Brotkorb geschaut hatte. Falsche Frage, dachte er, ganz falsche Frage, Tussi, ich breche dir gleich das Genick, ich … Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, nuschelte er: »Wichtiger U-Haft-Mandant, mein letzter offizieller Termin morgen.«

»Sagten Sie nicht vorhin, Ihre Mandanten würden niemals einfahren?«

Er biss sich auf die Zunge, was für ein blöder Fehler. »Potenzieller U-Haft-Mandant«, berichtigte er. Gott, hoffentlich stimmte das nicht. Er durfte gar nicht an die Unterlagen denken, die ihn für Jahre in den Knast bringen konnten. Und wenn die erst einmal anfingen, in seinem Umfeld zu ermitteln, Moritz’ Unfall genauer untersuchten und gegebenenfalls auf eines seiner weiteren Opfer stießen, vielleicht den Boden unter seiner Garage aufgruben … So dehnbar war das Gummiband zwischen Recht und Unrecht nicht mal für ihn. Er schluckte. Dann sagte er sich, dass seine plötzliche Panik vollkommen absurd war. Ihm war nur kalt. Morgen saß er im Flieger, übermorgen mit einem Martini am Strand.

Erfreulicherweise tauchten in diesem Moment im Rückspiegel auch endlich die goldenen Lichter des Abschleppwagens auf. Alles würde gut werden. Jetzt würde er Susanne zum Abschluss zeigen, wie Magic Ted einen Konflikt für sich entschied, und danach nach Hause und ab mit den Papieren in den Kamin. Er erbot sich, erneut in den Regen, der sich glücklicherweise in den letzten Minuten zu einem leichten Nieseln abgeschwächt hatte, hinauszusteigen und die Sache mit dem Typen vom Abschleppdienst zu klären. Er ließ die Beifahrertür offen, damit er die Aktentasche im Blick hatte, und setzte sein kältestes Anwaltslächeln auf, bei dem selbst hartgesottene Richter zu schlottern begannen. Dieser unverschämte Hurensohn von einem Handwerker, der sich erdreistet hatte, ihn über vierzig Minuten mit Susanne warten zu lassen, dem würde er was erzählen. Wenn er mit ihm fertig war, dann würde diese Kreatur weinend in ihrem Fahrerhäuschen kauern, so wahr ihm Gott helfe. »Wie können Sie es wagen, fast eine Stunde zu spät …«, donnerte er los.

Die Tür des Abschleppwagens knallte mit solcher Wucht auf, dass Ted fast auf die Autobahn geschleudert wurde. Er konnte sich gerade noch am Kofferraumdeckel des Oldtimers festhalten. Der Brotkorb, den er, ohne es bemerkt zu haben, wie eine Waffe in der Hand hielt, schlug fast die Heckscheibe ein.

»Wen haben wir denn da?«, fauchte die Fahrerin des Abschleppwagens, und Ted fühlte, wie ein kaltes Grausen in seinen Magen fuhr.

»Eva«, sagte er, und das erste Mal hatte er für eine Sekunde das Gefühl, dass alles über ihm zusammenstürzte. Schön zwar, dass seine Ex-Frau sich seinen wohlgemeinten Ratschlag, sie solle Putzen gehen oder verrecken, zu Herzen genommen und sich endlich trotz der drei kleinen Kinder einen Job gesucht hatte. Aber musste das ausgerechnet in einem Abschleppunternehmen sein? Ausgerechnet heute?

Er atmete tief durch. »Wir sollten das Kriegsbeil begraben«, brachte er heraus. »Ich denke schon die ganze Zeit, ich sollte dir beim nächsten Gerichtstermin ein faires Angebot unterbreiten. Um der vielen guten Jahre willen, Pummelchen.« Solche Sachen mit Kriegsbeil begraben und guten Jahren hätte er unter anderen Umständen nie zu seiner künftigen Ex-Frau gesagt, aber eines war sicher: Eine redende Eva würde dazu führen, dass er seinen Flug morgen vergessen konnte. Denn auch, wenn Eva auf ihre minderbemittelte Art nie verstanden hatte, was für krumme Dinger er so gedreht hatte, dass er krumme Dinger gedreht hatte, das hatte sie kapiert. Im Scheidungsverfahren war das kein Problem, der Richter wurde von Ted mit großzügigen Spenden unterstützt und glaubte Evas Verleumdungen nicht, aber Susanne würde eins und eins zusammenzählen können, vor allem nach der Sache mit Moritz, und wenn sie die Polizei rief und die die Aktentasche …

Eva sprang behände aus dem Fahrerhäuschen. »Deine Chefin?«, fragte sie und zeigte auf den Oldtimer. »Der werde ich mal erklären, was du für ein betrügerisches Arschloch bist. Dass du nicht mal Kindesunterhalt bezahlst und Gewalt für dich ein legitimes Mittel …«

»Eva, jetzt dreh nicht durch.« Er nahm den Brotkorb in beide Hände.

»Ich drehe nicht durch. Was ist das für ein Ding, das du da hältst? Versuchst du schon wieder, mich zu bedrohen?«

»Ich habe dich nie bedroht! Ich habe dir ruhig in der Küche erklärt, dass ich nach der Scheidung berechtigterweise keinen Unterhalt und auch sonst nichts bezahlen werde.« Er legte Entrüstung in seine Stimme.

»Mit einem Fleischermesser in der Hand?!«

»Ich war gerade beim Kochen.« Es hatte ihn ein Vermögen gekostet, die Polizei davon zu überzeugen, dass er für die Zubereitung von Ravioli aus der Dose ein Fleischermesser gebraucht hatte.

Aus dem Augenwinkel sah Ted, wie die Tür des Oldtimers aufging. Susannes Fuß erschien. Sein Herz raste.

»Das hier ist ein Edelstahlbrotkorb.« Er streckte seiner Ex-Frau das hässliche Ding hin. »Willst du ihn haben? Du stehst doch auf hübsche Designerstücke, Pummelchen.«

»Steck dir das Ding sonst wohin.« Eva ging in Richtung Oldtimer, direkt auf die offene Beifahrertür zu.

Hass und Angst kochten in Ted hoch. Trotzdem sagte er betont ruhig: »Wenn du jetzt einfach wieder fährst, könnte ich mir vorstellen, dir die Villa in St. Tropez zu überschreiben.« Dass sie seit vorgestern bis obenhin beliehen war, verschwieg er geflissentlich.

Eva lachte herablassend und ging weiter. Sollte er den Brotkorb wie einen Ninjastern auf sie schleudern und hoffen, dass sie enthauptet wurde? Sie damit erschlagen? Und Susanne als Zeugin gleich mit? War es vorstellbar, dass die Polizei ihm später abnahm, dass er in Notwehr gehandelt hatte? Die waren schon bei der Sache mit dem Fleischermesser ziemlich angespannt gewesen, und Moritz’ Unfall war auch noch nicht gänzlich vom Tisch. Und als er neulich seinen Siegelring im Hals einer toten Gegenanwältin verloren hatte und danach auch noch den Gerichtsmediziner hatte beseitigen müssen … Fuck. Vielleicht konnte er wenigstens behaupten, das hier sei eine Tötung auf Verlangen gewesen? Die Strafe dafür war deutlich geringer als für Mord. War ein realistisches Szenario denkbar, in dem zwei Frauen einen Anwalt baten, sie mit einem Brotkorb am Rande einer Autobahn zu enthaupten? Wohl kaum. Fuck.

»Sie sind Susanne?«, fragte Eva in diesem Moment seine Chefin, die mittlerweile ausgestiegen war, über das Auto hinweg. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Wir Frauen müssen zusammenhalten. Ich habe kein Verständnis für Männer, die keinen Kindesunterhalt bezahlen«, antwortete Susanne.

Teds Hand, die den Brotkorb umklammerte, wurde ganz weiß. Was ging hier vor sich?

»Das war eine großartige Idee mit dieser Panne.« Eva lächelte diabolisch. »Hatten Sie die Gelegenheit, in sein Handy zu schauen? Stimmt das Passwort noch, das ich Ihnen gegeben habe? Ich bin mir sicher, er hat noch irgendwo Geld, der ist nie im Leben pleite.«

Ted erstarrte. Diese Schlampen. Eva hatte die Beifahrertür erreicht.

»Leider konnte ich nicht richtig nachschauen, er war zu kurz draußen, er scheint nicht viel von Autos zu verstehen«, bemerkte Susanne. »Aber ich denke, er hat da etwas in seiner Aktentasche …«

Eva bückte sich in Susannes Oldtimer.

»Hände weg von meiner Tasche!«, schrie Ted. Er hatte die Situation blitzschnell erfasst: Eva suchte nur nach Geld, weder sie noch Susanne wussten von dem Sprengstoff, der da in seiner Tasche lauerte. Der Staatsanwalt war nicht hier, und ohne die Papiere konnte ihm niemand etwas beweisen. Die Schlampen hatten einen Fehler gemacht. Ted schleuderte den Brotkorb auf den Boden, stürzte zur Beifahrertür, riss seine Aktentasche aus Evas Hand. Der Deckel klappte auf, und drei Blätter wurden vom Wind hochgewirbelt, flogen am Rande der Autobahn entlang auf die Autobahnbrücke, wo sie von einer Böe erfasst wurden. Er spürte, wie Urin warm seine Beine hinunterlief. Mit einem hastigen Satz sprang er den Blättern hinterher, fing zwei davon auf, da war das dritte, er hatte es gleich, Eva und Susanne hatten sich geschnitten, es war ein Ammenmärchen, dass jeder eines Tages für seine Taten zur Rechenschaft …

Er packte triumphierend das dritte Papier und schwang sich elegant über die Leitplanke. Ins Leere. Scheiße, Autobahnbrücke, dachte er noch.

Schwabens Abgründe

Подняться наверх