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III. AUTOMAT SVĚT – Wellenbewegungen und Ausblick

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Die frühen Kurzfilme von Chytilová skizzieren nicht nur neue künstlerische und ästhetische Perspektiven, die Formen und Funktionen des Cinéma vérité und des Direct Cinema bis hin zur situativen Spielhandlung weiterdenken. Sie bilden auch die stilistische Grundlage für ihre späteren Arbeiten. Thematisch untereinander verbundene Situationen integrieren performative Elemente und Momente der Improvisation jenseits der starren Vorgaben einer linearen Erzählung.

Chytilovás erster abendfüllender Film VON ETWAS ANDEREM kombiniert effektvoll semi-dokumentarische Spielhandlung und in Szene gesetzte Dokumentation. TAUSENDSCHÖNCHEN knüpft an die in EIN SACK VOLLER FLÖHE erprobte provokante Arbeit mit Laiendarstellern an und verwandelt deren anarchische Streifzüge in eine spielfreudige Performance zwischen einem um verschiedene Themenfelder konstruierten Happening und dem provokanten Gestus des einige Jahre später mit kreativer Destruktivität auftretenden Punk.

Am eindrucksvollsten zeigt sich die Auswirkung des ästhetischen Programms der frühen Kurzfilme in dem indirekten Nová-Vlna-Manifest PERLIČKY NA DNĚ (PERLEN AUF DEM MEERESGRUND, 1965), für den Jiří Menzel, Jan Němec, Evald Schorm, Jaromil Jireš und Chytilová jeweils eine Kurzgeschichte des mit ihnen befreundeten Schriftstellers Bohumil Hrabal adaptierten. In dem von Chytilová bearbeiteten Segment AUTOMAT SVĚT (STEHIMBISS WELT) finden sich noch einmal die unterschiedlichsten Formen filmischer Inszenierung zwischen Spielfilm und Dokumentation effektvoll kombiniert. Während im oberen Stockwerk eines Gasthauses eine ausgelassene Hochzeitsfeier ihren Verlauf nimmt, entdeckt die Wirtin, dass sich auf der Toilette im Erdgeschoss eine Frau erhängt hat. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse wird von der Kamera Jaroslav Kučeras mit nahezu dokumentarischer Beiläufigkeit beobachtet, und dennoch finden sich immer wieder einzelne Details wie die Regentropfen auf der Fensterscheibe des Gasthauses, die in den ersten Einstellungen den Blick auf den Schauplatz verschleiern und der Inszenierung eine zusätzliche poetische Ebene verleihen. Erst langsam erschließt sich das anfangs unübersichtliche Geschehen. Die aufdringlichen Gäste werden von der Wirtin vor die Tür gesetzt, an deren Scheibe sie sich dennoch weiterhin schaulustig pressen. Das Eintreffen der Ärzte und der Polizei wird ebenso wie die Zurechtweisung der vor der Tür lauernden Neugierigen wie in einer Direct-Cinema-Dokumentation von der Kamera beiläufig registriert. Am Tresen findet sich ein vereinsamter Künstler ein. Er berichtet der Wirtin, dass er von seiner Freundin verlassen wurde. Für diese habe er einen Gipsabdruck nach Art einer Totenmaske anfertigen müssen. Sie habe versucht, ihn zum gemeinsamen Selbstmord zu überreden, beim Gedanken an die nach dem Sprung aus dem Fenster verunstalteten sterblichen Überreste sei sie jedoch zurückgeschreckt. Regulär arbeite er als Künstler, in seiner letzten Ausstellung »Die Fabrik – Eine taktile Erfahrung« habe er mit ästhetischer Präzision abstrakte Installationen angefertigt. In kurzen Einschüben zeigt der Film, wie der Künstler mit einem Hammer seine Werke bearbeitet. In deutlichem Kontrast zu seinen aufgehängten abstrakten Arbeiten sind an der gegenüberliegenden Wand des Ausstellungsraums großformatige Porträts von Marx und Lenin zu sehen. Während der Künstler, aus dessen Erzählung sich nicht sicher erkennen lässt, ob es sich bei der von der Wirtin entdeckten Selbstmörderin nicht vielleicht sogar um seine Freundin handelt, über sein Leben berichtet, kommt im Hintergrund des Bildaufbaus die Braut von der Hochzeitsfeier im oberen Stockwerk die Treppe herunter. Sie stellt sich den Polizisten in den Weg, die ihren Bräutigam wegen angeblicher Provokation der Staatsgewalt verhaftet haben. Auf raffinierte Weise werden die Ereignisse rund um die Hochzeit von Chytilóva ins Off der Inszenierung verlagert. Zwar macht sich die Feier immer wieder wie aus weiter Entfernung auf der Tonspur bemerkbar, aber erst als die Braut die Kneipe betritt und demonstrativ ihren Schuh mit Wasser aus der Leitung füllt und daraus einen Schluck nimmt, bekommen die Zuschauer*innen auch einen visuellen Eindruck von den parallel zur stillen Tragödie im Erdgeschoss ablaufenden Festlichkeiten. Nachdem die Polizisten sich weigern, ihren frisch angetrauten Ehemann freizulassen, erklärt sie provokant, dass sie nicht daran denke, ihre Hochzeitsnacht alleine zu verbringen. Auf die abweisende Geste eines der beiden Polizisten reagiert sie trotzig und verschwindet stattdessen gemeinsam mit dem aus seiner Lethargie am Tresen erwachenden Künstler hinaus in die Nacht.

Wie bereits während Martas nächtlicher Passage am Ende von DIE DECKE wechselt auch STEHIMBISS WELT die erzählerische Modalität, nicht als abrupter Stimmungswechsel, sondern vielmehr im fließenden Übergang eines musikalisch strukturierten Werks, das über verschiedene Tonarten und bewusst eingesetzte wechselnde Rhythmen verfügt. In einem lyrisch anmutenden Zeitlupen-Effekt bewegen sich die Braut in voller Montur und der Künstler durch die stürmische und regnerische Nacht. Mit ihrem Brautschleier und später mit Teilen ihres Brautkleids binden sie eine Reihe von im Sturm wiegenden Bäumen ab. Makabre Ironie der romantischen Zufallsbegegnung: Die flüchtige Braut erklärt dem Künstler, dass sie von ihm durchaus angetan sei, aber eine besondere Freude würde er ihr machen, wenn er auch von ihr eine Totenmaske anfertigen würde.

In einem Interview erklärte Chytilová später, dass sie ihre filmische Eigenständigkeit gegenüber der Vorlage Hrabals dadurch betont habe, dass sie und ihr späterer Gatte Jaroslav Kučera versuchten, in ihrer Adaption die Sprache des Films so weit wie möglich auszuschöpfen. Gerade deshalb demonstriert STEHIMBISS WELT noch einmal die besondere kreative Leistung Chytilovás in der radikalen Aneignung dokumentarischer und fiktionaler filmischer Modalitäten, die zu einer eigenen künstlerischen Filmsprache vermischt werden. Durch die beobachtende, distanziert anmutende Haltung der Kamera werden die dramatischen Ereignisse der Nacht auf eine intensivere Weise als durch eine traditionelle Erzählung vermittelt, da sie eine stärkere Eigenbeteiligung der Zuschauer*innen verlangen. Die dokumentarischen Einschübe vom Künstler bei der Arbeit liefern ebenso wie die Anfertigung eines Gipsabdrucks für eine Totenmaske weitere Stimmungsbilder, die vom Publikum in den Gesamtzusammenhang des Handlungsgeflechts integriert werden sollen. Aus den einzelnen, manchmal ausgesprochen sprunghaft arrangierten Fragmenten können die Betrachter*innen ihre eigene Erzählung konstruieren. Dem tschechischen Titel von Hrabals Erzählung entsprechend, erweist sich das Gasthaus als eine Weltbühne, auf der sich Alltägliches, Tragisches und Absurdes ereignet. Wie in der inszenierten teilnehmenden Beobachtung in DIE DECKE und EIN SACK VOLLER FLÖHE bleibt es den Zuschauer*innen selbst überlassen, sich zum beobachteten Geschehen zu positionieren. Die Übertragung des dokumentarischen Modus auf Situationen des Fiktionalen durch Chytilová eröffnet einer unaufdringlichen und entdeckungsfreudigen Variante des filmischen Realismus neue Freiräume für spontane Assoziationen. Indem die filmische Inszenierung eben gerade nicht einen unmittelbaren Abbildcharakter behauptet, sondern stattdessen Formen einer dokumentarischen Dynamik zum stilistischen Mittel erklärt, erscheint in den frühen Arbeiten Chytilovás sogar ein fließender Übergang zwischen erzählend-realistischen und abstrakt-lyrischen Passagen möglich.

In dieser Hinsicht lassen sich Theodor W. Adornos Beobachtungen zum Realismus im Roman des 20. Jahrhunderts sehr gut auch auf das filmische Verhältnis der Nová Vlna zur Wirklichkeit übertragen: »Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muss er auf einen Realismus verzichten, der, indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäft hilft. Die Verdinglichung aller Beziehungen zwischen den Individuen, die ihre menschlichen Eigenschaften in Schmieröl für den glatten Ablauf der Maschinerie verwandelt, die universale Entfremdung und Selbstentfremdung, fordert beim Wort gerufen zu werden.«13

Durch die risikofreudige und künstlerisch beeindruckende Vermischung der dokumentarischen und fiktionalen Formen gelingt der Nová Vlna und insbesondere Věra Chytilová in ihren wegweisenden frühen Arbeiten im Grenzgebiet zwischen Cinéma vérité und Neuen Wellen eine Errettung der äußeren Wirklichkeit, jenseits der verklärenden Formeln des Sozialistischen Realismus und jenseits der indexikalischen Fallgruben eines allzu unmittelbaren Dokumentarismus.

1 Nová Vlna ist die tschechische Bezeichnung für den filmhistorischen Fachbegriff Neue Welle. - 2 Vgl. Hans Jürgen Wulff, »Liebe einer Blondine«, in: Filmklassiker, hg. von Thomas Koebner, 5. Auflage, Stuttgart 2006, S. 102. - 3 Thorolf Lipp, Spielarten des Dokumentarischen, Marburg 2012, S. 86. - 4 Peter Hames, »Jenseits der Genres – Tschechischer Realismus«, in: Die Tschechische und Slowakische Neue Welle. Das Filmwunder der Sechziger, hg. von Jonas Engelmann, Andreas Rauscher, Josef Rauscher, Mainz 2018, S. 164. - 5 Vgl. Paul Ward, Documentary. The Margins of Reality, New York 2005, S. 13. - 6 Oksana Bulgakowa, »Von nichts anderem – Die drei Trilogien der Věra Chytilová«, in: Regiestühle International, hg. von Fred Gehler, Berlin 1987, S. 129–154, hier S. 6. - 7 Ebd., S. 61. - 8 Peter Hames, The Czech and Slovak Cinema. Theme and Tradition, Edinburgh 2010, S. 151. - 9 Martin Seel, Die Künste des Kinos, Frankfurt am Main 2013. - 10 Bulgakowa, Von nichts anderem (s. Anm. 6), S. 61. - 11 Hames, »Jenseits der Genres« (s. Anm. 4), S. 166. - 12 Bulgakowa, Von nichts anderem (s. Anm. 6), S. 77. - 13 Theodor W. Adorno, »Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman«, in: Noten zur Literatur, Frankfurt am Main 2003, S. 43.

FILM-KONZEPTE 58 - Vera Chytilová

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