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II. EIN SACK VOLLER FLÖHE – Der integrierte Zufall möglicherweise

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Gemeinsam mit einer Gruppe von Laiendarsteller*innen, die sie aus einem Internat bei den Textilfabriken von Náchod rekrutiert hatte, realisiert Věra Chytilová 1963 EIN SACK VOLLER FLÖHE. Das gleiche Umfeld erkundet auch ihr Kollege Miloš Forman zwei Jahre später mit seiner Tragikomödie LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY (DIE LIEBE EINER BLONDINE, 1965). Doch Chytilová interessiert nicht unbedingt das Ungleichgewicht zwischen einer Überzahl an Fabrikarbeiterinnen und ihren männlichen Kollegen, das Forman für eines der absurdesten Blind Dates der jüngeren Filmgeschichte nutzt. Stattdessen rückt sie die jungen Auszubildenden selbst in den Mittelpunkt und improvisiert gemeinsam mit ihnen nach vagen Vorgaben die Handlung des Films.

Die langen Vorarbeiten und Recherchen zu den Arbeits- und Lebensbedingungen in Náchod rücken EIN SACK VOLLER FLÖHE in die Nähe einer Reportage. Die Unmittelbarkeit des Direct Cinema und die teilnehmende Beobachtung des Cinéma vérité wird in EIN SACK VOLLER FLÖHE um eine subjektive Perspektive erweitert, die sich bei genauerer Betrachtung als fiktionale Intervention erweist. Die subjektive Kamera übernimmt die Sicht der neuen Schülerin Eva.

Durch die raffinierte stilistische Volte, die Kamera selbst zur Mitspielerin innerhalb der Diegese zu erklären, vermeidet Chytilová die Haltung einer distanzierten Beobachterin, wie sie von einer Reportage zu erwarten wäre. Die zahlreichen Großaufnahmen und die direkte, vertrauensvolle Ansprache der Mitschülerin Eva, deren subjektive Sicht die Kamera einnimmt, erzeugt Intimität. Stellenweise, wenn die Mädchen im Schlafsaal Cowboy und Indianer spielen, sich eine eingeschmuggelte Zigarette teilen oder sich gegenseitig Streiche spielen, erinnert das Szenario ein wenig an die um eine ehrliche und aufrichtigere Darstellung bemühten Kinderporträts von François Truffaut. Doch im Unterschied zum engagierten Humanismus des stilprägenden Nouvelle-Vague-Vertreters überlässt Chytilová die Beurteilung des Geschehens dem Publikum. Zwar baut die rebellische Jana, die am Ende des Films ihr Verhalten vor einer Betriebsversammlung rechtfertigen muss, ein Vertrauensverhältnis zu Eva und somit auch zur Kamera auf, doch die stille und offenbar schüchterne Protagonistin, deren Blick die subjektive Kamera einnimmt, bleibt weiterhin passiv. Gelegentlich erinnert das Szenario an die Wahrnehmung, wie sie heute für Computerspiel-Adventures aus der First-Person-Perspektive charakteristisch ist.


Die Laiendarsteller*innen während der Dreharbeiten zu EIN SACK VOLLER FLÖHE, Ausschnitte mit einem Off-Kommentar von Věra Chytilová aus GOLDENE SECHZIGER: VĚRA CHYTILOVÁ, DIE REGISSEURIN von Martin Šulík

Durch die inszenierte und involvierte teilnehmende Beobachtung, die zugleich eine fiktionale Rolle innerhalb der improvisierten Handlung markiert, findet Chytilová eine ebenso beachtliche wie aufregende Lösung für den Einsatz der subjektiven Kamera als erzählerische Instanz im Film. Allzu oft erscheinen derartige Versuche konstruiert, wenn nicht gar schwerfällig bis irritierend. Das Problem wiederholt sich durch die gesamte Filmgeschichte, von Robert Montgomerys LADY IN THE LAKE (DIE DAME IM SEE, 1947), der durchgehend aus der subjektiven Sicht des ermittelnden Detektivs Philip Marlowe visuell präsentiert wird und aufgrund der Langsamkeit der schweren Kamera wie ein Hardboiled-Ermittler auf Valium erscheint, bis hin zur russischen Videospiel-Actionfilm-Variation HARDCORE (2015), die im Rahmen eines Kurzfilms überzeugend wäre, aber nicht einen gesamten Spielfilm trägt. Die Kamera als Medium des Erzählens in der ersten Person funktioniert in der Regel nur, wenn sie wie in THE BLAIR WITCH PROJECT (1999) oder CLOVERFIELD (2008) innerhalb der Diegese auch an die Perspektive eines Aufzeichnungsgeräts gekoppelt ist.

Dass entgegen zahlreicher anderer gescheiterter Versuche innerhalb der Filmgeschichte die subjektive Kamera in Zusammenspiel mit der Montage in EIN SACK VOLLER FLÖHE als Erzählinstanz überzeugt, hängt mit der Integration dokumentarischer Cinéma-vérité-Konventionen zusammen, die auch in den meisten Found-Footage-Horrorfilmen in Nachfolge des BLAIR WITCH PROJECT bemüht werden.

Im Unterschied zum verlangsamten, artifiziell anmutenden Schauspiel in Filmen wie DIE DAME IM SEE bezieht Chytilová die kreativen Möglichkeiten des Zufalls in ihre Inszenierung mit ein. Später erklärte sie in einem Gespräch über die Dreharbeiten: »Weil wir aber jede Passage nur einmal drehen wollten, musste ich entweder vorher alles bis ins Detail mit dem Kameramann abgesprochen haben oder mich voll und ganz auf den mir so sympathischen Zufall verlassen.«10

Als einen Sack voller Flöhe, auf den der Titel des Films anspielt, bezeichnet einer der Aufseher während einer Tanzveranstaltung in einer der letzten Szenen die porträtierten Jugendlichen. Chytilová betrachtete es als wichtiges Anliegen, den jungen (Selbst-)Darsteller*innen ihre eigene Sprache zu lassen. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zu den immer ein wenig belehrend anmutenden Reflexionen des Cinéma vérité. Nicht die Filmemacherin setzt sich mit der Clique um die aufrührerische Jana zusammen, sondern die regelmäßigen Besprechungen mit ihren Vorgesetzten und Erzieher*innen werden in den Film integriert und die Kamera nimmt als mögliche Subjektive von Eva selbst die Position einer Anwesenden ein, die nicht über den Dingen steht, sondern diese lediglich registriert. Entsprechend fielen die ersten Reaktionen der porträtierten Institution und der verantwortlichen Produzenten zuerst empört und skeptisch aus. Es sollte fast ein Jahr dauern, bis EIN SACK VOLLER FLÖHE zur Aufführung gelangte.

Peter Hames bemerkt über das außergewöhnliche Konzept: »Mit EIN SACK VOLLER FLÖHE drehte Chytilová einen der tschechischen Filme, die dem Direct Cinema und dem Cinéma vérité am nächsten kommen. Dennoch befindet er sich, trotz der oberflächlichen Gemeinsamkeiten, weit von einer Dokumentation entfernt […]. Die Besetzung des Films besteht vollständig aus Laiendarstellern, die ihre eigene Wirklichkeit und ihre eigenen Erfahrungen auf die Leinwand brachten.«11 Hames weist außerdem darauf hin, dass sich der Einsatz von Bild und Ton mit den kreativen Zielen der Regisseurin unmittelbar ergänzt. Die teilnehmende Beobachtung, die sich in eine Performance verwandelt, war ihrer Zeit weit voraus. Bulgakowa weist darauf hin, dass der Film zugleich als künstlerisches Experiment wie als soziologisches Porträt von Jugendlichen funktioniert: »Die Methode der inszenierten Beobachtung eines Menschen, der letztendlich sich selbst spielt, filterte das dramaturgische Situationsschema und hob es mitsamt der authentischen Abbildung auf eine Ebene der Stilisierung.«12 In der Filmgeschichte der frühen 1960er Jahre bildet EIN SACK VOLLER FLÖHE ebenso wie DIE DECKE einen ebenso faszinierenden wie innovativen Ausnahmefall.

FILM-KONZEPTE 58 - Vera Chytilová

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